Lenas Tagebuch - Lena Muchina - E-Book

Lenas Tagebuch E-Book

Lena Muchina

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Beschreibung

Rund einen Monat, bevor die Wehrmacht Leningrad einkesselt, um die Zivilbevölkerung mit beispielloser Grausamkeit auszuhungern, beginnt Lena Muchina ihr Tagebuch. Sie interessiert sich für das, was alle jungen Mädchen beschäftigt: Wie kann sie das Herz von Wowka, dem Jungen aus ihrer Klasse, gewinnen? Wie schummelt man sich durch die Geometrie-Prüfung? Aber bald gibt es nur noch den einzigen, alles beherrschenden Gedanken: etwas in den Magen zu bekommen, und sei es die Katze der Nachbarn … Das berührende, dabei unsentimentale Tagebuch eines sechzehn jährigen Mädchens, das die Belagerung von Leningrad überlebte. Aus dem Russischen von Lena Gorelik und Gero Fedtke. "Ich weiß selbst nicht, wie ich diese Zeilen schreiben kann. Aber mein Herz ist irgendwie wie aus Stein geworden. Ich habe gar keine Angst. Ob Aka stirbt oder nicht, ist mir egal. Wenn sie schon stirbt, dann soll sie es nach dem 1. tun, dann bekommen wir ihre Lebensmittelkarte. Wie bin ich nur herzlos." Lena ist bald sechzehn und interessiert sich für das, was alle junge Mädchen beschäftigt: Wie kann sie das Herz von Wowka, dem Jungen aus ihrer Klasse, gewinnen? Wie schummelt man sich durch die Geometrie-Prüfung? Wann hat ihre Freundin Tamara Zeit, mit ihr ins Kino gehen? In politisch brisanter Zeit beginnt Lena ihr Tagebuch: rund einen Monat, bevor die Wehr-macht Leningrad einkesselt, um die Zivilbevölkerung mit beispielloser Grausamkeit auszuhungern. Doch Lena lebt von einem Tag auf den anderen, blendet die stän-dige Gefahr aus. Die Situation wird immer dramati-scher und bald gibt es nur noch den einzigen, alles beherrschenden Gedanken: etwas in den Magen zu bekommen, und sei es die Katze der Nachbarn… Mit klarer Sprache, intelligent und voll echter Emotion verschafft uns Lena Muchina einen einzigartigen Blick in eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte des 20. Jahrhunderts.

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Lena Muchina als Schülerin

LENA MUCHINA

LENAS TAGEBUCH

Leningrad 1941–1942

Aus dem Russischen übersetzt und mit Vor- und Nachwort sowie Anmerkungen von Lena Gorelik und Gero Fedtke

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »›… sochrani moju petschalnuju istoriju …‹. Blokadny dnewnik Leny Muchinoi« (»›… bewahre meine traurige Geschichte …‹. Das Blockadetagebuch der Lena Muchina), hrsg. v. Wladimir M. Kowaltschuk, Alexandr I. Rupassow u. Alexandr N. Tschistikow bei Asbuka in Sankt Petersburg. Lektorat der deutschsprachigen Ausgabe: Kurt Baudisch

Der Graf Verlag München ist ein Unternehmen derUllstein Buchverlage.

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

ISBN 978-3-8437-0553-0

© Éditions Robert Laffont, 2013 © Central National Archive for Historical-political Documents, Sankt Petersburg © der russischen Originalausgabe: Wladimir M. Kowaltschuk, Alexandr I. Rupassow und Alexandr N. Tschistikow © der deutschsprachigen Ausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013 Satz: Uwe Steffen, München ebook: LVD GmbH, Berlin

www.graf-verlag.de

»Die Blockade war immer da«

Vorwort von Lena Gorelik

Sie war Legende, erfüllte uns mit Stolz und trieb uns zugleich Schauder über den Rücken. Die Blockade war immer da, nicht nur in unserer Familienerzählung und der aller anderen Leningrader; bei allen Festen war sie Thema. Auch wenn ich sie natürlich nicht miterlebt habe, auch wenn ich sie nur aus Erzählungen und von Schwarz-Weiß-Fotografien kannte. Aber wie viele Erzählungen waren das, und wie oft hatte ich mir die Bilder in meinen Geschichtsbüchern und in den Petersburger Museen angeschaut, sie gerne angeschaut, mich nicht dazu zwingen müssen. Ich wurde ihrer nicht überdrüssig, die Erzählung von der Blockade gehörte zu meiner Kindheit, war immer da.

