Lehrbuch des Kreativen Schreibens - Lutz von Werder - E-Book

Lehrbuch des Kreativen Schreibens E-Book

Lutz von Werder

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Beschreibung

Das Lehrbuch stellt die in Deutschland relativ neue Methode des kreativen Schreibens vor. Es besteht zu einem Drittel aus praktischen Übungen (200 Schreibspiele, 20 Schreibprojekte, 40 Schreibmethoden und viele Arbeitstechniken), zu einem Drittel aus empirischem Anschauungsmaterial und zu einem Drittel aus einer theoretischen Grundlegung. Es leitet zur Durchführung und Auswertung kreativer Schreibgruppen an und entwirft Strategien zur Durchsetzung am Markt und in den Institutionen. Tausendfach und erfolgreich erprobt!

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Prof. Dr. Lutz von Werder, geb. 1939 in Berlin, Studium der Philosophie in Göttingen und Berlin; 1972 Promotion in Pädagogik; 1974-1980 Aufbau der „Stadtteilnahen Volkshochschule Schöneberg“; 1975 Habilitation in Soziologie; ab 1977 Professur für Kreativitätsforschung an der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin; ab 1982 Aufbau und Leitung des „Institut für kreatives Schreiben e.V. Berlin“; 1990-2000 Entwicklung einer praktischen Philosophie und Lebenskunst; ab 1997 Moderation von Philosophischen Cafés im Literaturhaus Berlin; ab 1999 Moderation von Philosophischen Cafés in der Urania Berlin; seit 2000 Leitung des philosophischen Radios beim WDR5.

Zum Buch

Tausendfach underfolgreich erprobt!

Das Lehrbuch stellt die in Deutschland relativ neue Methode des kreativen Schreibens vor. Es besteht zu einem Drittel aus praktischen Übungen, zu einem Drittel aus empirischem Anschauungsmaterial und zu einem Drittel aus einer theoretischen Grundlegung. Es leitet zur Durchführung und Auswertung kreativer Schreibgruppen an und entwirft Strategien zur Durchsetzung am Markt und in den Institutionen.

200 Schreibspiele

20 Schreibprojekte

40 Schreibmethoden

.... und viele Arbeitstechniken !

Lutz von WerderLehrbuch des kreativen Schreibens

Meinem Sohn Max gewidmet

Lutz von Werder

Lehrbuch deskreativen Schreibens

mit 22 Schreibbildern von Frank Steinicke

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2013Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2007Aktualisierte und neu gesetzte Ausgabenach der Auflage Schibri-Verlag, Berlin / Milow 2001Covergestaltung: Thomas Jarzina, KölnBildnachweis: Corbis GmbH, DüsseldorfeBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0343-4www.marixverlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung: Die Schreibbewegung in Deutschland und den USA

1. Ausbildung zum Schriftsteller oder was?

2. Die Schreibbewegung in Deutschland seit den 80er Jahren

3. Die Schreibbewegung in den USA seit den 80er Jahren

4. Aufbau und Ziel des vorliegenden Lehrbuches

5. Dank für Hilfe

1. TEIL: DAS POETISCHE FELD

A. Das kreative Schreiben

1. Begriff und Geschichte

2. Wissenschaftliche Zugänge zum kreativen Schreiben

2.1. Kreatives Schreiben als literarischer Stil

2.2. Kreatives Schreiben als Spiel

2.3. Kreatives Schreiben als Selbsterkenntnis und Selbsttherapie

2.4. Kreatives Schreiben als integrativer Ansatz

3. Schreibwerkstatt: Phasen, Potenzen, Struktur

4. Kreatives Schreiben in der Gruppe: Aspekte der Förderung und Hemmung von Kreativität in Schreibgruppen

5. Psychologische Aspekte des kreativen Schreibens

5.1. Das kognitive Modell des Schreibprozesses

5.2. Das emotionelle Modell des Schreibprozesses

5.3. Das kognitiv-emotionelle Modell des Schreibprozesses

6. Schreibblockaden, kognitiv und emotionell

6.1. Die kognitiven Blockaden

6.2. Die emotionellen Blockaden

6.3. Kulturelle Blockierungen

7. Kleine Poetik des kreativen Schreibens

8. Säkularisierte Initiation im Kreativen Schreiben

8.1. Sehnsucht nach dem Ursprung

8.2. Traumzeit und Traumfahrt

9. Das Archaische im kreativen Schreiben

9.1. Archaisches Dichten zur Zeit der Herrschaft der bikameralen Psyche oder zur Bedeutung der Musen

9.2. Probleme des Dichtens in der Phase des Unterganges der bikameralen Psyche oder der Kampf der Poesieheroen

9.3. Dichterprobleme in der Zeit der Dominanz der linken Hirnhemisphäre oder die Wiederkehr des Orpheus

10. Amerikanische Schreibbewegung

B. Techniken und Methoden des kreativen Schreibens

1. Methoden der Themenfindung

2. Schreibstimuli

3. Schreibtechniken

3.1. Therapeutische Schreibtechniken

3.2. Dichterische Schreibtechniken

3.3. Schreibtechniken der Deutschdidaktiker

3.4. Schreibtechniken der Journalisten

3.5. Schreibtechniken der Wissenschaftler

3.6. Schreibtechniken der Manager

3.7. Philosophische Schreibtechniken

4. Überarbeitungstechniken

4.1. Spielerische Techniken der Textarbeit

4.2. Systematische Techniken der Textarbeit

5. Techniken der Textdeutung

5.1. Spielerische Textdeutung

5.2. Systematische Textdeutung

6. Techniken der Textumsetzung

6.1. Text und Text

6.2. Text und Bild

6.3. Text und Sprache

6.4. Text und Spiel

6.5. Texte und technische Medien

6.6. Text und Musik

6.7. Text und Meditation

C. Szenarien des kreativen Schreibens

1. Die Spiele des kreativen Schreibens

1.1. Literarische Schreibspiele

1.2. Therapeutische Schreibspiele

2. Projekte als Szenarien des kreativen Schreibens

2.1. Projekt: Moderne Lyrik

2.3. Projekt: Märchen schreiben

2.4. Projekt: Romantisches Schreiben in der „Romantischen Galerie“ Berlin

2.5. Projekt: Reisen und Schreiben im mythischen Cornwall (England)

2.6. Projekt: Meditatives Schreiben

2.7. Projekt: Science Fiction

2.8. Projekt: Utopisches Schreiben

2.9. Projekt: Wissenschaftliches Schreiben

2.10. / 2.11. Projekte: Soziologisches Schreiben

2.10. Projekt: Der Homo clausus

2.11. Projekt: Der eigene Sozialcharakter

2.12. Projekt: Revue der klassischen Schreibspiele

2.13 Projekt: Philosophisches ABC

2.14. Projekt: Galerie der schönsten Schreibbilder

2.15. Projekt: Die durchgespielte Autobiographie

2.16. Projekt: Schreiben gegen Schreibstörungen

2.17. Projekt: Schreibaktionen

2.18. Projekt: Zielgruppenprojekte: Jugendliche und Senioren

2.19. Projekt: Die gereimte Familie

2.20. Projekt: Kollektives Schreiben

D. Beispieltexte des kreativen Schreibens

1. Autobiographische Texte

2. Texte mit Buchstabenspielen

3. Texte mit Stilvorgaben

4. Texte nach Stimuli

5. Kollektiv geschriebene Texte: Reihumtexte

6. Heilende Texte

2. TEIL: DIE PRAXIS DER POESIEPÄDAGOGIK

A. Empirische Grundzüge der Poesiepädagogik

1. Poesiepädagogik als unstete kulturelle Bildungsarbeit

2. Empirische Untersuchungen zu den „fruchtbaren Augenblicken“ im kreativen Schreiben

B. Theorie der Poesiepädagogik

1. Besonderheiten des Lernens im kreativen Schreibprozess

2. Krisen im Schreibprozess

2.1 Regression

2.2. Schreibblockaden

2.3. Katharsis

3. Chancen im Schreibprozess

3.1. Verschriftlichung/Fortschreiben

3.2. Rationales Schreibkalkül fördern

3.3. Mit Sprache und Schrift spielen

3.4. Beim Finden des eigenen Stils helfen

3.5. Förderung der Gestaltung schöner Sätze

3.6. Therapie und kreatives Schreiben verbinden

3.7. Beim Veröffentlichen unterstützen

4. Die autonome Funktion im Schreibprozess

C. Empirische und theoretische Aspekte der Poesiegruppenpädagogik

1. Unstete Aspekte der Schreibgruppenentwicklung

2. Krisen in Schreibgruppen

2.1. Krisenphasen

2.2. Autoritätskonflikte

2.3. Störungen in Schreibgruppen

2.4. Textdynamik

3. Chancen in Schreibgruppen

3.1. Zielgruppen und Trägerinstitutionen finden

3.2. Veranstaltungsplanung entwickeln

3.3. Szenarien einsetzen

3.4. Regeln für Schreibgruppen etablieren

3.5. Arbeitspapiere vorlegen

D. Anleiter und Teilnehmer des pädagogischen Feldes

1. Die Interventionen der Anleiter

2. Das Lernen der Teilnehmer

2.1. Emotionelles, soziales und kognitives Lernen

2.2. Lerngeschichten von Teilnehmern

3. Das Halten der Balance auf dem Weg zum poetischen Wir

3.1. Die Balance

3.2. Entspannen oder Ausbrennen

Schluss: Wie kann mit dem Lehrbuch gearbeitet werden?

1. Interessenten ohne jede Vorbildung

2. Teilnehmer an Schreibgruppen

3. Anleiter von Schreibgruppen

4. Fernstudenten

Literaturverzeichnis

Index

EINLEITUNG

Die Schreibbewegung in Deutschland und den USA

1. Ausbildung zum Schriftsteller oder was?

In der Bundesrepublik entwickelte sich seit Anfang der 70er Jahre eine kreative Schreibbewegung. Sie ging von der provokanten These aus: „Schreiben über seine alltäglichen Erlebnisse, Wünsche und Krisen kann jeder.“ Man formulierte: „Schreiben – in unserer Gesellschaft ein arbeitsteilig organisiertes Spezialvermögen – wollen wir als eine allgemeine Fähigkeit propagieren.“ (Boehncke, H.; Humburg, J.: Schreiben kann jeder. Handbuch zur Schreibpraxis für Vorschule, Schule, Universität, Beruf und Freizeit. Reinbek 1980, S. 9) Dieses freie Schreiben sollte sich „in dem Maße entfalten, in dem es eingebunden ist in selbstbestimmte Erfahrungs-, Handlungs- und Kommunikationszusammenhänge und dies einhergeht mit der Aneignung der Schreibtechniken bzw. Kommunikationsmittel.“ (Boehncke, H., Humburg, J., a.a.O., S. 89 f.).

