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Sonja Sengers zwölfter Fall: Die Exkommissarin und der Enkeltrick Sonja Senger erhält einen ungewöhnlichen Telefonanruf: ein Junge, der sich als ihr Enkel ausgibt und dringend Geld braucht. Die pensionierte Kommissarin, ein Leben lang ledig und kinderlos, lässt sich auf das Spiel ein. Sie bestellt ihn in ihr Forsthaus am Ende der Stromleitung in Wolfgarten und baut behutsam Vertrauen zu ihm auf. Wie nicht anders zu erwarten, agiert der Junge nicht allein, sondern ist Mitglied einer Gang. Unterdessen wird Sonjas Nachfolgerin Frieda Stein von der Kripo Euskirchen mit dem Mord an einer jungen Frau konfrontiert, die an einem Malkurs in Blankenheim teilgenommen hat. Noch während Frieda und ihre Kollegen die Hintergründe der Tat rekonstruieren, geschieht ein weiterer Mord: Eine Frau, die ein Heilfasten-Seminar in Nettersheim besuchte. Und bei diesen beiden Toten wird es nicht bleiben. Als es Sonja schließlich gelingt, die geheimen Verbindungen ihres "Enkels" aufzudecken, liefert sie Frieda unverhofft einen ersten Ermittlungsansatz in der Mordserie.
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Seitenzahl: 262
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Bisher von der Autorin bei KBV erschienen:
NovembernebelDas Fenster zum ZooTot und begrabenAuszeitSchwarze SchafeWildflugMord im Eifel-ExpressSpiel mir das Lied vom WindTote gehen nicht den EifelsteigDie Eifel sehen und sterbenNirgendwo in der EifelSechs in der EifelAtemnotEifelmädchenEifelmadonnaWenn die Eifel brennt
Seit 1998 schreibt Carola Clasen Kriminalromane, die in der Eifel spielen. Leichenstille ist ihr zwölfter Roman mit der eigenwilligen Kommissarin Sonja Senger. Auch mit ihren Kurzgeschichten und Lesungen hat Carola Clasen sich einen Namen in der Region gemacht. Die »Queen of Eifel-Crime« lebt und arbeitet in Köln.
Carola Clasen
Originalausgabe© 2020 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlaggestaltung: Ralf Krampunter Verwendung von © Martin Debus - stock.adobe.comLektorat: Volker Maria Neumann, KölnPrint-ISBN 978-3-95441-520-5E-Book-ISBN 978-3-95441-531-1
Für meine EnkelFritz und Lutz
»Erzähle nicht die Wahrheit,solange dir etwas Interessanteres einfällt.«Karl May
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Er steht wieder da.
Breitbeinig. Schemenhaft. Unbeweglich wie eine Skulptur. Zur Hälfte hinter einem Baum verborgen. Das Sonnenlicht in seinem Rücken wirft einen langen Schatten auf den Weg. Sein Gesicht ist nicht zu erkennen. Das ist es nie.
Sie bleibt im Eingang stehen und überlegt. Soll sie warten, bis ein Kollege das Gebäude verlässt oder ein Besucher, damit sie in seinem Schutz das Gelände durchqueren und zur Bushaltestelle gelangen kann? Vielleicht nimmt sie jemand im Auto mit. Sie kann auch zurück ins Foyer gehen und den Hintereingang nehmen oder im Laufschritt und mit Tunnelblick an ihm vorbeimarschieren, als hätte sie ihn nicht gesehen.
Denn er wartet ja nur.
Stets nimmt sie nach Feierabend einen anderen Weg nach Hause. Mal nimmt sie die Kurgartenstraße, mal den Nachtigallenweg, manchmal läuft sie auch über den neuen, breiten Fußweg der Dürener Straße hinunter nach Gemünd. Sie geht auch nicht jeden Tag zur gleichen Zeit, ein Vorteil der Schichtarbeit.
Immer suchen ihre Blicke zuerst ihn, sobald sie durch die Glastür im Empfang getreten ist. Oft sieht sie ihn schon vom Treppenhaus im zweiten Stock.
Er ist nicht immer da. Es gibt Unterbrechungen. Wenn sie glaubt, er habe aufgegeben, steht er wieder da. Er tut nichts. Er spricht sie nicht an. Er kommt nicht auf sie zu. Er folgt ihr nicht. Steht nur da. Zur Hälfte hinter einem Baum verborgen. Schemenhaft. Unbeweglich wie eine Skulptur.
Sie weiß genau, dass er es ist. Er ist nicht groß, er ist nicht schlank. Seine welligen Haare reichen bis zu seinen Schultern. Das alles passt zu ihm. Wer sonst soll auch auf sie warten? Sie führt ein einsames Leben. Er muss es sein.
Sein Erscheinen ist ein einziger Vorwurf. Und das schlechte Gewissen, das sie seit dem 10. August 1999 keinen einzigen Tag mehr in Ruhe gelassen hat, wird jedes Mal neu angefacht und brennt lichterloh in ihrem Inneren – ein Dauerfeuer, das nicht ausgehen kann.
