Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I - Arist von Schlippe - E-Book

Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I E-Book

Arist von Schlippe

4,9

Beschreibung

Dieser Artikel ist aktuell nicht erhältlich. Bitte greifen Sie auf die Studienausgabe (Band I + II) mit der ISBN 978-3-525-40274-0 zurück. Dieser Klassiker ist im besten Sinne ein Lehrbuch: theoretisch fundiert und umfassend, in seinem Praxisbezug nahe am Alltag der Leser/-innen in den verschiedenen Kontexten von Psychotherapie, Beratung, Sozialer Arbeit, Pädagogik, Coaching und Organisationsentwicklung. Die systemische Therapie und Beratung hat seit Erscheinen der Erstauflage 1996 keine grundlegenden Paradigmenwechsel erlebt, dafür aber zahlreiche Innovationen in der Methodik und in den Settings. Sie hat sich in neuen Arbeitsfelder erprobt, neue Vorgehensweisen für neue Probleme entwickelt, sich mit Diskursen aus Grundlagenforschung und anderen Therapie- und Beratungsansätzen beschäftigt und schließlich die schulenbedingten Profilierungskämpfe weiter hinter sich gelassen. So stellen die Autoren in der aktuellen Auflage des ersten Bandes eine inzwischen deutlich breiter angelegte und mehr integrierte systemische Therapie und Beratung dar, wobei sie umfassend auf Innovationen und Praktiken aus der englischsprachigen Literatur eingehen.

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Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer

Lehrbuch der systemischenTherapie und Beratung I

Das Grundlagenwissen

Mit 31 Abbildungen und 6 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-525-40185-9ISBN 978-3-647-40185-0 (E-Book)

Umschlagabbildung: Robert Delaunay, Joie de Vivre (1930)/akg-images

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.Printed in Germany.Satz: SchwabScantechnik, GöttingenDruck und Bindung: Freiburger Graphische Betriebe (FGB)

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort der Autoren

Vorwort von Helm Stierlin

Vorwort von Eia Asen (Großbritannien)

Vorwort von Annette Kreuz (Spanien)

Vorwort von Zhao Xudong (China)

I    Die Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung

1    Die Entdeckung des Familiensettings

1.1    Von der Psychoanalyse zur Mehrgenerationentherapie

1.2    Von der Human-Potential-Bewegung zur wachstumsorientierten Familientherapie

1.3    Von der Verhaltenstherapie zur kognitiv-behavioralen Familientherapie

2    Familie als System: Kybernetik erster Ordnung und direktive Intervention

2.1    Das »Mental Research Institute«

2.2    Strukturelle Familientherapie

2.3    Strategische Familientherapie

2.4    Das frühe Mailänder Modell

3    Systeme als soziale Konstruktion: Geschichten, Kooperation und Selbstreferenz

3.1    Die Entdeckung des Beobachters: Systemisch-konstruktivistische Therapie

3.2    Lösungen statt Probleme: Lösungsorientierte und hypnosystemische Kurzzeittherapien

3.3    Interaktion als Konversation: Narrative und dialogische Therapie

3.4    Kooperation statt Intervention: Das reflektierende Team

4    Neuere Entwicklungen

4.1    Eigene und fremde Gefühle verstehen: Bindung, Emotion, Mentalisierung

4.2    Ökosystemische Therapien: Aufsuchend, multisystemisch und gemeinwesenorientiert

