Leiwand - Niklas Sauerbrey - E-Book

Leiwand E-Book

Niklas Sauerbrey

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Beschreibung

LEIWAND sind zwölf Erzählungen über alte Träume und späte Hoffnung. Über Heimat, Familie und Identität. Über Kaffee, Musik und Zigaretten. Über Drogen und andere Freunde. Über blaue Stunden in schönen Städten. Über schlechte und echte Kunst. Über das Fremdsein und die Liebe. Über sie, dich und ihn. Über Wien.

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Niklas Sauerbrey, geb. 1999, studiert Medizin in Dresden. Er schreibt seit der Schulzeit. Ab 2020 nahm er an mehreren Schreibwettbewerben erfolgreich teil. Nun legt er mit LEIWAND sein erstes Buch vor. Die Erzählungen entstanden während seines Auslandssemesters in Wien.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Hoffnungslos später

Kunst?

Kunst??

Aus der Dunkelheit

Woherwohin

Insomnia

Sechshundert

Alle Wolken besiegt

HCYSI

Leiwand

Epilog

„Wien, nur Wien du kennst mich up, kennst mich down.“ Falco

„Ich verstand nichts. Sehr fern verstand ich doch etwas, aber es war noch zu weit weg.“

Judith Herrmann

PROLOG

1

Der Junge streckt seinen kleinen Finger so weit wie möglich. Er schafft es nicht bis zur G-Taste, sondern landet auf dem Fis. Der Akkord, den er spielt, klingt schief und hässlich. Er atmet durch und spielt das Klavierstück von vorne. Die ersten vier Takte fließen aus seinen Händen. Mit der Linken spielt er das Decrescendo, mit der Rechten hält er die Fermate bis zum Ende. Im neunten Takt wartet der Oktavensprung. Er hebt die linke Hand von den Tasten. Sie schwebt hinab zu den tiefen Tönen. Der Junge kneift die Augen zusammen. Ein Kribbeln fährt durch seinen Bauch. Jetzt kann alles passieren. Es ist die schwierigste Stelle des Liedes. Er hat sie sehr oft wiederholt, aber es will nicht gelingen. Er wartet auf diesen einen magischen Moment, an dem es zum ersten Mal funktioniert.

Ja! Diesmal ist es so weit! Der kleine Finger landet auf der G-Taste. Die linke Hand spielt den tiefen Akkord. Damit klingt die Melodie der rechten Hand noch schöner. Menuett von Leopold Mozart heißt das Stück, welches der Junge so lange spielt, bis es draußen dunkel ist. Der Oktavensprung gelingt ihm nun jedes Mal. Auch für den Anschlag der Tasten bekommt er ein Gefühl. Die Lehrerin sagt, es müsse weich und selbstverständlich klingen.

„Es gibt Abendessen“, ruft die Mutter aus der Küche.

Einmal kann sie noch rufen, denkt der Junge und spielt das Menuett erneut. Jetzt schließt er die Augen und hört seinen Händen zu. Er sitzt in seinem kleinen, weißen Zimmer und füllt es mit Musik. Hinter dem Fenster streckt sich die Dunkelheit schon über das Feld. In der Ferne strahlen die Scheinwerfer eines Autos. Nun spielen seine Hände das Menuett wie von selbst. Er hat die Augen geschlossen, lauscht der Musik und erinnert sich an den Sommer. Er denkt an den bauchnabelhohen Weizen, draußen auf dem Feld. Er denkt an die warmen, leichten Tage. Sie schmecken nach Chlorwasser und Eistee, und leider nicht nach dem Lippenstift des schönen Mädchens aus der anderen Klasse. Er denkt an den Fußball, welchen ihm der Onkel zum Geburtstag schenkte. Es war genau der Ball, mit dem die Nationalmannschaft bei der WM ihre Tore schoss. Er denkt an die vielen Stunden, welche er auf dem Hof damit spielte. Manchmal, wenn der Vater nicht da war, schlich er sich in den Garten. Denn echte Profis spielen auf Rasen -