Wie oft sie kurz davor ist, auf ihn zuzugehen, sie kann es nicht mehr zählen. Nah genug an ihn heran, um in seine Augen zu sehen, seine Stimme zu hören, seinen Duft einzuatmen, ihn zu berühren und … ihm alles zu erklären, noch einmal und dieses Mal die Wahrheit zu sagen. Sie kann nicht verlangen, dass er ihr verzeiht. Was damals geschehen ist, das lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Es lässt sich nicht reparieren. Aber er soll ihr eine Chance geben.
Es war nicht Nadines Art, so früh am Morgen wach zu werden und gleich voller Tatendrang zu sein. Erst sieben Uhr. Aber die ersten drei Tage in ihrem Malkurs hatten sie beflügelt, Dinge zu tun, die sie vorher nicht gewagt hätte. Und als jetzt das erste Morgenlicht durch die Spitzengardinen in ihr Pensionszimmer fiel, musste sie einfach aufstehen.
Schnell schlüpfte sie in die Kleidung des Vortags, stieg in die Stiefeletten, warf den Wollmantel über, schob eine Schachtel Ölkreidestifte in die Seitentasche und klemmte sich das Skizzenbuch unter ihren Arm. Sonst brauchte sie nichts. Dort, wo sie hingehen wollte, brauchte sie kein Geld, kein Handy, nur ihre Sinne. Frau Schmidt, ihrer Gastgeberin, die im Speiseraum die quadratischen Tische deckte, winkte sie im Vorübergehen zu. »Zum Frühstück bin ich zurück.«
Der Morgen war kühl und frisch, nur wenige Wolken waren unterwegs, und im Ort war noch nicht viel los. Es war nicht weit bis ins Waldgebiet, und Nadine lief fast. Sie konnte es kaum erwarten, ihre Inspiration in die Tat umzusetzen. Sie hatte eine Vision, eine Idee, auf die sie Anna Jordi, die Leiterin des Malkurses, gebracht hatte. Nadine war auf der Suche nach einem Loch im Wolkenspiel, einem Stück blanken, blauen Himmels, auf ihn zudrängende Baumwipfel, aufragende Stämme. An diesem Ort solle sie sich flach auf den Boden legen und hinaufschauen, hatte die Leiterin gesagt, diese Perspektive sei unverstellt und unvergleichbar. Vor Nadines innerem Auge war das Bild längst fertig.
Ihr Weg führte an dem Hinweisschild zu ihrer Malschule Malwestt 300 m vorbei. Wenn sie daran dachte, wie unsicher sie gewesen war, als sie zum ersten Mal vor dem Metalltor in der Klosterstraße gestanden hatte, hinter dem sich die Malwerkstatt befand, musste sie lächeln. Das Tor war zweiflüglig, grau gestrichenen, verbeult und mannshoch. Sie hatte nicht ahnen können, dass sich dahinter eine neue Welt für sie auftat.
Erst drei Tage vorher hatte Nadine die Klinke zu diesem Tor vorsichtig heruntergedrückt. Aber es war verschlossen. Sie sprang hoch und erhaschte einen Blick auf einen gepflasterten Hof und ein niedriges Gebäude dahinter. Keine Staffeleien, keine Farbtöpfe, keine Leinwände. Der Hof war leer und aufgeräumt. Eine Klingel gab es nicht. Ob das angrenzende Fachwerkhaus dazugehörte, wusste sie nicht. Sie hätte dazu die Eingangsstufen hochgehen und auf das Namenschild sehen müssen, das kam ihr aufdringlich vor.
Sie kehrte zurück zur Ahrstraße und überquerte sie, um zum Lühberg zu gelangen, wo sie in der Pension Schmidt ein Zimmer gebucht hatte. Ein gelbes Haus, Geranien, Sprossenfenster, Spitzengardinen, ein Hinterhof als Parkplatz für Gäste, es war nach 15 Uhr und sie wurde erwartet. Frau Schmidt, die Mutter der Malerin, stand in der offenen Eingangstür. Eine freundliche, gepflegte Dame vielleicht Ende sechzig, ohne Brille, mit grauem Kurzhaar. Sie trug keine der berüchtigten, bunten Kittelschürzen, sondern ein schönes Strickkleid, das weich fiel und ihr bis zu den Waden reichte, von einem bemerkenswerten Blau.
Frau Schmidt zeigte ihr, wo sie im Hinterhof parken konnte, und übergab ihr die Schlüssel zu ihrem Zimmer, das über eine steile Treppe zu erreichen war.
Es war wie erwartet in bäuerlicher, geblümter, wollener Gemütlichkeit eingerichtet, vielleicht 15 qm groß, verfügte aber auch über den obligatorischen Flachbildschirm. Das Duschbad war renoviert und vom kleinen Balkon aus konnte man einen Ausschnitt der Burg Blankenheim erspähen. Es war perfekt, wie ein Bild in einem Kunstdruckkalender. Van Goghs Zimmer in Arles, in fahle Märzsonne getaucht. In diesem Raum, in diesem Bett mit seinem dunklen, geschwungenen Holzgestell aus den Dreißigern würde Nadine keine Angstzustände bekommen.