4.3    Gandhi trifft Bateson: Gewaltloser Widerstand und Elterncoaching

4.4    Zwischen Erlösungshoffnung und Handwerk: Aufstellungsarbeit

4.5    Den Methodenkoffer nutzen: Integration in der systemischen Therapie

5    Systemische Praxis jenseits von Psychotherapie

5.1    Businesssysteme: Der Weg zu Coaching und Organisationsberatung

5.2    Lernkontexte: Systemische Pädagogik

5.3    Mehr als Therapie und Beratung: Systemische Soziale Arbeit

5.4    Niemand ist allein krank: Systemische Ansätze im Gesundheitswesen

II   Systemtheorie für Praktiker

6    Systeme

6.1    »You can’t kiss a system« oder »Was ist eigentlich ein System?«

6.2    Eine kurze Geschichte systemtheoretischer Wellen

6.3    Ökologie des Geistes: Gregory Bateson

6.4    Kybernetik erster Ordnung: Subsysteme, Grenzen, Regeln und Beziehungsmuster

6.5    Ordnung und Chaos: Dissipative Strukturen, Synergetik und die Theorie dynamischer Systeme

6.6    Die personzentrierte Systemtheorie

6.7    Wie Leben sich selbst erzeugt: Die Theorie autopoietischer Systeme

6.8    Kommunikationen als Bausteine: Die Theorie sozialer Systeme

6.9    Eine Welt gemeinsam hervorbringen: Zwischen radikalem Konstruktivismus und sozialem Konstruktionismus

6.10  Das Ende der großen Entwürfe: Postmoderne Philosophien

6.11  Systemisches Denken zu Beginn des 21. Jahrhunderts

7    Soziale Systeme: Familien, Organisationen, Kooperationen und Netzwerke

7.1    Typen sozialer Systeme

7.2    Familie

7.3    Organisationen

7.4    Netzwerke und Kooperationen

8    Wirklichkeit, Verursachung und die Erzeugung sozialer Wirklichkeiten

8.1    Realität: Was ist wirklich?

8.2    Kausalität: Was verursacht was?

8.3    Wie erzeugen Menschen soziale Wirklichkeiten?

9    Probleme als Gemeinschaftsleistung

9.1    Problemdeterminierte Systeme

9.2    Was ist ein Problem?

9.3    Wie werden Probleme erzeugt?

9.4    Können Probleme nützlich sein?

9.5    Krankheit als Problem

9.6    Diagnostik: Wozu erkennen?

9.7    Wie chronifiziert man ein Problem? Eine Anleitung

III   Praxis: Grundlagen

10  Eine Landkarte für die Arbeit mit sozialen Systemen

10.1   Zeit: Wie wir uns koordinieren

10.2   Raum: Wie wir zueinander stehen

10.3   Energie und Information: Was uns antreibt und am Laufen hält

10.4   Wirksamkeit: Wie wir etwas erreichen

10.5   Sinn: Wie wir die sein können, die wir sein wollen

10.6   Gefühle: Was uns verbindet

11  Haltungen

11.1   Kooperation und Beziehung

11.2   Den Möglichkeitsraum vergrößern

11.3   Autonomie als Schlüsselwort

11.4   Die andere Seite der Ethik: Verhindern und Begrenzen

11.5   Hypothesenbildung

11.6   Zirkularität

11.7   Von der Allparteilichkeit zur Neutralität

11.8   Von der Neutralität zur Neugier

11.9   Respektlosigkeit gegenüber Ideen, Respekt gegenüber Menschen

11.10  Therapie als Verstörung und Anregung

11.11  Ressourcenorientierung, Lösungsorientierung, Kundenorientierung

12  Systemische Kompetenz und therapeutische Beziehung

12.1   Was macht Therapie und Beratung erfolgreich?

12.2   Die Nutzung des Selbst für die therapeutische Beziehung

12.3   Gut Ding will Weile haben

12.4   Gesprächsführungskompetenzen

12.5   Vielfalt respektieren: Kultursensible systemische Praxis

12.6   Intuition und Improvisation: Den »rechten Moment« nutzen

IV Praxis: Methoden

13  Erste Zugänge: Joining und Informationssammlung

13.1   Joining: Kennenlernen, Aufbau eines Rahmens, Vertrauensbildung

13.2   Man kann nicht nicht hypothetisieren: Erste Eindrücke verarbeiten

13.3   Systeme visualisieren: Informationen sammeln, abbilden, besprechen

14  Contracting: Aufträge klären und aushandeln

14.1   »Dick aufgetragen?« Auftragsklärung

14.2   Anlass, Anliegen, Auftrag und Kontrakt differenzieren

14.3   Contracting in formellen und größeren Systemen

14.4   Kein eigenes Anliegen: Unfreiwilligkeit und Dreieckskontrakte

14.5   Wann aufhören? Den Abschluss klären

15  Systemisches Fragen

15.1   Zirkuläres Fragen

15.2   Frageformen, die Unterschiede verdeutlichen

15.3   Wirklichkeits- und Möglichkeitskonstruktionen

15.4   Problem- und Lösungsszenarien

15.5   Die Externalisierung von Problemen und dekonstruktives Fragen

15.6   Reflexive Fragen zur therapeutischen Beziehung

15.7   Das Genogramminterview und seine Variationen

15.8   »Schöner fragen«: Stilistische und Haltungsaspekte

16  Symbolisch-handlungsorientierte Interventionen

16.1   Beziehungen räumlich verstehen: Die Arbeit mit der Familienskulptur

16.2   Beziehungen räumlich neu ordnen: Familien- und Organisationsaufstellungen

16.3   Logische Möglichkeiten inszenieren: Strukturaufstellungen

16.4   Reisen auf der Zeitlinie: Aus der Zukunft auf das Heute zurückschauen

16.5   Sprechchöre: Glaubenssysteme ins Swingen bringen

16.6   Erlebte Arbeitswelt: Interventionen in Teams, Organisationen, Netzwerken

17  Über Gefühle sprechen

17.1   Eine sichere Basis schaffen: Über Bindung sprechen

17.2   »Ich vermute, du fühlst …«: Gemeinsam mentalisieren

17.3   »Übrigens, damals …«: Beschädigte Bindungen wieder festigen

17.4   »Ich fühle mich …«: Emotionsfokussierung

18  Kommentare im und nach dem Gespräch

18.1   Anerkennung, Kompliment, wertschätzende Konnotation

18.2   Umdeutung, Reframing

18.3   Splitting: Das Team oder der Therapeut ist sich uneinig

18.4   Metaphern, analoge Geschichten, Witze, Cartoons

18.5   Schlussinterventionen

18.6   Rituale

19  Reflektierendes Team und reflektierende Positionen

19.1   Das reflektierende Team: Ziel, Form und Regeln

19.2   Varianten der Arbeit mit reflektierenden Teams

19.3   Ohne externes Team: Das Spiel mit reflektierenden Positionen

V   Praxis: Settings

20  Systemische Therapiesettings

20.1   Einer und trotzdem viele: Systemische Einzeltherapie

20.2   Wieder neugierig aufeinander werden: Paartherapie

20.3   Elterliche Präsenz stärken: Systemisches Elterncoaching

20.4   Bewegung ins Mobile bringen: Familientherapie

20.5   Spiel-Räume eröffnen: Kinder- und Jugendlichentherapie

20.6   Kommunikationsmosaike bilden: Gruppentherapie und Familienrekonstruktion

20.7   Auszeit als Übergangsritual: Stationäre Settings

20.8   Systemische Reflexionen: Fallsupervision

21  Ökosystemische Interventionen

21.1   Alle an einem Tisch: Familie-Helfer-Konferenzen

21.2   Familie, Schule, Peers: Multisystemische Familientherapie

21.3   »Hilfe, sie kommen!« Aufsuchende Familientherapie und Familienhilfe

21.4   Familien therapieren einander: Multifamilientherapie

21.5   Netzwerksitzungen, Gemeinwesenorientierung, kollaborative Programmplanungen

22  Systemische Beratung in der Arbeitswelt

22.1   Fit im Job: Coaching einzelner Führungskräfte

22.2   Leichter zusammenarbeiten: Teamberatung

22.3   Wandel anstoßen: Organisationsberatung

22.4   Zusammenarbeiten in Netzwerken:Workshops zur regionalen Kooperation

22.5   Navigationshilfen: Systemisch reflektiertes Case-Management

22.6   Die Organisation von außen betrachten: Besuche mit der Reflexionsliste

VI  Zukunftsmusiken? Worüber wir (noch) nicht schreiben

Literatur

Personenregister

Sachregister

Vorwort der Autoren

Dieses Buch möchte seinen Lesern fundiert und anschaulich die Theorie und Praxis systemischer Therapie und Beratung nahebringen.

Seine erste Auflage erschien 1996. Der Erfolg des Buches, vor allem der langfristige, hat uns in seinem Umfang überrascht. 2006 konnten wir einen Band II mit dem Untertitel »Das störungsspezifische Wissen« vorlegen, 2009 einen UTB-Band mit dem Titel »Systemische Interventionen«, der einen ersten Einblick in die Methodik erlaubt. Nun erscheint 2012 eine vollständige Neubearbeitung des 1996 erschienen Grundlagenbands. Wir hoffen, dass diese ähnlichen Zuspruch finden wird.

Es ist ein weitgehend und grundlegend neues Buch geworden. Die Veränderungen spiegeln die Weiterentwicklungen des Themas wie die der Autoren wider. Die systemische Therapie und Beratung hat in den letzten 16 Jahren keine grundlegenden »Paradigmenwechsel« erlebt, dafür aber zahlreiche Innovationen in der Methodik und in den Settings. Sie hat sich in neuen Arbeitsfelder erprobt, neue Vorgehensweisen für neue Probleme entwickelt, sich mit Diskursen aus Grundlagenforschung und anderen Therapie- und Beratungsansätzen beschäftigt und schließlich die schulenbedingten Profilierungskämpfe weiter hinter sich gelassen, die noch Anfang der 1990er Jahre prägend waren (siehe z.B. Grawe, 2005). Mancherorts sind ihre Ideen und Praktiken eher leise aus einer Außenseiter- in eine Mainstreamposition übergegangen. Aber immer noch wirkt sie vielerorts als »überraschend andere« Irritation gewohnten Denkens und Handelns.

Für uns Autoren sind biografische Entwicklungen zwischen 1996 und 2012 als Ressourcen in die Neubearbeitung eingeflossen. Gemeinsam haben wir zehn Jahre lang in der Zeitschrift »Psychotherapie im Dialog« den Austausch mit Vertretern anderer Psychotherapieverfahren gepflegt. Als Fachleute wie als Vorsitzende zweier Fachgesellschaften für systemische Therapie waren wir phasenweise auch »therapiepolitisch« tätig. Wir haben stärker als zuvor in den Feldern Coaching, Team- und Organisationsberatung gearbeitet, vor allem mit Familienunternehmen, Krankenhäusern und Sozialen Diensten. Und wir waren stärker als zuvor auch international tätig.

Für die Neubearbeitung haben wir uns daher einige über die Erstauflage hinausweisende Ziele gesetzt. Wir wollen eine inzwischen deutlich breiter angelegte und »integriertere« systemische Therapie und Beratung darstellen. Dazu wollen wir im historischen Teil auch ihre Beiträge aus der Zeit vor 1980, der sogenannten »Kybernetik erster Ordnung«, einfließen lassen – das blieb damals dem von Arist von Schlippe verfassten, 1984 erstmals erschienenen Buch »Familientherapie im Überblick« vorbehalten.