Sie machte mir ein schlechtes Gewissen, und zwar so: Ich bin fünf (oder sechs, sieben, acht und älter) und verweigere das Essen, wie Kinder es eben tun. Weil es mir nicht schmeckt, weil ich satt bin, aus einem beliebigen Grund. Ich lasse mein Essen, die Kartoffeln, das Fleisch, auch das Brot auf dem Teller liegen. Und meine Großmutter, unweigerlich, selbst als ich schon nicht mehr zu Hause wohnte und nur noch zu Besuch kam:

»Was ist mit deinem Essen? Was ist mit dem Brot? Sollen wir das wegschmeißen?«

»Ja!« / »Ist für den Hund.« / »Ich esse es später.«

Und meine Großmutter, unweigerlich: »Wie bitte? Wir können kein Brot wegschmeißen. Weißt du, wie viel Brot wir während der Blockade bekamen?«

Aber natürlich weiß ich das. 125 Gramm.

»125 Gramm. Und weißt du, wie wenig das ist? Soll ich es dir zeigen?«

Aber das muss sie nicht. Anhand jeder Brotscheibe der Welt kann ich zeigen, wie viel davon 125 Gramm sind. So, als hätte ich die Blockade selbst damit überlebt.

Kälte, Angst, Qualen, Tod, vor allem aber Hunger – Synonyme für die Blockade. Mein Vater war ein Kind während der Blockade, ein sogenanntes Blockadekind, und seine erste Erfahrung war: Hunger. Bis heute stapeln sich in den Regalen im Keller meiner Eltern Konservendosen, Nudeln, Reis, Knäckebrot bis an die Decke. Nie wieder will mein Vater Hunger leiden, wir alle nicht, und besser, man hat vorgesorgt. (Aus demselben Grund isst er auch Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist: Während der Blockade hätte man sein Leben dafür verkauft.)

Die Blockade ist Legende: Die sie überlebt haben, sind Helden. Fast 900 Tage Hunger, eisige Winter und sengende Sommer, deutsche Angriffe und Bombardierungen, 900 000 Tote. Es sind Helden, die das erduldet haben, die ihre Stadt beschützt, dem Tod getrotzt hatten: Blokadniki. Sie wurden an Gedenktagen geehrt, bekamen am 9. Mai1 oder zu anderen Feiertagten hin und wieder besondere Lebensmittel zugeteilt, die auf dem freien Markt in der Sowjetunion nicht zu bekommen waren. »Heldenstadt Leningrad«, wie es auf dem Obelisk mitten im Zentrum von Sankt Petersburg auch heute noch heißt, zwanzig Jahre nach der Umbenennung der Stadt.

Helden gab es in jeder Familie. In meiner Familie war es der Bruder meiner Großmutter, der hochbegabte Bruder Dawid, der seinen Verteidigungsposten verlassen durfte, damit er im eisigen Winter durch die ganze Stadt marschieren konnte, um in Erfahrung zu bringen, wie seine ein paar Tage zuvor geborene Tochter hieß. Er hat es nie erfahren, er ist auf dem Weg erfroren. Der Name seiner Tochter war Ljubow, zu Deutsch: Liebe. (Romanstoff sozusagen.) Die Schwester meiner Großmutter hat einmal ihre Lebensmittelkarte verloren. Keine Lebensmittelkarte bedeutete: kein Brot. Kein Brot: kein Leben. Sie behielt es für sich, damit niemand aus der Familie anbieten müsste, mit ihr zu teilen. »Dumm«, nannte meine Großmutter das, sie hatte es zum Glück rechtzeitig gemerkt und konnte ihre Schwester vor dem Hungertod bewahren, »dumm«, sagte sie und meinte eine Heldin. Wir Kinder lernten nicht nur durch diese Geschichten aus den Familien, was Helden waren, sondern auch lehrplangemäß in der Schule, im Geschichtsunterricht, im Lite­ra­tur­unter­richt. Wir waren Leningrader: Enkel­kinder von Helden.

Das erfüllte uns mit Stolz und Schauder: regelmäßige Besuche auf dem Gedenkhof Piskarjowskoje, einer Massenbegräbnisstätte von Blockadeopfern, stille Momente vor dem dort brennenden ewigen Feuer. Ich war mit meinem Vater dort und auch mit der Schule. Unter den unbekannten Opfern befand sich vielleicht mein Großvater, der Vater meines Vaters, der die Blockade nicht überlebt hatte, auch er ein Held. Regelmäßig besuchten wir das Blockade-Museum, wo einzelne Seiten aus »Tanjas Tagebuch«2 ausgestellt waren. Über das Tagebuch hatten wir in der Schule gehört, und hier im Museum konnte man einzelne Seiten sehen, wo Tanja aufzählt, wann welche Familienmitglieder gestorben sind. Es schließt mit dem Satz: »Geblieben ist nur Tanja.« Aber am Ende ist auch sie umgekommen.

