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Beschreibung

Die Umsetzung einer leitlinienorientierten Behandlung ist das Kernstück einer fachpsychotherapeutischen Weiterbildung. Der Gesetzgeber hat mit der Einführung der neuen Approbationsordnung für Psychotherapie 2020 der Orientierung an Leitlinien im Rahmen der fünf Stationen, die in der Parcoursprüfung zum Gegenstand gemacht wurden, besonderen Stellenwert eingeräumt. Offensichtlich werden auch im Bereich der Psychotherapie Vorteile darin gesehen, sich an Leitlinien zu orientieren. Das Buch stellt einleitend den theoretischen Rahmen von Leitlinien dar, erläutert wie Leitlinien in der Psychotherapie berücksichtigt werden können und beleuchtet Stärken und Schwächen von Leitlinien. Den Schwerpunkt des Buches bildet die kompakte und praxisorientierte Darstellung der Hauptempfehlungen zur Psychotherapie aus den deutschsprachigen und internationalen Empfehlungen zur Psychotherapie bei den wesentlichen Störungsgruppen. Psychotherapeutisch Tätige bekommen in diesem Buch eine verlässliche Entscheidungshilfe an die Hand: Welche Diagnosemethoden haben sich bewährt, welche Therapien und therapeutischen Techniken sind bei welchem Störungsbild nachweislich wirksam und wie sollte die Versorgung am besten erfolgen? Dies soll die Entscheidung zwischen effektiven und weniger effektiven Behandlungsmethoden für den spezifischen Einzelfall erleichtern. Evidenzbasierte Psychotherapie ist nicht mit unflexibler, voll standardisierter Behandlung gleichzusetzen: Auch evidenzbasierte Maßnahmen können und sollen hochpersonalisiert auf die spezifische Problemlage der Patientin oder des Patienten zugeschnitten werden. Das Buch liefert somit allen, die Psychotherapie nach bestem Wissensstand und entsprechend der Bedürfnisse ihrer Patientinnen und Patienten anbieten wollen, eine wichtige Entscheidungshilfe. Lernkontrollfragen inkl. Antworten zum Band können nach erfolgter Registrierung von der Webseite des Hogrefe Verlags heruntergeladen werden.

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Winfried Rief

Martin Hautzinger

Tania Lincoln

Jürgen Margraf

Brunna Tuschen-Caffier

(Hrsg.)

Leitlinienorientierte Psychotherapie

Fortschritte der Psychotherapie

Band 93

Leitlinienorientierte Psychotherapie

Prof. Dr. Winfried Rief, Prof. Dr. Martin Hautzinger, Prof. Dr. Tania Lincoln, Prof. Dr. Jürgen Margraf, Prof. Dr. Brunna Tuschen-Caffier (Hrsg.)

Die Reihe wird herausgegeben von:

Prof. Dr. Martin Hautzinger, Prof. Dr. Tania Lincoln, Prof. Dr. Jürgen Margraf, Prof. Dr. Winfried Rief, Prof. Dr. Brunna Tuschen-Caffier

Die Reihe wurde begründet von:

Dietmar Schulte, Klaus Grawe, Kurt Hahlweg, Dieter Vaitl

Prof. Dr. Winfried Rief, geb. 1959. Seit 2000 Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Philipps-Universität Marburg sowie Leiter der Psychotherapie-Ambulanz Marburg.

Prof. Dr. Martin Hautzinger, geb. 1950. 1996–2019 Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Seit 2019 Seniorprofessor an der Universität in Tübingen.

Prof. Dr. Tania Lincoln, geb. 1972. Seit 2011 Inhaberin der Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Hamburg sowie Leiterin der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz.

Prof. Dr. Jürgen Margraf, geb. 1956. 2010–2023 Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie und Leiter des Forschungs- und Behandlungszentrums für psychische Gesundheit an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2023 Seniorprofessor an der Ruhr-Universität Bochum.

Prof. Dr. Brunna Tuschen-Caffier, seit 2007 Lehrstuhlinhaberin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Freiburg sowie Leiterin der Psychotherapeutischen Ambulanzen für psychische Störungen des Erwachsenenalters sowie für Kinder, Jugendliche und Familien.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autor:innen bzw. den Herausgeber:innen große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autor:innen bzw. Herausgeber:innen und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Merkelstraße 3

37085 Göttingen

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Tel. +49 551 999 50 0

Fax +49 551 999 50 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Sabine Rosenfeldt, Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2024

© 2024 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3287-8; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3287-9)

ISBN 978-3-8017-3287-5

https://doi.org/10.1026/03287-000

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Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Download-Materialien.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1  Leitlinienorientierte Psychotherapie: Geht das?