Wir wollen dieses Buch so schreiben, dass es für »psychosoziale« Studierende und Praktiker in Gesundheitswesen, Sozialarbeit, Pädagogik und Seelsorge sowie für Studierende und Praktiker in Management und Unternehmensberatung gleichermaßen lesenswert ist. Dazu skizzieren wir die Geschichte des systemischen Ansatzes in den jeweiligen Arbeitsfeldern und vergleichen Familie, Organisation, Kooperation und Netzwerk als unterschiedliche soziale Systeme. Wir beschreiben systemische Settings von der (Psycho-)Therapie mit Einzelnen und Paaren sowie die Arbeit mit größeren Systemen bis hin zu Coaching, Team- und Organisationsberatung. Und wir illustrieren dies mit Fallbeispielen.

Wir wollen mit diesem Buch interessante Ideen und Praktiken aus anderen Sprachkreisen bekannt machen, auch wo diese nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Das vermögen wir nur für den englischen Sprachraum selbst zu tun. Wir haben jedoch befreundete Kolleginnen und Kollegen gebeten, mit ihren »internationalen Vorworten« kleine Einblicke in die Entwicklungen in Großbritannien, Spanien und China zu gewähren.

Einige blinde Flecken der Erstauflage wollen wir ebenfalls in den Blick nehmen. Dazu gehört die Frage, was genau (welche Prozesse) in sozialen Systemen sich eigentlich überhaupt beeinflussen lässt (und wie). Dazu gehört, angeregt durch unsere Aus- und Weiterbildungserfahrungen, auch die Frage, wie man sich all die Kompetenzen, von denen unser Lehrbuch berichtet, über die Zeit hinweg aneignen kann. Dazu gehört schließlich der Umgang mit Gefühlen und inneren Prozessen in der systemischen Therapie.

Vieles aus der Erstauflage haben wir nur geringfügig verändert, weil es uns weiterhin gefällt. Dazu gehören Teile der Theorie, der Haltungen und der Methodenkapitel. Unserem an Albert Einstein angelehnten literarischen Grundsatz haben wir treu zu bleiben versucht: Komplexes so einfach und anschaulich wie möglich darzustellen – aber nicht noch einfacher. Mit zahlreichen kurzen Fallvignetten wollen wir Anschaulichkeit, mit einer Reihe von Leitfäden und Übersichten Überschaubarkeit fördern – im Bewusstsein, dass niemand unseren Leitfäden immer folgen und unseren Übersichten vollständig trauen sollte. Neue Cartoons von Björn von Schlippe (dem Bruder von Arist, unter dem gemeinsamen Signet »Kartist«) sind hinzugekommen – wir hoffen, dass sie unsere Neigung zu wertschätzender Ironie gut transportieren können (von Schlippe u. von Schlippe, 2012).

Worüber schreiben wir nicht? Was lassen wir bewusst aus, weil es die Grenzen entweder des Buchumfanges oder unserer Kompetenzen gesprengt hätte? Zumindest zwei Auslassungen sind uns bewusst und von uns gewollt. Zum einen begrenzen wir uns auf das Arbeiten mit sozialen und psychischen Systemen. Neurobiologische Aspekte von Psychotherapie bleiben ebenso außen vor wie systemtherapeutisch begründbare biologische Interventionen von der Tiefenhirnstimulation bis hin zur Körpertherapie. Interessenten hieran seien auf Schwing (2009) und ausführlicher auf Schiepek (2011) hingewiesen (vgl. auch Teil VI unseres Buches). Wissenschaftlich begrenzen wir uns auf alles, was wir für Praktiker für unmittelbar relevant halten. Wer sich für spezielle Forschungsergebnisse und Forschungsmethoden interessiert, findet erstere in »Die Wirksamkeit der Systemischen Therapie/Familientherapie« (von Sydow et al., 2007), letztere in den »Research methods in family therapy« (Sprenkle u. Piercy, 2005) und im »Handbuch Forschung für Systemiker« (Ochs u. Schweitzer, 2012).

Sprachlich spielen wir auch in diesem Band mit Wechseln der weiblichen und männlichen Form. Das erscheint uns passend – die Mehrzahl der im Feld systemische Therapie und Beratung Tätigen sind Frauen. Wir wollen die Lesbarkeit nicht durch zu viel »political correctness« beeinträchtigen, aber auch einer sinnvollen »Gendersensitivität« Respekt erweisen. Unsere Leserinnen, und natürlich auch unsere Leser, sind eingeladen, diesen beständigen Perspektivwechsel zwischen weiblichen und männlichen Akteuren mitzuvollziehen.

Wie schon 1996 möchten wir unseren Lesern empfehlen, diesem »Lehr-Buch« zwar grundsätzlich Vertrauen zu schenken, aber nicht zu viel. Alles »Gelehrte« trägt das Risiko in sich, dass unter bestimmten Kontextbedingungen auch sein Gegenteil gleichermaßen »wahr« oder sogar noch »wahrer« und insbesondere »viabler« (wegeweisender, zielführender) sein kann.

Danksagungen

Zu diesem neuen Buch mit seiner mehrjährigen Entstehungsgeschichte haben viele beigetragen, nicht alle wissen davon. Unsere Frauen, Rita von Schlippe und Margret Rothers, haben bei wiederholten »Schreibasylen« in unseren Wohnungen den jeweils anderen von uns liebevoll aufgenommen und gut bekocht. Unsere Kinder Janina von Schlippe, Simon Rothers, Max von Schlippe und Adrian Rothers haben »bezogene Individuation« praktiziert und sich in verschiedenen Stadien der Entwicklung mehr oder weniger intensiv für unser Buch interessiert. Janina von Schlippe und Adrian Rothers unterzogen zudem als Testleser das gesamte Manuskript einem wichtigen Check-up und erstellten Sach- und Personenregister. Julika Zwack, Mirko Zwack, Matthias Ochs und Henrike Kordy lasen Teile des Manuskripts. Ihnen allen verdanken wir wertvolle Kritik und Anregungen. Günter Presting von Vandenhoeck & Ruprecht hat uns über mehrere Jahre ermutigt und unterstützt, dieses Buch neu zu entwerfen und zu Ende zu bringen. Sandra Englisch hat ihm den letzten Feinschliff verliehen.

Viele unserer Fallvignetten illustrieren unseren eigenen therapeutisch-beraterischen Stil, der von den Rollenmodellen unserer Lehrjahre beeinflusst wurde. Dazu zählen wir Tom Andersen, Gianfranco Cecchin, Ruth Cohn, Margarete Hecker, Salvador Minuchin, Virginia Satir, Gunthard Weber und viele weitere. Anderen Kollegen hatten wir als Chefs und freundschaftlichen Förderern gute Erfahrungen und Arbeitsbedingungen zu verdanken, die das Schreiben dieses Buches ermöglichten. Dazu gehören Helm Stierlin, Jürgen Kriz und Rolf Verres. Auch Haim Omer gehört als guter und wichtiger Freund in diese Reihe.

In der systemischen Weiterbildung am Institut für Familientherapie Weinheim (heute: Institut für Systemische Ausbildung und Entwicklung Weinheim) und am Helm Stierlin Institut Heidelberg konnten wir mit unseren dortigen Kolleginnen und Kollegen an der Vermittelbarkeit systemischer Ideen und Praktiken arbeiten. An unseren Universitäten haben uns Kolleginnen und Kollegen am Wittener Institut für Familienunternehmen und im Heidelberger Institut für Medizinische Psychologie als Forscher wie als Praktiker in vielfältiger Weise unterstützt und produktiv herausgefordert.

Zur Erweiterung unseres Blicks auf die deutschsprachige »systemische Szene« haben unter anderem unsere Vorstandskollegen und die anderen Aktiven in den systemischen Verbänden SG (Systemische Gesellschaft) und DGSF (Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie) beigetragen. Im Team der Gründungsherausgeber der Zeitschrift »Psychotherapie im Dialog« konnten wir neugierig und fast immer kampf- und vor allem krampflos die Passungen und Differenzen systemischer Therapie gegenüber anderen Psychotherapieverfahren unterschiedlicher und oft konkurrierender Verfahren diskutieren. Auch der Herausgeberkreis der »Familiendynamik« sei an dieser Stelle erwähnt.

