Lehrpersonenethos (E-Book) - Claudio Caduff - E-Book

Lehrpersonenethos (E-Book) E-Book

Claudio Caduff

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  • Herausgeber: hep verlag
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Lehrer*innenhandeln ist geprägt von Widersprüchen und Paradoxen, die nicht einfach aufgelöst werden können. Der schwierige Umgang damit erfordert eine hohe Ambiguitätstoleranz und ein Ethos, das geprägt ist von einem positiven Menschenbild. Claudio Caduff regt dazu an, das eigene Handeln als Lehrperson zu reflektieren.

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Claudio Caduff

Lehrpersonenethos

Professionsbewusstsein und berufsethische Kompetenzen

ISBN Print: 978-3-0355-1700-2

ISBN E-Book: 978-3-0355-1701-9

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 hep Verlag AG, Bern

hep-verlag.com

Es ist wunderbar, dass wir auf etwas Paradoxes gestoßen sind. Nun können wir die Hoffnung hegen, Fortschritt zu machen.

Nils Bohr

In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen und sie gleichzeitig vor dem Ruin zu retten, der ohne Erneuerung, ohne Ankunft von Neuen und Jungen, unaufhaltsam wäre. Und in der Erziehung entscheidet sich auch, ob wir unsere Kinder genug lieben, um sie weder aus unserer Welt auszustoßen und sie sich selbst zu überlassen, noch ihnen ihre Chancen, etwas Neues, von uns nicht Erwartetes zu unternehmen, aus der Hand zu schlagen, sondern sie für ihre Aufgaben der Erneuerung einer gemeinsamen Welt vorzubereiten.

Hannah Arendt

Inhalt

1 Einleitung

2 Lehrprofession und Professionsethos

2.1 Lehrprofession

2.1.1 Der kompetenztheoretische Ansatz

2.1.2 Der berufsbiografische und der Persönlichkeitsansatz

2.1.3 Der strukturtheoretische Ansatz

2.1.4 Entwicklung von Professionalität im internationalen Kontext

2.1.5 Lehrprofession als techné

2.1.6 Das Spannungsfeld von Wissen und Können

2.2 Lehrpersonenethos

2.2.1 Ethos, Moral, Werte

2.2.2 Das Ethos von Lehrerinnen und Lehrern

2.2.3 Verhaltenskodizes

3 Gesellschaftliche Zusammenhänge

3.1 Zentrale Aspekte unserer modernen Gesellschaft

3.1.1 Verunsicherung

3.1.2 Autoritärer Kapitalismus

3.1.3 Demokratieentleerung

3.1.4 Ökonomisierung der Bildung

3.2 Leistung und Meritokratie

3.3 Der Kampf um Anerkennung

3.4 Befähigung in einer liberalen Gesellschaft

4 Antinomien, Unsicherheit und Nichtwissen

4.1 Drei grundlegende Verpflichtungsaspekte

4.2 Grundparadoxe pädagogischen Handelns

4.3 Nichtwissen

4.4 Der Umgang mit Antinomien und Nichtwissen

5 Einstellungen und Haltungen

5.1 Menschenbild

5.1.1 Geschlossene vs. offene Menschenbilder

5.1.2 Was gehört zum Menschen?

5.1.3 Offen-reflexives Menschenbild und Lehren

5.1.4 Die Entwicklung des Menschenbildes

5.2 Klassenkultur

5.2.1 Dimensionen der Klassenkultur

5.2.2 Resonanz

5.2.3 Vertrauen

5.2.4 Lehrpersonenemotionen

5.3 Verantwortung

5.4 Kritisches Denken

Persönliche Schlussbemerkung

Literatur

Der Autor

Kapitel 1

Einleitung

Die Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern ist sehr komplex und in hohem Maße herausfordernd. Die Lehrpersonenausbildung will die angehenden Lehrpersonen möglichst gut darauf vorbereiten. Schaut man sich die Programme verschiedener Ausbildungsinstitutionen etwas genauer an, so erkennt man, dass diese ihre Schwerpunkte auf das «Handwerk» des Unterrichtens legen: Vorbereitung, Planung, Durchführung und Auswertung von Unterricht werden umfassend theoretisch erarbeitet und praktisch erprobt. Einen weiteren Schwerpunkt der Ausbildung bildet der Themenkomplex Lehrpersonen–Lernenden–Interaktion. Für beide Bereiche werden heute zunehmend empirische Erkenntnisse aus der Lehr-Lern-Forschung genutzt. Die Fokussierung auf Handlungswissen – die Rede ist jeweils von Praxisorientierung und Praxisbezug – wird auch durch eine große Mehrheit der Lehramtsstudierenden gefordert, denn für sie ist fast alles, was sie nicht direkt mit der Unterrichtspraxis verbinden können, nutzlos und überflüssig.