er schlägt die Augen auf, hebt die linke Hand für den Oktavensprung. Wieder gelingt es! Er spielt das Menuett perfekt zu Ende. Der Junge weiß, dass die Mutter gleich ein zweites Mal zum Abendessen rufen wird. Er erhebt sich vom Klavier, geht zu dem Fenster und sieht in die Dunkelheit. Er denkt an seinen Fußball - wie Schweinsteiger wollte er damit schießen. Er bolzte so oft gegen die Wand, bis ihm der Schweiß von der Stirn tropfte. Im Garten auf der glatten Wiese machte es am meisten Spaß. Irgendwann passierte es. Der Ball erst an seinem Fuß, dann in gebogener Linie durch das Fenster des Gartenhauses. Dann das Klirren der Scheibe, die Scherben auf dem Rasen, darin das Spiegelbild der Sonne – dann der Vater heranstürmend mit zornverzerrtem Gesicht. Er holte den Ball aus dem Gartenhaus und schoss ihn im hohen Bogen in das Feld. Der Junge suchte stundenlang, während der Weizen ihm die Schienbeine zerkratzte. Er denkt zurück an den trockenen Mund, die Abendröte und die stummen Tränen in den Armen der Mutter. „Beruhige dich, beruhige dich“, hatte sie gesagt, bis der Junge sie anschrie: „Er schickt mich in die Wüste.“ Die Mutter sagte nichts mehr. Der Junge schloss sich in seinem Zimmer ein. Er wusste nicht, wohin mit sich. Wohin mit all der Traurigkeit in dieser Welt. Ohne darüber nachzudenken, setzte er sich an das Klavier und spielte, bis ihm die Mutter das Abendessen vor die Tür stellte. Er spielte immer noch, als die Mutter in ihr Schlafzimmer ging und das Fenster öffnete. Der Nachtwind trug die Töne des Klaviers bis an ihr Ohr und hinaus auf das Weizenfeld, bis in die Wüste -

das ist Vergangenheit. Der Sommer ist längst vorüber, das Feld liegt schon lange brach. Der Junge hat den Ball nie wieder gefunden. Wenn er von der Schule kommt, spielt er meistens Klavier.

„Abendessen! Kommst du bitte!“

Die Mutter hat das zweite Mal gerufen.

Der Junge wendet sich vom Fenster ab und schlägt das Klavierbuch so zu, dass er die Seite des Menuetts gleich wiederfindet. Vielleicht muss er nach dem Abendbrot noch mal spielen. Das weiß er nie genau.

Auf dem Küchentisch stehen Leberwurst, Roggenbrot, Butter und ein Salat mit Paprika. Die Eltern sitzen sich schweigend gegenüber.

Der Junge setzt sich auf seinen Platz neben den Vater.

„Willst du Salat?“, fragt ihn die Mutter und lächelt, als müsste sie für alle lächeln. Der Junge nickt.

„Du auch noch?“

Der Vater schüttelt den Kopf, beißt in sein Brot und sieht geradeaus.

„Es klang sehr schön, was du gespielt hast“, sagt die Mutter und reicht dem Jungen eine kleine Schüssel. „Ist das ein neues Stück?“

„Ja“, sagt er und nimmt sich eine Scheibe Brot.

Über dem Kühlschrank tickt die Uhr. Eigentlich will er nicht reden. Nicht mit ihr und erst recht nicht mit ihm. Aber die Mutter sieht ihn an, mit dieser blinden Hoffnung.

„Es ist ein Stück von Mozart“, sagt der Junge.

„Oh, wirklich? Hast du gehört, ein Stück von Mozart spielt er“, sagt sie und sieht den Vater an.

„Aber es ist nur von Leopold Mozart, nicht von Amadeus“, ergänzt der Junge.

„Das ist doch super, mein Schatz. Bestimmt spielst du bald auch etwas von Wolfgang Amadeus Mozart.“

„Hm“, sagt der Junge, zuckt mit den Schultern und beißt in das Leberwurstbrot.

„Unser Sohn spielt ein Stück von Mozart“, wiederholt die Mutter freudig. „Da sind wir sehr stolz“, sagt sie und sieht den Vater an.

„Ja“, sagt dieser. „Gibt es noch Lachs?“

„Ich weiß es nicht, aber ich kann nachschauen.“

Die Mutter steht auf und geht zum Kühlschrank.

„Nein, leider nicht mehr.“

Der Vater sagt nichts und schmiert sich das nächste Brot.

„Nächste Woche soll es schneien“, sagt die Mutter, als sie wieder am Tisch sitzt.