Internationale Kolleginnen und Kollegen haben uns geholfen, über die kulturellen Grenzen der deutschsprachigen systemischen Therapie und Beratung hinauszudenken. Mehrere britische Gastgeber unterstützten einen Forschungsaufenthalt von Jochen Schweitzer im Frühjahr 2011 zur »Internationalisierung« dieses Lehrbuches.

Am Ende möchten wir unseren Klientinnen und Klienten in Therapie und Beratung danken für die vielen traurigen und heiteren, sorgenvollen und Mut machenden, anrührenden und bewegenden Geschichten, die wir mit ihnen teilen durften, und von denen manche, der Anonymität wegen stets radikal verfremdet, Eingang in dieses Buch fanden.

Vorwort von Helm Stierlin*

Ich kenne keinen Text im Bereich der systemischen Therapie und Beratung, der uns dessen Entwicklung, Theorie und Praxis so klar und anschaulich vermittelt wie dieses Lehrbuch. Und dies gelingt dessen Autoren angesichts einer wachsenden und sich wandelnden Komplexität dieses Bereichs. Das verdankt sich sowohl der Erfahrung, die sie als Therapeuten und Berater gewinnen konnten, als auch der teilnehmenden Beobachtung des deutschsprachigen und des internationalen Umfelds.

Die Veränderungen, zu denen es besonders im letzten Jahrzehnt in diesem Umfeld kam, sind in der Tat enorm und ließen mich von einer sich immer mehr differenzierenden und immer schwerer überschaubaren Multioptionsgesellschaft sprechen. Darin zeigen sich uns immer mehr Optionen für die Beschreibung des Seelenlebens sowie für die Gestaltung und Bewertung unserer Beziehungen und damit auch für das Erlangen von Wohlbefinden und Lebenssinn. Zugleich zeigen sich uns immer mehr Möglichkeiten, sich in dem Bemühen um eine seelische Orientierung und um Wohlbefinden und Lebenssinn festzufahren und/oder zu verirren. Und dabei denke ich nicht zuletzt an die vielen heutigen Möglichkeiten, sich auf Theorieangebote und Glaubenssätze festzulegen, die, geht es um die Bewertung und um die Behandlung von leib-seelischen Störungsbildern, in erster Linie eine Pathologie und/oder ein Defizit hervorheben.

Ich erlebte es bei der Lektüre dieses Lehrbuchs auch immer wieder als wohltuend, wie wenig dessen Autoren zu solcher Pathologisierung und Defizitsicht neigen und wie sie stattdessen immer wieder Ressourcen in den Blick bringen, die sich nicht zuletzt auch in dem ausmachen lassen, was zunächst als Pathologie und Defizit gehandelt wurde. Außerdem erlebte ich es als wohltuend, dass darin immer wieder die Beratung oder auch die Behandlung von sozial benachteiligten Personen und Familien zur Sprache kommen und unterschiedliche Kulturbereiche berücksichtigt werden. Man könnte auch von einer Versöhnung unterschiedlicher Sichten und Erklärungsmodelle sprechen, zu der sich die Autoren dieses Lehrbuchs herausgefordert sehen.

Das spiegelt sich etwa in die Weise, wie sie sowohl Störungsbereiche als auch Interventionsmöglichkeiten in den Blick bringen, die sich unterschiedlichen Einstellungen der erkennenden Linse verdanken. In anderen Worten: Während andere innovative Theoretiker und Praktiker sich mehr oder weniger auf einen bestimmten Bereich festlegten – sei dies eine psychoanalytisch erarbeitete »Tiefenpsychologie«, eine frühe, sich vor allem auf den körperlichen Organismus auswirkende Traumatisierung, eine schwierige, sich aus Loyalitätskonflikten oder überfordernden Delegationen ergebende transgenerationale Problematik oder ein Dauerkonflikt zwischen existenziell wichtigen Beziehungspartnern –, regen uns die Autoren dieses systemischen Lehrbuchs dagegen an, unsere erkennende Linse immer wieder neu einzustellen, dabei auf Kreisprozesse zu achten und uns mit den sich jeweils ergebenden Fragen und möglichen Widersprüchen auseinanderzusetzen. Das dürfte die Lektüre dieses Buches nicht immer leicht machen, aber sie lohnt sich, wie ich meine, auf jeden Fall in hohem Maße.

 

*   Helm Stierlin, Prof. Dr. med. Dr. phil., Psychiater, Psychoanalytiker und Pionier der systemischen Familientherapie im deutschen Sprachraum, leitete von 1974 bis 1992 das Institut für Psychoanalytische Grundlagenforschung und Familientherapie am Universitätsklinikum Heidelberg.

Vorwort von Eia Asen*

Bei diesem Buch haben sich die Autoren an ein großes Projekt herangewagt, wie man es in der einschlägigen angelsächsischen Literatur so bisher nicht kennt. In diesem Werk wird einerseits von der Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung und deren Verankerung in der Systemtheorie berichtet. Allerdings beschränken sich die Autoren dabei nicht auf die therapeutische Praxis mit Klientinnen und Klienten, sondern schließen auch die Organisationsberatung und die Arbeit mit Netzwerken ein. Dass ihnen dieses ambitiöse Unterfangen voll geglückt ist, ist bemerkenswert. Noch bemerkenswerter ist, dass daraus keine »Bibel« oder gar ein Kochbuch entstand. Es ist dem Leser überlassen, aus der Vielzahl von Konzepten und Ideen diejenigen herauszusuchen, die zum Arbeitskontext und Auftrag passen, und sie dann zu integrieren. So beanspruchen die Autoren auch nicht, spezielle Gründe und Evidenz dafür zu haben, dass ein systemischer Ansatz »besser« oder »wahrer« wäre als all die anderen. Von systemischen Kochbüchern, die spezifische und oft kontextunabhängige invariante »Rezepte« unter zum Teil geschützten Warenzeichen zu vermarkten versuchen, gibt es ja schon jede Menge und noch ein neues braucht der internationale Markt wirklich nicht. Was allerdings benötigt wird, ist eine balancierte und umfassende Zusammenstellung systemischer Ideen und Praktiken, die sich sowohl mit historischen Perspektiven wie auch modernen Entwicklungen und Erkenntnissen befasst. Dieses ist den Autoren gelungen, und so stimuliert dieses Buch nicht nur die Neulinge in der systemischen Szene, sondern auch die Altgedienten.

Für die Anfänger kann man sich kaum eine klarere Übersicht und Einführung in das systemische Feld wünschen. So erfährt man, was die Pioniere sich »damals« so ausgedacht hatten, auf welche theoretische Konzepte sie sich beriefen, wie experimentierfreudig sie waren und nach und nach neue Ideen und Techniken entwickelten – und wie diese mit der Zeit mehr und mehr ausgefeilt, modifiziert und auch manchmal verworfen wurden. Speziell der dritte Teil dieses Buches, über Technik, ist eine wahre Fundgrube von systemischen »Schätzen«. Für die Fortgeschrittenen sind die Exkurse in die Systemtheorie sehr aufschlussreich und bieten einen philosophisch-soziologischen Hintergrund, der bei angelsächsischen Publikationen meist doch ein wenig vernachlässigt wird. Und für die Senioren des systemischen Feldes gibt es viele »Bonbons«, seien es Anekdoten oder spezifische Techniken, die zum Gang »down memory lane« einladen.