2  Entstehung von Leitlinien und ihre methodischen Grundlagen

2.1  Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

2.2  Nationale Versorgungsleitlinien

2.3  Weitere nationale Leitlinienprogramme

2.4  Leitlinienentwicklung in anderen Ländern

2.5  Diskussion und Bewertung der Leitlinienentwicklung

3  Aufklärung von Patient:innen und Motivierung für eine leitlinienbasierte Psychotherapie

3.1  Allgemeine Themen einer leitlinienbasierten Aufklärung von Patient:innen

3.2  Motivierung für eine leitlinienbasierte Psychotherapie

3.3  Aufklärung von Patient:innen über Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie

3.4  Zusammenfassung und Ausblick

4  Hauptempfehlungen zur Psychotherapie zu ausgewählten Störungsbildern

4.1  Depression

4.2  Bipolare Störung

4.3  Schizophrenie

4.4  Panik und Agoraphobie

4.5  Soziale Angststörung

4.6  Generalisierte Angststörung

4.7  Essstörungen

4.8  Zwangsstörungen

4.9  Posttraumatische Belastungsstörung

4.10  Substanzbezogene Störungen

4.11  Verhaltenssüchte

4.12  Somatische Beschwerden und Somatische Belastungsstörung

4.13  Chronische Schmerzen

4.14  Insomnie

4.15  Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

4.16  Autismus-Spektrum-Störungen

4.17  Persönlichkeitsstörungen

4.18  Sexuelle Funktionsstörungen

4.19  Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit

4.20  Paraphile Störungen

5  Literatur

6  Die Autorinnen und Autoren des Bandes

7  Lernkontrollfragen – Hinweise zu den Online-Materialien

|1|Vorwort

Die Befähigung zur Umsetzung einer leitlinienorientierten Behandlung ist das Kernstück der fachärztlichen und fachpsychotherapeutischen Weiterbildung. Dadurch wird zum einen eine bestimmte Behandlungsqualität für die Patient:innen gesichert. Zum anderen definiert sich über Leitlinien das Leistungsprofil, das von Personen einer bestimmten Spezialisierungsgruppe erwartet werden kann. Damit dient eine leitlinienorientierte Behandlung auch der Planbarkeit, Funktionalität und Transparenz im Gesundheitssystem. Außerdem erlaubt ein solches allgemein erwartbares Kompetenzprofil einer Spezialisierungsgruppe, dass dieses Profil auch als Grundlage für dynamische Weiterentwicklungen genommen werden kann. Wenn man auf dem Leistungsprofil aufbauend abschätzen kann, in welchen Bereichen nicht nur Stärken, sondern auch Schwächen in der Gesundheitsversorgung auftreten, können die Leitlinien und die damit assoziierten Qualifizierungswege angepasst werden – ein selbstlernendes Gesundheitssystem entsteht.

Aus der Medizin gibt es zahlreiche Belege, dass eine Orientierung an Leitlinien die Versorgungsqualität verbessert. Aber lässt sich dieser Vorteil auch auf die Psychotherapie übertragen? Aktuell wird kaum jemand behaupten wollen, dass wir eine an Leitlinien orientierte psychotherapeutische Versorgungssituation haben.

Mit der Übersicht über die Hauptempfehlungen zur Psychotherapie aus den deutschsprachigen und internationalen wissenschaftlich fundierten Empfehlungen zu den Hauptstörungsgruppen will das vorliegende Buch aufzeigen, wie eine leitlinienorientierte Versorgung in der Psychotherapie aussehen kann.

Die psychotherapeutisch Tätigen bekommen in diesem Buch in prägnanter und übersichtlicher Form verlässliche Entscheidungshilfen an die Hand: Welche Diagnosemethoden haben sich bewährt, welche Therapien und therapeutischen Techniken sind bei welchem Störungsbild nachweislich wirksam und wie sollte die Versorgung am besten erfolgen? Hierbei spielen die AWMF-Leitlinien eine große Rolle; aber, um auch über den einen Typus an Leitlinien hinauszuschauen, wurden andere Empfehlungen mitberücksichtigt, z. B. die Empfehlungen der NICE-Guidelines sowie der Leitlinien der DGPs.