Doch Lehrpersonenhandeln basiert gerade dort, wo es unter Druck geschieht – und das ist im Unterrichtsalltag der Regelfall –, nicht nur auf explizitem Wissen, das sich die angehenden Lehrpersonen in der Ausbildung erworben haben, sondern sehr stark auch auf ihren Haltungen, Einstellungen und Werten. Dieser Aspekt der Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern wird oft unter dem Begriff «Lehrpersonenethos» zusammengefasst. Während in der Schweiz bei der Ausbildung der Volksschullehrpersonen (Primar- und Sekundarstufe I) dem Professionsethos ein gewisser Raum gelassen wird, blendet die Ausbildung für Lehrerinnen und Lehrer auf der Sekundarstufe II (Gymnasium, Berufsfachschule, Fachmittelschule usw.) dieses völlig aus. Dies ist angesichts der sehr kurzen Ausbildungsdauer von 60 Creditpoints, was einer einjährigen Vollzeitausbildung entspricht, nicht erstaunlich.

Dieser Mangel ist primär der Anlass für diese Publikation. Das Buch wendet sich deshalb besonders an Lehrpersonen, die sich weder in ihrer Praxis noch als Berufsleute systematisch mit ihrem Professionsethos auseinandergesetzt haben. Allerdings seien bereits an dieser Stelle all jene Leserinnen und Leser gewarnt, die in den folgenden Kapiteln einen umfassenden Tugendkatalog beziehungsweise eine Kompetenzliste erwarten, die ihnen aufzeigt, welche Tugenden oder Kompetenzen sie noch erwerben sollten, damit sie dann zusammen mit den bereits vorhandenen handwerklichen Fähigkeiten und Fertigkeiten gut unterrichten können.

Diesem Buch liegt ein Verständnis von Professionsethos zugrunde, das die gelebte Identität und die Sensibilität von Lehrpersonen als bedeutende Aspekte professionellen Handelns in den Vordergrund rückt. Dafür bedürfen die Lehrerinnen und Lehrer besonders eines breiten Professionswissens als Grundlage des Professionsbewusstseins – und damit beschäftigt sich dieses Buch hauptsächlich.

Natürlich kann man in einem Buch – selbst wenn es viel dicker wäre als das vorliegende – das notwendige Professionswissen von Lehrpersonen nicht umfassend darstellen. Dies ist einerseits vom Umfang her nicht möglich, und andererseits ist das Professionswissen in gewissen Bereichen auch einem stetigen Wandel unterworfen. Darum werden hier zentrale Aspekte des Professionswissens aufgegriffen und diskutiert, auch in der Hoffnung, dass die Leserinnen und Leser angeregt werden, sich idealerweise während ihrer ganzen Berufskarriere damit auseinanderzusetzen. Die zahlreichen eingestreuten Zitate sollen in diesem Sinne Lust auf vertiefende Lektüre machen.

Das Buch gliedert sich in vier Hauptteile. Kapitel 2 stellt die wichtigsten Theorien zur Lehrprofession vor und klärt die Frage nach dem Kern des Professionsethos von Lehrerinnen und Lehrern. Danach stehen gesellschaftliche Zusammenhänge im Fokus, die für das Lehren und Lernen im schulischen Kontext von wesentlicher Bedeutung sind: Gesellschaftliche Verunsicherung, autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und soziale Desintegration eines Teils der Bevölkerung haben größeren Einfluss auf die Schule, als gemeinhin angenommen wird. Muße, was die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Schule ist, gibt es in der Schule kaum mehr. Angesichts des (ökonomischen) Wettbewerbs in der globalisierten Welt verkommt sie zunehmend zur Zurichtungsanstalt.

Kapitel 3 ist den gesellschaftlichen Zusammenhängen gewidmet. Zunächst werden zentrale Aspekte der modernen Gesellschaft beleuchtet; danach werden meritokratische Idealvorstellungen kritisch diskutiert, und es wird die Frage gestellt, ob anerkennungstheoretische und Befähigungsansätze auch für die schulische Bildung und Erziehung fruchtbar gemacht werden können.