„Ja“, sagt der Vater. Im Winter arbeitet er auch am Wochenende. Wenn die Straßen glatt werden, gibt es mehr Unfälle, mehr Geld, wenn die Menschen ihre kaputten Autos in die Werkstatt bringen. Der Vater ist ihr Chef. Er zeigt den Arbeitern, was sie reparieren sollen. Vom Haus bis zur Werkstatt läuft er nur zehn Minuten. Der Junge hat sich nie für die Autos interessiert. Einmal hat der Vater ihn mitgenommen, ihm gezeigt, wie man einen Reifen wechselt oder die Hebebühne bedient. „Du hast zwei linke Hände“, haben ihm die Arbeiter gesagt. Am liebsten hätte der Junge den ganzen Tag im Büro gesessen, Kakao getrunken und dem Vater zugesehen, wie er seinen Kunden die Hände schüttelt. Manchmal wünscht sich der Junge, dass ihn die Autos interessieren. In den Ferien sieht er den Vater, wenn dieser für seine Pausen ins Haus kommt. Dann trinkt der Vater einen Milchkaffee, setzt sich in den Garten, raucht eine Zigarette und sieht auf das Feld hinaus. Der Junge hat ihn aus seinem Zimmer beobachtet. Es ist seltsam, den Vater so zu sehen. Er putzt sich jedes Mal die Zähne, bevor er zurück in die Werkstatt geht -

die Familie sitzt noch beim Abendbrot.

„Es wird ein guter Winter“, sagt der Vater.

Die Mutter nickt ihm zu.

„Willst du noch etwas Salat?“, fragt sie den Jungen.

„Ich esse lieber noch einen Joghurt.“

„In Ordnung“, sagt die Mutter und lächelt. „Aber ich weiß nicht, ob wir noch welchen haben.“

Der Junge geht zum Kühlschrank. Im oberen Fach stehen Butter, Käse und Milch. Er schiebt alles beiseite. Tatsächlich. In der Ecke ist noch ein Becher Kirschjoghurt. Daneben liegt das abgepackte Stück Lachs, welches der Vater wollte.

„Hast du ihn gefunden?“, ruft die Mutter. Der Junge zögert, dann nimmt er den Kirschjoghurt und den Lachs und geht zurück zum Tisch.

„Ja, habe ich. Der war auch noch da“, sagt er und legt den Lachs hin.

Die Mutter strahlt den Jungen an, als hätte er eine Eins in Mathe bekommen.

Der Vater sieht auf den Lachs und mustert den Jungen. Sein Blick bleibt bei seinen Füßen stehen. Der Junge sieht an sich hinunter und versteht es. Die Hausschuhe. Er hat vergessen, seine Hausschuhe anzuziehen, obwohl er nie verstanden hat, warum das wichtig ist. Der Junge hat seine Freunde in der Schule gefragt, ob sie Hausschuhe tragen müssen. Alle haben nein gesagt. Die Mutter hat es ihm oft erklärt: Der Vater brauche genug Schlaf, wenn er so viel arbeite, die Schritte im Flur würden ihn wecken. Deshalb soll der Junge seine Hausschuhe immer tragen, immer und vor allem, wenn er am Abend ins Badezimmer geht. Anfangs hat der Junge oft vergessen, die Hausschuhe anzuziehen. Seit dem Abend vor drei Wochen nicht mehr -

„Danke“, sagt der Vater, nimmt den Lachs und belegt sein Brot damit.

Der Junge setzt sich hin und löffelt den Kirschjoghurt. Er schlüpft in seine Hausschuhe, die unterm Tisch stehen. Am Tisch ist es still, bis das Abendbrot beendet wird.

„Ist alles in Ordnung?“, fragt die Mutter, als sie das Geschirr abräumt.

„Ich bin müde. Ich gehe in mein Zimmer“, antwortet der Junge.

„Na gut. Hast du die Schularbeiten fertig?“

„Ja.“

„Super“, sagt die Mutter und streicht ihm über den Kopf.

„Ich spiele noch ein bisschen Klavier.“

„Ok, aber nicht zu lange.“ Die Mutter lächelt mild. Der Junge schlurft in seinen Hausschuhen aus der Küche.

„Gute Nacht“, sagt der Vater.