Diese Expansion des Schreibens stieß bald auf die Kritik von Schriftstellern. Sie fragten: Zielt die Schreibbewegung auf langweilige Verständigungsliteratur, will sie Hobbyschriftsteller oder Berufsschriftsteller ausbilden? Es wird nicht überraschen, dass sich die Schriftsteller von der Schreibbewegung abwandten und verbreiteten, dass sie für Hobbyautoren und schreibende Selbsttherapeuten keinen Bedarf hätten. Der Autor Hugo Dittberner formulierte: „Da entsteht Verständigungsliteratur, die viele schreiben, aber keiner mehr lesen will.“ (Dittberner, H.: Arche Nova. Aufzeichnungen als Literarische Leitform. Göttingen 1998, S. 8)

Die Schreibbewegung hat sich um die Ablehnung durch die Schriftsteller nicht gekümmert, sondern – im Zugriff auf die 100-jährige Tradition des „kreativen Schreibens“ (Creative Writing) in den USA und Lateinamerikas – Theorie, Methodik, Didaktik und Evaluation des Kreativen Schreibens für alle in Deutschland ausgebaut. Der Schreibbewegung war dabei klar, dass Kreatives Schreiben als Unterhaltung, Selbstverständigung, Selbsttherapie ebenso nützlich ist, wie zur Aneignung von Schreib-Handwerkszeug. Sie ging davon aus, dass in einer demokratischen Gesellschaft nicht nur eine kleine Genie-Elite schreiben dürfe, sondern sie erkannte: Geschrieben wird, leider auf niedrigem Niveau, in der Schule, in der Universität, im Beruf und in der Freizeit, in der Erwachsenenbildung, in der Therapie, in der Altenarbeit, im Knast, in der Reha, auf Bildungsreisen usw., usw. Die Konsequenz war: Kreatives Schreiben als professionelles Schreiben wurde als Medium des Lernens, des Kommunizierens, der Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung ebenso praktiziert, wie als Vorschule für Schriftsteller und Journalisten, aber auch für Schüler und Studenten aller Disziplinen bei der Aneignung der Wissenschaft.

Das Berufsziel des Kreativen Schreibens wurde als Autobiograph, Hobby-Autor, als Kultursozialarbeiter, Schreibcoach, Schreibpädagoge, Schreibtherapeut oder Schreiblehrer an Universitäten und Hochschulen in allen Fächern umrissen. Das Berufsziel „Schriftsteller“ bzw. hochgelobter „Bestsellerautor“ war nur eine Marginalie für die Schreibbewegung.

Allerdings ist heute im 21. Jahrhundert das „kreative Schreiben“ auch in den Schriftstellerausbildungsgängen in den Universitäten von Leipzig, Hildesheim und Berlin angekommen. In diesen Ausbildungsgängen wird behauptet: Die Literatur über kreatives Schreiben stellt in ihren Büchern nicht die Frage, was kreatives Schreiben ist. Die Literatur des kreativen Schreibens käme weitgehend ohne begriffliches oder historisches Denken aus. Man erklärt nun mit großer Emphase: „Es ist also an der Zeit, das kreative Schreiben ernst zu nehmen.“ (H.-J. Ortheil: Aristoteles und andere Ahnherren. Über Herkunft und Ursprung des Kreativen Schreibens. In: Haslinger, J.: Treichel, H.-U. (Hrsg.): Schreiben lernen – Schreiben lehren. Frankfurt 2006, S. 17) Das ist ein totaler Irrtum. Das Kreative Schreiben ist längst, außerhalb der universitären Seminare in Leipzig, Berlin und Hildesheim, seit über 30 Jahren in Deutschland weit verbreitet und wissenschaftlich fundiert. Viele Schreibgruppen des Kreativen Schreibens helfen auch vielen anleitenden Schriftstellern beim Überleben, ohne die bezahlte Anleitung von kreativen Schreibgruppen gehören heute Schriftsteller zur Hartz-IV-Kultur. Sehen wir uns also die Entwicklung des kreativen Schreibens in Deutschland an.

2. Die Schreibbewegung in Deutschland seit den 80er Jahren

Die selbst organisierten Schreibwerkstätten mit literarischem Anspruch umfassten in der BRD 1988 etwa 200 Gruppen (M. Basse, E. Pfeiffer. Literaturwerkstätten und Literaturbüros in der Bundesrepublik. Lebach 1988). Ebenso viele Schreibgruppen gab es bis 1989 in der DDR, die sich am „Bitterfelder Weg“ des Schreibens für alle orientierten. Dieser Weg forderte: „Kumpel greif zur Feder!“ (Vgl. U. Steinhaussen, D. Faulseit, J. Bonk: Handbuch für schreibende Arbeiter. Berlin 1969) Die Zahl der literarischen Schreibgruppen hat sich in Gesamtdeutschland bis heute sicherlich verdoppelt.

Neben die literarischen Schreibwerkstätten treten die Kurse zum Kreativen Schreiben an den Volkshochschulen. Hier ist die rasante Entwicklung des Kreativen Schreibens ungebrochen. Eine Umfrage zeigte, dass es „heute im Durchschnitt an jeder Volkshochschule zwei Schreibwerkstätten gibt. Wenn jede Werkstatt 20 Teilnehmer hat und 1000 Volkshochschulen existieren, die im Jahr zwei Kurse anbieten, dann lernen heute jährlich 40.000 Deutsche kreatives Schreiben an deutschen Volkshochschulen.“ (L. v. Werder, B. Schulte-Steinicke: Die deutsche Schreibkrise. Empirische Umfragen von 1994-2002. Hohengehren 2003, S. 76)

An den deutschen Gymnasien firmiert kreatives Schreiben als „produktiver Umgang mit Literatur“. In 5 von 16 Bundesländern ist heute kreatives Schreiben fester Bestandteil der Rahmenpläne Deutsch. Die meisten Bücher zum Kreativen Schreiben richten sich deshalb in Deutschland auch an Lehrer oder Schüler.

Ansätze zum Kreativen Schreiben in den Wissenschaften gibt es in verschiedenen Fächern der Universitäten und Fachhochschulen. Gab es 1986 an deutschen Hochschulen 37 einsemestrige Schreibseminare, so haben sich die Angebote heute auf über 100 entwickelt. (L. v. Werder, B. Schulte-Steinicke, a.a.O., S. 20) Obwohl festgestellt wurde, dass „bei einem Drittel der Studenten die Schreibfähigkeit unterstützt werden muss, kann von einem endgültigen Durchbruch des Kreativen Schreibens in allen universitären Fächern noch keine Rede sein.“ (Vgl. L. v. Werder: Kreatives Schreiben in den Wissenschaften. Berlin 2002)

Das kreative Schreiben im Beruf „wird bisher in Deutschland von Akademikern in seinem Stellenwert für den Erfolg im Beruf noch häufig verkannt.“ (L. v. Werder, B. Schulte-Steinicke, a.a.O., S. 86) Dabei haben nach einer Umfrage „98% der Fach- und Führungskräfte der deutschen Wirtschaft Probleme mit dem beruflichen Schreiben.“ (L. v. Werder, B. Schulte-Steinicke, a.a.O.) Sowohl an Universitäten wie im Betrieb wird das Kreative Schreiben im Gegensatz zu außeruniversitären Institutionen erst ansatzweise gefördert.

Allerdings ist sicher, dass kreatives Schreiben ein wichtiges Hobby für die Freizeit der Einzelnen ist. Da die Gesellschaft immer älter wird, wird kreatives Schreiben seine Bedeutung in Deutschland bald für ein Millionenpublikum ausbauen können. Ja, es ist sicher, dass viele Menschen in Lebenskrisen, als Autobiographen und Tagebuchschreiber, als Gelegenheitsdichter und eigene Lebensphilosophen und Selbsttherapeuten das Kreative Schreiben heute schon hunderttausendfach nutzen.

In der internationalen Szene des Kreativen Schreibens liegt Deutschland mit diesem Verbreitungsprofil bisher gegenüber den USA und England deutlich im Hintertreffen. Während es in den USA über 350 Schreibstudiengänge für die literarische, wissenschaftliche oder berufliche Schreibqualifikation gibt, lassen sich in Europa nach Barbara Glindemann nur 56 Schreibstudiengänge in England finden. (B. Glindemann: Creative Writing in England, den USA und Deutschland. Frankfurt 2001). Theoretisch tritt die Erforschung des Kreativen Schreibens in Deutschland besonders an den Universitäten Leipzig und Hildesheim auf der Stelle.

Immerhin gibt es seit 2000 die Zeitschrift „TextArt. Magazin für Kreatives Schreiben“, die Oliver Buslau viermal im Jahr erscheinen lässt. Diese Zeitschrift bietet einen sehr praxisbezogen Einblick in das Schreiben verschiedener Textsorten vom Tagebuch über das Drehbuch bis zum Krimi. Sie stellt Schriftsteller vor, die Berichte von der Arbeit am Schreibtisch liefern. Schreibwerkstätten von Schreibpädagogen werden porträtiert. Die wichtigsten Neuerscheinungen zum kreativen Schreiben werden rezensiert. Verlage werden unter die Lupe genommen, besonders Druckkostenzuschuss-Verlage. Aber auch der Einsatz des Computers beim Schreiben wird gewürdigt. In jedem Heft werben 30-50 Schreibseminare bundesweit um Kunden.

3. Die Schreibbewegung in den USA seit den 80er Jahren

Das Kreative Schreiben in den USA expandiert seit 100 Jahren. In den USA erscheinen 16 Zeitschriften zum Kreativen Schreiben und vier Zeitschriften zum Kreativen Schreiben in allen wissenschaftlichen Fächern (Vgl. H. A. Rau (Hrsg.): Kreatives Schreiben an Hochschulen. Tübingen 1988, S. 15) Seit 1988 erscheint in den USA – in Deutschland undenkbar – jährlich eine Bibliographie zum Kreativen Schreiben. Sie wird von der „Conference on College Composition and Rhetoric” in Carbondale durch die „Southern Illinois Universal Press“ herausgegeben und verzeichnet jährlich rund 2000 der wichtigsten Publikationen zum Kreativen Schreiben.

Diese Bibliographie gliedert sich in folgende Abschnitte:

1. Bibliographien zum Kreativen Schreiben

2. Theorie und Forschung zum Kreativen Schreiben

3. Ausbildung zum Schreiblehrer

4. Studiengänge des Kreativen Schreibens

5. Qualitätskontrolle des Kreativen Schreibens

Die USA entwickelt eine umfassende kreative Schreibforschung, in Deutschlands Universitäten wird höchstens mal nach der Beziehung von Literaturwissenschaft und Kreativem Schreiben gefragt (S. Porombka: Abgewandt. Angewandt. Zugewandt. Über die Beziehung von Literaturwissenschaft und Kreativem Schreiben. In: Zeitschrift für Germanistik. H3/2006, S. 597–609).