Die antinomische Struktur der Lehrprofession, die schon in allen Kapiteln des Buches anklingt, steht im Zentrum von Kapitel 4. Unseres Erachtens ist besonders in dieser Thematik ein vertieftes Wissen für Lehrerinnen und Lehrer notwendig und auch sehr nützlich, denn es ist «die Eigentümlichkeit von Paradoxien, dass sie hemmen, überfordern und pessimistisch stimmen, solange man sie nicht begriffen hat. Und sobald man sie versteht und auf einen Begriff bringen kann, wirken sie interessant und machen handlungsfähig» (El-Mafaalani 2020, S. 11 f.).

Das letzte Kapitel setzt sich mit dem Menschenbild, den unterschiedlichen Aspekten der Klassenkultur und der Verantwortung der Lehrpersonen sowie mit der Verantwortungsübertragung an die Lernenden auseinander. Abschließend werden kurz Urteilsfehler besprochen, denen Lehrerinnen und Lehrer nicht selten unterliegen.

Kapitel 2

Lehrprofession und Professionsethos

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung um das Berufsethos von Lehrpersonen hat sich zunächst die Frage zu stellen, was denn den Kern der Lehrprofession ausmacht. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Professionsverständnisse werden dann unterschiedliche Ethosmodelle in Anschlag gebracht. In diesem Kapitel werden zunächst die bedeutendsten Lehrprofessionstheorien vorgestellt, bevor auf drei grundlegende Ansätze von Ethosmodellen eingegangen wird.

2.1 Lehrprofession

Während in der Alltagssprache unter Profession beziehungsweise professionellem Handeln unspezifisch ein Beruf beziehungsweise beruflich kompetentes Handeln verstanden wird, versteht die wissenschaftliche Theorie unter Professionen Berufe mit besonderen Merkmalen. In einem alten, funktionalistischen Ansatz (z.B. Hartmann 1972) sind das folgende:

›Systematisches Wissen: Dieses ist in der Regel wissenschaftsbasiert und wird in einer eigenen Form angeeignet.

›Wertebezug: Professionelles Handeln orientiert sich an zentralen Werten der Gesellschaft.

›Autonomie der Kontrolle über Standards der Berufsausübung und der Berufsausbildung: Hier geht es nicht so sehr um berufsständische Interessen als vielmehr um die notwendige Selbstkontrolle der Berufstätigen und die Unabhängigkeit von berufsfremden Akteuren.

Nach diesem Verständnis traf die Bezeichnung auf Ärzte, Anwälte, Kleriker und Architekten zu. Bei Berufen, die nur einen Teil der Merkmale aufwiesen, sprach man von Semiprofessionen (Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Lehrpersonen).

Dieses klassische und sehr starre Professionsverständnis wurde vielfach kritisiert. So differenzierte Talcott Parsons (1981) Struktur und Funktionen von Professionen im Prozess der Modernisierung. Demzufolge sind Professionen «Ausdruck, ja Inbegriff einer Rationalitätssteigerung und -zumutung in der Bewältigung der Probleme sozialen Lebens» (Combe & Helsper, 1996). Im Zentrum steht dabei das spannungsgeladene Verhältnis zwischen den Professionellen und ihren Klienten. Fritz Schütze (z.B. 1996) fokussiert auf den Begriff der Interaktion und stellt grundsätzlich unaufhebbare Paradoxien professionellen Handelns heraus.

Mittlerweile hat sich ein sehr dynamisches Professionsverständnis durchgesetzt, das nicht mehr streng zwischen Professionen und bloßen Berufen unterscheidet. Julia Evetts (2003, zitiert aus Terhart 2013) fasst den Professionsbegriff sehr pragmatisch:

«Im Kern sind Professionen wissensbasierte Berufe, die üblicherweise an ein Studium sowie ein berufsbezogenes Training und entsprechende Erfahrungsbildung anschließen. Eine andere Möglichkeit zur kategorialen Bestimmung dieser Berufe besteht darin, Professionen als strukturelle berufliche und institutionelle Arrangements zur Arbeitsorganisation beim Umgang mit Unsicherheiten des Lebens in modernen Risikogesellschaften zu betrachten. Professionelle gehen extensiv mit Risikolagen um, und mit Risikoeinschätzung – auf der Basis von Expertenwissen – befähigen sie Kunden und Klienten dazu, mit Unsicherheit umzugehen. […] Professionen befassen sich mit Geburt, Überleben, körperlicher und seelischer Gesundheit, Konfliktlösungen und sozialer Ordnung, mit Finanzen und Krediten, mit Bildung, Lernen und Sozialisation, Konstruktion und Architektur, militärischen Unternehmungen, Friedensmissionen und Sicherheit, Unterhaltung und Freizeit, mit Religion und unseren Bezügen zur spirituellen Welt.»