Der Junge bleibt im Flur stehen und sagt:

„Gute Nacht.“ Er dreht sich nicht um. Die Traurigkeit des Vaters gibt es nur hinter seinem Rücken. Manchmal erzählt ihm die Mutter davon. Vor seinem Zimmer zieht der Junge die Hausschuhe aus und stellt sie neben den Eingang, um sie später nicht zu vergessen. Seit dem Abend vor drei Wochen macht er es immer so. An dem Abend vor drei Wochen hat er gelernt, dass ein Mensch sich in ein Tier verwandeln kann. Es kann gefährlich sein, einem Tier zu begegnen, wenn es dunkel ist. Das Brennen auf der Haut spürt man die ganze Nacht -

In seinem Zimmer setzt sich der Junge ans Klavier. Er spielt das Menuett von Leopold Mozart. Es soll selbstverständlich klingen.

2

In der nächsten Woche wird es sehr kalt. Der Schnee bedeckt das Feld hinter dem Haus. Die Mutter holt dem Jungen seine Winterjacke aus dem Keller, bevor er am Mittwoch mit dem Bus zur Schule fährt. Am Mittwoch ist sein Ranzen schwerer als sonst. Zwischen den Heftern für Deutsch und Mathe klemmt das Klavierbuch. Nach der sechsten Stunde läuft er mit seinen Freunden bis zur Haltestelle. Sie reden über Mädchen und Fußball. Der Junge wartet, bis sie in den Bus steigen, dann geht er an der Hauptstraße entlang zum Marktplatz. Den Weg zur Musikschule kennt er auswendig. Er friert an den Füßen. Die Mutter hatte gesagt, er solle die Stiefel anziehen. Der Junge wollte nicht auf sie hören. Jetzt saugt sich der matschige Schnee in die Adidas-Schuhe. Sie waren ein Geschenk des Vaters. Der Junge trägt sie gerne. Die Mutter hätte sie niemals gekauft. Dafür hat sie seine Hausschuhe bezahlt. Ohne die Mutter wäre alles viel schlimmer. Manchmal hat der Junge Angst, dass sie eines Tages einfach verschwindet. Wenn er am Mittwoch allein durch die Stadt läuft, denkt er über solche Dinge nach.

Von der Bäckerei ist es nicht mehr weit. Hinter dem Café Kolumbus führt die Gasse auf den Markt, dort stehen die Häuser dicht aufgereiht. Sie sind alt und schief, aber ihre Farben sind die schönsten der Stadt. Am Mittwoch ist der Marktplatz voller Stände. Sie verkaufen Fleisch, Käse und frisches Brot. In der Mitte steht das Denkmal eines berühmten Komponisten. Die Stadt hat die Kirche und ein Café nach ihm benannt, auch die Musikschule trägt seinen Namen. Der Mond ist schon aufgegangen, als der Junge die schwere Tür aufschiebt. In der Musikschule riecht es nach einer vergangenen Zeit. Der Junge denkt darüber nach, welche Menschen früher zwischen diesen Wänden lebten. Das Gebäude ist fast so alt wie das Rathaus. Auf allen drei Etagen liegt Parkett. Es knarzt bei jedem Schritt.

Die Klavierlehrerin wartet schon im Raum. Sie ist eine ältere Dame mit russischem Akzent und blondiertem Haar. Sie ist ruhig, verständnisvoll und hört dem Jungen zu, wenn er von der Schule oder vom Fußball erzählt. Nur wenn sie am Klavier spielt, ist es, als ob sie an einem anderen Ort wäre.

„Da bist du ja! Wie geht es dir?“, fragt die Lehrerin, als der Junge seine Winterjacke auszieht. Im Klavierraum ist es warm. Langsam kommt das Gefühl in seine Zehen zurück.

Sie reden eine Weile miteinander. Zuerst muss der Junge die Tonleitern spielen. Dann ist es Zeit für das Menuett von Leopold Mozart.

„Sehr gut. Wirklich sehr gut“, sagt die Lehrerin, als er fertig ist. „Du hast fleißig geübt, nicht wahr?“

„Ja“, sagt der Junge.

„Willst du das Stück beim Vorspiel spielen?“

Der Junge nickt.

„Du wirst es großartig machen, da bin ich mir sicher“, sagt die Lehrerin, während sie seinen Namen und den Namen des Liedes in ihr Notizbuch schreibt. Die Lehrerin hat ihm schon erklärt, wie das Vorspiel abläuft: Alle Schülerinnen und Schüler ziehen sich schick an, bringen ihre Familien mit, jeder spielt etwas vor. Der Junge fürchtet sich schon jetzt ein wenig.