Auch nach 10 Jahren Schreiblehre am „Deutschen Literaturinstitut“ an der Universität Leipzig ist man erst soweit, zu fragen, ob es denn für Berufsschriftsteller eine Poetik des Kreativen Schreibens geben müsste (J. Haslinger, H.-U. Treichel (Hrsg.): Wie werde ich ein verdammt guter Schriftsteller? Frankfurt 2005, Dies. (Hrsg.): Schreiben lernen – schreiben lehren. Frankfurt 2006). Als besondere Entdeckung gilt in Deutschland auch im Studiengang „Kreatives Schreiben“ an der Universität Leipzig die Verbindung von Lesen und Schreiben. Josef Orthei will außerdem mit dem Zugriff auf die Poetik von Aristoteles, Horaz und Poe Fundamente des Kreativen Schreibens legen. Kreatives Schreiben ist für die deutsche Schreibforschung eben nur „angewandte Literaturwissenschaft.“ (S. Porombka, a.a.O., S. 605)

In den USA ist dagegen kreative Schreibforschung seit 100 Jahren an der Tagesordnung. (Vgl. D. R. Russell: Writing in the Academic Disciplines 1870-1990. A Curricular History. Carbondale: 1991; Jollife, D. A. (Hrsg.): Writing in Academic Disciplines. Norwood 1988; Adams, K. H.: A History of Professional Writing Instructions in American Colleges. Dallas 1993)

Das Kreative Schreiben in den USA hat längst das Ghetto des literarischen Schreibens durchbrochen. In den USA existiert auch seit 1986 das „National Network of Writing across the Curriculum“, das an über 400 Hochschulen verankert ist. Kreatives Schreiben überschreitet den Bereich der Literaturproduktion und wird in Mathematik, Physik, Chemie, Recht und allen Geistesund Sozialwissenschaften, um durch kreatives Schreiben zu lernen, transdisziplinär entwickelt. Die Werkstätten des „Writing across the Curriculum“-Programms (abgekürzt WAC) versuchen, kreatives Schreiben und kritisches Denken zu verbinden.

Die Bibliographie “Writing across the Curriculum. An annotated Bibliography” von C. M. Anson, J. E. Schwiebert und M. M. Williamson (Westport 1993) macht deutlich, dass Theorie und empirische Erforschung im Kreativen Schreiben in allen Disziplinen wichtige Schwerpunkte sind. Das Buch zeigt aber auch, dass das Kreative Schreiben in Mathematik, Technik, Sozialwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Finanzwissenschaft und Recht eine besondere Aufmerksamkeit genießt.

Es gibt auch kreative Schreibseminare an US-Universitäten, in denen das Schreiben interdisziplinärer Texte gelehrt wird. An allen amerikanischen Universitäten und Colleges gibt es Schreiberatungszentren.

Das Handbuch “Writing Centres. An annotated Bibliography” (Hrsg.: C. Murphy, J. Law, S. Sherwood. Westport 1996) zeigt, dass die Geschichte der Schreibzentren, ihre Programme, die Theorie der Schreibzentren, die Verwaltung und Finanzierung, die Ausbildung von Lehrpersonal für Schreibzentren im Mittelpunkt einer lebendigen Forschung stehen.

Diese Praxis hat auch auf die Großbetriebe übergegriffen. Große Anwaltskanzleien und Forschungsinstitute haben Schreibberatungszentren. Wichtig ist in den USA auch die Erforschung des Schreibens in Gruppen, die kollektive Textproduktion betreiben, geworden. (Dynes, R.: Creative Writing in Group Work. Oxson 1988, Gere, A. R.: Writing Groups: History, Theory and Implication. Carbondale 1987) Die Verbindung von kreativem Lesen und Schreiben ist in den USA Standard (Fulwiler, T., Young, A.: Language Connection: Writing and Reading across the Curriculum. Urbama 1982). Alle Studenten in allen Fächern der USA werden angehalten, ein kreatives wissenschaftliches Tagebuch zu führen (Fulwiler, T.: The Journal Book. Portsmouth 1987). Jede Elite-Universität gibt ein eigenes Handbuch des Kreativen und wissenschaftlichen Schreibens für ihre Studenten heraus. (Hier eine winzige Auswahl: Hefermann, J. A. W., Lincoln, J. E.: Writing. A College Handbook. New York 1986; Hacker, D.: The Bedford Handbook for Writers. Boston 1994; Axelrod, R. B., Cooper, C. R.; The St. Martins Guide to Writing. New York 1988; Fulwiler, T.: Hayakawa, A. R.: The Blair Handbook of Writing. Prentice Hall 1994 usw.)

Als wichtige Grundlage des Kreativen Schreibens wird in den USA die Tiefenpsychologie, die Rhetorik, die Literaturwissenschaft, aber auch die Erwachsenenbildung und die Schreibpädagogik betrachtet. (Vgl. z.B. Lindemann, E.: A Rhetoric for Writing Teachers. New York 1982; Winterowd, W.R.: Composition / Rhetoric. A Synthesis. Carbondale 1986) Die Erforschung von Schreibstörungen ist in den USA ein wichtiger psychologischer Beitrag (Mundis, I.: Break writing black now. New York 1991; Rose, M. (Hrsg.): When a Writer Can’t Write. New York 1985; Kelloy, R.T.: The Psychology of Writing. New York 1999 etc.). Die Methodik und Didaktik des Kreativen Schreibens wird besonders entwickelt (Bishop, W. u.a.: Teaching Creative Writing. A Selective annotated Bibliography. Bloomington 1989).

Natürlich gibt es in den USA auch eine entwickelte Schreibtherapie, die 1980 mit A. Lerners Buch: „Poetry in the Therapeutic Experience“ (New York 1980) begann und von J. J. Leedy: „Poetry as Healer“ (New York 1985) weitergeführt wurde. P. Kelley hat in ihrer Untersuchung “The Uses of Writing in Psychotherapy“ (New York 1990) nachgewiesen, dass auch der therapeutische Aspekt des Kreativen Schreibens eindeutig nachweisbar ist. (Vgl. auch L.v. Werder: Kreative Einführung in Grundkonzepte der Psychotherapie. Berlin 1998, S. 14-17)

Die Wissenschaft des Kreativen Schreibens in den USA basiert auf einer riesigen universitären und außeruniversitären Schreibszene. So gibt es rund 200 Schreiborganisationen von professionellen und Hobby-Schreibern, die zwischen 5.000 bis 15.000 Mitglieder umfassen (Malone, E.: The complete Guide to Writers Groups, Conferences and Workshops. New York 1996, S. 129-151) Es gibt 350 Studiengänge zum Kreativen Schreiben. Dabei werden 200 dieser Studiengänge von Universitäten und 150 von Colleges angeboten. (Malone, E., a.a.O., S. 153-182) Dazu kommen die 400 Schreibprojekte des Schreibens „across the Curriculum“. Bekannt sind rund 1.500 Schreibberatungszentren und private Schreib-Lehr-Institute quer durch die USA. Sie wenden sich an alle Zielgruppen von Frauen, über Farbige, von Managern bis Fotografen, an Jugendliche und Leute über 57 Jahre (Malone, E., a.a.O., S. 183–245).

Es ist deshalb nicht überraschend, dass jährlich rund 2.000 Publikationen zum Kreativen Schreiben in den USA veröffentlicht werden. Die Zahl der Schreibprofessoren muss über 3.000 Hochschullehrer umfassen. Die deutschen Zahlen sehen dagegen mager aus: 3–5 Bücher über kreatives Schreiben pro Jahr und 5–6 Schreibprofessoren an deutschen Hochschulen. Hochgerechnet!

4. Aufbau und Ziel des vorliegenden Lehrbuches

Die Entwicklung des Kreativen Schreibens in den USA setzt sich aber auch in Deutschland langsam durch. Es ist deshalb an der Zeit, mit dem neu aufgelegten „Lehrbuch des Kreativen Schreibens“ einen immer noch aktuellen Überblick über Theorie und Praxis des kreativen Schreibens für alle zu geben.

Die Geschichte des Kreativen Schreibens in Deutschland lässt sich in folgende Phasen gliedern:

– Kreatives Schreiben in der Schule (ab 1970)

– Kreatives Schreiben in der Freizeit (ab 1980)

– Kreatives Schreiben in Wissenschaft, Beruf und Therapie (ab 1990)

– Kreatives Schreiben in allen wissenschaftlichen Fächern (ab 2000)

Das Lehrbuch fasst die sich erweiternden Erkenntnisse aller dieser Phasen zusammen.

Im Lehrbuch wird nicht der kritische Umgang mit fertigen Texten vorgestellt, sondern die Begleitung durch den Schreibprozess mit seinen vier Phasen: Ideen sammeln, gliedern, schreiben und überarbeiten.

Dabei ist klar, dass für den Schreibprozess in der 1. Phase die Kreativitätsforschung und die Neurologie zum Zuge kommen. In der 2. und 3. Phase sind die kognitive und die Tiefenpsychologie von Wichtigkeit. In der 4. Phase hat die Poetik, die Rhetorik, die Metapherologie ihren Stellenwert.

Für die Durchführung des Kreativen Schreibens in Gruppen ist dann noch die Gruppenpädagogik und Gruppendynamik von Wichtigkeit. Für den Vertrieb der entstandenen Texte wären die Ökonomie und das Marketing zu Rate zu ziehen. Das Lehrbuch ist deshalb, seitdem es zum ersten Mal erschienen ist, interdisziplinär.

Das Lehrbuch des Kreativen Schreibens gliedert sich in zwei Teile:

Der 1. Teil umfasst das Feld des Schreibens: Er definiert das Kreative Schreiben, stellt die Techniken und Methoden vor und entwickelt Schreibszenarien für viele Textsorten in vielen Fächern und Formaten.

Der 2. Teil entwickelt die Theorie der Schreibpädagogik und der Schreibgruppenpädagogik.

Am Schluss gibt es Hinweise wie man mit diesem Buch kreativ umgehen kann.

Das Buch hat eine große und differenzierte Zielgruppe:

• Es wendet sich an Schriftsteller, die eine Qualifikation als Schreibgruppenleiter erwerben wollen.

• Es richtet sich an Hobby-Schriftsteller, die Anregungen für Schreiben in der Einsamkeit oder in Schreibgruppen suchen.

• Es ist für alle Menschen bestimmt, denen kreatives Schreiben helfen kann, ihr Leben und ihre Lebenskrisen zu meistern.

• Das Buch ist auch für Sozial- und Pflege-Profis bestimmt. Es gibt Hilfen für Sozialarbeiter und Sozialpädagogen, die mit dem Medium Schreiben ihre Zielgruppe zur Verbesserung ihres Selbstverständnisses führen wollen.

• Dieses Buch hilft Schreiblehrern und Schreiberatern, die Ressourcen des Kreativen Schreibens für ihre Kunden besser zu nutzen.

• Schließlich kann es Erwachsenenbildner für ihre Schreibgruppen an Volkshochschulen, in Gewerkschaften, in Vereinen und Verbänden Anregungen vermitteln.

• Außerdem kann für Hochschullehrer das Kreative Schreiben zusammen mit dem Kreativen Lesen ein wichtiges Medium zur Verbesserung ihrer Lehre werden.

• Studenten aller Fächer können mit diesem Lehrbuch ihr Potential des Selberlernens durch Schreiben verbessern.