Lehrende Berufe wurden wie erwähnt aufgrund ihrer Einbindung in starre und hierarchische bürokratische Ordnung in der klassischen Professionstheorie «nur» als Semiprofession bezeichnet. Zudem wurde den Primar- beziehungsweise Grundschullehrpersonen – im Gegensatz zu den Gymnasiallehrpersonen – ein spezifisches wissenschaftliches Wissen abgesprochen. Und auch die Klientel der Lehrpersonen entsprach nicht der Theorie: Schülerinnen und Schüler sind keine Erwachsenen, die frei einen Professionellen aufsuchen, und sie werden nicht als Individuen bedient beziehungsweise behandelt, sondern in administrativ zusammengestellten Gruppen.

Abbildung 1: Das Modell professioneller Lehrerkompetenz in der Teaching Education and Development Study in Mathematics, TEDS-M (nach Blömeke, Suhl, Kaiser & Döhrmann 2012, S. 423)

Gerade die Diskussion um die «Klienten» bei pädagogischen Berufen macht deutlich, wie allgemeine Merkmalsbestimmungen von spezifischen Berufen beziehungsweise Professionen problematisch sind, und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wenn im Rahmen der Ökonomisierung der schulischen Bildung (dazu mehr S. 39 ff.) Lernende als Kundinnen und Kunden bezeichnet werden. Für Ewald Terhart (2013, S. 67) ist deshalb klar: «Für das klassische Professionen-Konzept ist der Lehrberuf immer ein Rätsel geblieben.»

In der Erziehungswissenschaft ist die Frage nach dem Kern pädagogischer Professionalität eine bedeutende. Aktuell können drei wesentliche Ansätze unterschieden werden.

2.1.1 Der kompetenztheoretische Ansatz

Der kompetenztheoretische Ansatz bezieht sich auf die Expertenforschung (Bromme 2008), die sich auf Unterschiede zwischen Experten und Novizen fokussiert. Expertinnen und Experten des Lehrens

›verfügen über viel Wissen, das tiefer reicht und das sie flexibler nutzen können;

›steuern den Unterricht mit umfassender Aufmerksamkeit;

›sind in der Lage, ihr Expertenwissen mit Erfahrungswissen zu verknüpfen und dies als Basis für ihr situationskluges Handeln zu nutzen.

In diesem Ansatz ist also tiefes und gut anwendbares Wissen zentral. Lee S. Shulman (1986) unterscheidet dabei fünf Kategorien der Wissensbasis von Lehrpersonen:

›inhaltsbezogenes Wissen (Fachwissen, fachdidaktisches Wissen, curriculares Wissen);

›allgemeines pädagogisch-didaktisches Wissen;

›Wissen über die Lernenden;

›Wissen über den Kontext des Unterrichts;

›historisch-philosophisches Wissen über den Unterricht.

Im Zuge der Entwicklung des Kompetenzansatzes wurden die kognitiven Kompetenzen, das sogenannte Professionswissen, um affektiv-motivationale Aspekte ergänzt (siehe Abbildung 1).

In diesem Modell spielt das fachdidaktische Wissen eine besondere Rolle; es umfasst nach Manuela Hillje (2012):

›Schülerbezogenes Wissen: Wissen über Konzepte und Strategien, mögliche Fehler und Probleme sowie mögliche Lösungswege der Lernenden. Damit können Lehrende u.a. den Schwierigkeitsgrad von Aufgaben einschätzen.

›Wissen über das Verständlichmachen: Wissen über multiple Repräsentationsformen, geeignete Beispiele, Vereinfachungen der Inhalte und Erklärungsmöglichkeiten. Dies zeigt sich vor allem im Gebrauch von Fachbegriffen (vgl. dazu auch Lehner 2019).

›Inhaltsbezogenes Wissen: Wissen über die curriculare Anordnung von Stoffen (mögliche Reihenfolge und Zusammenhänge zwischen den einzelnen Themengebieten) sowie Wissen über Bildungsstandards und Bildungsziele. Damit können Lehrpersonen das Potenzial von Aufgaben einschätzen.

Zu den Überzeugungen gehören neben jenen zum Fach und zum Unterricht auch allgemeine Orientierungen, Welt- und Menschenbilder (siehe dazu mehr inKapitel 5), wobei unter Überzeugungen «affektiv aufgeladene […] [und] eine Bewertungskomponente beinhaltende Vorstellungen […], welche für wahr oder wertvoll gehalten werden» (Reusser & Pauli 2014, S. 642) verstanden werden können. Motivation ist ein vielschichtiges und mehrdimensionales Konstrukt, das mit anderen Aspekten wie Zielen, Interesse, Selbstwirksamkeit, Attributionen verbunden ist (vgl. dazu z.B. Ryan & Deci, 2000).