Nadine holte ihren Mini vom Parkplatz am Ortsrand, parkte im Hinterhof und richtete sich in ihrem Zimmer ein. Als alles an Ort und Stelle lag, überlegte sie, wen sie anrufen könnte, um zu sagen, dass sie gut angekommen war. Aber niemand fiel ihr ein, außer Mann und Sohn. Das musste sich ändern, so konnte es nicht weitergehen. Ihr war klar, dass es zum großen Teil an ihr selbst lag, sie musste sich ein wenig Mühe geben und auf Leute zugehen. Dieser Malkurs war wie gemacht dafür.
Es war nach 18 Uhr, als Nadine die Brasserie an der Ahr betrat, wo ein erstes gemeinsames Abendessen zum Kennenlernen stattfinden sollte. Sie durchquerte den Windfang und betrat den Gastraum. Im Hintergrund gab es eine lange Tafel, an der fünf Frauen und ein Mann saßen. Eine der Frauen saß an der Stirnseite, das musste die Kursleiterin sein, Anna Jordi. Sie ähnelte ihrem Foto im Internet. Ein Stuhl am Ende der Tafel war noch frei. Nadine würde mit dem Gesicht zur Wand sitzen müssen und wünschte, sie wäre früher gekommen, aber sie hatte sich zweimal umgezogen. Jetzt würden gleich alle Augen auf ihr ruhen.
Sie bahnte sich einen Weg und wünschte einen Guten Abend, ging von Hand zu Hand. Man stellte sich mit dem Vornamen vor, sie konnte sich – außer Anna, der Kursleiterin – nur den des Mannes merken: Burkhard, ein Rentner oder Pensionär. Die Frauen schienen zwischen vierzig und fünfzig zu sein, wirkten sympathisch und aufgeräumt. Die Speisekarten gingen herum.
Als sie spät am Abend in die Pension Schmidt zurückkehrte, war Nadine mit sich im Reinen. Es war besser gelaufen, als sie dachte. Sie wurde beneidet um die Zeit, die sie hatte, und um die Freiheit, keinen Beruf ausüben zu müssen, ebenso um ihr Atelier im Dachgeschoss mit Nordlicht. Sie alle konnten nicht ahnen, wie sie darum gekämpft hatte. Und wie leer sich ihr Leben trotz allem anfühlte, wie bedrohlich ihr die Jahre vorkamen, die noch vor ihr lagen.
Bis vor einem Jahr hielt diesen begnadeten Raum Elisabeth besetzt, ihre Schwiegermutter, und Nadine hatte im Souterrain ihr kleines Reich gehabt, wo sie begonnen hatte, kleine, zaghafte Bilder zu malen, die sie niemandem zeigte und oft genug in kleine Schnipsel riss und vernichtete, weil sie sie für stümperhaften Schund hielt.
Die chronisch kränkelnde Elisabeth zu versorgen, außerdem Felix, einen vielbeschäftigten Ehemann, der Leiter eines Architekturbüros war, und dazu noch Florian, einen halbwüchsigen Sohn, das war eine tagesfüllende Beschäftigung. Erfüllend war es nicht. Aber Nadine sah sich in der Pflicht.
Florian, genannt Flo, war 16 Jahre alt, groß und schlaksig, hatte ein hageres Gesicht, eine schmale Nase, einen vollen Mund, der immer leicht missmutig verzogen war. Er hatte rötlichblondes, dichtes Haar wie seine Mutter, das er lang bis auf die Schultern trug. Blaue Schatten lagen unter seinen hellen Augen, die nicht strahlten, sondern immer trübe aussahen. Er war anstrengend für seine Umgebung, pendelte ständig zwischen Euphorie und Melancholie. Flo besuchte die zehnte Klasse der Gesamtschule in der Martin-Luther-Straße und schrieb entweder eine Eins oder eine Sechs. Seine einzige Leidenschaft galt seiner Band. Er spielte Saxofon seit seinem zehnten Lebensjahr. Ansonsten schien er nicht viel mit seinem Leben anfangen zu können, hatte keine Ahnung, was er werden wollte, vielleicht nichts, auf jeden Fall nicht so ein Spießer, wie seine Eltern es in seinen Augen waren. Die Mitglieder seiner Band waren seine Freunde, Nadine kannte sie nur, weil sie durchs Haus gingen, um in Florians Zimmer zu verschwinden, um dort zu proben. In letzter Zeit hatte Florian eine Freundin, ein verblüffend unattraktives, schüchternes, pummeliges Mädchen, das ihn anhimmelte. Seiner Mutter gegenüber war er abweisend und verschlossen, als wäre sie nicht von dieser Welt. Seine Freundin fand das cool und tat es ihm gleich. Nadine wusste nicht einmal ihren Namen.
Bekannte meinten, sie solle froh sein, dass ihr Sohn keine Drogen nehme und keine kriminellen Neigungen zeige. Aber konnte Nadine denn sicher sein? Sie wusste doch kaum, wie er seine freie Zeit verbrachte.
Nach Elisabeths Tod vor einem Jahr empfand Nadine nichts als Erleichterung. Während sie ihren Mann tröstete, richtete sie in Gedanken schon das Dachgeschoss ein. Im Namen ihres vor Trauer wie gelähmten Ehemannes Felix organisierte sie die Beerdigung und kümmerte sich um den anstehenden Papierkram. Er erbte einen unerwartet hohen Betrag, der angelegt werden musste. Auch das erledigte Nadine und ließ sich vom Anwalt seiner Firma beraten. Felix musste nur noch unterschreiben. Im Hinterkopf das Atelier, machte es ihr nichts aus, das alles zu tun, als wäre sie seine Sekretärin.