Das Buch soll die Entscheidung zwischen effektiven und weniger effektiven Behandlungsmethoden für den spezifischen Einzelfall erleichtern. Dabei ist evidenzbasierte Psychotherapie nicht gleichzusetzen mit unflexibler, voll stan|2|dardisierter Behandlung: Auch evidenzbasierte Maßnahmen können und sollen personalisiert auf die spezifische Problemlage der Patientin bzw. des Patienten zugeschnitten werden. Das Buch liefert relevante Grundlagen, wenn man Psychotherapie nach bestem Wissensstand entsprechend den Bedürfnissen der Patient:innen anbieten will.

Den Herausgeber:innen der Reihe „Fortschritte der Psychotherapie“ war die Herausgabe eines solchen Buches sehr wichtig. Allzu offensichtlich ist, dass hiermit neue Versorgungsstandards gesetzt werden können, die richtungsweisende Impulse setzen sollen. Aus diesem Grund haben wir die Herausgabe als gemeinsame Aufgabe gesehen und sind entsprechend von der üblichen Struktur der Bände dieser Reihe abgewichen. Da bei vielen Leitlinienentwicklungen im Bereich psychischer Erkrankungen die DGPPN die Federführung hatte, wurde auch mit dem Vorstand der DGPPN das Vorgehen für unser Buch besprochen und wir danken für die unkomplizierte Unterstützung unseres Vorhabens.

Ob uns mit diesem Buch gelingen wird, einen Impuls zu einer stärker evidenzbasierten Versorgung und zu einer professionalisierten Psychotherapie-Weiterbildung zu setzen? Wir sind gespannt.

Marburg, Freiburg, Hamburg, Tübingen und Bochum, Frühjahr 2024

Winfried Rief, Brunna Tuschen-Caffier, Tania Lincoln, Martin Hautzinger und Jürgen Margraf

|3|1  Leitlinienorientierte Psychotherapie: Geht das?

Winfried Rief & Jürgen Margraf

Leitlinien für psychische Störungen sind systematisch entwickelte Handlungsempfehlungen, die psychotherapeutisch Tätigen bei der Entscheidungsfindung über die angemessene Diagnostik, Behandlung und Versorgung einer psychischen Störung unterstützen. Sie geben den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der in der Praxis bewährten Verfahren wieder. Die therapeutisch Tätigen bekommen verlässliche Entscheidungshilfen an die Hand: Welche Diagnosemethoden haben sich bewährt, welche Therapien sind nachweislich wirksam und wie sollte die Versorgung am besten erfolgen?

Die Entwicklung von wissenschaftlich fundierten Behandlungsleitlinien wurde in der Medizin parallel zur Entwicklung einer sogenannten evidenzbasierten Medizin vorangetrieben. Damit verbunden war die Hoffnung, gerade in der Breite der Versorgung Behandlungen effektiver, effizienter und kostenökonomischer gestalten zu können, dabei Behandlungsfehler zu reduzieren und eine Basis für eine fundierte Aus- und Weiterbildung zu schaffen. Aus gutem Grund wurde der Begriff „Leitlinien“ gewählt und nicht „Richtlinien“, um deutlich zu machen, dass diese eine Orientierung geben sollen, ohne die Entscheidungsfreiheit der Behandelnden komplett einzuschränken. Außerdem sollten Lehre, Ausbildung und Behandlungsentscheidungen weniger „eminenzbasiert“ erfolgen, sondern sich an einem Konsens in der Bewertung der Evidenz orientieren.

In der Medizin gilt die Einführung von Behandlungsleitlinien zwischenzeitlich als Erfolgsmodell. Sie bieten eine Richtschnur, an der sich Versorgungseinrichtungen orientieren können. Besonders eindrücklich geschieht dies sicherlich am Beispiel von Notfallmaßnahmen, z. B. der Versorgung von akutem Schlaganfall oder Herzinfarkt. Durch das klare Prozedere im Vorgehen können sich die unterschiedlich beteiligten Behandlungseinrichtungen darauf einstellen, was Vor- und Nachbehandler:innen machen werden und welche Rolle man selbst hat, um eine schnelle und gute Versorgung zu erreichen. Somit wird durch Leitlinienorientierung das ganze Gesundheitssystem transparenter, besser integriert und letztendlich effektiver.