Das Ausmaß der Professionskompetenz von Lehrpersonen wird einerseits durch Kompetenzniveaus ausgedrückt, andererseits zeigt es sich in der Lernleistung der Schülerinnen und Schüler. Allerdings wird auch in diesem Ansatz eingestanden, dass ein gewisses Maß an Kontingenz das Unterrichtsgeschehen prägt, das «nicht vollständig standardisiert und in eine mechanisch erfolgssichere Technik verwandelt werden» (Terhart 2013, S. 69) kann. Nichtsdestotrotz fokussiert der kompetenztheoretische Ansatz auf (ebd.)

›die empirische Erforschbarkeit des Unterrichtsgeschehens;

›die Erlernbarkeit erfolgreichen Lehrpersonenhandelns dank empirisch gewonnener Erkenntnisse;

›den optimierbaren Lernbezug von Lehrerkompetenzen.

2.1.2 Der berufsbiografische und der Persönlichkeitsansatz

Für den berufsbiografischen Ansatz entwickelt sich die Professionalität von Lehrerinnen und Lehrern über die berufliche Erfahrung während der gesamten beruflichen Karriere. In diesem Prozess des kontinuierlichen Kompetenzaufbaus, der sowohl durch Kontinuität als auch Brüche gekennzeichnet ist, entwickelt sich allmählich ein beruflicher Habitus. Dieser Prozess führt nicht automatisch zu guter Lehrkompetenz, möglich sind auch scheiternde, problematische und gar gefährdende Entwicklungen, die im schlechten Fall zum Beispiel eine zynische Grundhaltung entstehen lassen.

Für diesen Ansatz sind die Fragen wichtig, welche Persönlichkeitsmerkmale für eine erfolgreiche berufsbiografische Entwicklung entscheidend sind und wie positive Entwicklungen stimuliert und gefördert werden können. Empirische Forschung in diesem Ansatz untersucht zum Beispiel anhand des Modells der «Big Five» (Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit), welche Ausprägungen besonders günstig für den Lehrberuf sind. Weiter wurden spezifische Persönlichkeitsmerkmale in diesem Kontext erforscht wie Selbstwirksamkeitserwartung, proaktive Einstellung, effizientes Problembewältigungsverhalten, Ungewissheitstoleranz, Humor, Begeisterungsfähigkeit, berufsspezifische Interessen sowie allgemeine Interessen der Person, zum Beispiel praktisch-technische, intellektuellforschende, künstlerisch-sprachliche, soziale, unternehmerische, konventionelle. Da die Untersuchungen auf Selbsteinschätzungen der Probandinnen und Probanden beruhen und nicht auf ethnografischen Studien des Unterrichts, sind solcherart gewonnene Erkenntnisse von beschränktem Wert, denn es lassen sich kaum direkte kausale Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und Lehrkompetenz ausmachen. Dennoch ist der berufsbiografische Ansatz von Bedeutung, da er ähnlich wie der kompetenztheoretische die Frage nach der Expertise und besonders nach ihrem Erwerb ins Zentrum rückt.

2.1.3 Der strukturtheoretische Ansatz

Weniger bekannt ist der strukturtheoretische Erklärungsansatz, der sehr stark auf den professionstheoretischen Arbeiten von Ulrich Oevermann (1996, 2002, 2008) basiert. Da er für die Ausführungen in Kapitel 4 dieses Buches von großer Bedeutung ist, soll er etwas ausführlicher dargestellt werden.

Die berufliche Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern ist grundsätzlich von Antinomien geprägt. Dazu gehören ganz zentral folgende widersprüchliche Strukturen (vgl. dazu Terhart 2013, S. 67 f.):

›Lehrende und Lernende begegnen einander im Unterricht einerseits als «ganze» Menschen, andererseits erfordert der Lehrberuf rollenspezifisches Handeln (Nähe-Distanz-Problem).

›Jede Schülerin und jeder Schüler ist ein Individuum und soll deshalb individuell gefördert werden; gleichzeitig erfolgt diese Förderung unter Berücksichtigung allgemeiner schulischer Regeln und des Lehrhandwerks (Subsumtions-Rekonstruktions-Problem).

›Individuelle Lernbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler stehen im Widerspruch zum normativ festgeschriebenen Lernbedarf (Mathetik-Didaktik-Problem).

›Lernende sollten individuell behandelt werden. Gleichzeitig ist Gleichbehandlung ein wichtiges Gebot in der Schule (Einheitlichkeit-Differenz-Problem).