Felix hatte gerade ein Großprojekt übernommen, ein mehrstöckiges Gebäude mit Ladenzeile im Erdgeschoss in Zülpich. Er war der Hauptverantwortliche, und es gab natürlich Probleme. Mit der Statik, dem Wegerecht, der Unteren Wasserbehörde und mit dem Kreis Euskirchen.
Elisabeth war einen Monat unter der Erde, als Nadine begann, mit ihrer Familie darüber zu sprechen, wie man das Haus umräumen könnte. Sie war entsetzt, als Florian erklärte, er wolle unbedingt aus seinem Zimmer im ersten Stock raus und ins Dachgeschoss ziehen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte doch schon jeden Quadratzentimeter nach ihren Vorstellungen eingerichtet. Sie hatte doch lange genug gewartet. Sie hatte sich das Atelier wirklich verdient.
»Gute Idee«, hörte sie ihren Mann sagen, während ihr fast die Sinne schwanden.
»Nein!«, entfuhr es ihr mit verzweifelter Stimme.
Sie standen im Wohnzimmer. Nadine rannte ans Fenster und blickte hinaus in den Garten, den sie allein bewirtschaftete, bis auf das Rasenmähen, dass sich Felix und Florian teilten. Der Sommer ging dem Ende zu. Wie oft hatten sie zusammen auf der Terrasse gesessen? Nadine konnte die Gelegenheiten an einer Hand abzählen.
Sie wandte sich um. Felix und Florian starrten sie entsetzt an.
»Flo, das Zimmer im Souterrain ist doch ideal für dich. Ich versteh dich nicht. Es ist ideal zum Musikmachen. Es hat einen eigenen Eingang. Auch die Fenster liegen hinter dem Steingarten. Niemand kann dich beobachten. Du kannst da unten machen, was du willst. Wenn du oben wohnst, dann … du bist doch sowieso nie da!«
Florians Blicke irrten zwischen Nadine und Felix hin und her. »Okay«, sagte er schließlich und gab nach. »Wenn dir so viel daran liegt. Das wusste ich nicht. Kein Problem, ich bleibe unten.«
Nach und nach breitete Nadine sich mit ihren Farben, Leinwänden, Bildern, Rahmen, Töpfen, Papierrollen, Keilen, mit Leim und Firnis im Dachgeschoss aus und stellte die Staffelei ins geliebte Nordlicht. Sie war am Ziel ihrer Träume. Sie war angekommen. In ihrem Element. Endlich.
Das Atelier war ein nahezu quadratischer Raum ohne Zwischenwände in den Maßen der Grundfläche des Reihen-Mittelhauses, in dem Nadine seit fünfzehn Jahren mit ihrer Familie wohnte. Die Fensterfront Richtung Süden war mit naturweißen Leinenrollos verhängt, wie Nadine es in den Museen der Welt gesehen hatte. Wenn die Dämmerung einsetzte und allmählich zur Nacht wurde, schaltete sie die abgeblendete Beleuchtung ein und flutete den Raum mit künstlichem Tageslicht, das keinen Schatten warf. Aber am Tag, da hatte das Atelier Nordlicht. Es war das Licht der großen Maler.
Das alles war jetzt sechs Wochen her. Nadine hatte den Ortskern von Blankenheim längst hinter sich gelassen, wich nach wenigen Metern von der breiten Fahrspur ab, die in den Wald führte, stapfte kreuz und quer ins Unterholz hinein, auf der Suche nach einer geeigneten Stelle. Es wurde stiller mit jedem Schritt, da war nur noch hin und wieder ein Knacken und Knistern und ein einzelner warnender Vogelschrei. Es ging bergauf, Nadine begann zu schnaufen und blickte sich um. Den Ort ihrer Vision schien es nicht zu geben.
Aber dann tat sich doch vor ihr ein kleiner, sonniger Platz auf, nicht viel größer als ein Zimmer, oval, umringt von hohen, eng aneinander stehenden, nackten Baumstämmen, die in bewachsene Wipfeln mündeten, dunkle Fichten, die im Wind leise schaukelten. Über ihnen öffnete sich das Wolkenspiel, und ein Stück blanker Himmel zog auf. Lächelnd strich sie über einen Baumstamm. Hier war es.
Sie bückte sich und legte eine Hand auf den feuchten Waldboden. Sie hätte sich besser eine Decke mitgenommen. Ihr Mantel würde später voller Flecken sein, Fichtennadeln und brauner Blätter. Die feuchte Kälte eines Märzmorgens in der Eifel würde ihr in die Knochen und Muskeln kriechen. Sie würde Kopfschmerzen bekommen und sich die Haare waschen müssen, bevor sie zum Frühstück ging. Wenn sie überhaupt wieder hochkam nach der Zeit, die sie brauchte. Wenn sie da nicht schon ein Stück eingefroren war. Es konnte nicht viel wärmer sein als drei oder vier Grad.