Angesichts dieser breiten Zielgruppe ist klar, dass auf dem Gebiet des Kreativen Schreibens noch viel Forschungsbedarf besteht. Das Lehrbuch kann hier nur die Forschung sowie die Praxis anregen. Es weist selbstverständlich noch viele Lücken in der Schreibforschung wie in der Schreibpädagogik auf.

Die ausführliche Bibliographie zum Kreativen Schreiben am Ende des Buches deckt diese Defizite auf und hält viele überraschende Informationen für alle Schreibbegeisterten bereit.

5. Dank für Hilfe

Ohne 20 Jahre Schreibforschung und viele Studentengenerationen aus Schreibgruppen und Schreibprojekten, ihren Praxisberichten und Diplomarbeiten wäre dieses Buch nicht entstanden. Ohne 15 Jahre Schreibforschung am Hochschuldidaktischen Zentrum (HDZ) der Alice-Salomon-Fachhochschule wäre die Aufarbeitung der amerikanischen Forschung zum Kreativen Schreiben nicht möglich gewesen. Die 2006 erfolgte Eröffnung des 1. Master-Aufbau-Studiengangs „Zum kreativen und autobiographischen Schreiben“ an der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin war ohne dieses Lehrbuch undenkbar.

Ich danke Frau Miriam Zöller für die Möglichkeit, dieses Buch in einer neuen Ausgabe einem breiten Publikum vorzustellen. Frau Iris van Beek vom Schibri-Verlag und Frau Dipl. Ing. Sonja Lingk, meiner Assistentin, gilt mein Dank für die Betreuung dieses Buchprojekts.

Berlin, Frühjahr 2007

Prof. Dr. Lutz von Werder

1. TEIL

DAS POETISCHE FELD

„Ich habe oft gehört, dass niemand ohne Begeisterung und einen gewissen Anhauch von Wahnsinn ein guter Dichter werden kann.“Demokrit, in: W. Capelle (Hrsg.):Die Vorsokratiker. Stuttgart 1968, S. 465

„Denn ein leichtes Wesen ist der Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist, und bewusstlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt.“

(Platon Ion, in: Platon: Sämtliche Werke.Reinbek, 1959 Bd. 2, S. 103)

„Wer aber ohne den Wahnsinn der Musen sich den Pforten der Dichtkunst naht, in der Überzeugung, schon durch gute Technik ein fähiger Dichter zu werden, der bleibt selbst erfolglos, und die Dichtung des Vernünftlers verschwindet vor der Dichtung der im Wahn Verzückten ins Nichts.“

(Platon Phaidros. Frankfurt 1963, S. 35)

A. Das kreative Schreiben

1. Begriff und Geschichte

Die moderne Kreativitätsforschung hat ihren Gegenstand von zwei Seiten umschrieben: Kreativ ist jeder Akt, der für ein Individuum etwas Neues darstellt oder im weiteren Sinne etwas Neues für einen Kulturkreis oder die Menschheit bedeutet (U. Beer, W. Erl: Entfaltung der Kreativität. Tübingen 1974, S. 9).

Kreatives Schreiben soll also das Schreiben genannt werden, das einmal für den einzelnen eine Entfaltung neuer Ausdrucksmöglichkeiten, Kommunikationsformen und neue Formen der Selbsterkenntnis mit sich bringt. Damit das kreative Schreiben aber nicht nur einen individuellen, sondern auch gesellschaftlichen Fortschritt beinhaltet, muss das kreative Schreiben die produktive Auseinandersetzung mit den literarischen Experimenten fortführen, die seit der Romantik die Literatur prägen. Es muss die großen Alternativen in der heutigen Literatur, Sprachexperiment und Selbsterfahrung, zu vermitteln suchen.

In der neuen Literaturdiskussion seit 1945 tritt ein wichtiger Antagonismus auf. Schreiben wird als Rühmen des Lebens (H.G. Oates, O. Paz), als Sprachexperiment und Sprachspiel (Gomringer, Mon, Heissenbüttel, Jandl) einerseits und als Gefühlsausdruck (W.H. Auden, A. Ginsberg), als Darstellung von Erfahrung (C. Wolff, R. Baumgart), als Selbsterkenntnis (Sartre, Eich, Domin) andererseits verstanden und praktiziert.

Dieser Antagonismus und seine Vermittlung birgt neue Kreationsmöglichkeiten, die das kreative Schreiben nutzen sollte. Kreatives Schreiben als produktives, literarisches Schreiben (vgl. C. Eykman: Schreiben als Erfahrung. Bonn 1985, 32–68) ist also zu unterscheiden von dem spontanen Schreiben in vielen Schreibgruppen, und es ist besonders zu unterscheiden von anderen Schreibarten wie journalistisches, wissenschaftliches oder triviales Schreiben (vgl. W. Gössmann: Theorie und Praxis des Schreibens. Düsseldorf 1987, S. 57–137).

Die Geschichte des kreativen Schreibens wird durch das Jahr 1900 in zwei Teile geteilt. Die Zeit vor der Veröffentlichung von Freuds Traumdeutung und die Zeit nach der Veröffentlichung von Freuds Traumdeutung. Vor Freud diente das Schreiben der Darstellung von Gefühlen, der Erfahrung, der Selbsterkenntnis. Es verwandte besonders die Produktionstechniken der freien Assoziation und der Imagination. Freuds Tiefenanalyse der Triebkräfte der freien Assoziation, seine Enthüllung der kindlichen Komplexe als Quelle des Schreibens, haben Technik und Inhalt des Schreibens umgewälzt. Schon die Wiener Literatur (Schnitzler, K. Kraus, H. v. Hofmannsthal) verstrickte sich in eine intensive Auseinandersetzung mit Freud (W. Worbs: Nerven-Kunst. Frankfurt 1983). D. H. Lawrence entwickelte als Reaktion auf Freud „eine eigene Auffassung vom Unbewussten, das es nicht aufzuklären, sondern in der Erfahrung des Körpers, insbesondere in der sexuellen, als Energie zu wecken gilt“ (H. Mettler: Autoren schreiben anders: Der Einfluss der Psychoanalyse auf die moderne Literatur. In: Psychologie im 20. Jahrhundert. München: Kindler 1980, Bd. 15, S. 837). Rilke und Kafka lehnten die Analyse ab. Hesse und Th. Mann verwerteten die Psychoanalyse als eigene Erfahrung oder Vorbild. Aber erst der Expressionismus schuf mit der Technik der mythologischen Imagination, der Surrealismus mit dem automatischen Schreiben, der Dadaismus mit dem zitierenden Schreiben Produktionstechniken, die über die freie Assoziation hinausgingen, die Textdeutung überwanden und dem Sprachspiel, dem Sprachexperiment den Weg ebneten. Diese neuen Schreibtechniken gehen über die freie Assoziation des 19. Jahrhunderts hinaus. Schon C.G. Jung konnte J. Joyce mitteilen, dass Joyces innerer Monolog der Molly Bloom im Schlusskapitel des Ulysses: „eine Kette veritabler psychologischer Perlen ist. Höchstens des Teufels Großmutter weiß so viel von der Psychologie einer Frau. Ich wenigstens nicht“ (zit. n. R. Ellmann: James Joyce. Frankfurt 1979, Bd. 2, S. 947).

Seit die neuen literarischen Produktionstechniken des 20. Jahrhunderts in engster Auseinandersetzung mit der freien Assoziation sich entwickelt haben, tut sich die Psychoanalyse schwer mit der literarischen Moderne. „Es scheint unmöglich, die surrealistischen Produktionen der Analyse zu unterziehen“ (M. Rutschky: Lektüre der Seele. Berlin 1981, S. 166). Während die Analyse an Texten des 19. Jahrhunderts die Tiefenschichten erhellte, muss sie angesichts der literarischen Moderne oft vor dem „schöpferischen Geheimnis“ kapitulieren (vgl. C.D. Eck: Psychoanalytiker deuten Gestalten und Werke der Literatur. In: Psychologie des 20. Jahrhunderts. München: Kindler 1987, Bd. 15, S. 863). Die moderne Literatur spaltet sich: Sie zerfällt in eine Strömung, die traditionell assoziativ weiter schreibt und in eine Strömung, die die neuen literarischen Produktionstechniken benutzt. In der traditionellen Schreibe werden heute auch die vielen Vater- und Muttergeschichten geschrieben, die als Selbsttherapie einige Therapeuten um Kunden bringen. Davon abgegrenzt arbeiten die experimentellen Texter, vor denen die Deuter ratlos stehen. Kreatives Schreiben könnte sich auf beide Lager beziehen und aus ihrer Integration neue Schreibimpulse entwickeln.

2. Wissenschaftliche Zugänge zum kreativen Schreiben

Die neue deutsche Schreibbewegung hat seit Beginn der 70er Jahre nicht nur viele Schreibpraxen entwickelt, sondern sie war auch um eine wissenschaftliche Theorie ihres Tuns bemüht. Die wissenschaftlichen Zugänge zum kreativen Schreiben haben sich allerdings zersplittert. Um aber einen gewissen Überblick zu bekommen, sollen die Zugänge nach ihrem Verständnis des Gegenstandes des kreativen Schreibens unterschieden werden. Nach meiner Einschätzung lassen sich drei wissenschaftliche Zugänge typologisieren: Kreatives Schreiben als Stilaneignung, als Spiel und als Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung.

2.1. Kreatives Schreiben als literarischer Stil

Am Anfang der Schreibbewegung standen die unruhigen Deutschlehrer und Deutschdidaktiker, die aus den Fesseln der bloßen Literaturrezeption und Literaturkritik heraus wollten. So propagierte Ingeborg Meckling in „Kreativitätsübungen im Literaturunterricht der Oberstufe“ (München 1972) kreatives Schreiben als Imitation von literarischen Schreibmustern. Sie empfahl z. B. dadaistische Texte zu imitieren, anti-dadaistische Texte zu schreiben und dadaistische Textcollagen zu produzieren (vgl. I. Meckling, a. a. O., 8. Übung Dada). Hans Gatti stellte in seinem Buch „Schüler machen Gedichte“ (Freiburg 1979) das analoge Gestalten in den Mittelpunkt. Das analoge Gestalten beginnt mit der Begegnung eines Dichtertextes. „Nach dessen Behandlung versuchen nun die Schüler einen thematisch und meist auch formal ähnlichen Text zu schreiben“ (H. Gatti, a. a. O., S. 66). Ein großer Vorteil, meint Gatti, liegt darin, „daß das Muster für die selbst zu verfassenden Gedichte schon bekannt ist, also ein vorher erarbeitetes Schema nur noch nachgeahmt zu werden braucht“ (H. Gatti, a. a. O., S. 67). Was richtiger literarischer Stil ist, das bestimmt für Gerd Ueding die antike Rhetorik Quintilians. „Oberste Regel für die sprachliche Fassung eines Themas sind in der rhetorischen Stillehre enthalten“ (G. Ueding: Rhetorik des Schreibens. Königstein 1985, S. 61). Ein System des Schreibens nach stilistischen Regeln hat Günter Waldmann mit seinem Buch „Produktiver Umgang mit Lyrik“ (Baltmannsweiler 1988) vorgelegt, das Versform, Klangform, Wortform, Bildform, Satzform und Strophenform in praktischer Hinsicht vorstellt und die Aneignung dieses lyrischen Stils als Erweiterung der Alltagssprache um die literarische Sprache versteht und diesen Vorgang „produktive literarische Differenzerfahrung“ (G. Waldmann, a. a. O., S. 232) nennt. Einen sehr viel breiteren Ansatz des kreativen Schreibens nach vorgegebenen Mustern vertritt W. Gössmann in seinem Buch „Theorie und Praxis das Schreibens“ (Düsseldorf 1987). Er löst sich vom lyrischen Schreiben ab und erschließt folgende Bereiche des Schreibens: 1. Spontanes literarisches Schreiben, 2. Erzählendes Schreiben, 3. Konzipierendes Schreiben, 4. Journalistisches Schreiben. 5. Wissenschaftliches Schreiben, 6. Literarisches Übersetzen. In allen diesen Bereichen will er zeigen, „daß Schreiben die Anspannung des Denkvermögens verlangt sowie die Ausbildung der sprachlichen Sensibilität“ (W.Gössmann, a. a. O., S. 14).