Aus britischer Sicht ist an diesem Lehrbuch die Kombination von systemischer Therapie und Organisationsberatung in einem Band ungewöhnlich. Auch Kapitel über die Arbeit mit und Beratung von Netzwerken würden sich kaum in angelsächsischen Standardtexten finden, obschon die meisten systemischen Praktiker direkt und indirekt in diese eingebunden sind und für sie sogenannte Landkarten für die Arbeit mit sozialen Systemen höchst pragmatische Hilfsmittel sein können. Und es ist auch sehr hilfreich, Kapitel über Supervision und Teamarbeit integriert zu finden – all das gehört ja zum täglichen Brot von systemischen Praktikerinnen und Praktikern. Kapitel über Auftragsklärung und Bestimmung von Erwartungs-Erwartungen sind in der angelsächsischen Literatur nicht so detailliert und richtungsweisend enthalten. Inhaltlich allerdings sind die meisten der beschriebenen systemischen Ansätze in Großbritannien und den USA bekannt, einige aber kaum, wie zum Beispiel Haim Omers gewaltloser Widerstand oder die Aufstellungsarbeit von Bert Hellinger. England ist ein Land und eine Gesellschaft, die sich traditionell sehr tolerant bezüglich der verschiedensten Ideen und Praktiken verhält; so kann es dann eigentlich auch gar nicht verwundern, dass hier die unterschiedlichsten systemischen Therapieansätze nebeneinander laufen. Der narrative Ansatz ist in Großbritannien populärer als in deutschen Landen und Ideen aus dem »social constructionism« sind omnipräsent.

Nun gibt es auch signifikante Unterschiede, wie – und wo – systemisches Arbeiten in Großbritannien im Vergleich zu Deutschland praktiziert wird. Das hat die verschiedensten Gründe, von denen einige berufspolitisch sind und andere kultursoziologisch. In Großbritannien wird seit vielen Jahren multi- und interdisziplinäre Teamarbeit viel ausgeprägter und integrierter betrieben. Professionelle Hierarchien sind flacher und selten pyramidal. Die Grenzziehungen zwischen Jugendhilfe, Pädagogik und Gesundheitssystem sind viel weniger rigide als in Deutschland. Sozialarbeiter, Lehrer, Krankenschwestern und -pfleger, ja sogar Anthropologen, können alle systemische Ausbildungen machen und sich am Ende als Familientherapeuten akkreditieren lassen und ihre Expertise in den verschiedensten Bereichen anwenden. So klingen Kapitelüberschriften wie »Systemische Arbeit jenseits von Psychotherapie« doch irgendwie seltsam für britische »systemische Ohren«, da es (noch) einen nationalen Gesundheitsdienst gibt und Krankenkassen (noch) nicht die Machtpositionen wie in Deutschland innehaben und somit bestimmen können, ob systemische Arbeit verschrieben werden kann oder nicht. So kommt es zu einer besseren Kooperation und Kollaboration zwischen Gesundheitswesen, Sozialarbeit und Pädagogik und auf diese Weise kann systemische Arbeit oft multidisziplinär und organisationsübergreifend ausgeübt werden. »Familientherapeut/-in« ist in Großbritannien ein eigenständiger Beruf. Die systemische Szene blüht in Großbritannien, mit (nur!) einer »Association for Family Therapy«, die mehr als 2.000 Mitglieder hat und die ein sehr pragmatisches und themenorientiertes Magazin (»Context«) herausgibt, welches alle zwei Monate erscheint. Hier berichten systemische Praktiker aus diversen Berufsbranchen und Arbeitskontexten von spezifischen Projekten und regen so zu gegenseitigem Erfahrungsaustausch an. Systemische Forschung hat auch einen höheren Stellenwert in der angelsächsischen Fachwelt als in Deutschland, gerade weil die evidenzbasierte Praxis hier schon seit vielen Jahren berufspolitische Konsequenzen hat. So wird bei vielen systemischen Aus- und Weiterbildungen in Großbritannien viel Wert auf hohe akademische Standards gelegt, mit Abschlüssen wie dem »Master of Science (MSc)« oder sogar Doktoraten in systemischer Therapie, die sich oft mit Forschungsthematiken befassen. Gleichzeitig wird aber dabei die Praxis nicht vernachlässigt und bei der Aus- und Weiterbildung gibt es viel Kleingruppenarbeit mit Live-Supervisionen.

Dem ausländischen Beobachter der deutschsprachigen systemischen Szene fällt auf, dass vieles des Beschriebenen eigentlich recht kulturspezifisch ist. In diesem Lehrbuch gibt es zwar ein Kapitel über Kultur (12.5), aber kaum Fallbeispiele von der Arbeit mit Einzelnen und Familien aus anderen Kulturkreisen. Das ist ja auch ein bisschen Neuland in Deutschland, während in den USA und Großbritannien, also in Gesellschaften, die sich seit vielen Jahrzehnten mit Migranten und deren Integration beschäftigen, Kultur – und übrigens auch Gender (kulturell konstruiert!) – einen zentraleren Platz in der systemischen Theorie und Praxis einnimmt. Hier wird untersucht, inwieweit systemische Ansätze zum Beispiel »weiße« oder eurozentrische Normen und Vorurteile benutzen und privilegieren, und es werden auch Modelle und Praktiken entwickelt, um kultursensitiv, mit interkultureller Kompetenz und deshalb »relevanter« mit Familien aus anderen Kulturkreisen zu arbeiten. In angelsächsischen Ländern gibt es seit mehr als zehn Jahren den Begriff »institutioneller Rassismus«. Dieser beschreibt die bewusste oder unbewusste kollektive Weigerung einer Organisation, Menschen auf Grund ihrer Hautfarbe, Kultur oder ethnischen Herkunft die angemessenen professionellen Dienstleistungen zukommen zu lassen. Institutioneller Rassismus manifestiert sich in diskriminierenden Verfahrensweisen und Vorurteilen, die rassistische Stereotypisierungen (re)produzieren, die zur Benachteiligung ethnischer Minderheiten führen. Die Bildung von multikulturellen Teams hilft Brücken zu bauen. Das Unterlassen ihrer Gründung in multikulturellen Städten oder Ländern könnte man auch als ein Beispiel des institutionellen Rassismus verstehen. Transkulturelles Lernen erfolgt am besten in kulturell gemischten und multidisziplinären Teams – aus britischer Sicht scheint es da einige Lücken in deutschen Landen zu geben.

Die Miteinbeziehung von Klientinnen und Klienten in die Planung und Entwicklung von relevante(re)n Therapien und anderen Formen der systemischen Praxis, wie auch der Forschung und Evaluierung, ist ein Prozess, der in den letzten Jahren in angelsächsischen Ländern beträchtlich an Bedeutung gewonnen hat. Hier scheint auch die deutschsprachige systemische Szene ein bisschen hinterherzuhinken, vielleicht hängt das auch zum Teil mit den hierarchischen Strukturen zusammen, die in den angelsächsischen Ländern, wie schon erwähnt, viel flacher und weniger ausgeprägt sind. So ist es begrüßenswert, dass dieses Buch ein Kapitel über kollaborative Programmplanung mit Klientenfamilien enthält.

Alles in allem ist dieses Lehrbuch ein außergewöhnliches, methoden- und kontextübergreifendes Werk von zwei im deutschen Sprachraum und auch international sehr bekannten Systemikern. Zweifellos wird sein Erscheinen die angelsächsische systemische Landschaft bereichern, auch gerade weil eine andere kulturelle Perspektive zum Reflektieren und Neuüberdenken einlädt. Man kann diesem Buch nur genau den großen und verdienten Erfolg wünschen, den es schon in den deutschsprachigen Ländern genossen hat.