Der bemooste Baumstumpf konnte ihr als Kopfstütze dienen. Nadine legte das Skizzenbuch ab und machte eine Liegeprobe. Der Blick nach oben entschädigte sie für alles, alles. Sie öffnete die Schachtel mit den Ölkreidestiften und zog den blauen Stift hervor. Dieser Himmel. Ob sie jemals an dieses unvergleichliche Blau herankam?
Aber während der Stift über das Papier glitt, liefen Nadines Gedanken davon. Welch ein Glück, dass sie hier lag, dass ihr Anna Jordi und deren Malwerkstatt begegnet waren. Es hätte auch anders kommen können.
Als sie begann, sich für eine Malreise zu interessieren, stellte sie fest, wie unübersichtlich riesig der Markt für Kunstreisen war, wie populär, wie hip. Es wurden Reisen in die halbe Welt angeboten: nach Mallorca, Italien, Griechenland oder Österreich, auf deutsche Nordseeinseln. Dort wurde in traumhafter Umgebung auf einfachen Bauernhöfen oder Fincas, aber auch in luxuriösen Hotels alles gelehrt, was das Herz der Kreativen begehrte, eine unglaubliche Auswahl: Bildhauerei, Stein oder Holz, Zeichnen – Freiluft oder Atelier, Malen in Öl, Aquarell oder Acryl, Modellieren, Töpfern, Schmieden, Spinnen, Weben, Filzen … aber nicht nur die bildende Kunst war Ziel der Begierde, auch die Kunst der Meditation, der Kräuterkunde, das Vegane Kochen, Heilfastenwandern …
Aber Nadine, die seit ihrer Hochzeit nicht mehr allein verreist war, wollte lieber in Deutschland und in der Nähe bleiben und landete so bei Pandora-Reisen mit Sitz in Koblenz, dem offensichtlich führenden regionalen Anbieter von Kreativreisen in der Eifel. Das Unternehmen hatte hervorragende Bewertungen im Netz und bot günstige Konditionen. Die Alternativen erschienen blass und bieder dagegen.
Es kostete Nadine Überwindung, ihre beiden Männer für einige Tage sich selbst zu überlassen, in der Gewissheit, sie kämen ohne sie nicht klar, würden nichts zu essen finden, nicht nach der Post sehen und alles sähe aus wie nach einem Einbruch, wenn sie zurückkam.
Sie wählte »Acryl für Anfänger«, der von der Künstlerin Anna Jordi geleitet wurde, der Inhaberin der Malschule Malwestt, weil ihr das Foto und die Vita gefielen. Anna Jordi hatte in Köln Kunst studiert, den Beruf der Lehrerin nur kurz ausgeübt, ehe sie sich selbstständig gemacht hatte. Ganz ähnlich wie Nadine, die nur bis zu Florians Geburt in Köln unterrichtet hatte, nicht Kunst, sondern Deutsch und Geografie in der Oberstufe des Hildegard-von-Bingen-Gymnasiums, sich aber nicht selbstständig gemacht hatte, sondern als Ehefrau und Mutter von der Bildfläche verschwunden war.
Anna Jordi konnte eine Reihe Ausstellungen vorweisen, sogar den Preis einer Stiftung. Ihre Werke waren Großformate, es gab im Internet Ansichten von drei Gemälden. Sie sprachen Nadine an, ja, so wollte sie auch malen können: wild, abstrakt, hell, sonnig, klar und inspirierend, vage genug, um die Gedanken auf unterschiedliche Wege zu bringen.
Der Kurs sollte vom 3. bis zum 9. März stattfinden und war auf mindestens fünf und maximal acht Personen ausgelegt. Mittag- und Abendessen konnte Nadine zusammen mit den anderen Seminarteilnehmern in einem der Restaurants in Blankenheim einnehmen. Der Kurs endete am Nachmittag um 15 Uhr. Dann wurde das Atelier nicht geschlossen, sondern stand den Teilnehmern zum »Freien Malen« bis 22 Uhr zur Verfügung. Malen bis zum Umfallen, dachte Nadine selig, und konnte es kaum erwarten.
Felix sagte sie es am späten Abend, nachdem er das Licht ausgemacht, sich auf den Rücken gelegt und ihr seufzend Gute Nacht gewünscht hatte. Sie hatten kurzen, routinierten Sex gehabt. Sie verschwieg den Malkurs und sprach von einer kleinen Auszeit, die sie dringend brauche. Sie musste einfach einmal ein paar Tage allein sein. Nach allem. Das sagte sie nur für den Fall, dass er auf die absurde Idee kam, sie zu begleiten. Es hörte sich auch nicht an, als wäre die Reise schon gebucht. Felix sollte das letzte Wort haben. Wie erwartet, war er einverstanden. Es schien ihm egal zu sein.
Florian hatte anders reagiert. Er hatte sie ausgefragt und fand es toll, dass sie allein etwas unternahm. Er schien stolz auf seine Mutter zu sein. Es gab keinen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. Warum hatte sie es trotzdem?