Zudem helfen Leitlinien bei der Bewältigung der Informationsflut, die heute das weitaus größere Problem ist als das früher oft beklagte Fehlen von For|4|schung. Schon seit längerem fließen allein im biomedizinischen Feld jährlich über eine Millionen Artikel in die Pubmed-Datenbank, das entspricht rund zwei Artikeln pro Minute (Landhuis, 2016). Einzelne Kliniker:innen und Wissenschaftler:innen sind mittlerweile außerstande, diese Informationsfülle zu filtern und zu verarbeiten. So verlassen wir uns entweder auf unser Bauchgefühl, unsere Erfahrung und Lehrbücher oder auf Sekundäranalysen wie Metaanalysen und systematische Reviews. Allerdings sind wir auch damit weit von der Datenbasis entfernt und können meist nicht adäquat beurteilen, wie gut die Informationen sind, die in diese Zusammenfassungen eingehen. Dabei kommt es oft zu systematischen Verzerrungen, z. B. durch die selektive oder verfälschte Publikation von Ergebnissen, was vor allem im Pharmabereich gut dokumentiert ist, aber auch bei Psychotherapiestudien auftritt. Zur Vermeidung des Phänomens „Garbage in – Garbage out“ muss die Evidenzbasis daher kritisch unter die Lupe genommen werden. Auch diese wichtige Aufgabe erfüllen idealerweise sorgfältig entwickelte Leitlinien.

Aber lassen sich die Erfolge der Medizin mit der Einführung von wissenschaftlich fundierten Behandlungsleitlinien auf die Psychotherapie übertragen? Der Gesetzgeber hat mit der Einführung der neuen Approbationsordnung für Psychotherapie 2020 der Orientierung an Leitlinien im Rahmen der fünf Stationen, die in der Parcours-Prüfung zum Gegenstand gemacht wurden, besonderen Stellenwert eingeräumt. Offensichtlich werden auch im Bereich Psychotherapie Vorteile darin gesehen, sich an Leitlinien zu orientieren. Dies soll natürlich primär die Entscheidung zwischen effektiven und weniger effektiven Behandlungsmethoden für den spezifischen Einzelfall erleichtern. Aber daneben bieten Leitlinien auch den Vorteil, die Aus- und Weiterbildung strukturieren zu können und das Gesundheitsversorgungssystem besser aufeinander abzustimmen. Leitlinienorientierte Behandlung berücksichtigt auch die Ökonomie von Behandlungsmaßnahmen und damit auch die stets begrenzten Ressourcen eines nach dem Solidaritätsprinzip finanzierten Gesundheitswesens.

Auch wenn eine wissenschaftlich fundierte Pauschalbewertung über die Vorteile einer leitlinienorientierten Behandlung im Psychotherapiebereich nicht einfach ist, mehren sich Anhaltspunkte, dass die Vorteile einer leitlinienorientierten Versorgung auch auf den Bereich Psychotherapie übertragbar sind. So fanden beispielsweise Meuldijk et al. (2017), dass die stärkere Orientierung an evidenzbasierten Behandlungen zur Borderline-Therapie das hohe Ausmaß an Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen deutlich senkt und deshalb zu einer Reduktion der Behandlungskosten von über 1 500 Dollar pro Patientin bzw. Patient führt. Auch im Falle Posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) zeigte sich, dass die Einführung von evidenzbasierten Behandlungen zur erfolgreichen Versorgung von Patientinnen mit PTBS beiträgt und mit hohen Effektstärken bezüglich der Reduktion der PTBS-Symptomatik verbunden ist (Bækkelund et al., 2022). Genauso konnte für |5|den Bereich von Kindern und Jugendlichen gezeigt werden, dass eine Orientierung an evidenzbasierten Maßnahmen, die sich auf die jeweilige Diagnose des Kindes beziehen, mit größeren Behandlungserfolgen verbunden ist als der Einsatz nicht evidenzbasierter Maßnahmen oder der Einsatz evidenzbasierter Maßnahmen, die nicht zu der Diagnose passen (Cukrowicz et al., 2005; Lee et al., 2022). Diese Beispiele machen deutlich, wie sinnvoll eine evidenzbasierte Versorgung auch im Bereich Psychotherapie sein kann.

Viele Behandler:innen befürchten, dass evidenzbasierte Psychotherapie mit unflexibler, voll standardisierter Behandlung gleichzusetzen ist. In der Tat kann eine Überstandardisierung und komplette Reduktion der personalisierten Anpassung dazu führen, dass Behandlungsergebnisse sich eher verschlechtern (Nye et al., 2023). Andererseits muss darauf hingewiesen werden, dass der Vorwurf, evidenzbasierte Psychotherapie wäre weniger personalisiert, auf einer künstlichen Dichotomie beruht. Psychotherapie wird in der Praxis letztendlich in jedem Fall personalisiert, und auch evidenzbasierte Maßnahmen können hochpersonalisiert auf die spezifische Problemlage der Patientin bzw. des Patienten zugeschnitten werden. Im Gegenteil, personalisierte Therapieanpassungen können sogar leitlinienorientiert erfolgen. Entsprechend hat das angesehene Journal of Consulting and Clinical Psychology im Jahr 2022 ein Sonderheft der Frage gewidmet, wie gerade die Personalisierung von Psychotherapie stärker evidenzbasiert sein kann (Zilcha-Mano et al., 2022). So können Leitlinien Anhaltspunkte geben, ob eher eine intensivierte Therapie (mind. zwei Sitzungen pro Woche) oder eher eine Standarddosis in der Psychotherapie (max. einmal wöchentlich) eingesetzt werden soll (Bruijniks et al., 2022).