Schauder liefen uns über den Rücken beim Versuch, sich die Angst, die Verzweiflung, die Kälte, den Hunger vorzustellen, aber es erfüllte uns auch mit Stolz: Ich bin ein Kind dieser Stadt, ein Enkelkind dieser Helden! Ich muss mich würdig erweisen, eine Leningraderin zu sein. (Ja, die sowjetische Propaganda hat funktioniert.)

Der Stolz ist irgendwo auf dem Weg nach Deutschland verloren gegangen. Manche uns von der Propaganda eingepflanzten Vorstellungen, historische Halb- und Unwahrheiten wurden zurechtgerückt, vieles vergessen. An die 125 Gramm erinnerte mich meine Großmutter, solange sie imstande war, jemanden an etwas zu erinnern. Mein Vater hortete Kon­ser­ven­dosen, und mein Bruder und ich gaben uns große Mühe, keine Witze darüber zu reißen. Am 9. Mai trafen meine Eltern ihre russischen Freunde und stießen mit einem Gläschen an und beglückwünschten sich gegenseitig. Im Schrank meiner Eltern liegt in einem Aktenkoffer, den mein Vater aus Russland mitgebracht hat und in dem er bis heute alle wichtigen Dokumente aufbewahrt, auch der Blockadeausweis meiner Großmutter. Eines Tages würde ich dieses historische Dokument erben, so dachte ich.

Dann tauchte das Tagebuch von Lena Muchina auf. Ich las es innerhalb von vierundzwanzig Stunden, konnte es nicht aus der Hand legen. Und alles war wieder da, die Legende, der Hunger, die Helden, der Stolz, der Schauder, der Versuch, sich die Angst, die Verzweiflung vorzustellen, das schlechte Gewissen. Aber nun hatte das schlechte Gewissen einen anderen Grund: Es ging nicht ums Brot, sondern darum, dass die Blockade in meiner Erinnerung verblasst war, dass ich vergessen hatte, was meine Familie durchlebt hatte, aus welcher Stadt ich stamme. Sich das Leiden, den Hunger und die Kälte vorzustellen schmerzte nun noch mehr: Denn Lena Muchina schrieb so, wie Kinder und Jugendliche schreiben: ehrlich, unverstellt, ihrem Alter entsprechend naiv. Anfangs glaubt sie noch an die absolute Wahrheit dessen, was die Nachrichtensprecher im Radio oder die Lehrer erzählen. Sie hat die gleichen Sorgen wie alle jungen Mädchen zu allen Zeiten überall auf der Welt: Wowka, der nette, gute Junge, könnte sie weniger mögen als sie ihn, und ihre beste Freundin könnte vielleicht doch nicht die allerbeste Freundin sein. Doch diese Sorgen werden schon bald überlagert von blanker Angst: Angst vor dem Hungertod, vor dem drohenden eisigen Leningrader Winter. Vor dem Hintergrund der sich überschlagenden Kriegsereignisse, der schwindenden Hoffnungen, der quälenden, immer wiederkehrenden Träume von Essen, den steigenden Todeszahlen war die Angst nun eine andere, sie hat alles Kindliche, Naive verloren. Lena Muchina wird erwachsen, lässt die Sorgen um Jungen und Schulnoten ganz plötzlich hinter sich, viel schneller, als Kinder es eigentlich sollten. Und sie ist bald ganz allein. Ihre Mütter sterben, erst die leibliche, dann die Ziehmutter, auf einem Schlitten zieht die Sechzehnjährige sie durch den Schnee zum Massengrab. Die seitenlangen Beschreibungen ihrer Essensfantasien, die Aufzählungen all dessen, wonach sie sich sehnt, von Pfann­kuchen über Bratkartoffeln hin zu Butter auf ihrem Brot, lassen einem den Keks, den man beim Lesen knabbert, im Halse stecken bleiben. Ich las Lena Muchinas Tagebuch in vierundzwanzig Stunden, dieses wahre »Zeugnis der Geschichte«, und dieser Begriff ergab plötzlich einen Sinn. Mich schauderte, und ich war auch wieder ein bisschen stolz. Wie hatten die Lenin­grader das nur 872 Tage lang geschafft?