Am Abreisetag gab es nur die Nachbarin, die alte Frau Gerber, die gegenüber wohnte und die Gardine beiseitegeschoben hatte, um zu sehen, was in dem Haus der Dürkheims vor sich ging, als Nadine hin und her lief, das Auto packte und davonfuhr, und sicher fiel ihr auch auf, dass das Auto am Abend nicht zurückkam, aber …
Nadine wurde das Skizzenbuch mit roher Gewalt aus der Hand gerissen. Sie starrte in den Lauf einer Pistole. Angst übermannte sie wie eine heiße Welle, ihr Herz stolperte und setzte aus, ihr Atem stockte, ihr Nacken erstarrte. Das Gesicht, das wütend auf sie herabblickte, hatte sie mal irgendwo und irgendwann gesehen. Aber wie der Mann hieß, daran konnte sie sich nicht erinnern. Ein Knall und ein nie gekannter Schmerz setzte all ihren Überlegungen ein Ende.
Was folgte, war Stille.
Leichenstille.
Telefonklingeln durchbrach die Stille im Forsthaus am Ende der Stromleitung. Sonja Senger schrak aus dem Ohrensessel hoch, das offene Buch rutschte von ihrem Schoß, landete auf dem Fußboden und schlug zu. Kater West starrte von der Fensterbank aus mit einem seiner gelben Augen verwundert auf das Buch.
Wieder klingelte es.
Sonjas Füße glitten vom Hocker, ächzend stemmte sie sich hoch. Es war noch hell draußen, noch lag kein Abendlicht über den Feldern, die Scheiben ihres Autos, das vor dem Haus parkte, waren beschlagen. Sie musste eingeschlafen sein. Sie hatte nach dem Mittagessen ein Viertelstündchen lesen wollen, in Die Giftköchin von diesem finnischen Autor, dessen Name sie sich nicht merken konnte, weil er für hiesige Gewohnheiten unaussprechlich war. Sie stieg über das einsame, rote Holzhaus am Ufer des dunkelblauen Fjords. Ihr rechter Fuß war eingeschlafen.
Wieder Klingeln.
West ließ den Kopf auf die Pfoten sinken und seufzte. Sonja humpelte zum Telefon, das neuerdings öfter stumm in seiner Ladeschale steckte, als ihr lieb war. Alle hatten immer so viel zu tun. Sonja hatte aufgehört, den wenigen Bekannten hinterherzutelefonieren und beschlossen abzuwarten, bis es im Forsthaus klingelte.
Die einzige, die sich regelmäßig meldete, war Frieda. Frieda Stein, ihre Nachfolgerin in der Mordkommission Euskirchen. Auch wenn es nur war, um kurz Hallo zu sagen und auf die Frage: Lebst du noch? die unwirsche Antwort zu bekommen: Nein.
»Frieda?«, rief Sonja ins Telefon.
»Hallo Omilein! Ich bin’s!«
Omilein? Sonja nahm das Telefon vom Ohr und blickte es ungläubig an. Wie bitte? Träumte sie? Im nächsten Moment war sie schlagartig wach, nichts tat mehr weh, nichts war mehr zu mühsam, nichts zu dunkel, nichts mehr öde.
»Omilein!«, plärrte es weinerlich aus dem Lautsprecher.
Unfassbar! Sie hatte schon befürchtet, es träfe sie nie. Aber nun! Selig lächelte sie auf das Display, das eine unbekannte Mobilfunknummer anzeigte. Endlich bekam auch sie einen dieser berüchtigten Anrufe. Schnell presste sie das Telefon wieder an ihr Ohr und kritzelte nebenher mit einem stumpfen Bleistift die Telefonnummer auf den Kölner Stadt-Anzeiger, Ausgabe Eifel, Seite 5, wo ein Trinkgelage in Euskirchen für alle Beteiligten im Krankenhaus endete.
»Wer ist denn da?«
»Rate doch mal!«
»Mein Lieblingsenkel?«, fragte sie prompt, ein Leben lang ledig und kinderlos, aber auf der Höhe und nicht verschlafen.
»Genau, Omi, ich bin’s.«
Wie hießen Kinder heutzutage, überlegte sie fieberhaft. »Warte, ich komm nicht auf deinen Namen. Hab ja lange nichts von dir gehört.« Sie checkte die Telefonnummern gegen, ergänzte die beiden fehlenden Zahlen. »Du bist der … der … der Max, stimmt’s?«
»Ja, genau, dein kleiner Max.«
Sie hätte auch Simon oder David sagen können. Ihr Lieblingsenkel wäre einverstanden gewesen. »Das ist aber schön, Max, dass du dich mal meldest. Wo bist du denn gerade?«
»In … in …«, Max musste nachdenken und zog schluchzend die Nase hoch.
»Bist du erkältet?«
»Nein.« Schluchz. Schnief. »Das ist es nicht.«
»Aber du hörst dich schlimm an.«
»Mir geht es auch echt nicht gut.«
Ob er Geld brauche, wollte Sonja schon fragen, biss sich aber im letzten Moment auf die Lippen. Nichts überstürzen. »Was hast du denn, mein Kleiner? Ärger mit Mama und Papa?«
Schluchz. Schnief. »Woher weißt du das?«
»Na, ich kenn doch meine Tochter«, antwortete Sonja. Sie hätte auch meinen Sohn sagen können, es spielte keine Rolle. Max widersprach nicht. Und sie hatte weder die eine noch den anderen.