„Zum Vorspiel spielen wir auf dem Flügel. Wir üben das Menuett noch mal darauf“, sagt die Lehrerin. „Damit du weißt, wie er sich anfühlt.“

Sie gehen gemeinsam über die Treppe in die dritte Etage. Der Junge war noch nie hier oben. Er steht in dem kleinen Vorraum, während die Lehrerin die große weiße Tür aufschließt.

„Hier wird es stattfinden“, sagt sie.

Hinter der Tür ist ein kleiner Saal. Die Wände sind in zartem Blau gestrichen, vorne steht ein schwarzer Klavierflügel. Dahinter sind Stühle aufgestellt. Die Lehrerin läuft zum Flügel und klappt ihn auf.

„Er spielt sich anders als das Klavier unten“, sagt sie und schlägt eine Taste an.

„Schau mal, wie du damit zurechtkommst.“

Der Junge blickt durch den Saal. Er will nicht daran denken, wie viele Menschen dort sitzen werden, wenn er vorspielt. Er setzt sich an den Flügel. Es fühlt sich ganz anders an. Der Klang ist dunkler und voller, verzeiht weniger Fehler. Wenn man die Fermaten zu lange hält, klingt alles durcheinander. Auf ihm zu spielen, fühlt sich an, als könnte man mit den gleichen Worten plötzlich mehr sagen. Die Lehrerin hört aus der ersten Reihe zu. Der Junge spielt das Menuett zweimal. Beide Male unterläuft ihm ein Fehler. Der Oktavensprung und sein kleiner Finger, der es nicht bis zum G schafft. Die Lehrerin bemerkt es, sagt nichts und nickt dem Jungen zu, als er fertig ist. Sie gehen durch die große weiße Tür hinaus.

„Wenn etwas nicht funktioniert, spiel einfach weiter. Niemand wird es merken“, sagt die Lehrerin, während sie den Saal abschließt. Als sie wieder im Übungsraum sind, ist der Unterricht vorbei. Der Junge zieht die Winterjacke an, setzt den Ranzen auf und verabschiedet sich.

„Das nächste Mal sehen wir uns also zum Vorspiel“, sagt die Lehrerin. „Bevor du gehst, habe ich noch einen Tipp für dich.“

Sie begleitet den Jungen zur Tür. Er sieht auf seine Schuhe. Sie sind nicht mehr nass.

„Wenn du das Menuett zu Hause spielst, dann spiel es wie im Vorspiel. Aber im Vorspiel musst du es spielen, als würdest du zu Hause üben. Verstehst du das?“

„Ja“, sagt der Junge. „Ich denke schon.“

„Gut“, sagt die Lehrerin.

Der Junge geht zur Haltestelle. Der Bus kommt und bringt ihn aus der Stadt, durch die Felder, von Dorf zu Dorf, nachhause. Er denkt an das Vorspiel, an die Mutter, den Vater und die vielen fremden Leute, welche ihm zuhören werden. Er will es gut machen. Die Angst, einen falschen Ton zu spielen, ist groß. Er denkt an die Worte der Lehrerin. Sie war nie in der Wüste. Sie weiß nichts über Tiere. Aber vielleicht hat sie Recht. Vielleicht muss er es spielen wie zuhause.

3

In den nächsten Wochen übt er das Menuett jeden Tag. Am Freitagabend ist es so weit. Die Mutter kommt mit dem gebügelten Hemd in sein Zimmer.

„Wir müssen in zehn Minuten losfahren“, sagt sie und eilt ins Badezimmer. Der Junge sitzt am Klavier. Er spielt das Menuett ein letztes Mal. In den vergangenen Wochen ging es stets fehlerfrei. Jetzt gelingt ihm der Oktavensprung nicht. Es muss egal sein. Der Stoff des gebügelten Hemdes ist noch warm. Der Vater sitzt im Auto und hupt, damit alle pünktlich kommen. Der Junge wirft sich die Jacke über und nimmt auf der Rückbank Platz. Im Auto riecht es nach den Zigaretten des Vaters und dem Parfüm der Mutter. Der Vater schiebt sich einen Kaugummi in den Mund und fährt los. Seit Wochen haben er und der Junge nicht miteinander geredet. Wenn der Junge mit der Mutter Abendbrot macht, arbeitet der Vater noch in der Werkstatt. Für das Vorspiel hat er sich freigenommen. Das Auto gleitet ins nächste Dorf. Die Eltern reden, im Radio laufen Charts. Der Junge legt den Kopf an die Scheibe. Er hat Angst, dass ihm der kleine Finger abrutscht und alles schief klingt.

