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Der Lektüreschlüssel erschließt Gerhart Hauptmanns "Bahnwärter Thiel". Um eine Interpretation als Zentrum gruppieren sich 10 wichtige Verständniszugänge: * Erstinformation zum Werk * Inhaltsangabe * Personen (Konstellationen) * Werk-Aufbau (Strukturskizze) * Wortkommentar * Interpretation * Autor und Zeit * Rezeption * "Checkliste" zur Verständniskontrolle * Lektüretipps mit Filmempfehlungen * Raum für Notizen Als Bahnwärter Thiel zum zweiten Mal heiratet, ahnt er nicht, welche Zukunft ihn an der Seite seiner neuen Frau Lene erwartet: Herrisch unterdrückt sie ihren Gatten und misshandelt den kleinen Tobias, Thiels Sohn aus erster Ehe. Doch wie viel kann ein Mensch erdulden? Welcher Schritt ist es, der zu weit führt? Gerhart Hauptmanns "novellistische Studie", eines der bedeutendsten Werke des deutschsprachigen Naturalismus, schildert den psychopathologischen Fall Thiels mit außergewöhnlicher sprachlicher Intensität.
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Seitenzahl: 60
LEKTÜRESCHLÜSSELFÜR SCHÜLERINNEN UND SCHÜLER
Gerhart Hauptmann
Von Mario Leis
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe: Gerhart Hauptmann: Bahnwärter Thiel. Novellistische Studie. Stuttgart: Reclam, 2001 [u.a.]. (Universal-Bibliothek. 6617.)
Alle Rechte vorbehalten© 2003, 2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartGesamtherstellung: Reclam, DitzingenMade in Germany 2013RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartISBN 978-3-15-960192-2ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015314-7
www.reclam.de
1. Erstinformation zum Werk
2. Inhalt
3. Personen
4. Werkaufbau
5. Wort- und Sacherläuterungen
6. Interpretation
7. Autor und Zeit
8. Rezeption
9. Checkliste
10. Lektüretipps / Filmempfehlungen
Anmerkungen
In seinem 1937 erschienenen autobiografischen Text Das Abenteuer meiner Jugend berichtet Gerhart Hauptmann rückblickend über den Entstehungszeitraum des Bahnwärter Thiel (1888): »Während mein zweiter Sohn geboren wurde, schrieb ich an einer Novelle Bahnwärter Thiel, die ich im späten Frühjahr beendete. Sie wurde von Michael Georg Conrad in München erworben und in seiner Zeitschrift abgedruckt. Damit war ich als Schriftsteller in die Welt getreten.«1
Mit dem Erscheinen des Bahnwärter Thiel leitet Hauptmann, neben Autoren wie Arno Holz und Johannes Schlaf, die literarische Moderne in Deutschland erfolgreich ein.
Was war das Neue am Bahnwärter Thiel? Der Autor provozierte sein Publikum in ungewohnter Weise. Für das Bürgertum war die – zumindest nach außen hin – harmonisch funktionierende Familie das Fundament der Gesellschaft gewesen. Die Titelfigur dieser »Novellistischen Studie« aber, der Bahnwärter Thiel, zerstört dieses Weltbild mit dem Mord an seiner Frau Lene und ihrem gemeinsamen Sohn; nach der Tat verfällt er in Wahnsinn.
Dramaturgisch geht der Autor geschickt vor: er konfrontiert zu Beginn des Textes den Leser mit der wohlanständigen Fassade des braven Kleinbürgers; schon der erste Satz der Novelle verdeutlicht beispielhaft die Normalität der Ausgangssituation: »Allsonntäglich saß der Bahnwärter Thiel in der Kirche zu Neu-Zittau« (3). Im Verlauf der Novelle bricht dann ein Stück nach dem anderen aus dieser Fassade heraus, und der Leser bemerkt mit zunehmendem Unbehagen, ja Entsetzen, wie der seinen Trieben unterworfene Thiel und seine Familie immer unausweichlicher ihrem Verhängnis entgegentreiben.
Auch wenn Thiels Familie nur dem untersten Kleinbürgertum angehört, traf Hauptmanns düstere Schilderung doch ebenso die bürgerliche Gesellschaftsschicht, wurde ihr hier doch ein Spiegel vor Augen gehalten.
Neu war auch das Personeninventar der Novelle: »Ohne Zweifel ist die Wahl eines kleinen Bahnwärters zum ›Helden‹ einer tragischen Erzählung in dieser Zeit nicht nur eine ästhetische Provokation, sondern auch eine indirekte politische Parteinahme für die ›Unterdrückten‹ und ›Ausgebeuteten‹.«2 Bisher wurden, mit Ausnahme einiger Schelmenromane, in der deutschen Literatur nur Adelige oder Bürgerliche dargestellt; das Schicksal der untersten Gesellschaftsschichten war ausgeschlossen und nicht literaturfähig. Hauptmann jedoch stellt dieses Milieu präzise dar, auch sprachlich. Er gibt die Umgangssprache und den Jargon wirklichkeitsgetreu wieder. Gegen den so genannten guten Geschmack und bürgerliche Kunstauffassungen ist Hauptmanns erzählte Wirklichkeit fast deckungsgleich mit dem sozialen Milieu seiner Protagonisten. So wird deutlich, dass Thiel durch sein soziales Umfeld, die Zeitumstände und seine Herkunft in seinem Handeln bestimmt wird.