2.2. Kreatives Schreiben als Spiel

Im Gegenzug zur Gefahr, kreatives Schreiben in starrer Imitation und bloßer Regelbefolgung zu ersticken, hat eine zweite Gruppe von Wissenschaftlern den Spielcharakter des kreativen Schreibens untersucht. Zum Vorsprecher der Praxis „Arkadischer Schreibspiele“ machte sich besonders Gundel Mattenklott. Sie erforschte die Schreibspiele der Poeten, z. B. das Schreiben nach Spielkarten, nach dem Tarot, mit Hilfe des I-Ging usw. Kreatives Schreiben ist für Mattenklott „das Spielen mit Worten, Buchstaben, Sätzen, Texten … ein praktisches Experimentieren … Es gehört zu den wichtigsten Disziplinen, denn in der Möglichkeit des Sprechens, des Sich-Verständigens, der Übersetzung und der Vermittlung von Texten liegt unsere Zukunft beschlossen“ (G. Mattenklott: Spielregeln in der Literatur. Diskussion Deutsch, 1985, 16. Jg., H. 84, S. 435). Die „Arkadischen Schreibspiele“ etablieren eine neue Form literarischer Geselligkeit, die durch folgende Momente charakterisiert wird: Spiel, Spaß, Lust und Heiterkeit. Sie heben die Konkurrenz unter den Menschen auf. Sie sind Spiele ohne Sieger. Sie befriedigen den Wunsch nach Stillstand der Zeit, nach Fest und Aufbruch aus dem Alltag. Sie machen die Teilnehmer zum Subjekt. Sie erweitern die Sprachfähigkeit und die Sprachinspiration. Sie vermitteln den Schreibgenuss und die Erkenntnismöglichkeit der Dichter (vgl. G. Mattenklott: Literarische Geselligkeit, Stuttgart 1979, S. 181 f.). Dieses Votum für das Schreibspiel unterstützt auch Gerhard Goebel mit folgenden Argumenten: „Dann aber ist auch zu bedenken, daß die Arkadischen Spiele, nun gerade die, bei denen (auf den ersten oder gar zweiten Blick) Absurdes oder selbst Abgeschmacktes herauskommt, einen unvergleichlichen Vorzug haben: Sie geben der Spielfähigkeit selbst, in der nicht nur nach Freud das Wesen der dichterischen Produktivität besteht, eine Chance, sich aus sozialisationsbedingter Verschüttung ein Stück zu befreien; sie fordern die Fantasie und die Sprache heraus, die Zwänge einer vorgegebenen, quasi verordneten Wirklichkeit und Vernünftigkeit abzuschütteln und mögliche Welten zu ersinnen, in denen das Abgeschmackte und Absurde logisch, sinnvoll und sogar schön ist. Und sie geben dem Spieler, der sich sonst nur als mehr oder weniger andächtig oder unverdrossener Kunstverbraucher kennt, die Möglichkeit, sich wenigstens vorstellungsweise auf den Standpunkt des Produzenten und damit in eine Welt zu versetzen, in welcher die arbeitsteilige Scheidung der Menschen in Kunstproduzenten und Kunstkonsumenten und solche, die in ihrer Stellung im Produktionsprozeß ganz und gar von der ästhetischen Erhöhung des Lebens ausgeschlossen sind, aufgehoben wäre; wo das Zoon politikon ein Zoon poetikon wäre und umgekehrt“ (G. Goebel: Schreibspiele oder die Vergesellschaftung der Schrift. In: Lendemais, 3 (1978), Bd. 12, S. 108). Die Arbeit mit Schreibspielen ist heute in Schreibwerkstätten so verbreitet, dass G. Schalk und B. Rolfes in ihrem Buch „Schreiben befreit“ (Bonn 1986) auf 100 Seiten eine breite Palette von Schreibspielen und Übungen vorstellen konnten, die sie aus der Praxis gewonnen hatten.

2.3. Kreatives Schreiben als Selbsterkenntnis und Selbsttherapie

Vielen Teilnehmern an Schreibwerkstätten war aufgefallen, dass beim Schreiben sich therapieähnliche Prozesse vollziehen. Als einer der ersten artikulierte dieses Phänomen Paul Schuster 1977: „Im Prozess des Schreibens wird eine Fülle von Erinnerungen heraufbeschworen, von atmosphärischen, dinglichen, physiognomischen Details, an die man viele Jahre nicht gedacht hat – und das oft in einer Genauigkeit, die Staunen auslöst. Manchmal kommt es zu Kettenreaktionen, so dass man schreibend unversehens in ganz andere Bereiche gerät als das Thema sie absteckt“ (P. Schuster, Selberschreiben – von den Schwierigkeiten des Lernens und Verlernens. H. Beck, H. Boenke (Hrsg.): Jahrbuch für Lehrer. Reinbeck 1977, S. 206). Auch 1979 bestätigt Schuster, „dass einem beim Schreiben (allerdings nur beim Schreiben in eigener Angelegenheit, zumal dann, wenn man über sehr weit Zurückliegendes schreibt) eine Menge von Dingen einfallen, an die man seit Jahren nicht gedacht hat und vielleicht auch nie wieder gedacht hätte ohne dies Spiel. Schreiben kann also Vergessenes wieder in Erinnerung rufen, Wiederbegegnung mit sich selbst bewirken, dadurch aber tatsächlich Selbsterkenntnis fördern“ (P. Schuster: Sinnlichkeit und Talent. Zu einer Grundbedingung des Schreibens. In: Literaturmagazin, 11, 1979, S. 164).

Die wesentlichen Aspekte des kreativen Schreibens hat Jürgen Fröchling im autobiographischen Schreibumfeld folgendermaßen benannt: 1. Autobiographie, 2. Fantasie, 3. Ästhetik, 4. Kommunikation. Er hat auch die regressiven und progressiven Phasen im kreativen Schreibprozess bemerkt. Regression bedeutet, das „sich Einlassen auf verborgene innere Triebkräfte, was zu einer graduellen Auflösung festgefügter innerer Strukturen des Schreibenden führt“ (J. Fröchling: Was beim Schreiben so passiert und wie man damit umgehen kann. In: PTI-Info, 1989, Nr. 9, S. 74). Der Regression beim Schreibakt folgt aber bei der Arbeit am Text die Progression: „Die bewusste sprachliche Formung und Überarbeitung aber führt wieder zu einer neuen Integration der so freigewordenen Kräfte in die Gesamtpersönlichkeit des Schreibens, was den so oft beobachteten Gewinn als Erkenntnis beim Schreiben verstehbar macht“ (J. Fröchling: Was beim Schreiben so passiert und wie man damit umgehen kann, a. a. O., S. 74, vgl. auch ders.: Expressives Schreiben. Frankfurt 1987). Jürgen vom Scheidt, der Leiter der „Münchner Schreibwerkstatt“, hat einen umfassenden Katalog der Funktionen des kreativen Schreibens entworfen, der besonders die therapeutischen Aspekte des Schreibens betont: „Das Schreiben kann Informationen verarbeiten, von innerem Druck entlasten, die Persönlichkeit in Subjekt und Objekt spalten, Gefühlserinnerungen anreichern, von allzu bedrohlichen Gefühlen distanzieren, unvereinbare Gegensätze integrieren, Erfahrungen verdichten, die Welt vergeistigen, Sinn stiften, unbewusste Inhalte durch Fehlleistungen sichtbar machen, die eigene Vergangenheit wiedererinnern und aneignen, geistige Zugänge versprachlichen, Erfahrungen verinnerlichen, das Loslassen und Langsamerwerden üben, die Aufmerksamkeit auf die eigene Mitte lenken, neue geistige Ordnungen strukturieren und sich selbst auf das Wesentliche konzentrieren helfen“ (vgl. J. vom Scheidt: Kreatives Schreiben. Frankfurt 1989, S. 38–42). Damit wird die Breite der therapeutischen Möglichkeiten des Schreibens sichtbar gemacht. Es werden einmal die regressiven Gefahren des kreativen Schreibens erarbeitet: Die Verstärkung der Einsamkeitserfahrung (J. vom Scheidt, a. a. O., S. 163), die Konfrontation mit dem inneren Schreiber „tief im archetypischen Urgrund“ (J. vom Scheidt, a. a. O., S. 102), dem inneren Kind, dem „Hüter der Kreativität“ (J. vom Scheidt, a. a. O., S. 120), die erneute Konfrontation mit dem „was einem in früheren Jahren Schmerzen zugefügt hat“ (J. vom Scheidt, a. a. O., S. 135), das Einrasten von Schreibblockaden (J.v. Scheidt, a. a. O., S. 139). Zum anderen werden die progressiven Chancen des Schreibens besonders durch die unterstützende Gruppenarbeit betont. Die Gruppe leistet ein frühes Echo auf den Text und die Herauslösung des Schreibers aus der bedrohlichen Einsamkeit. „Die Gruppensituation kann … seelische und soziale Verkrustungen lockern und so dazu beitragen, dass die Einfälle fließen, dass das Schreiben etwas von der qualvollen Mühe verliert, die so viele Menschen davon abhält, sich das vielseitige Instrument zu nutze zu machen“ (J. vom Scheidt, a. a. O., S. 185).

2.4. Kreatives Schreiben als integrativer Ansatz

Diese drei genannten Ansätze bekämpfen sich untereinander, grenzen sich ab und versuchen, sich jeweils eigenständig zu profilieren. Das hat zur Folge, dass wichtige Erfahrungen nicht berücksichtigt werden, dass das kreative Schreiben als Gegenstand fragmentiert wird. Statt die äußeren Widerstände gegen das kreative Schreiben in einer Gesellschaft latenter Analphabeten zu bekämpfen, ist bei diesen Ansätzen Selbstzerfleischung angesagt.