 

*   Dr. med. Eia Asen ist Psychiater und Systemischer Therapeut beim Marlborough Family Service in London sowie Gastprofessor am University College London.

Vorwort von Annette Kreuz*

Es folgt ein Vorwort unter dem Motto »Empezar la casa por el tejado«, das Ihnen hoffentlich nicht spanisch vorkommt. Ja, wie schreibt eine deutschstämmige Spanierin oder eine Deutsche mit spanischer Staatsbürgerschaft einleitende Worte zu einem Buch, dessen Erstauflage in Spanisch die folgende Buchbeschreibung auf der Rückseite (2003, Editorial Herder) aufweist (freie Übersetzung der Autorin)? »Das Handbuch, einmalig in seiner Art, schlägt den Leser in seinen Bann und ist unerlässlich, sowohl für Leser, die sich als Neulinge an die Materie wagen, als auch für diejenigen, die sie vertiefen wollen, für eingeschworene Systemiker und Kritiker dieses Ansatzes, für Fachkundige, Laien und Patienten.«

Eine 360-Grad-Einladung, kaum zu übertreffen. Würde ich Ähnliches für die Neuauflage schreiben? Meine Beurteilung also einmal ganz kurz vorweg (daher das Motto, auf Deutsch sagt man: das Pferd von hinten aufzäumen): Diese Neuauflage des Lehrbuchs ist besser als das erste Buch, ein gelungenes, in sich konsistentes, harmonisches Ganzes von Alt und Neu, das das systemische Feld bis heute erfasst und die Entwicklung von Theorie und Praxis verständlich, praxisnah und zum eigenen Denken anregend widerspiegelt. Ich kann es ohne Bedenken in meinem Sprachraum empfehlen.

Auf Spanisch sagt man: »Lo bueno, si breve, dos veces bueno.« Wenn das Gute auch noch kurz ist, ist es doppelt so gut.

Ein bisschen mehr Hintergrundinformation, wieso ich zu dieser Beurteilung komme, für den Leser, der etwas mehr Zeit und Lust hat: Ich bin Leiterin von einem der zur Zeit etwa dreißig Ausbildungsinstitute in Familien- und Systemtherapie in Spanien. Die spanische Föderation für Familientherapie hat derzeit an die 1.650 Mitglieder (www.featf.org) und ist die größte Dachorganisation ihres Genres und die bislang einzige Therapierichtung, die in ihren Statuten die regelmäßige Weiterbildung der von ihr anerkannten Therapeuten fordert, ein in Spanien noch bahnbrechendes Vorgehen.

Bis auf wenige Ausnahmen sind fast alle systemischen und familientherapeutischen Gesellschaften in dem Dachverband vertreten, es gibt landeseigene Vereine in 14 der 17 Autonomías Spaniens. Viele meiner Kollegen, und natürlich auch ich, haben die erste Ausgabe als Grundlagenlehrbuch unseren zukünftigen Therapeuten und Beratern empfohlen, seit es 2003 in Barcelona erschien. Handbücher in Familientherapie sind rar im spanischen Sprachraum. Dass die Anzahl von spanischen Titeln nicht zunimmt, ist sicherlich dem enormen Arbeitsaufwand zu verdanken, der sich hinter einem Lehrbuch verbirgt. Nur wenige ausländische Autoren haben die Hürden der Übersetzung und der hiesigen Verleger überwunden.

Die »Systemiker« haben auch in Spanien in den letzten Jahren erheblich zur Erneuerung des psychotherapeutischen Alltags beigetragen. Seit 1992 (Gründungsjahr des Dachverbands) ist der familientherapeutische Ansatz als einer von vier Therapieansätzen im nationalen Gesundheitssystem anerkannt. Klinische Psychologen und Psychiater können sich in ihrer Fachausbildung in Zukunft auf systemische Paar- und Familientherapie spezialisieren. Also bleibt es extrem wichtig, die grundlegenden Fertigkeiten eines systemischen Psychotherapeuten darzustellen und zu beschreiben, sie auf die verschiedenen systemischen Settings anzuwenden, auf größere Systeme zu erweitern und die Supervision seiner Tätigkeit theoriekonsistent einzugliedern.

Das Werk hat meines Erachtens nichts von seinem frischen Stil und seinen guten Eigenschaften verloren: Die Fallbeispiele sind hinreichend praxisnah und nachvollziehbar, ohne ausschweifend zu werden, der Sinn für Humor ist erleichternd und die synoptischen Zusammenfassungen sind einfach eine enorme Orientierungshilfe. Meine Befürchtungen, dass diese Lernhilfen vielleicht der Neuauflage zum Opfer fallen könnten, haben sich nicht bestätigt, ganz im Gegenteil: Die neuen Inhalte sind gleichfalls gut durchstrukturiert, etwas, das ich in vielen spanischen Veröffentlichungen eher vermisse.

Die Autoren haben nicht nur eine sorgfältige Erweiterung des Materials auf die in den letzten Jahren umgreifenden Erneuerungen und Veränderungen im systemischen Feld vorgenommen, sondern außerdem das ursprüngliche Material an diese Entwicklung angepasst. Der systemische Ansatz ist auch in Spanien keineswegs auf die klinische Anwendung beschränkt. Netzwerkarbeit, moderne Pädagogik, Coaching und Mediation sowie Organisationsberatung lehnen sich immer stärker an systemisches Grundwissen an. Die Überlastigkeit des postmodernen Denkansatzes hat auch in Spanien einer mehr integrativen Haltung Platz gemacht, ganz so, wie Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe es im Kapitel 4.5 dieses Buches beschreiben. Integration ist das Schlagwort.

Ich wurde gebeten, in diesem Vorwort auf Themen und Herausforderungen in meinem Sprachkreis hinzuweisen, die nicht in diesem Buch angesprochen werden. Leider kann ich dieser Bitte nicht entsprechen. Kultursensitives Vorgehen, Immigrantenproblematik, Gewalt in der Schule und im Elternhaus, neue Familienstrukturen und Beziehungen, systemische Diagnosestellung, ethische Dilemmata bei verstrickten Netzwerken und Aufträgen: Ich habe alles gefunden, was ich in einem Lehrbuch auch für meinen Kulturkreis suchen würde.

 

*   Anette Kreuz, Diplom-Psychologin, ist Leiterin des Centro de Terapia Familiar »Fase2« in Valencia, Spanien (www.ctff-fasedos.com).

Vorwort von Zhao Xudong*

Die Entwicklung der systemischen Familientherapie in Festlandchina ist seit den 1980er Jahren eng mit deutschen Kollegen verbunden. Helm Stierlin und Fritz B. Simon interviewten 1988 in einem Seminar mit chinesischen Kollegen als erste westliche Familientherapeuten Familien mit psychisch kranken Mitgliedern. Als Teilnehmer dieses Seminars hatte ich das Glück, kurz danach von 1990 bis 1993 als Gastwissenschaftler an der Universität Heidelberg mit ihnen zusammenzuarbeiten. Seither habe ich auch immer wieder mit Jochen Schweitzer zu tun gehabt, der einer der deutschen Dozenten im einflussreichen Ausbildungsprojekt der Deutsch-Chinesischen Akademie für Psychotherapie (DCAP) wurde. Lange schon wollte ich das von ihm und Arist von Schlippe verfasste Lehrbuch ins Chinesische übersetzen – nun freue ich mich, dieses Vorwort zu schreiben, und hoffe auf eine baldige chinesische Übersetzung der Neuauflage.