Ich hätte das Tagebuch gerne meiner Großmutter gezeigt, aber sie ist heute zu alt dafür. Ich zeigte es also meinen Eltern, die zu Recht sagten, nicht meine Großmutter sollte es lesen, sondern all die anderen, die nicht wissen, was es hieß, die Blockade zu überleben. Die eine Vorstellung davon bekommen möchten, wie sich dieses grausamste Kapitel deutsch-russischer Geschichte von innen heraus anfühlte. Die jeden Tag Brot essen, so viel sie wollen, und die ihre Bonbons nicht auf mehrere Tage aufteilen müssen, so wie Lena Muchina es tat und wahrscheinlich auch meine Großmutter.

1 9. Mai 1945: Kapitulation der Deutschen Wehrmacht.

2 Das Tagebuch bestand nur aus wenigen Seiten. Näheres unter de.wikipedia.org/wiki/Tatjana_Nikolajewna_Sawitschewa.

Zur Biografie Lena Muchinas

Von Gero Fedtke

Lena Muchina wurde am 21. November 1924 in Ufa3 geboren. Anfang der Dreißigerjahre zog Lenas Mutter mit ihr nach Leningrad. Weil sie schwer krank war, konnte sie sich aber schon bald nicht mehr um sie kümmern. Lena wuchs nun bei ihrer Tante Jelena auf, die sie im Tagebuch Mama oder Mama Lena nennt. Mit Mama Lena und Lena lebte die greise Aka, eine Freundin der Familie4. Mama Lena war Ballerina, musste aber nach einem Reitunfall diesen Beruf aufgeben. Als Bühnenbildnerin und mit anderen Tätigkeiten schlug sie sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Die Männer sind abwesend, sowohl Lenas Vater wie Mama Lenas Mann. Lena schreibt in ihrem Tagebuch, sie sei Vollwaise geworden. Ihr Vater ist offenbar ver­storben.

Die Wohnverhältnisse waren beengt; die drei lebten in einem Zimmer in einer Kommunalwohnung am Sagorodny-Prospekt, durchaus eine der besseren Wohngegenden Leningrads. Die Kommunalwohnung war nach der Revolution die vor allem im Zentrum der Stadt am weitesten verbreitete Wohnform: In den ehemals bürgerlichen Wohnungen lebten mehrere Familien zusammen, jede in einem Zimmer, Bad und Küche wurden gemeinsam genutzt. Dieses Wohnen war einerseits Folge eines geplanten Umsiedlungsprogramms, das den ärmeren Schichten die besseren Wohnungen zur Verfügung stellen sollte. Zum anderen erlebte die Sowjetunion in den Zwanziger- und Dreißigerjahren eine rasante Urbanisierung, die zu Wohnungsnot führte. Die Bevölkerung Leningrads wuchs von etwa zwei Millionen vor dem Ersten Weltkrieg auf etwa drei Millionen im Jahr 1940; neue Wohnungen entstanden aber kaum.

Lena Muchina (3. v. l. in der obersten Reihe) in ihrer Schulklasse, 1941

Zuwanderer wie die Muchinas wurden in Kommunalwohnungen unter­ge­bracht, in denen immer wieder »verdichtet« wurde: Standen einer Person 1926 noch 13,5 Quadratmeter zu, so waren es ab 1931 nur noch 9. Nicht wenige mussten sich allerdings mit weniger begnügen. Die Mehrzahl der Familien lebte in einem Zimmer oder musste sich ein Zimmer mit anderen Familien teilen. Das Zu­sam­men­leben dieser Familien höchst unterschiedlicher Herkunft auf engem Raum gestaltete sich oft schwierig. In der Tat kommen die Nachbarn in Lenas Tagebuch kaum vor; als Mama Lena und Aka gestorben sind, bleibt ihr nur noch festzustellen, sie sei von »fremden Menschen« umgeben, denen sie egal ist.

Lena Muchina, 1955

Diese Lebensumstände Lenas sind durchaus repräsentativ für die Leningrader Stadtbevölkerung in den Dreißiger- und Vierzigerjahren. Als Lena am 22. Mai 1941, einen Monat vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, ihr Tagebuch beginnt, lebt sie das ganz gewöhnliche Leben einer 16-jährigen Leningrader Schülerin. Auch ihr familiäres Schicksal ist so außergewöhnlich nicht: Die Umwälzungen von Revolution, Bürgerkrieg und Sowjetisierung der Gesellschaft hatten viele Kinder zu Waisen oder Halbwaisen gemacht, Familien auseinandergerissen, Menschen ihre Wohnorte wechseln lassen.