›Administrative Zwänge der Schule widersprechen vielfach angesagten lebendigen Interaktionen (Organisations-Interaktions-Problem).

›Schülerinnen und Schüler sollen zur Selbstständigkeit erzogen werden; dies geschieht in der Schule jedoch durch viel Zwang (Autonomie-Heteronomie-Problem).

Angesichts dieser Probleme wird deutlich, dass der Lehrberuf zwar durchaus auf rational gesicherten Wissensbeständen beruht; gleichzeitig ist in hohem Maße auch nichtstandardisierte Expertise gefordert. So muss sich zum Beispiel eine Lehrerin fragen: «Wie kann ich also einen Schüler zur Autonomie erziehen, wenn ich ihn gleichzeitig in der pädagogisch autoritären Asymmetrie von mir abhängig gemacht habe?» (Oevermann 2008, S. 63). Darauf gibt es keine allgemeingültige Antwort, vielmehr muss hier immer wieder situationsspezifisch eine Balance gefunden werden. An diesem Punkt ist das Verständnis von Oevermanns Krisenbegriff von Bedeutung: Das Erleben von Krisen und ihrer Bewältigung ist für das menschliche Wesen konstitutiv, wobei Krisen als etwas, was nicht der gewohnten Routine entspricht, zu verstehen sind. Menschen sind fähig zur Krisenbewältigung, indem sie Neues, Unbekanntes als solches erkennen und adäquat reagieren beziehungsweise handeln.

Oevermann unterscheidet drei wesentliche Krisentypen (siehe Tabelle 1).

Für die pädagogische Profession sind besonders die Typen II und III bedeutsam: Lehrerinnen und Lehrer handeln unter hohem Druck, denn Unterrichten ist durch hohe Situationsspezifität geprägt. Dieses Handeln unter Druck bedarf jedoch der Reflexivität, die allerdings nicht vor dem Handeln erfolgen kann, dazu ist der Druck zu groß. Reflexivität bedeutet für Lehrpersonen «Nach-Denken». Damit setzen sie sich zwischen die Stühle, denn sie sind sich der prekären Lage zwischen instrumentellem und zweckfreiem Denken bewusst. Für sie trifft zu, was Matthias Jung (2020, S. 57) über nachdenkliche Menschen schreibt:

Tabelle 1: Krisentypen und ihre Bedeutung für die Lebenspraxis (Oevermann 2002)

«Zur rein instrumentellen Rationalität dessen, der sich nur durchsetzen und erfolgreich sein möchte, sind sie auf Distanz gegangen, doch einer Verabsolutierung der wissenschaftlichen Perspektive, die Lebensbedeutsamkeit ausblendet, verweigern sie sich genauso. Sie stehen, anders als der – idealisierte – Wissenschaftler, unter existenziellem Handlungsdruck, können sich also Versonnenheit nicht leisten, wollen sich aber dennoch Zeit lassen – nicht um ihr instrumentelles Erfolgskalkül zu verbessern, sondern um ein Überlegungs- und Gefühlsgleichgewicht zwischen den gespürten Bedeutungen ihres Lebens und den Objektivitäts- und Normativitätsansprüchen der sozialen Welt zu erzielen. Von jetzt auf gleich wird das nicht gelingen, es kostet Ausdauer und Widerstandskraft. Wer aber, um Adorno nochmals zu bemühen, dem richtigen Leben wenigstens näherkommen möchte, dem bleibt zur Haltung der Nachdenklichkeit keine Alternative.»

Aufgabe professioneller Praxis ist die stellvertretende Krisenbewältigung für «Laien – d.h. für die primäre Lebenspraxis» (Oevermann 2002, S. 23). Dabei beinhaltet das Arbeitsprogramm drei Maßnahmen (Garz & Raven 2018):

1. Die Krisenkonstellation einer konkreten Lebenspraxis muss verstanden werden, das heißt sie muss rekonstruiert werden (Fallverstehen).

2. Die Anwendung des Wissens der Expertin oder des Experten muss der rekonstruierten Fallspezifität angemessen erfolgen, das heißt, sie muss dem Geist nach auf den Einzelfall hin und nicht mechanisch im Sinne einer Standardisierung erfolgen (Nichtstandardisierbarkeit).

3. Es muss eine sokratische Weckung der Eigenkräfte der Klientinnen und Klienten herbeigeführt werden, das heißt, die Hilfeleistung muss nicht nur verständlich «übersetzt» werden, sie muss auch praktisch – unter tätiger Beteiligung der Klientinnen und Klienten – umgesetzt werden.