Es ist kein Wunder, dass der integrative Ansatz, der kreatives Schreiben sowohl als Stil, als Spiel und als Therapie ernstnimmt, in der amerikanischen Schreibbewegung entstand, die sehr viel älter und entwickelter ist als die deutsche. Das Buch von G.L. Rico: „Garantiert Schreiben lernen“ (Reinbek 1984) hat gezeigt, dass beim kreativen Schreiben literarische, spielerische und therapeutische Aspekte zu berücksichtigen sind. Durch G.L. Rico wurden auch meine beiden Bücher „… triffst Du nur das Zauberwort“, a. a. O., und „Schreiben als Therapie“ (München 1988) angeregt, die besonders die therapeutischen Szenarien des kreativen Schreibens entworfen haben. Um den Charakter eines integrativen Ansatzes des kreativen Schreibens herauszuarbeiten, soll im Folgenden über den bisherigen Ansatz hinaus die Integration rationaler und emotionaler Aspekte des kreativen Schreibens entwickelt werden.

3. Schreibwerkstatt: Phasen, Potenzen, Struktur

Eine Schreibwerkstatt ist eine kreative Gruppe, die sich zum Zweck der Stimulation, Produktion, Bearbeitung und Deutung von Texten zusammengefunden hat. Jede Sitzung dieser Werkstatt dauert etwa 120 Minuten. Dabei gliedert sich jede Sitzung in folgende Abschnitte:

1. Schreibanregungen (20 Minuten)

2. Schreibarbeit (20 Minuten)

3. Textarbeit (20 Minuten)

4. Textdeutung (60 Minuten)

Eine Schreibwerkstatt trifft sich gewöhnlich einmal die Woche abends, über mindestens ein halbes Jahr. Es gibt aber auch Werkstätten, die über drei und mehr Jahre arbeiten (vgl. P. Schuster, J. vom Scheidt).

Die Phasen der Schreibwerkstatt können sich auf die entdeckten Phasen der Kreativitätsforschung stützen. Viele Kreativitätsforscher glauben nicht, dass Kreativität ein blitzartiger Einfall ist, sondern kreative Einfälle sind für sie nur ein Teil eines größeren kreativen Prozesses. „Kreativität ist nur zu einem Teil Inspiration, größtenteils aber Transpiration (Schweiß und Fleiß). Vor und nach dem kreativen Einfall liegen oft harte Vorbereitungen und Ausarbeitungen“ (S. Preiser: Kreativitätsforschung. Darmstadt 1976, S. 42). Gewöhnlich werden vier Phasen des kreativen Prozesses unterschieden: „Das Vierphasenmodell findet man in Ost wie West immer wieder vor, wenn über Kreativität und schöpferische Arbeit nachgedacht wird“ (M. Curtis: Theoria in nuce. In: Diess.: Seminar. Theorien der künstlerischen Produktivität. Frankfurt 1976, S. 23). Die vier Phasen werden Inspiration, Inkubation, Illumination und Verifikation genannt (vgl. Preiser, a. a. O., Tabelle 2, S. 42 ff.).

Zur Inspirationsphase des kreativen Prozesses gehören bestimmte aktive Auseinandersetzungen mit der Umwelt, das spontane Entdecken verborgener Probleme in der äußeren Umwelt oder in der eigenen Seele und die Verarbeitung und Sammlung von Informationen ohne vorschnelle Verallgemeinerungen und Kategorisierungen.

In der Inkubationsphase wird mit dem gewonnenen Ausgangsmaterial gespielt, oft in einem Bewusstseinszustand der verminderten Aufmerksamkeit des Ichs. Diese teilweisen Regressionen im Dienste des Ichs erleichtern „ein problembezogenes, aber lockeres und damit unvoreingenommenes Herumspielen mit Informationen, Problemaspekten und Gedankenverknüpfungen (Assoziationen)“ (S. Preiser, a. a. O., S. 45). In der Inkubationsphase kann es zum Auftauchen mythologischer und symbolischer Bilder kommen, die aus der Kindheit stammen und dem Ich erstmal sehr fremd vorkommen: „Symbol und Mythos haben kindliche archaische Ängste, unbewusste Sehnsüchte und ähnliche primitive Inhalte ins Bewusstsein zu heben. Das ist ihr regressiver Aspekt. Aber sie fördern auch neue Bedeutungen, die vorher buchstäblich nicht vorhanden waren. … Dies ist die progressive Seite von Symbol und Mythos. Dieser Aspekt weist nach vorn. Er ist integrativ“ (R. May: Mut zur Kreativität. Paderborn 1987, S. 86). Der Erwachsene steht diesen fremden Bildern aber nicht hilflos gegenüber. „Im Erwachsenenalter besitzen wir viele komplizierte Symbolmuster, von denen einige aus der frühen Kindheit übernommen wurden, aber viele als Teil der verschiedenen Allegorien und Metaphern gelernt wurden, die einen festen Bestandteil unserer Kultur ausmachen. Die historischen Gestalten, die bedeutende Aspekte unserer religiösen und historischen Erziehung darstellen, wie auch die mythologischen übernatürlichen Aspekte unseres speziellen kulturellen Erbes stehen uns jetzt alle zur Verfügung, wenn es um die Einordnung neuer Probleme oder unassimilierbarer Informationen geht“ (J.L. Singer: Phantasie und Tagtraum. München 1978, S. 248).

Die Illuminationsphase endet „häufig mit einem schlagartigen Einfall (Illumination), der vom Individuum als erleichternde Lösung des Problems aufgenommen wird.“ (S. Preiser, a. a. O., S. 45). Die bisherigen ungeordneten Elemente bekommen eine Gestalt. Besonders beim Schreiben „können sich … vorher desperate Gedanken plötzlich verbinden und schließlich in einem verdichteten Ganzen vorhanden sein, das alle später wiederum zu entfaltenden Teile in sich enthält. Der Schreibende weiß dann plötzlich, welches Ziel er anstrebt, überschaut die vielen Einzelgedanken, die er entfalten muß. Er ist dann gezwungen, das Ganze … auseinanderzufalten und in eine zeitliche Abfolge zu bringen“ (H. Müller-Braunschweig: Aspekte der psychoanalytischen Kreativitätstheorie. In: H. Kraft (Hrsg.): Psychoanalyse, Kunst und Kreativität heute. Köln 1984, S. 143). Das Überprüfen und Ausarbeiten der Gedanken- und Gefühlskeime ist Bestandteil dieser Phase.

Die letzte Phase heißt Verifikation. In dieser Phase wird das entstandene Produkt überprüft, vorgelesen und möglicherweise später publiziert. „Ohne Kommunikation und Realisierung mag eine Idee für ein Individuum subjektiv befriedigend sein, eine direkte gesellschaftliche Relevanz hätte sie jedoch nicht“ (S. Preiser, a. a. O., S. 47).

Diese vier Phasen entwickeln sich nicht wie eine Naturmacht. Der eine oder andere Teilnehmer an Schreibwerkstätten steigt zwischendurch aus oder bricht die Arbeit ab. Auch können sich die Phasen ineinander schieben oder auseinanderziehen. Entscheidend ist aber, wie der Durchgang durch diese Phasen organisiert wird. Mit Erika Landau können wir den „organisierten“ von dem „inspirierten“ Zugang zum kreativen Prozess unterscheiden. Der organisierte Zugang betont die kognitiven Prozesse der Analyse, Synthese und Evaluierung (E. Landau: Kreatives Erleben. München 1984, S. 67). Bei dieser Steuerung des kreativen Prozesses werden „die assoziierten Ideen durch synthetisches Denken zu immer neuen Kombinationen geformt, die ihrerseits verschiedene Lösungsmöglichkeiten des Problems bilden. Es ist eine bewusste Technik, bei der jede Assoziation die Kombinationen umdenken und verbessern lässt“ (E. Landau, a. a. O., S. 68). Beim inspirativen Zugang dominiert der unbewusste Charakter der Kreativität. Da bei diesem Zugang „die angesammelten Erfahrungen im Unbewussten schweben, ist sie für das Individuum eine sehr unruhige und frustrierende Zeit, die oft von Minderwertigkeitsgefühlen begleitet ist und eine erhebliche Frustrationstoleranz erfordert“ (E. Landau, a. a. O., S. 69).

Eine Schreibwerkstatt stellt den Versuch dar, diese Kreativitätsphasen in jeder Sitzung gemeinsam zu durchlaufen. In der Inspirationsphase werden die Schreibanregungen vorgestellt. In der Inkubationsphase entsteht der Text. Die Illuminationsphase umfasst die Textbearbeitung, Textkorrektur und Textverbesserung. Die Verifikationsphase beinhaltet das Vorlesen, Diskutieren, Kommunizieren über die vorgelesenen Texte. Wie die Phasen der Schreibwerkstatt nun durchlaufen werden, hängt ab von der Spannung zwischen organisiertem und inspiriertem Zugang zum kreativen Prozess. Wenn besonders die Probleme der Regression und unbewussten Bildproduktion gering gehalten werden sollen, empfiehlt sich der organisierte Zugang. Dieser Zugang ist bei Anfängergruppen oder bei der Arbeit von therapieunerfahrenen Anleitern in jedem Falle richtig. Der organisierte Zugang zum kreativen Prozess in Schreibgruppen stützt sich eher auf Schreibstimuli, die gegenwärtige Probleme ansprechen. Er fordert die Beobachtung äußerer Verhältnisse und übt verschiedene Stile und Textformen ein. Er beschränkt sich bei der Deutung auf ein einfaches Feedback. Der inspirative Zugang, der mit Schreibstimuli arbeitet, die die Kontrolle des Ichs stark herabsetzen (z. B. Meditation, Imagination, intensive freie Assoziation usw.), wendet sich Themen der frühen Vergangenheit zu, konzentriert sich auf innerseelische Probleme und steuert schließlich eine vertiefte Textdeutung an. Bei der längeren Entwicklung von Schreibgruppen ist der Einsatz beider Zugänge möglich.

Die Kraft der Kreativität in Schreibwerkstätten hängt von bestimmten Gruppenfaktoren ab. Als kreativitätshemmend gelten folgende Faktoren:

„1. Gruppendruck, Konformitätszwang, Normierungstendenzen.

2. Hemmung durch soziale Hierarchie.

3. Aggression, Destruktion, soziale Konflikte.

4. Konzentrationsstörung durch Ablenkungen.“ (S. Preiser, a. a. O., S. 92)

Als kreativitätsfördernd wirken sich folgende Gruppeneinflüsse aus:

„1. Gegenseitige Verstärkung.

2. Stimulierung und Aktivierung.

3. Vielseitige Personenzusammensetzung.

4. Assoziationsförderung durch gegenseitige Anregung.

5. Aktivierung durch aufgabenzentrierten Wettbewerb zwischen Untergruppen.

6. Großes Informationsreservat.

7. Emotionelle Sicherheit, Identitätsmöglichkeiten, Abbau von Hemmungen, Verständigung bei der Bewältigung individueller Probleme.