Der sicherlich stärkste Beleg für die Sinnhaftigkeit der Einführung einer leitlinienorientierten Behandlung in Kombination mit weiteren Qualitätssicherungsmaßnahmen wurde durch das in England umgesetzte Versorgungsmodell „Improving Access to Psychological Treatments“ (IAPT) erbracht. Im Versorgungsmodell wurden evidenzbasierte Maßnahmen priorisiert und auch ökonomische Variablen berücksichtigt (z. B. internetbasierte Therapie vor „in person therapy“, soweit dies klinisch verantwortbar war). Therapieempfehlungen wurden stark an die britischen NICE-Guidelines angelehnt. Bei den Behandlungsleitlinien wurden nicht nur verhaltenstherapeutische Ansätze, sondern auch andere Behandlungsansätze berücksichtigt, soweit diese als evidenzbasiert galten. Die ersten Ergebnisse zur Versorgung nach diesem Versorgungsmodell waren nicht schlecht, aber auch nicht beeindruckend. Der Hauptvorteil kam erst im weiteren Prozess zum Tragen: Durch die gewonnenen Informationen und systematischen Rückmeldeprozesse konnte die Versorgung psychisch Erkrankter gesteigert werden und die Remissionsraten stiegen von anfangs 20 % (2009) auf über 50 % (2017; Clark, 2018; vgl. Abbildung 1). Nicht nur das: Durch dieses Versorgungsmodell konnten auch Versorgungsdefizite genau identifiziert werden: So wurde bei Analysen im Jahr |6|2016 festgestellt, dass Menschen mit Migrationshintergrund („people of colour“) deutlich schlechtere Behandlungsergebnisse aufwiesen als autochthone Personen (Beck et al., 2019). Darauf konnte direkt reagiert werden: Die Schulungen der beteiligten Therapeut:innen wurden stärker kultursensitiv gestaltet, als Ausbilder:innen und auch in der Gesamtleitung des IAPT-Programms wurden mehr Personen mit diversen kulturellen Hintergründen aufgenommen und so weiter. Dadurch gelang es, die Erfolgsquoten bei Menschen mit Migrationshintergrund („people of colour“) auf ein vergleichbar hohes Niveau zu bringen wie die Versorgung der Hauptgruppe der englischen Bevölkerung.

Abbildung 1:  Ergebnisse im englischen IAPT-Versorgungsprogramm: Remissionsrate alle drei Monate (Quartal) für Personen, die eine Behandlung (zwei oder mehrere Sitzungen) abgeschlossen haben (Clark, 2018)

Abbildung 2:  Ein sich selbst verbessernder Kreislauf zwischen Forschung, Ausbildung und Versorgung (Rief, 2021)

Das Beispiel von IAPT macht noch einen weiteren Vorteil einer leitlinienorientierten Behandlung deutlich: Durch die Definition von Leitlinien können Ausbildungsprozesse von Behandler:innen systematisiert und die Schu|7|lungsergebnisse von Behandler:innen evaluiert werden. Weiterhin können Behandlungserfolge durch geschulte Behandler:innen evaluiert und an die Entwickler:innen von Ausbildungsprogrammen mit der Frage zurückgemeldet werden, an welchen Stellen eine Verbesserung im Aus- und Weiterbildungssystem notwendig ist (vgl. Abbildung 2). Dadurch entsteht ein selbstlernendes, sich permanent verbesserndes Versorgungssystem.