Auf die pädagogische Arbeit zugeschnitten bedeutet das: Lehrpersonen müssen sich der Krisenhaftigkeit des Lernens – zum Beispiel des Lernens als Widerfahrnis – bewusst sein, sie müssen besonders Momente des Lernens diesseits und jenseits des Unterrichts wahrnehmen und sich im Sinne des Fallverstehens damit auf die Spurensuche nach vertrauten, fremden und befremdenden Erfahrungen des Lernens machen. Solche Erfahrungen sind zum Beispiel (vgl. Peterlini 2016, S. 16): gedrückt werden, sich drücken; verloren sein; Zeit überbrücken; hinterherhinken; es irgendwie durchstehen, hinter sich bringen; sich tarnen; wenn nichts mehr zu machen ist, trotzdem weitermachen; Irritationen überwinden, es wissen wollen; Niederlagen verdauen; sich etwas zeigen lassen; nicht aufgeben; versunken sein; sich anbieten; Mehrdeutigkeit verstehen; beharren; Freiräume schaffen; sich vertiefen, bis es aufgeht; über Brücken des Verstehens gehen; die Perfektion überlisten; eigene Wege gehen; sich im Durcheinander zurechtfinden; im Handeln verstehen; verstehen und erklären; Knoten lösen. Und in diesen spezifischen Momenten des Lernens müssen Lehrpersonen ihr didaktisches, fachdidaktisches und lernpsychologisches Wissen darauf beziehen und situationsklug handeln. Schließlich ist die ständige Förderung des selbstständigen Lernens sehr bedeutend, wobei auch hier eine Balance zwischen Fallspezifität und Expertenwissen gefunden werden muss (zur Förderung selbstständigen Lernens vgl. Caduff & Pfiffner 2016).

Zum Zweck der Bewältigung des Arbeitsprogramms schließen die Professionellen mit ihren Klientinnen und Klienten ein Arbeitsbündnis, wobei beide Seiten sich dazu verpflichten, tatkräftig dazu beizutragen, das vereinbarte Ziel zu erreichen. Abgesehen davon, dass solche Arbeitsbündnisse von einer «wirkmächtigen Beziehungsdynamik, der Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung, geprägt» (Garz & Raven 2018, S. 49) sind, ist jenes zwischen Lehrenden und Lernenden in der Schule eines, das bestimmt ist durch ein hohes Maß an Asymmetrie. Pointiert kann von der Schule als Zwangsanstalt gesprochen werden: Lernende wählen weder ihre Lehrerinnen und Lehrer noch bestimmen sie ihre Lernzeit und die Lerninhalte; aber auch die Lehrpersonen können ihre Lernenden nicht auswählen und die Größe der Lerngruppen nicht selbst bestimmen.

2.1.4 Entwicklung von Professionalität im internationalen Kontext

Neben diesen gut zu unterscheidenden Ansätzen zur Bestimmung der Lehrprofessionalität wurde immer auch der Versuch unternommen, diese als «komplexe […] Bündel […] von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Haltungen» (Schratz et al. 2008, S. 129) zu umschreiben. In Österreich wurde unter dem Akronym EPIK (Entwicklung von Professionalität im internationalen Kontext) Lehrpersonen-Professionalität in fünf Dimensionen abgebildet (ebd.). Mit Marc Bosse (2017) sind dies:

1.«Reflexivität und Diskursfähigkeit: Wenn eine Lehrperson sich von ihrem eigenen Unterricht distanziert, diesen reflektiert und infolgedessen ein kritisches Urteil über ihn fällt, ist sie in der Lage, ihr professionelles Handlungsrepertoire erfahrungsbasiert weiterzuentwickeln. Darüber hinaus ist es der professionelle Diskurs mit anderen Lehrpersonen, der im Anschluss an Situationen kritisch-distanzierter Reflexion des professionellen Handelns von Kolleginnen und Kollegen Momente professioneller Entwicklung anzustoßen vermag. Schratz et al. (2008) fassen die ‹(selbst-)kritische Reflexion, die eigene Erfahrung ebenso nutzt wie wissenschaftliche Erkenntnisse, und […] [den] Austausch im beruflichen Diskurs› (S. 131) als ein Kernelement von Lehrer-Professionalität auf.