Der Autor beschreibt Thiels Zerfallsgeschichte über weite Strecken objektiv; in der Novelle gibt es daher keine moralische Instanz, die Thiels Verhalten wertet, kritisiert oder verurteilt. Die Leser müssen sich selbst ein Urteil bilden. Daraus folgt, dass es viele individuelle Lesarten des Textes gibt. Sie werden sogar potenziert, weil Hauptmann sowohl traditionelle als auch moderne ästhetische Programme in sein Werk integriert. So finden wir realistische, romantische und naturalistische Anleihen im Bahnwärter Thiel; außerdem deutet sich schon der Expressionismus und Surrealismus an. Diese Mischung erschwert nicht selten die präzise Einordnung des Textes, schafft allerdings auch den Reiz, neue Verstehenshorizonte zu eröffnen. Der vorliegende Lektüreschlüssel bietet eine erste Orientierung an.
Der auktoriale (allwissende) Erzähler beschreibt auf den vierzig Seiten der Novelle etwa zehn Jahre aus Thiels Leben. In diesem Zeitraum leistet der fromme Bahnwärter, der jeden Sonntag in die Kirche geht, seinen Dienst gewissenhaft ab. Nur zweimal kann er ihn nicht ausüben, weil er durch ein Stück »Kohle« und eine »Weinflasche« (3), die von den vorbeifahrenden Zügen herabfielen, verletzt wird.
»Eines schönen Tages« (3) taucht an Thiels Seite die schmächtige und »kränklich« aussehende Minna auf. Sie scheint, wie die Kirchengemeinde meint, nicht »zu seiner herkulischen Gestalt« (3) zu passen. Trotzdem heiraten beide, nach nur zwei Jahren stirbt seine Gattin im Wochenbett. Ihr gemeinsames Kind, Tobias, überlebt. Ein Jahr nach Minnas Tod verheiratet Thiel sich erneut, und zwar mit Lene, »einem dicken und starken Frauenzimmer, einer Kuhmagd« (4).
Thiel heiratet Lene, wie er dem Pastor berichtet, aus einem ganz pragmatischen Grund: »Mit der Toten kann ich nicht wirtschaften [...]! Der Junge geht mir drauf, Herr Prediger« (4). Die zweite Ehefrau erweist sich dann auch, wie von Thiel erhofft, als »eine unverwüstliche Arbeiterin« (5). Doch schnell zeigt sich, dass seine Wahl keine gute war, denn seine Frau besitzt eine »harte, herrschsüchtige Gemütsart« (5), obendrein ist sie zanksüchtig und brutal leidenschaftlich. Thiel erträgt scheinbar phlegmatisch die hysterischen Ausfälle Lenes, nur wenn Tobias von Lene Unrecht geschieht, vermag sich Thiel zu wehren. Doch nach einem Jahr Ehe gibt der Bahnwärter auch diesen Widerstand auf. Stattdessen erhebt er sein einsames Bahnwärterhäuschen zu einer Art Erinnerungskapelle an seine verstorbene Frau. Hier kann er sich ungestört dem geistigen Verkehr mit ihr hingeben, was »seine mystischen Neigungen« (8) fördert.
Tobias bleibt in seiner Entwicklung zurück, im zweiten Lebensjahr lernt er nur ein wenig sprechen und gehen. Als der Junge sich jedoch besser verständigen kann, erwacht Thiels Liebe zu ihm von neuem, in den Monaten zuvor galt sie vor allem Lene. Sie ist deshalb eifersüchtig auf Tobias und straft ihn fortan mit »Abneigung« (9).
Ein Jahr später bringt Lene einen Jungen zur Welt: »Von da ab begann für Tobias eine schlimme Zeit« (9). Er wird von der Stiefmutter ausgenutzt, wobei er körperlich zusehends verfällt. Die Dorfbewohner, die dieses Elend hinter ihren Fenstern beobachten, machen Thiel durch »Winke« darauf aufmerksam, doch er scheint »keine Augen« (9) dafür zu haben.
An einem Junimorgen empfängt Lene ihren Gatten, der gerade von seinem Dienst nach Hause kommt, äußerst missgelaunt, weil der Familie Thiel der »Pachtacker, welcher bisher den Kartoffelbedarf der Familie gedeckt hatte« (10), gekündigt worden ist. Doch der Bahnwärter hat zur Überraschung Lenes schon ein neues Stück Land. Sein Bahnmeister hat es ihm überlassen, und es liegt in der Nähe von Thiels Wärterhäuschen. Die überglückliche Lene »schoss [...] davon, um die Neuigkeit im Örtchen auszusprengen« (11).