Das Ziel der Psychotherapie-Weiterbildung

Ziehen wir den Vergleich mit Fachdisziplinen der Medizin, so gilt dort der Grundsatz, dass Behandler:innen am Ende der Aus- und Weiterbildung die Kompetenz haben, bei den gängigen Krankheitsbildern des fachärztlichen Bereichs eine leitlinienorientierte Behandlung anzubieten. Geht eine Patientin mit gynäkologischen Problemen zur Gynäkologin, oder ein Patient mit urologischen Problemen zum Urologen, so kann diese Person erwarten, dort eine Behandlung gemäß bestehenden Behandlungsleitlinien und damit nach bester Evidenz zu erhalten. Falls Behandler:innen von diesen Leitlinienempfehlungen abweichen wollen, sollten sie die Patientin bzw. den Patienten darüber informieren. Im Bereich Psychotherapie sind wir von einer solchen Situation weit entfernt. Insbesondere die Weiterbildung erfolgt nach Therapieschulen und orientiert sich wenig bis gar nicht an evidenzbasierten Behandlungsleitlinien. Daher wissen betroffene Patient:innen nicht, ob ihnen, wenn sie nach langer Wartezeit endlich eine Psychotherapeutin bzw. einen Psychotherapeuten gefunden haben, eine leitlinienorientierte Behandlung für ihre Hauptbeschwerden angeboten wird. Nach dem Vergleich mit der Medizin wäre also auch für eine professionelle Psychotherapie anzustreben, dass eine Grundvoraussetzung für die sozialrechtliche Anerkennung und Niederlassungsermächtigung, und damit auch für das selbstständige Handeln in der Praxis, eine Weiterbildung zur leitlinienorientierten Behandlung sein müsste. Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Weiterbildung sich nur auf diese Inhalte begrenzen sollte, aber sie muss im Kernbereich diese Inhalte abdecken. Zum aktuellen Zeitpunkt erscheint dies noch wie eine Vision. Trotzdem möchten wir mit diesem Buch dazu beitragen, dass diese Vision zunehmend Realität wird: Zum Nutzen der betroffenen Patient:innen, zum Nutzen des Versorgungssystems, zur Professionalisierung unseres Berufsstandes und zur besseren Transparenz und Absprache zwischen den interdisziplinären Behandler:innen des Gesundheitssystems.

|8|2  Entstehung von Leitlinien und ihre methodischen Grundlagen

Tania Lincoln & Martin Härter

Idealerweise unterliegen Leitlinien einem systematischen und transparenten Entwicklungsprozess. Im Folgenden wird beschrieben, wie in Deutschland und international üblicherweise fachspezifische Leitlinien entwickelt werden und welche Systematik diesen zugrunde gelegt wird.

2.1  Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)

Grundlage für die Entwicklung der AWMF-Leitlinien ist das sogenannte AWMF-Regelwerk. Dieses Regelwerk beschreibt die Schritte zur Erstellung und Publikation aktueller und hochwertiger Leitlinien der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften im AWMF-Leitlinienregister. Es dient zum einen der Sicherstellung und Darlegung der Qualität der einzelnen Leitlinien und zum anderen der Qualität des AWMF-Leitlinienregisters. Es besteht aus zwei Teilen, einerseits den Hilfen für die Leitlinienentwicklung und andererseits den AWMF-Regeln für das Leitlinienregister (siehe https://www.awmf.org/regelwerk).

Der erste Teil des AWMF-Regelwerkes unterstützt mit seinen Ablaufplänen, Hilfen und Werkzeugen die Leitlinienentwickelnden. Ziel dieses Teils ist es, die Leitlinien der Fachgesellschaften nach einem reproduzierbaren Verfahren mit einem bestmöglichen wissenschaftlichen Anspruch zu erstellen und den Erstellungsprozess transparent zu machen. Dazu gehören unter anderem die Regelung der Verantwortung für die Leitlinienentwicklung, die Zusammensetzung der Leitliniengruppe, das Anwenden einer adäquaten Methodik zur Evidenzbasierung und strukturierten Konsensfindung sowie die Erklärung von Interessen und die Bewertung und der Umgang mit Interessenkonflikten. Der erste Teil des Regelwerkes soll auch die Erfüllung der Qualitätskriterien erleichtern, die im internationalen Instrument zur methodischen Leitlinienbewertung („The Appraisal of Guidelines for Research and Evaluation“ [AGREE II]) aufgeführt sind.

Der zweite Teil des AWMF-Regelwerkes beschreibt die Verfahren, die im Rahmen des internen Qualitätsmanagements angewandt werden, um das AWMF-Leitlinienregister aktuell und auf einem hohen Qualitätsniveau zu halten. |9|Dazu gehört unter anderem die Überprüfung angemeldeter Leitlinienprojekte in Zusammenschau mit bereits publizierten Leitlinien sowie die Überprüfung der Stufenklassifikation und der Aktualität jeder einzelnen Leitlinie. Der zweite Teil des Regelwerkes dient damit der Sicherstellung der Qualität des Leitlinienregisters.

Das AWMF-Regelwerk unterscheidet qualitativ zwischen S1-, S2- und S3-Leitlinien (vgl. Kasten), wobei es innerhalb der Kategorien teils weitere Unterteilungen gibt.