2.Professionsbewusstsein: Professionelle Lehrerinnen und Lehrer wissen um ihre spezifischen professionellen Kompetenzen und sind auf dieser Basis in der Lage, ihre professionelle Praxis von der anderer Berufe abzugrenzen. Sie sehen sich als ‹Teil einer nationalen und internationalen Bildungslandschaft› (ebd., S. 132) und können – abstrahiert von der konkreten Arbeitsrealität an der eigenen Schule – ihre Berufstätigkeit durch Einnahme einer Außenperspektive reflektieren. In diesem Sinne bedeutet Professionalität, sich auf notwendige Veränderungen des professionellen Handelns einzulassen und Bereitschaft zu zeigen, durch Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen ihre professionelle Entwicklung voranzutreiben.

3.Kollegialität: Professionelle Lehrkräfte schließen sich zu Lerngemeinschaften zusammen, in denen es in kollegialer Atmosphäre möglich ist, Fragen und Unsicherheiten zu artikulieren und Schwierigkeiten distanziert zu reflektieren. Gemeinsamwerden nicht nur akute Problem- und Aufgabenbereiche des Unterrichts bearbeitet – vielmehr ist die Gemeinschaft auch ein Ort zur Diskussion‹aktueller Themen der Berufspraxis› (Schratz et al., 2008, S. 133) sowie zur (Weiter-)Entwicklung ‹lösungsorientierte[…][n] Wissen[s] [und Könnens]› (ebd.). Professionelle Lehrkräfte setzen sich also dafür ein, dass eine ‹Kultur der Offenheit› (ebd.) etabliert wird, durch die Unterricht mehr und mehr de-privatisiert und zur Sache der Lerngemeinschaft gemacht wird. Die professionelle Entwicklung der Lehrpersonen bedeutet mithin die Entwicklung von Selbstdistanz zum eigenen professionellen Handeln.

4.Differenzfähigkeit: Professionelle Lehrerinnen und Lehrer sind dazu fähig, ihr Weltbild von einer standardisierten Schülerin oder einem standardisierten Schüler abzulegen und jeden Lernenden individuell zu deuten. Professionelle Lehrpersonen sind also in der Lage, ‹das Differente auch als Differentes wahrzunehmen› (ebd.,S. 134). Solche Lehrkräfte besitzen hierzu entsprechende Kompetenzen in den Bereichen der Diagnose und dem Umgang mit heterogenen Lerngruppen sowie Wissen über den sozialen und institutionellen Kontext von Heterogenität.

5.Personal Mastery: Professionelle Lehrkräfte verfügen über persönliche Meisterschaft, d. h. sie sind erstens in der Lage, ihre Kompetenzen situationsangemessen und distinktiv zur Anwendung zu bringen, und zweitens dazu fähig, ihre individuelle professionelle Entwicklung so zu gestalten, dass dies möglich ist.»

2.1.5 Lehrprofession als techné

Jochen Krautz (2019) kritisiert explizit das moderne Bild von Schule und Unterricht als «wissenschaftspolitische Machtergreifung» der «Bildungs-Effektivitätsforschung» (Ruhloff 2007, S. 37/40). Danach soll das ganze Schulwesen «simpel wie ein einfaches kybernetisches Regelsystem» (Krautz 2019, S. 76) arbeiten: Wie in einem Heizungskreislauf wird als Erstes ein Sollwert festgelegt. Wenn die Heizung dann arbeitet, meldet ein Messfühler die Temperatur zurück an das System, das sich nach Maßgabe des Sollwertes hoch- oder herunterregelt. In der Schulpädagogik bilden die Bildungsstandards den Sollwert, die empirische Forschung den Messfühler, der dem System Schule die Informationen für allfällige Anpassungen beziehungsweise Korrekturen bereitstellt. Dieses Verständnis zeitigt schwerwiegende Folgen (ebd., S. 77):

1.«Die Messverfahren und Rückkoppelungsmodelle reduzieren die pädagogische Wahrnehmung und beziehen Handeln auf eine von Zahlen bestimmte Scheinwelt. Diese führt zu externen Modellen und erklärt genuin pädagogische Modelle für nichtig. Aus Erfahrung resultierendes pädagogisches und didaktisches Können wird delegitimiert: Demnach weiß der Psychometriker, der selbst nie vor einer Schulklasse stand, besser als der Praktiker, wie zu handeln sei.

2.Hierdurch werden die im System Schule Tätigen entmündigt, ihre Professionalität wird entwertet.‹Professionalisierung› meint heute oftmals die Eingewöhnung von Studenten in das ‹evidenzbasierte Wissen› berufsferner Bildungsforscher. An der Schule tätige Lehrer sollen mittels flankierender Maßnahmen wie Qualitätsmanagement-Systeme und Schulinspektionen zu neuen Rollen umerzogen werden (vgl. Krautz/Burchardt 2018).

3.