Die Rolle der Familientherapie in einer sich radikal wandelnden Gesellschaft

Die Familie stellt einen zentralen Wert im konfuzianischen Denken dar. Sie ist die wichtigste Richtschnur, an der Chinesen ihr Verhalten im Alltag orientieren. Familientherapie ist jedoch etwas relativ Neues für unser Land. Sie spielte im sozialen Leben in Festlandchina bis zur Reform- und Öffnungspolitik ab dem Jahr 1978 keine Rolle. In anderen Regionen des chinesischen Kulturkreises wie etwa Taiwan, Hongkong und Singapur wurde sie schon früher praktiziert (Zhang, 2006).

Mehrere Umstände erschwerten ihre Einführung in Festlandchina. Einer davon war das ambitionierte Experiment, Familie als zentralen Wert durch den sozialistischen Kollektivismus zu ersetzen. Nach 1949 wurde das traditionelle Familiensystem zerschlagen, die viel kleinere Kernfamilie wurde zur typischen Familienform, größere soziale Einheiten wie Arbeitskollektive in den Städten und Kommunen auf dem Land wurden als grundlegende Gesellschaftsstrukturen propagiert. Psychologie wurde als »Pseudowissenschaft:« kritisiert und für die kommenden dreißig Jahre abgeschafft. Forschungen über die menschliche Psyche und die zwischenmenschlichen Beziehungen wurden zu verbotenen Betätigungsfeldern, während ein einseitiger Materialismus die Entwicklung einer biologisch orientierten Psychiatrie beherrschte.

Der Beginn der Familientherapie in China

Um 1980 begannen chinesische Psychiater und Psychologen, Kontakt mit der Welt außerhalb von China zu suchen (Liu u. He, 1991; Zhao et al., 1991).Zur ersten Begegnung mit familientherapeutischen Ansätzen kam es im Oktober 1988 im Rahmen eines Deutsch-Chinesischen Symposiums in Kunming, auf dem Helm Stierlin und Fritz B. Simon vor etwa vierzig chinesischen Kollegen aus verschiedenen Provinzen die systemische Familientherapie vorstellten.

Die Reaktionen darauf fielen höchst unterschiedlich und widersprüchlich aus. Die Demonstration erzeugte bei einigen Teilnehmern offensichtlich Antipathie und Misstrauen, während andere mit Neugier und Enthusiasmus reagierten. Systemische Therapie schien noch verwirrender und fremdartiger als andere Psychotherapieansätze. Gleichwohl begannen nach diesem Symposium zwei Kollegen sogleich, das Gehörte in Therapien mit Familien mit als schizophren diagnostizierten Mitgliedern umzusetzen und erste Ergebnisse zu publizieren (Chen et al., 1993).

Das Symposium wurde innerhalb der nächsten sechs Jahre zweimal wiederholt. Dann wurde es zu einem dreijährigen deutsch-chinesischen Ausbildungsprogramm in Psychotherapie ausgebaut. An diesem nahmen von 1997 bis 1999 insgesamt mehr als 110 chinesische Psychotherapeuten aus 23 Provinzen teil, davon besuchten 40 die Ausbildung für systemische Therapie, die von Ingeborg Rücker-Embden-Jonasch, Fritz B. Simon, Jochen Schweitzer, Gunthard Weber, Gunther Schmidt, Klaus Jonasch und Arnold Retzer als Dozenten gestaltet wurde. Dieses Projekt wurde seither zweimal wiederholt. Heute wird systemische Familientherapie in vielen Universitäten, psychiatrischen Einrichtungen und Allgemeinkrankenhäusern praktiziert.

Fast gleichzeitig fanden andere Schulen der Familientherapie Verbreitung. Wei Xiong und Michael R. Phillips führten Ideen und Methoden der systemischen Familientherapie, der Psychoedukation und der kognitiv-behavioralen Therapie zu einem umfassenden, auf den chinesischen Kontext zugeschnittenen fortlaufenden Interventionsprogramm zusammen. Ihre randomisierten Wirksamkeitsstudien zeigten nach dieser Familienintervention niedrigere Rehospitalisierungsraten als nach ambulanter Routinebehandlung (Xiong, 1994). Wen-Shing Tseng und Jing Hsu, zwei Psychiater und Psychotherapeuten chinesischer Herkunft aus den USA, waren hinsichtlich der Einführung der Familientherapie in China ebenfalls sehr aktiv. Ihre Lehrbücher über Psychotherapie einschließlich der Familientherapie sind in China äußerst populär. Wai-Yung Lee aus Hongkong beendete im Jahr 2000 erfolgreich zwei Ausbildungsprojekte in struktureller Familientherapie. Die Hong Kong Polytechnic University und die Peking University führten 2002 gemeinsam ein sehr systemisch geprägtes Ausbildungsprogramm »Master of Social Work (China)« ein. Systemische Familientherapie im Sinne des Mailand-Heidelberger Ansatzes und strukturelle Familientherapie im Sinne von Salvador Minuchin sind heute in Festlandchina die beiden meistverbreiteten Modelle. Seit 2004 gibt es einige vom Englischen ins Chinesische übersetzte einführende Lehrbücher zur Familientherapie (Patterson u. Williams, 2004; Nichols u. Schwartz, 2005; Goldenberg u. Goldenberg, 2005).

Weiterführende Anwendung seit 1990

1994 wurde in Kunming das erste Familientherapiezentrum gegründet und Familientherapie als offiziell zugelassenes Behandlungsverfahren in der Provinz Yunnan eingeführt. Heute ist Familientherapie in vielen Provinzen eine der beliebtesten und wichtigsten staatlich zugelassenen Formen der Psychotherapie in Krankenhäusern, finanziert durch die Krankenkasse, was in vielen anderen entwickelten Ländern so nicht der Fall ist. Mehr und mehr Menschen kennen diese Form der Psychotherapie. Einige führende Familientherapeuten sind bekannte Medienstars geworden, ähnlich wie Virginia Satir in den USA der 1960er Jahre.

Viele Fälle werden erfolgreich mit Familientherapie behandelt – vor allem psychologische Probleme von Kindern und Jugendlichen sowie Depressionen, Neurosen und psychosomatische Störungen von Erwachsenen. Psychologische Störungen bei Kindern und Jugendlichen sind in China weit verbreitet. Depression, Angststörungen, Tics, Schulprobleme, Essstörungen und andere emotionale und Verhaltensstörungen werden bei unter 18-Jährigen oft diagnostiziert. Diese Probleme hängen eng mit der »Ein-Kind-Politik« seit gut dreißig Jahren zusammen (Zhao et al., 2004). Neben klinischen Anwendungen sind die Konzepte und Methoden der Familientherapie in China auch in anderen Feldern wie Erziehung, Sozialarbeit, Justiz und Personalentwicklung angewandt worden (Zhang et al., 2004; Li et al., 2003, 2004, 2006).