Stufenklassifikation der AWMF-Leitlinien

S1-Leitlinie

Eine repräsentativ zusammengesetzte Expertengruppe der Fachgesellschaft(en) erarbeitet im informellen Konsens eine Empfehlung, die final vom Vorstand der Fachgesellschaft(en) und der ggf. weiteren beteiligten Organisationen verabschiedet wird.

S2-Leitlinie

S2k-Leitlinie (konsensbasierte S2-Leitlinie)

Die Leitliniengruppe ist repräsentativ für den Adressat:innenkreis, Fachgesellschaft(en) und/oder Organisation(en) inklusive der Patient:innen bzw. Bürger:innen werden frühzeitig eingebunden.

Die Methoden zur Formulierung der Empfehlungen sind klar beschrieben, formale Konsensustechniken sind erforderlich.

Die Empfehlungen basieren auf einer strukturierten Konsensfindung und werden unter neutraler Moderation abgestimmt.

Eine Beschreibung zum methodischen Vorgehen (Leitlinienreport) ist hinterlegt.

Angaben zum Gültigkeitszeitraum und zur Aktualisierung der Leitlinie sind enthalten.

Die Leitlinie wird final von den Vorständen aller beteiligten Fachgesellschaften und Organisationen verabschiedet.

S2e-Leitlinie (evidenzbasierte S2-Leitlinie)

Die Sichtweise und die Präferenzen von Patient:innen bzw. Bürger:innen werden ermittelt.

Wissenschaftliche Evidenz zu den relevanten klinischen Fragestellungen wird systematisch recherchiert, ausgewählt und bewertet.

Zur Evidenzermittlung werden systematische Methoden angewandt, das heißt, die Suchstrategie ist detailliert beschrieben mit der Auflistung verwendeter Suchbegriffe und Quellen.

Die Auswahlkriterien für die Evidenz werden explizit dargelegt, inklusive der Gründe für den Einschluss (z. B. Zielpopulation, Interventionen, Endpunkte, Sprache, Kontext, Studiendesign) und für den Ausschluss.

|10|Die Qualitätsbewertung der Evidenz enthält eine nachvollziehbare Verknüpfung der Empfehlungen mit der Beschreibung der zugrunde liegenden Evidenz.

Eine Beschreibung zum methodischen Vorgehen (Leitlinienreport) ist hinterlegt.

Angaben zum Gültigkeitszeitraum und zur Aktualisierung der Leitlinie sind enthalten.

Die Leitlinie wird final von den Vorständen aller beteiligten Fachgesellschaften und Organisationen verabschiedet.

S3-Leitlinie

Die Leitliniengruppe ist repräsentativ für den Adressat:innenkreis, Fachgesellschaft(en) und/oder Organisation(en) inklusive der Patient:innen bzw. Bürger:innen werden frühzeitig eingebunden.

Wissenschaftliche Evidenz zu den relevanten klinischen Fragestellungen wird systematisch recherchiert, ausgewählt und bewertet.

Zur Evidenzermittlung werden systematische Methoden angewandt, das heißt, die Suchstrategie ist detailliert beschrieben mit der Auflistung verwendeter Suchbegriffe und Quellen.

Auswahlkriterien für die Evidenz werden explizit dargelegt, inklusive der Gründe für den Einschluss (z. B. Zielpopulation, Interventionen, Endpunkte, Sprache, Kontext, Studiendesign) und für den Ausschluss.

Die Qualitätsbewertung der Evidenz enthält eine nachvollziehbare Verknüpfung der Empfehlungen mit der Beschreibung der zugrunde liegenden Evidenz.

Die Methoden zur Formulierung der Empfehlungen sind klar beschrieben, dazu sind formale Konsensustechniken erforderlich, z. B. Konsensuskonferenz, Nominaler Gruppenprozess oder Delphi-Verfahren.

Die Empfehlungen werden im Rahmen einer strukturierten Konsensfindung unter neutraler Moderation diskutiert und abgestimmt, deren Ziele die Lösung noch offener Entscheidungsprobleme, die Festlegung des Empfehlungsgrades und die Messung der Konsensstärke sind.

In der fertigen Leitlinie werden zu jeder Empfehlung Evidenz- und/oder Empfehlungsgrade angegeben.

Eine Beschreibung zum methodischen Vorgehen (Leitlinienreport) ist hinterlegt.

Angaben zum Gültigkeitszeitraum und zur Aktualisierung der Leitlinie sind enthalten.