„Hey“, sagt die Mutter. Sie legt ihre Hand auf sein Knie.

Der Junge sieht sie ratlos an.

„Du schaffst das, wir glauben an dich.“

Die Stadt kommt. Der Vater lenkt auf den Parkplatz der Musikschule ein. Noch nie standen hier so viele Autos. Der Vater stellt den Motor ab und sieht in den Rückspiegel.

„Wenn du es heute gut machst, gibt es eine Überraschung“, sagt er.

Der Junge freut sich sofort. Wenn der Vater etwas schenkt, ist es meistens gut. Vor dem Eingang der Musikschule warten schon die Großeltern. Nach der Begrüßung gehen alle gemeinsam hinein. Auf den Treppen kommen ihnen viele schick gekleidete Leute entgegen. Die Familie geht in die dritte Etage. Der Junge hört die vielen Stimmen von oben. Die weiße Tür zum Saal ist noch geschlossen. Im Vorraum stehen die Leute dicht aneinander, trinken Wein und reden ihren Kindern gut zu. Der Junge sucht nach seiner Klavierlehrerin. Sie kommt herüber und schüttelt die Hände der Eltern und Großeltern. Sie trägt tiefroten Lippenstift und goldenen Schmuck. Bevor die Lehrerin weitergeht, sagt sie etwas zu dem Jungen. Er versteht es nicht. Sein Blick streift durch die fremden Menschen. Obwohl seine Familie neben ihm steht, fühlt er sich allein.

An dem Tisch in der Ecke entdeckt er eine Gruppe von Klavierschülern. Die meisten sehen älter aus als er. Sie kennen sich, wohnen bestimmt alle in der Stadt. Sie halten Notenblätter in den Händen. Der Junge kneift die Augen zusammen und versucht, etwas zu erkennen. Er sieht Achtelpausen, Legato, Sechzehntelnoten. Ihre Stücke sind kompliziert. Das Menuett, an dem er wochenlang geübt hat, ist ein Kinderspiel dagegen. Die Klavierschüler in der Gruppe sehen nicht nervös aus, im Gegenteil: sie lachen miteinander. Alle lachen, außer das Mädchen mit den langen, braunen Haaren. Der Junge weiß nicht, ob sie lacht, denn er sieht sie nur von hinten. Er stellt sich ihr Gesicht vor.

„Kommen sie gerne hinein“, sagt die Lehrerin und schließt die große Tür auf. „Das Vorspiel beginnt in zehn Minuten.“

Die Leute strömen in den Saal. In den ersten Reihen nehmen die Schüler Platz, dahinter ihre Familien. Bald ist der blaue Saal bis auf den letzten Sitz gefüllt. Dem Jungen pocht das Herz. Er sucht nach seiner Familie. Sie werfen ihm ermutigende Blicke zu. Ab jetzt ist er allein. Wenn er in der Schule einen Vortrag halten muss, ist er auch aufgeregt. Aber das hier ist etwas Neues. Auch die anderen Schüler sitzen stumm auf ihren Stühlen, die Blusen und Hemden hängen auf ihren starren Körpern. Nur die Gruppe von draußen, die Kinder aus der Stadt, sitzen in der ersten Reihe und lachen. Der Junge versucht, ihren Gesprächen zu lauschen. Er entdeckt das Mädchen mit den langen, braunen Haaren. Er sieht sie nur von hinten. Irgendwann dreht sie sich um. Der Junge sieht ihre blasse Haut und die dunklen Augen. Er ist erleichtert, als sich das Mädchen wieder umdreht. Er hätte ihren Blick nicht ausgehalten.

„Liebes Publikum! Vielen Dank, dass Sie heute gekommen sind.“

Die Lehrerin schließt die Tür und eröffnet das Vorspiel. Der Junge will zuhören, aber seine Gedanken springen hin und her. Der Oktavensprung. Die dunklen Augen des Mädchens. Die angekündigte Überraschung des Vaters. Keinen Fehler machen. Bloß keinen Fehler machen.