Forschung über Familientherapie in klinischen Kontexten

In der Einführungsphase der Familientherapie weckten Aufsätze über therapeutische Techniken wie zirkuläres Fragen, unterschiedsbildende Fragen, Hypothesenbildung, Neutralität, positive Konnotation, Umdeutung, die Verflüssigung von Diagnosen oder Lösungsorientierung viel Neugier und Aufmerksamkeit (Zhao et al., 1997; Zhao, 1999; Sheng, 2000). Später führten Lee und Hue ein sogenanntes Vier-Schritte-Modell der strukturellen Familientherapie ein (Minuchin et al., 2007). Inzwischen rücken zunehmend empirische Studien zur Effektivität und Anwendbarkeit der Familientherapie in den Vordergrund (Hu u. Xiong, 1994; Chen, 2002; Chen u. Jiang, 1997; Zhao et al., 2004). Gemeinsam mit Kollegen habe ich bei 137 Familien die Wirksamkeit von Familientherapie nachgewiesen und ein kulturangemessenes Behandlungsmodell auf familiendynamischer Grundlage entwickelt (Zhao et al., 2000; Yang et al., 1999).Andere Forscher haben Vorteile der Familientherapie gegenüber anderen Ansätzen, insbesondere ausschließlich medikamentöser Therapie, aufgezeigt (Hu u. Wang, 2007; He, 2008; Li et al., 2006). Hu und Wang (2007) haben eine randomisierte kontrollierte Studie über eine »synthetische Familienbehandlung«, welche familiensystemische, psychoedukative und kognitiv-behaviorale Ansätze verknüpft, mit 76 depressiven Patienten und deren Familien vorgelegt. In letzter Zeit wird auch begonnen, therapeutische Prozesse und Therapeut-Klienten-Beziehungen methodisch sorgfältiger zu untersuchen. Gleichwohl spiegeln der Umfang familientherapeutischer Forschung und Publikationen die boomende klinische Praxis bislang nur unproportional wider. Aufgrund von Sprachbarrieren werden nur wenige chinesische Studien in internationalen Zeitschriften veröffentlicht. Und es bleibt eine Herausforderung, in der Forschung die kulturellen Charakteristika, die kulturelle Diversität und die sozialen Veränderungen des Familienlebens und der Familientherapie angemessen abzubilden (Zhao, 2009).

Familiendynamische Forschungen jenseits von klinischen Themen

Auch in nichtklinischen Arbeitsfeldern wird die Anwendung systemischer Konzepte und familientherapeutischer Techniken immer populärer. Verschiedene Fragebogen und Skalen zur Messung familiären Funktionierens und familiärer Dynamiken aus dem Ausland werden in großem Umfang genutzt. Beispiele sind der »Olson Marital Quality Questionnaire«, die »Family Environment Scale«, die »Family Adaptability and Cohesion Scales« oder der »Lock-Wallace Marital Adjustment and Prediction Test«. Diese Messinstrumente haben interessante Forschungsprojekte angeregt, allerdings stoßen sie auch an Grenzen. Eine Reihe ihrer Items eignen sich kulturbedingt nicht für die chinesische Bevölkerung und ihnen fehlen oft Items, die für ein tieferes Verständnis chinesischer Familien wichtig wären (Li u. Zhao, 2007).

Die erste chinesische Eigenentwicklung, der »Systemic Family Dynamic Self-rating Questionnaire« (SFDSQ), wurde von meinem Team im Jahr 2000 in Kunming vorgestellt (Yang et al., 2002; Kang, et al., 2001). Sie basiert auf theoretischen Konstrukten der Heidelberger Gruppe und enthält vier Dimensionen: Familienatmosphäre, Individuation, Systemlogik und Krankheitsverständnis. Einige unserer Studien konnten mit diesem Instrument Korrelationen zwischen Psychopathologie und Familiendynamik empirisch aufzeigen. Im pädagogischen Bereich konnte Li Hui damit nachweisen, dass es bestimmte Erziehungsmuster in chinesischen Familien tendenziell erschweren, sich an neue Lebensumstände jenseits des Elternhauses, beispielsweise während des Universitätsstudiums, anzupassen. Viele Eltern versuchen, ihren Einfluss auf ihre Kinder sehr lange zu bewahren, selbst dann noch, wenn sie erwachsen und bereits ausgezogen sind, was die Individuation oft behindert. Manche Familien erklären sich Krankheiten als einen von unkontrollierbaren äußeren Kräften verursachten Prozess, was fatalistische und pessimistische Haltungen bezüglich der Gesundheit fördert, die wiederum Tendenzen zur Somatisierung und emotionalen Störungen unter Familienmitgliedern begünstigen (Li et al., 2009). Erst kürzlich wurden mit dem SFDSQ in einer Vergleichsstudie zwischen Migrantenfamilien und alteingesessenen Familien im Shanghaier Boom-Distrikt Pudong Daten von 1059 Jugendlichen, 705 Vätern und 750 Müttern gesammelt (Miao, 2009).

Im heutigen China sind viele neuartige soziale und psychologische Probleme als »Nebenwirkungen« des radikalen soziokulturellen Wandels aufgetaucht. So stellt das sogenannte »4–2-1-Syndrom« eine große Herausforderung dar – eine Familienkonstellation mit vier Großeltern, zwei Eltern (die selbst verheiratete Einzelkinder sind) und einem einzigen (Enkel-)Kind, die im Genogramm wie eine umgekehrte Pyramide aussieht. In solchen Familien ist das Zusammenleben oft von Kontrollversuchen durchsetzt, auf der einen Seite steht die bedingungslose »elterliche Liebe zum Kind« und auf der anderen Seite finden Abwehrversuche gegen diese Kontrollen statt. Dies ist ein speziell chinesisches Phänomen, für das wir unsere eigenen Lösungen entwickeln müssen. Die nationale Regierung hat zum Studium solcher Probleme 2010 das bislang umfangreichste Forschungsprogramm über Familiendynamik, Ehebeziehungen und Eltern-Kind-Beziehungen im gegenwärtigen China aufgelegt, an dem mehr als zehn führende Universitäten beteiligt sind.

Schlussfolgerung

Familientherapie ist inzwischen ein gut eingeführter und adaptierter, nützlicher und viel genutzter psychotherapeutischer Ansatz in China. Sie »passt« zu den zunehmenden Beratungsbedürfnissen der Chinesen und eigentlich auch zur chinesischen Kultur, teilt sie doch mit letzterer einige ihrer philosophischen Wurzeln. Jedoch stellen sich bestimmte kulturelle Barrieren der »Verpflanzung« dieser neuen Methoden entgegen. Beispielsweise sind sowohl chinesische traditionelle Heiler wie moderne Ärzte daran gewöhnt, stets die Rolle einer überlegenen Autorität einzunehmen. Das erschwert es ihnen, die vom systemischen Ansatz betonte »neutrale Haltung« einzunehmen. Außerdem können einige radikale Interventionen nur sehr behutsam angewandt werden. Manche Kollegen halten Familientherapie ökonomisch für Zeitverschwendung, weil der Preis für Psychotherapie so niedrig ist, dass Psychotherapeuten nicht davon leben können. Aus all diesen Gründen müssen wir bei der Umsetzung jeglicher westlicher Psychotherapiekonzepte behutsam und kultursensitiv vorgehen.

 

*   Dr. med. Zhao Xudong ist Professor für Psychiatrie und Psychosomatik an der Tongji-Universität in Shanghai.

I   Die Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung

»Systemisch« ist der Kernbegriff dieses Buches. Bevor wir uns im Folgenden zunächst mit seiner geschichtlichen Entwicklung, dann den theoretischen Grundüberlegungen, dann immer mehr mit der Praxis beschäftigen, wollen wir einige Definitionen voranstellen, die alle den Wortstamm »System« enthalten (Kasten 1). Dies sind unsere Definitionen. Wie in den Sozialwissenschaften üblich, werden sie nicht von allen unserer Fachkollegen geteilt.

Definitionen (Teil 1)

–    Als System bezeichnen wir eine beliebige Gruppe von Elementen, die durch Beziehungen miteinander verbunden und durch eine Grenze von ihren Umwelten abgrenzbar sind. Solche Systeme finden wir quasi überall – von Fröschen im Tümpel über Axonen und Dendriten in einem Nervensystem und den Kommunikationen zwischen Eltern und Kindern in einer Familie bis zu den Verschaltungen in einem Computer.

–    Erst ein systemischer Blick einer Beobachterin lässt ein System entstehen. Denn erst diese entscheidet, welche Elemente, welche Beziehungen und welche Grenzen sie diesem System zuordnen will. Deshalb ist (»Was kann ich erkennen?«), kein ontologischer (»Was ist dort wirklich?«).

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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