8. Möglichkeiten sozialer Erfahrungen.“ (S. Preiser, a. a. O., S. 92 ff.)

Bezogen auf die Kreativitätsphasen hat der Werkstattleiter folgende Interventionsmöglichkeiten zur Verbesserung des kreativen Klimas in der Gruppe: In der ersten Phase der Inspiration kann der Leiter die Kreativität verbessern durch Stimulation sozialer Umweltreize und durch die Aktivierung emotionaler Sicherheit. In der Inkubationsphase kann der Leiter die Schreibaktivitäten durch die Entfaltung emotionaler Sicherheit und durch die Unterstützung der Offenheit für vielfältige Suchbewegungen unterstützen. In der Illuminationsphase (der Textarbeit) ist der Leiter gehalten, eine große Toleranz gegenüber unterschiedlichen Textverständnissen aufzubringen und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Konzentration zu fördern. In der Verifikationsphase (der Textdeutung) hat der Leiter besonders auf die Verbesserung der emotionalen Sicherheit und auf die Vertiefung der Identifikation mit der Gruppe zu achten (vgl. P.R. Hofstätter: Gruppendynamik. Reinbek 1971).

Die Förderung der kognitiven Kreativitätsleistung beim kreativen Schreiben verlangt die Auflockerung der Denkklischees. Diese Auflockerung gelingt erst dann, wenn der Gruppenleiter für diesen Prozess viel Zeit lässt. Bei Zeitdruck erfolgt die Verhärtung von Denkschablonen (E. Landauer, a. a. O., S. 82). Die Förderung der emotionellen Kreativität ist immer an die Stärkung des Ichs, seiner Synthese-, Analyse- und Abwehrfunktion gebunden. Jede emotionale regressive Kreativitätsphase bedarf der „Verarbeitung des Rohmaterials durch Kontrolle, Raison, Ordnung und Logik“ (E. Landauer, a. a. O., S. 85). Erst die Synthese von Regression und Progression kann sich Kreativität nennen.

Schreibwerkstätten, die über längere Zeit arbeiten, müssen mit typischen Problemen der Dynamik von Schreibgruppenentwicklungen rechnen. Auch in der Gruppenentwicklung treten vier Phasen auf, die beobachtet werden müssen:

1. Phase: Ankommen, Auftauen, sich orientieren.

2. Phase: Gärung und Klärung.

3. Phase: Arbeitslust und Produktivität.

4. Phase: Ausstieg und Transfer.

Während in der ersten Phase das Wohlbefinden vorherrscht, wird in der 2. Phase das Missbehagen und die Enttäuschung der Teilnehmer groß. Rivalität und Durchsetzungswille machen sich nun breit. Aggression kommt hoch. Ziel und Aufgaben der Gruppen werden problematisiert. Oft teilen sich die Schreibwerkstätten nun in eine Untergruppe: „Stil für junge Autoren“ und in eine andere Untergruppe „Therapie und Selbsterfahrung für psychologisch Interessierte“. Eine Aufnahme neuer Teilnehmer, die Unterdrückung der Probleme, die Aufteilung in weitere Untergruppen stimuliert nur die Krise. Erst bei Lösung dieser Probleme wird die aktive 3. Phase erreicht, die Kreativität erst eigentlich entfalten kann. Die 4. Phase beginnt, wenn das Ende der Gruppe naht. Wieder sinkt die Zufriedenheit erheblich ab. Die Trauerarbeit der Trennung und die Fragen des Transfers der erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten beginnt. Jeder muss nun seinen eigenen Weg wiederfinden. Das macht zornig und hilflos. Die Schlussphase in Schreibwerkstätten erfordert besonders viel Kraft und Erfahrung (vgl. B. Langmarck u. a.: Wie die Gruppe laufen lernt. Weinheim 1987, S. 78–87).

4. Kreatives Schreiben in der Gruppe: Aspekte der Förderung und Hemmung von Kreativität in Schreibgruppen

Schreiben ist ein monologisches, einsames Geschäft von avancierten Autodidakten. Das ist die herrschende Meinung. Das Schreiben in Gruppen ist neu und verspricht bessere Texte. Die entwickelte kreative Gruppe ist der Einzelarbeit erheblich überlegen. Kreative Schreibgruppen werden der Masse der völlig Unbegabten und der kleinen Zahl der Schreibgenies jedoch nicht viel bieten können. Falls die kreativen Schreibgruppen einen größeren Einfluss bekommen und sich stabilisieren, könnten sie aber im breiten mittleren Niveau der Literaturtalente bedeutsame Verbesserungen der literarischen Landschaft durch Vermittlung literarischer Qualitäten erreichen. Eine kreative Schreibgruppe verbessert die Einzelarbeit besonders durch ihre Funktion als Informationspool und Energiequelle.

Der „Poolingeffekt“ in kreativen Schreibgruppen erwächst aus der Vielzahl der Texte, die zu gleichen oder zu verschiedenen Themen erarbeitet werden. Diese vielen Texte, die z. T. auch verschriftlicht und vervielfältigt werden, ergeben ein hohes Maß an quantitativer und qualitativer Information. Informationen können dadurch vermehrt aufgenommen und auf die eigene Problemlage übertragen werden, wodurch der einzelne neue Assoziationen und Kombinationen von Informationen und Erfahrungen entwickeln kann. Das Problem wird durch viele Texte metaphorisch, stilistisch, symbolisch und ästhetisch angereichert, verschärft, und Problemlösungen werden in größerer Anzahl im schönen Stil und tieferen Ausdruck individualisiert sichtbar gemacht.

Die Gruppe potenziert die Schreibenergie des einzelnen, indem sie jeden einzelnen besonders stimuliert. Jeder Schreibende erhält sofort Feedback und Unterstützung. Er kann längere Entwicklungen seiner Texte im Schutz der Gruppen ausleben. Schreibrisiken werden durch die Gruppe getragen, das Risikozutrauen des einzelnen hebt sich. Der Energiepool der Gruppe kommt jedem zugute. „Wenn jedes Gruppenmitglied weiß, dass es seiner Fantasie freien Lauf lassen kann, dass andere in den Imaginationsprozess mit einsteigen, dass man sich gegenseitig fördert, dass jeder mit den Texten anderer weiterspielen kann, dass das Resultat ein gemeinsames ist, dann wird dadurch Energie freigesetzt, die die Gruppenmitglieder oft selbst nicht vermutet hätten“ (J. Sikora: Handbuch der Kreativmethoden: Heidelberg 1976, S. 83).

Allerdings müsste eine ideale kreative Schreibgruppe folgende Eigenschaften besitzen:

Zielsetzung: Eine klare Zielsetzung hat erhebliche Vorteile. Das Aggressionspotential der Gruppenmitglieder wird gesenkt. Die Mitglieder identifizieren sich mehr mit der Gruppe. Sie schätzen ihre Schreibarbeit höher ein. Sie empfinden die Spannung zwischen Gruppen- und Individualzielen nicht mehr so schwerwiegend.

Gruppengröße: Die Produktivität einer Gruppe nimmt mit zunehmender Gruppengröße ab (A. Sjølund: Gruppenpsychologie für Erzieher, Lehrer und Gruppenleiter. Heidelberg 1974, S. 81).

Schreibgruppen sollten deshalb zwischen 6 bis 10 Mitglieder haben. Mehr Gruppenmitglieder blockieren die Spontaneität und führen zur Gefahr der Bildung von Untergruppen und dazu, dass sich einige dem Kreativitätsprozess entziehen. Weniger als sechs Gruppenmitglieder könnten das Leistungsniveau des einzelnen überfordern, weil er häufiger interagieren muss.

Heterogenität: Das kreative Schreiben kann sich besser bei heterogener Gruppenzusammensetzung, was Alter, Bildung, Geschlecht, Lebenserfahrung anbelangt, entwickeln. Heterogene Gruppen verfügen über einen größeren Informationspool, über mehr Ausdrucks- und Sprachform und über verschiedene Denkstile. Parität der Geschlechter und breite Streuung der Altersstufen sind ebenso von Vorteil. Allerdings muss bei aller Heterogenität Homogenität in der Benutzung der Schreibziele und Schreibmethoden bestehen. Das kann aber nicht heißen, dass das kreative Schreiben nicht auch die Chance nutzt, mit homogenen Zielgruppen zu arbeiten. Besonders die Selbsthilfegruppenbewegung hat die Qualität und Kreativität homogener Zielgruppen herausgearbeitet. Das wird die Schreibbewegung entsprechend zu nutzen haben.

Hierarchie: Eine wenig ausgeprägte Hierarchie, die durch häufigen Wechsel der Rollen immer wieder durchbrochen wird, ist für die breite Entfaltung kreativer Ausdrucksmöglichkeiten günstig. Das kann aber nicht bedeuten, dass Schreibgruppen besonders in ihren schwierigen Start- und Entwicklungsphasen nicht einen Anleiter brauchen. Allerdings ist die längerfristige Überflüssigmachung des Anleiters ebenso wichtig.

Dauer: Zwei Stunden beträgt die optimale Dauer bei einer Schreibgruppe. „Nach etwa einer Stunde erreicht die Leistungsfähigkeit ihren Höhepunkt, danach tritt eine gewisse Müdigkeit ein, die kurz vor dem Ende einer Sitzung noch einmal durch einen starken Leistungsanstieg abgelöst wird“ (J. Sikora, a. a. O., S. 89).

Neben zweistündigen Sitzungen haben sich aber auch zwei- bis dreitägige Wochenendschreibprojekte bewährt, wobei besonders die Arbeit mit mehreren Anleitern und die Aufteilung in Untergruppen gute Effekte bewirkt haben. Als Gesamtdauer der Schreibgruppen sind bei einem Treffen pro Woche allerdings zwei oder drei Jahre optimal. Halbjährige Kurse, z. B. an den Volkshochschulen, können immer nur als Starthilfe betrachtet werden. Nach drei Jahren ist meistens jedes Mitglied soweit kreativ stabilisiert, dass die Gruppe in ihrer alten Form auch zum Hemmschuh werden kann.

Integration: Die Aufnahme neuer Gruppenmitglieder setzt voraus, dass neue Mitglieder zur Gruppenmitarbeit über Inhalt, Ziel und Geschichte der Schreibgruppe intensiv informiert worden sind, sonst wird das neue Mitglied als störender Fremdkörper betrachtet, und die ganze Gruppe verliert ihr Intimitätsniveau und kann auch in unproduktive Spaltungsprozesse verwickelt werden.

Autonomie: Die Texte jeder Schreibgruppe sollten in der Verfügungsgewalt der Gruppe bleiben oder nach gemeinsamer Absprache individuell oder kollektiv veröffentlicht werden. Über die Prozesse der Entstehung von Texten in der Gruppe, über Textdeutungen und Schreiberfahrungen sollte nichts über die Gruppe hinausdringen. Es sei denn in wissenschaftlicher Form, um die Entwicklung der Praxis von Schreibgruppen zu verbessern.

Normen: In der kreativen Schreibgruppe herrschen Normen der Offenheit und Intimität, die im Alltag nicht weit verbreitet sind. Die Entwicklung kreativer Ausdrucksmöglichkeiten wirkt aber auf den Alltag zurück. Deshalb sind für Teilnehmer bestimmte Konflikte mit Nicht-Teilnehmern zu erwarten. Jedes Gruppenmitglied sollte solche Konflikte im Alltag durch Defensivität und Einfühlung zu unterlaufen suchen.