»Ich habe ein Problem«, seufzte er. »Ein großes sogar.«
»In der Schule?«
Stille im Telefon. Sonja sah ein klägliches, rotznäsiges Jungengesicht vor sich. »Soll ich mal mit deinen Eltern reden?«
»Nein! Nein«, wehrte er entsetzt ab. »Ich … ich … weiß nicht, ich trau mich gar nicht, dich zu fragen.«
Wie rührend. Sonja wurde langsam ungeduldig. Nun, komm schon, sag es.
»Aber es wäre mega, wenn du mir helfen würdest.«
»Mach ich, mein Junge, aber wie denn nur?«
»Wenn du mir … ein wenig … ein wenig Geld leihen könntest.«
Ha! Sonja triumphierte. Jetzt wurde es interessant.
»Nur ganz kurz und du bekommst es auch garantiert wieder. Ich schwöre es dir.«
»G e l d?«, fragte sie und ließ ihre Stimme geriatrisch zittern. »Wozu denn?«
»Ach, es ist alles so furchtbar. Oskar wurde doch angefahren.«
War Oskar jetzt ihr Sohn oder Schwiegersohn? Keine falschen Fragen. Sonja wartete ab.
»Mein süßer, kleiner Oskar, er ist doch noch ganz jung, hat sich nur losgerissen, weil er spielen wollte und ist auf die Straße gelaufen. Ich hab ihn natürlich sofort zum Tierarzt gebracht. Der hat ihn stundenlang operiert.«
»Ach je«, stöhnte Sonja auf. Das hörte sich nach einem Hund an. »Geht’s ihm denn jetzt wieder gut?«
»Er muss noch mal operiert werden.«
»Aber der Mann, der ihn angefahren hat, muss das doch zahlen. Der war schuld.«
»Das war er auch, aber der ist einfach weitergefahren.«
»Oh nein! Auch das noch. Hast du sein Nummernschild notiert?«
»Nein, ich hab mich nur um meinen Oskar gekümmert. Er war voller Blut und heulte und jammerte und strampelte und schrie wie am Spieß.«
»Das hast du gut gemacht«, lobte Sonja ihn. »Das war Fahrerflucht oder wie man das nennt.«
»Genau, Omilein.«
»Warst du bei der Polizei?« Sonja unterdrückte ein Kichern.
»Nein, ich bin sofort zum Tierarzt. Ich konnte an nichts anderes denken.«
Gut gekontert. »Dann müssen deine Eltern alles zahlen.«
Max heulte los. »Das ist es ja. Aber die wollten ihn einschläfern lassen, stell dir vor.«
»Oh nein! Der arme Oskar! Das ist ihnen wohl zu teuer, was? Ja, meine Tochter war immer ein Geizhals.«
Sonjas Polizistenherz schlug ihr bis zum Hals. Insgeheim begann sie zu ermitteln: Zeugen, Name des Tierarztes … aber dann rief sie sich zur Ordnung, wollte es nicht verderben, die Angelegenheit war delikat.
»Deswegen hab ich Oskar ja auch heimlich operieren lassen. Ich hab mir das Geld geliehen. Aber es reicht nicht. Und jetzt will er das Geld auch noch zurück.
»Wer?«
Schweigen.
»Wer?«, Sonjas Frage klang schärfer.
»Ich dachte, er wäre mein Freund.«
»Bei Geld hört die Freundschaft auf«, betete ihm Sonja vor. »Warum hast du dich nicht eher bei mir gemeldet?«
»Ehrlich gesagt, ich hab mich nicht getraut.«
»Aber ich bin doch deine Oma«, erinnerte Sonja ihn. »Dazu sind Omas doch da. Wie viel brauchst du denn? Ich habe leider nicht viel im Haus.«
»Wie viel hast du denn da?« »Da muss ich erst nachsehen.«
»Ich brauche mindestens …« Max verschluckte die Zahl.
»Wie viel?«
»Tausend.«
»Tausend?«, wiederholte Sonja entsetzt. »Die zweite Operation wird kompliziert.« »Hör zu, Max, das kriegen wir irgendwie hin«, sagte sie. »Mach dir keine Sorgen.«
»Ich muss es aber morgen früh abliefern«, quengelte Max weiter. »Punkt acht Uhr.«
»Wie stellst du dir das vor? Heute ist Sonntag, alle Banken haben zu, was machen wir denn da?«
»Am Automaten kann man doch abheben, oder?« »Ja, aber hier bei mir im Ort gibt es keinen Automaten. Ich müsste nach Gemünd fahren.«
»Hast du kein Auto?« »Doch.«
Jetzt musste Sonja schlucken. Max war dreist, geschult, zielsicher, verhandlungsstark. Und sie war nicht sein erstes Opfer. Er war ein Profi-Trickbetrüger. Beeindruckend. Entsetzlich traurig, fand Sonja. Wie hatte es so weit kommen können?
»Wenn ich nicht zahle, macht der mich fertig.« Max schniefte herzzerreißend. »Und was soll dann aus Oskar werden?«
»Um Himmels willen, Max, wer ist das denn, der dich so fertig macht?«, rief Sonja aufgelöst.