Zuerst spielen die jüngsten Schüler. Ihre Stücke sind einfach. Wenn sie einen Fehler machen, kommt die Lehrerin an den Flügel und hilft ihnen. Am Ende klatscht das Publikum jedes Mal sehr laut, um sie aufzuheitern.

„Als nächstes hören wir …“, sagt die Lehrerin, wieder und wieder.

Der Junge sitzt auf seinem Stuhl und wartet.

„Als nächstes hören wir …“

Er hört den Stücken nicht mehr zu. Der Junge möchte sitzen bleiben, wenn er aufgerufen wird.

„Als nächstes hören wir“, sagt die Lehrerin und sieht durch den blauen Saal, „das Menuett von Leopold Mozart, gespielt von …“

Der Junge hört seinen Namen, als sage ihn jemand aus einer anderen Welt.

Er steht auf. Ihm ist sofort schwindelig. Auf dem Weg zum Flügel knarzt das Parkett unter seinen Füßen. Er stellt das Klavierbuch ab. Er schlägt das Menuett auf und das Papier zittert in seinen Händen. Alle sehen es und wissen, wie aufgeregt er ist. Der Junge legt seine Finger auf die Klaviertasten und will anfangen. Aber der Schweiß auf seinen Handflächen ist wie der Frost auf den Straßen. Es ist unmöglich, so zu spielen. Der Junge versucht sich zu beruhigen und schaut in den Saal. Er sieht in die erwartungsvollen Gesichter der Erwachsenen. Alle müssen sich fragen, warum er nicht anfängt. Die Lehrerin sitzt neben der weißen Tür. Sie sieht den Jungen an, als sei alles in Ordnung. Sie sieht ihn an, als wäre es Mittwochnachmittag, als säße er im Übungsraum, als verzeihe sie ihm jeden Fehler. Der Junge denkt an ihren Tipp aus der letzten Stunde. Spiel es so wie zuhause. Zu Hause. Was ist das schon. Es ist das Dorf, in dem er keine Freunde hat. Es ist der dunkle Wald. Es ist das Feld hinter seinem Fenster. Es ist die Stille während des Abendessens. Es ist der stumme Schrei, wenn das Tier kommt. Der Junge schließt die Augen und bringt die Hände in Stellung. Er denkt an den Sommerwind, an das Feld, den hohen Weizen und seinen verlorenen Fußball, an getrockneten Schweiß und frische Tränen, an die Worte der Mutter, an die Wüste. An die Sprache, die ihm leer wurde. An die Musik, die damals begann. Aber es funktioniert nicht. Er kann das Menuett nicht spielen. Seine Hände liegen wie Steine auf den Tasten. Zwei linke Hände. Wie es die Arbeiter in der Werkstatt gesagt haben. Der Vater wusste es schon immer: Es sind nicht seine Hände, die der Junge trägt. Es sind die Hände eines anderen Mannes. Über den anderen Mann wird nicht geredet. Sonst wird die Mutter wütend oder sehr traurig. Der andere Mann ist ein Geheimnis, das jeder weiß. Der Vater versucht, es zu vergessen. Der Junge auch. Wenn der Vater sieht, wie der Junge einen Schraubenzieher anfasst, sieht er die Hände des anderen Mannes. Wenn der Junge sieht, wie ihm die Hände des Vaters entgegenschweben, können es nicht die Hände seines Vaters sein.

Die Zuhörer im Saal werden unruhig. Die Lehrerin will den Jungen erlösen. Manchmal muss ein Vorspiel abgebrochen werden. Die Lehrerin kann nicht mit ansehen, wenn ihre Schüler an dem Flügel zerbrechen. Gerade als sie sich von ihrem Stuhl erhebt, klingt der erste Akkord durch den Raum. E-Moll. Das Publikum wird still. Der Junge sieht auf seine linke Hand. Sie wandert zum tiefen A, dann weiter zu H und zum hohen C. Die rechte Hand setzt ein und die Melodie des Menuetts erklingt. Alles beginnt zu fließen. Die Lehrerin setzt sich wieder hin und hat ein Lächeln auf dem Gesicht. Das Menuett ist ein schlichtes, einfaches Stück. Aus den Händen des Jungen klingt es nach Weite. Er trägt etwas in sich, das er für unsagbar hält. Die Lehrerin hört es. Der Junge spielt die letzten Töne des Menuetts. Als sie verklungen sind, verbeugt er sich vor den Zuhörern. Sie klatschen Beifall, während der Junge zu Boden sieht. Als er sich wieder aufrichtet, blickt er in ihre dunklen Augen. Das Mädchen mit den braunen Haaren weiß von nichts. Der Junge hat das Menuett für sie gespielt. Er weiß nichts über die Liebe, wie kompliziert und schmerzhaft sie sein kann. Nur die Vorstellung hat ihn beflügelt. Sie war im Saal, in der Musik, in seinen Händen.