Kommunikation: In jeder Schreibgruppe wird rational und emotional, verbal und averbal kommuniziert. Jeder Text hat diese doppelte Ebene. „Gefühlsmäßige Einstellung von Gruppenmitgliedern zur Arbeit haben großen Einfluss auf das Ausmaß und die Qualität der Leistung“ (K. Antons: Praxis der Gruppendynamik. Göttingen 1973, S. 91, vgl. auch T. Brocher: Gruppendynamik und Erwachsenenbildung. Braunschweig 1967). Die Entwicklung der nötigen Empathie und Toleranz müssen in emotionell bedeutsam agierenden Schreibgruppen durch häufige Texte des einzelnen über seine Stellung in der Gruppe und die Haltung der Gruppe zu seinen Texten bearbeitet werden. Hauptaufgabe der Kommunikation in kreativen Schreibgruppen ist der Abbau von Angst der Gruppenmitglieder untereinander. Ohne Abbau dieser Angst ist kreatives Lernen in Schreibgruppen nicht möglich.

Emotionen: Das Haeckel’sche sogenannte biogenetische Grundgesetz: „Die Ontogenese ist eine verkürzte Wiederholung der Phylogenese“, lässt sich auch in kreativen Schreibgruppen beobachten. In kreativen Schreibgruppen ist die Entwicklung des Individuums geprägt durch die Wiederholung seiner entscheidenden Erfahrungen aus seiner Herkunftsfamilie. Beim Eintreten in die neue Schreibgruppe unterliegt jedes Individuum einer Identitätskrise, denn die Mitglieder der neuen Gruppe reagieren immer anders, als es die in der Familie erworbenen affektiven und emotionellen Grundmuster erwarten lassen. „Wie immer dieser Übergangsprozess in sekundäre Gruppen beim einzelnen ursprünglich verlaufen ist, d. h. traumatisch und entwicklungshemmend oder positiv und entwicklungsfördernd, er wiederholt sich beim Eintritt in eine neue Gruppe …“ (T. Brocher: Gruppendynamik und Erwachsenenbildung, a. a. O., S. 34). Das Kindliche in jedem Menschen wird auch in kreativen Schreibgruppen mobilisiert. „Die Grundgefühle der Angst vor Abweichung, vor Liebesverlust oder Verringerung der Selbstbestätigung, die Gefühle der Eifersucht und Rivalität oder der Anlehnung, der Wunsch nach Dominanz (Überlegenheit) und die Angst vor Submission (Unterwerfung) bleiben im Vergleich zu den sozialen Befürchtungen und Erwartungen von Kindern bei Erwachsenen gleich geartet. Der Erwachsene entwickelt zwar differenziertere Formen als das Kind, d. h. er kann seine inneren Gefühlsresonanzen weitgehend beherrschen, verbergen oder rationalisieren, … aber die Mobilisation der primären, unbewussten, emotionalen Objektbeziehung wird dabei genausowenig verhindert, wie etwa bei den Wirkungen unbemerkter, stillschweigender Vorurteile“ (T. Brocher, a. a. O., S. 44). Die Forderung, kreative Fähigkeiten zu entwickeln, zielt auf eine Ich-Erweiterung ab, die in jeder Weise mit einer Krise des Selbstwertgefühls verbunden ist. Der Ausgang dieser Identitätskrise „ist davon abhängig, in welcher Weise die neue Identität in der Zugehörigkeitsgruppe und in deren Verhältnis zu negativen oder positiven Bezugsgruppen begründet werden kann“ (T. Brocher, a. a. O., S. 40). Reaktionen auf überfordernde neue Identitätsentwürfe können in die Richtung der regressiven oder progressiven Flucht weisen oder in die Entwicklung der Rolle des Sündenbocks. „Während die regressive Fluchttendenz aus der Angst vor einem Verlust der Nähe entsteht, entwickelt sich die progressive Fluchttendenz gerade umgekehrt aus der Angst vor zu großer Nähe. Entsprechend verlaufen die Gefühle bei der regressiven Tendenz mehr in Richtung der Verlassenheitsängste wie sie vor allem bei kleinen Kindern auftreten, bei der progressiven Tendenz haben sie dagegen mehr paranoide Inhalte des Verfolgt-, Bestraft-, Geächtet- und Isoliertwerdens, wie dies eher bei Jugendlichen festzustellen ist“ (T. Brocher, a. a. O., S. 54). Allerdings kann auch die Gruppendynamik in die Richtung Stigmatisierung eines Gruppenteilnehmers zum Opfer und Sündenbock gehen. Dieser Gruppenteilnehmer steht dann in Gefahr, sich gegenüber der Gruppe zu isolieren, in eine Fantasiewelt zu flüchten und sie zur alleingültigen Realität zu erklären. Um diese Art der Identitätsgefährdung zu unterlaufen, entwickeln viele Gruppenteilnehmer spezifische Abwehrmechanismen. Vier dieser Abwehrmechanismen sind besonders verbreitet:

„1. Die Mitglieder einer Gruppe nehmen an, dass ihr Leiter allmächtig sei und alles wisse. Sie behaupten hartnäckig ihre völlige Abhängigkeit von ihm.

2. Die Mitglieder einer Gruppe versuchen, einen Kampf aller Teilnehmer untereinander und gegen den Gruppenleiter zu eröffnen in der Annahme, durch diesen Kampf könne eine Verminderung der Mitgliederzahl erreicht und dadurch die Befriedigung des einzelnen Mitgliedes rasch vergrößert werden.

3. Die Mitglieder einer Gruppe als ganzes oder als einzelne versuchen sich der gestellten Aufgabe durch Flucht in ein anderes Thema oder in ein abweichendes Verhalten zu entziehen.

4. Die Mitglieder einer Gruppe fördern, unterstützen oder verhindern entstehende Paarbildungen einzelner Mitglieder in der Erwartung, dadurch könne eine bessere Bewältigung des Gegenstandes entstehen“ (T. Brocher, a. a. O., S. 57 f.).

Besonders gefährlich in der Gruppendynamik kreativer Schreibgruppen ist die Rettung der Gruppenmitglieder aus ihren internen Konflikten in eine Idealisierung des Gruppenleiters: „Die Rettung aus diesen Konflikten besteht in einer Übertragung des Ich-Ideals an den Gruppenleiter, dem dann jene Allwissenheit und Allmacht zugeschrieben wird, die das eigene unbewusste Ich-Ideal fordert“ (T. Brocher, a. a. O., S. 78). Ist die Idealisierung des Gruppenleiters einmal vollzogen, kehren alle familiären Konflikte, wie sie in den Konflikten zwischen den Generationen allzu häufig beschrieben sind, in der Gruppe wieder und die Chance, ein entspanntes kreatives Schreibmilieu zu entwickeln, schwindet dahin. Entscheidend bei der Bewältigung der Emotionen in der Gruppe ist die ruhige, reflektierte und informierte Haltung des Gruppenleiters: „Der Lehrende muss begreifen, dass er nicht ein den Gruppenmitgliedern übergeordneter, dominierender Leiter ist, sondern ein Mitglied dieser Erwachsenengruppe, die hier und jetzt mit anderen für diese und mit ihnen zusammen eine Führungsfunktion verdeutlicht, die zunehmend von allen übernommen werden kann und muss“ (T. Brocher, a. a. O., S. 82). Der richtig eingestellte Gruppenleiter wird die Hauptprobleme seiner Arbeit darin sehen, eine richtige emotionelle Balance in der Gruppe zu entwicklen: „Nähe, die allzu nah erlebt wird, fordert also schmerzzufügende Abwehr heraus, um die erwünschte Distanz zu erreichen. Ferne und Distanz dagegen rufen Sehnsucht nach Anlehnung und Wärme hervor. Dem Versuch, die individuelle jeweils richtige Distanz zueinander zu gewinnen, dient eine sehr lange Strecke jeder Gruppenarbeit, weitgehend unabhängig vom Stoff, die in diesem Abschnitt eher als Vehikel für affektive Bedürfnisse benutzt und unter Umständen auch missbraucht wird“ (T. Brocher, a. a. O., S. 92).

Vertrauen: Nach Carl Rogers verlangt eine kreative Gruppe in Bezug auf ihre Binnenstruktur „psychologische Sicherheit und Freiheit“ (C. Rogers: Toward a Theory of Creativity. In: S.J. Parnes u. a.: A Sourcebook for creative thinking. New York 1962, S. 70 f.). Sicherheit empfindet jedes Gruppenmitglied, wenn es sich in seiner Persönlichkeit akzeptiert fühlt und gelernt hat, die anderen zu verstehen. Freiheit spürt der einzelne, wenn die Gruppe sein Vertrauen zu sich selbst, zu den anderen und zur Gruppe unterstützt. Sicherheit und Freiheit kann sich nur bei einem warmen, vertrauensvollen Gruppenklima entwickeln, das von allen Mitgliedern getragen wird.

Aus allen diesen Bestimmungen lassen sich auch die idealtypischen Gefahren ableiten, die zum Scheitern der Schreibgruppe führen könnten:

  1. Unklare Zielsetzung,

  2. zu große Gruppe,

  3. zu wenig Heterogenität,

  4. straffe Hierarchie und Allmachtsfantasie des Leiters,

  5. zu kurze Dauer,

  6. zu hohe Fluktuation,

  7. Bruch des Gruppengeheimnisses,

  8. offensive Konfrontation mit dem Alltag,

  9. Übersehen von emotionalen, averbalen und regressiven Konflikten der Gruppenmitglieder untereinander,

10. niedriges Vertrauensniveau in der Gruppe, fehlende soziale Sicherheit und niedrige kreative Freiheit, frostiges Gruppenklima und niedrige Gruppenkohäsion.

Die Besonderheiten der Schreibgruppe lassen sich durch einen Blick auf die psychologischen Aspekte des kreativen Schreibens vertiefen.

5. Psychologische Aspekte des kreativen Schreibens

Die verschiedenen Ansätze zur Erforschung des kreativen Schreibens beziehen sich auf zwei wichtige Schwerpunkte: auf die kognitive und auf die emotionelle Seite des Schreibprozesses. Während Ergebnisse zum ersten Aspekt von den Kognitionspsychologen (H. Aebli, Wygotski, Piaget, J.R. Anderson usw.) vorgelegt wurden, äußern sich zur emotionellen Seite hauptsächlich Tiefenpsychologen (Freud, Jung usw.), Poeten und die moderne Gehirnforschung. Im Sinne unseres integrativen Ansatzes ist es wichtig, sich beide Ansätze zu vergegenwärtigen, zu integrieren und für die Praxis fruchtbar zu machen.

5.1. Das kognitive Modell des Schreibprozesses

Der Kognitionspsychologie gilt die Entwicklung schriftlicher Kommunikationsfähigkeit als Resultat der Auseinandersetzung des werdenden Individuums mit seiner kommunikativen Umwelt.