Die Leitlinie wird final von den Vorständen aller beteiligten Fachgesellschaften und Organisationen verabschiedet.

In den AWMF-Leitlinien werden Empfehlungen in der Regel je nach Stärke der Evidenz in starke Empfehlungen (soll/soll nicht) oder abgeschwächte Empfehlungen (sollte/sollte nicht) unterteilt. Für die Stärke der Empfehlung |11|ist die Evidenz ausschlaggebend, gleichwohl werden auch weitere Kriterien, wie Nutzen-Risiko-Verhältnis, Anwendbarkeit oder Präferenzen der Patient:innen berücksichtigt und können zu einer Herab- oder Heraufstufung einer Empfehlung führen.

AWMF-Leitlinien haben eine Gültigkeit von fünf Jahren ab dem Veröffentlichungsdatum. Um zu vermeiden, dass eine Leitlinie abläuft, wird ihre Überarbeitung bereits innerhalb dieser fünf Jahre angestrebt. Eine neue Entwicklung sind sogenannte „lebende Leitlinien“ (Living Guidelines), die kontinuierlich überarbeitet werden können, wenn neue Fragestellungen entstehen und/oder sich die Evidenzlage zu bestehenden Fragen deutlich verändert.

2.2  Nationale Versorgungsleitlinien

Das Programm für Nationale Versorgungsleitlinien (NVL-Programm) wurde 2002 von der Bundesärztekammer initiiert. Im Jahr 2003 vereinbarten die Bundesärztekammer (BÄK), die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) vertraglich die gemeinsame Trägerschaft über das NVL-Programm. Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), eine von der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung getragene Einrichtung in Berlin, ist seither mit der operativen Durchführung und Koordination betraut.

NVL werden methodisch hochwertig nach den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin analog einer S3-Leitlinie entwickelt (vgl. Kasten zur Stufenklassifikation in Kapitel 2.1). Patient:innen sind regelhaft an der NVL-Erstellung, am externen Begutachtungsverfahren und an der Erstellung von Patientenleitlinien zur entsprechenden NVL beteiligt. Die Benennung von Patientenvertretungen erfolgt über die Dachverbände der Selbsthilfeorganisationen und läuft nach einem transparenten und standardisierten Verfahren ab. Die Methodik zur Erstellung von Nationalen Versorgungsleitlinien beschreibt der jeweilige Methodenreport in jeder Leitlinie. Die methodische Begleitung erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Institut für medizinisches Wissensmanagement (IMWi) der AWMF.

Bei der Erstellung einer NVL kommen folgende schützende Faktoren zur Anwendung, die den Einfluss möglicher Interessenkonflikte reduzieren: unabhängige Koordination der Leitlinie (ÄZQ1); unabhängige Moderation (AWMF, ÄZQ); unabhängige Leitung von Arbeitsgruppen (ÄZQ); Evidenzaufbereitung durch Methodiker:innen (ÄZQ); multidisziplinäre Leitliniengruppe, bei |12|Abstimmungen hat jede Fachgesellschaft/Organisation eine Stimme; strukturierter Konsensprozess; festgeschriebene Leitlinienmethodik (von der Evidenz zur Empfehlung).

Das NVL-Programm zielt auf die Entwicklung und Implementierung versorgungsbereichsübergreifender Leitlinien zu ausgesuchten Erkrankungen hoher Prävalenz. Bisher sind zu den Themen Asthma bronchiale, chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD), Depression, Diabetes, Herzinsuffizienz, Hypertonie, koronare Herzkrankheit (KHK) und Kreuzschmerz NVL erschienen oder in Arbeit. Insbesondere sind NVL die inhaltliche Grundlage für die Ausgestaltung von Konzepten der strukturierten und integrierten Versorgung, z. B. der sogenannten Disease-Management-Programme im deutschen Gesundheitswesen.

Die für die Implementierung notwendige Verbreitung und Akzeptanz wird durch gezielte Maßnahmen gefördert. Die NVL werden mit folgenden Komponenten publiziert:

Langfassung: Graduierte Empfehlungen und Darstellung der Evidenzgrundlage,

Kurzfassung: Übersicht der graduierten Empfehlungen,

Leitlinienreport,

Patientenleitlinie,

weitere Materialien, wie z. B. Patienteninformationen, Flyer, Foliensatz, Dokumentationsbögen, Kurzinformationen.

Alle Fassungen alle Bestandteile der NVL sind unentgeltlich über die Internetseite des NVL-Programms (https://www.leitlinien.de) und über das Leitlinienregister der AWMF (https://www.awmf.org). zugänglich.