Später ist das Mädchen an der Reihe. Die Lehrerin sagt den Titel ihres Stückes an, der Junge versteht es nicht. Das Mädchen spielt wunderbar. Als sie sich vor dem Publikum verbeugt, hofft der Junge, dass sie herüberschaut. Wenn er sich später daran erinnert, wird sie es tun.

Es vergehen zwei Stunden, dann haben alle Schüler vorgespielt. Die Lehrerin beendet das kleine Konzert. Draußen ist die Nacht eingekehrt. Alle stehen von ihren Stühlen auf und reden durcheinander. Der Junge geht zu seiner Familie. Sie nehmen ihn in den Arm und sagen, wie stolz sie sind.

„Wir haben einen Tisch im italienischen Restaurant reserviert“, verkündet der Vater. Die Großeltern stehen daneben. Der Junge ist benommen von der plötzlichen Leichtigkeit.

„Freust du dich?“, fragt der Vater.

„Ja!“, antwortet der Junge. „Ist das die Überraschung?“

„Nein, die kommt später“, sagt der Vater grinsend.

Die Familien strömen aus dem Saal. Der Junge geht hinter seinen Eltern. Seine Augen suchen nach dem Mädchen. Sie steht in der Gruppe mit den anderen Schülern. Wieder sieht er nur ihren Rücken, die langen, braunen Haaren. Er bleibt stehen und wartet, bis sie sich umdreht.

„Kommst du?“, fragt die Mutter. Die Familie steht schon an der Treppe.

Der Junge nickt und geht mit ihnen hinunter.

Das italienische Restaurant am Marktplatz ist gut besucht. Der Kellner weist ihnen einen Tisch zu. Die Eltern bestellen Rotwein und Pizza, der Junge darf Cola trinken. Die Familie redet über das Vorspiel. Die Großeltern sagen, wie großartig er es gemacht hat. Als der Kellner das Essen bringt, erhebt der Vater sein Glas.

„Auf unseren Pianisten!“

Der Junge ist glücklich. Sehr glücklich. Er verschlingt seine Pizza und lehnt sich zurück. Die Großeltern bestellen eine zweite Flasche Wein und reden über Politik. Der Junge hört nicht mehr zu. In seinen Gedanken ist er bei ihr. Er weiß nicht, ob er das Mädchen mit den dunklen Augen wiedersehen wird. Ob sie ihn jemals gesehen hat. Es spielt keine Rolle, der Augenblick wird bleiben.

„Bist du bereit für die Überraschung?“ Der Vater legt seine Hand auf die Schulter des Jungen.

„Ja!“, antwortet dieser.

„Du bekommst dein Weihnachtsgeschenk schon heute“, sagt der Vater. Er holt einen Umschlag aus der Manteltasche. Alle blicken gespannt, während der Junge das Papier vorsichtig öffnet. Eine Ansichtskarte. Schneebedeckte Berge, die Sonne am wolkenlosen Himmel. Ein Skifahrer, der vom Hang grüßt. Die rot-weiße Flagge von Österreich.

„Wir haben sehr viele Aufträge in der Werkstatt bekommen, deswegen machen wir dieses Jahr einen Skiurlaub in Österreich!“, erklärt der Vater.

Der Junge betrachtet die Karte. Skifahren, hohe Berge, ein fremdes Land.

„Das ist so cool!“

Er umarmt den Vater.

„Wenn die Ferien beginnen, fahren wir los. Vorher besorgen wir dir noch ein paar Skier, damit du richtig schnell fahren kannst“, sagt dieser.

Die Mutter gibt dem Jungen einen Kuss auf die Stirn.

„Wir sind sehr stolz auf dich“, sagt sie. Der Vater nickt.

„Danke!“, sagt der Junge noch mal. Endlich kann er sich wieder auf die Zukunft freuen. Die Familie stößt an. Dann erhebt sich die Großmutter, greift in ihren Beutel und holt ein rechteckiges Geschenk heraus.