»Das darf ich nicht sagen.«
»Okay. Komm sofort zu mir, mein Junge, hörst du? «
»Ja.« Schluchz. »Omi.« Schluchz.
»Ich fahr in der Zwischenzeit schnell zur Bank und bin in einer halben Stunde zurück.«
»Danke.« Schluchz.
Sonja wollte das Gespräch beenden, als er sagte: »Warte mal, bitte rede mit niemandem darüber. Versprichst du mir das? Vor allem nicht mit Mama und Papa. Sie würden mich …«
»Mach ich nicht.«
»Ehrlich nicht?«
»Versprochen. Ich schweige wie ein Grab.«
»Und noch was.«
»Was denn jetzt noch?«, fragte sie ungeduldig.
»Wundere dich nicht, aber ich kann nicht selbst kommen.«
Sonja brauchte drei Sekunden, ehe ihr einfiel, dass Max wirklich jeden Trick aus der Kiste holte.
»Omilein? Bist du noch dran?«
»Ja klar, bin ich noch dran. Ich finde es nur schade, ich hätte dich so gern noch einmal wiedergesehen. Du musst ganz schön gewachsen sein, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Wie alt bist du jetzt?«
»Rate doch mal.«
Schon wieder. »Acht?«
»Genau.«
Der Junge am Telefon war noch nicht im Stimmbruch, aber acht Jahre war er auch nicht mehr. Er konnte nicht wissen, dass Sonja im Laufe ihrer Dienstjahre ein sicheres Gespür für Stimmen entwickelt hatte. Sie schätzte Max auf zehn bis zwölf Jahre. Normalerweise waren Enkeltrickbetrüger deutlich älter. Diese Bande hier musste es irgendwie geschafft haben, einen erstaunlich jungen Gehilfen zu rekrutieren. »Warum kannst du denn nicht selbst kommen?«
»Aber ich bin doch in Wiesbaden.«
»In Wiesbaden?«, tat Sonja entsetzt. »Was machst du denn in Wiesbaden?«
»Ich bin hier in der Tierklinik. Ich kann Oskar keine Sekunde allein lassen. Er braucht mich jetzt, verstehst du?«
»Ich verstehe.«
»Kai kommt zu dir, er wohnt in deiner Nähe.«
»Kai?«, fragte Sonja langsam. »Wer ist denn Kai?«
»Mein bester Freund.«
»Woher weiß ich denn, dass er es ist. Und nicht irgendein … Betrüger?«
Max antwortete ungerührt. »Ich beschreib ihn dir: Ganz einfach, er trägt ein schwarzes Käppi, Jeansjacke und Jeans und Turnschuhe. Er hat hellbraune Haare, ganz kurz. Und als Erkennungszeichen einen roten Fleck über der rechten Augenbraue. Er ist genauso alt wie ich. Und er ruft mich auf seinem Handy an, sobald er bei dir ist und du kannst dann mit mir sprechen, okay? Er heißt Kai.«
»Ich weiß. Und wie kommt das Geld bis morgen früh zu dir nach Wiesbaden?«
»Kai fährt die ganze Nacht durch.«
»Mit dem Zug?«
»Mit dem Auto.«
»Ich denke, er ist so alt wie du.«
Max räusperte sich. Sonja stellte viele Fragen. Zu viele?
»Nein, natürlich nicht, ein Freund fährt ihn.«
Der Freund vom Freund dessen Freund, dachte Sonja. »Hoffentlich klappt das auch alles.«
»Natürlich!«, rief Max im Brustton der Überzeugung. »Danke, Omilein. Du bist die Allerbeste. Das vergesse ich dir nie. Bis gleich. Wir telefonieren. Hab dich lieb.«
Klick.
»Ich sag dir gleich Omilein«, brummte Sonja und schob das Telefon in eine der ausgebeulten Taschen ihrer Strickjacke.
Für den Fall, dass Max und Kai und sein Fahrer sie beobachteten, zögerte die Hauptkommissarin a. D. nicht lange und machte sich auf den Weg zu ihrer Hausbank. Sie verstaute einen Brustbeutel im Dekolleté und steckte ihre Pistole in ihre Handtasche. Eine Walther P6, die sie nach ihrer Pensionierung ordnungsgemäß erworben und die ihren Stammplatz im Nachttisch hatte, während die Munition sich an einem anderen Ort befand, wie es sich gehörte, in einer Box unter dem Bett. Sonja lud die Pistole und kontrollierte die Sicherung. Auch ihr Handy, ein Smartphone, wanderte in die Handtasche.
Zwei Jahre zuvor, als sie einen Tatverdächtigen in einem Mordfall für Frieda Stein ablenkte und in Schach hielt, »überließ« dieser ihr das Smartphone, in Unkenntnis der misslichen Lage, in der er sich befand, und in der Hoffnung, ein gutes Geschäft zu machen. Es hatte ihm nicht genützt. Sie lieferte ihn trotzdem aus.
So vorbereitet stieg Sonja in ihr neues Auto, das im Vorgarten am Ladekabel gehangen hatte.
Nach langen Überlegungen und Nachforschungen und beeindruckt von der Bewegung Fridays for future