Lena Muchina überlebte den harten Blockade­winter 1941/42, den sie in ihrem Tagebuch beschreibt. Anfang Juni 1942 wurde sie evakuiert und gelangte nach Gorki (heute wieder: Nischni Nowgorod), wo ihre Tante Schenja und weitere Verwandte lebten. Dort verbrachte sie die Kriegsjahre und erlernte den Beruf der Müllerin. Schon im Herbst 1945 kehrte sie in das »verfluchte« Leningrad zurück, das sie laut Tagebucheintrag vom 13. April 1942 nie wieder betreten wollte, und absolvierte dort eine drei­jährige Ausbildung zur Mosaiklegerin. Sie arbeitete ein knappes Jahr in der Leningrader Spiegelfabrik, verlor diese Arbeit aber im Rahmen einer Massenentlassung. Ihr Zimmer, das sie bei ihrer Evakuierung aufgegeben hatte, erhielt sie nicht zurück; sie musste eine Wohnung mieten, was sie sich ohne Gehalt nicht leisten konnte. So gelangte sie im März 1950 auf Umwegen nach Kemerowo in Westsibirien auf die Großbaustelle des dortigen Wasserkraftwerks. 1952 verlängerte sie ihren Vertrag nicht. »Ich habe schreckliches Heimweh nach Leningrad, nach der Oper und den Museen. Aber ich kann dort nirgends wohnen«, schrieb sie ihrer Tante Schenja.

Sie zog stattdessen nach Moskau, wo Verwandte lebten. Dort war sie bis zu ihrer Pensionierung in der Industrie tätig und starb schließlich am 5. August 1991, zwei Wochen vor dem Putsch gegen das sowjetische Staatsoberhaupt Michail Gorbatschow und vier Monate vor der Auflösung der Sowjetunion.

»Solange ich lebe, will ich lieben, und wen, das werden wir noch sehen«, hatte Lena während der Belagerung in ihr Tagebuch geschrieben. Doch nach den traumatischen Erfahrungen der Blockade blieb ihr dies vom Schicksal versagt. Lena heiratete nicht, hatte keine Kinder. Häufige Krank­heiten plagten sie ihr ganzes Leben.

Lena Muchina beginnt Tagebuch zu führen, wie sie es bei ihrem literarischen Vorbild Petschorin in Michail Lermontows Roman Ein Held unserer Zeit gesehen hat. Als sie in der belagerten Stadt allein ist, wird das Tagebuch ihr letzter Freund, dem sie Leid und Freud anvertrauen kann. Sie beobachtet ihre Umwelt, ihre Mitmenschen und nicht zuletzt sich selbst genau und notiert ihre Gedanken und Re­fle­xionen in ihrem Tagebuch. Ihr Stil ist nicht einheitlich. Einerseits schreibt sie die gesprochene Sprache eines jungen Mädchens. Sie weiß, dass sie in russischer Grammatik und Orthografie nicht sicher ist; in der Schule hat sie schlechte Noten. Aber sie hat durchaus literarische Ambitionen, sucht und probiert – das Spektrum reicht von lyrischen romantischen Naturbeschreibungen bis zu pathetischen Gedichten über heldenhafte Rotarmisten. Nicht immer gelingt ihr dies so, wie sie es vermutlich gewünscht hat. Auch die Pro­pa­ganda­sprache färbt auf sie ab, vor allem in den ersten Kriegsmonaten.

3 Heute Hauptstadt der Republik Baschkortostan, eines der russländischen Föderationssubjekte.

4 Aka heißt mit vollem Namen Rosalija Karlowna (oder Asalija Konstantinowna) Krums-Straus, geboren 1866. In der Familie Mu­china wird erzählt, sie sei Engländerin und sei bis 1917 Gouvernante gewesen.

Näheres zur Entdeckung und Veröffentlichung des Tagebuchsab hier.

Die Tagebucheinträge bis einschließlich November 1941 übersetzte Lena Gorelik, ab Dezember 1941 Gero Fedtke.

Die Fußnoten stammen, sofern nicht anders bezeichnet, von den Übersetzern. Sie orientieren sich an den Anmerkungen der Herausgeber der Originalausgabe und ergänzen sie um Informationen für den deutschen Leser.

Lenas Tagebuch

1941

Heute, 22. Mai

Ich bin um fünf Uhr früh ins Bett gegangen, habe die ganze Nacht Literatur gelernt. Heute dann um zehn Uhr aufgestanden und bis um Viertel vor eins wieder die öde Literatur gepaukt. Um Viertel vor eins bin ich zur Schule gelaufen.

Am Eingang sehe ich die Unsrigen stehen: Emma, Tamara, Rosa und Mischa Iljaschew, die haben schon bestanden und sehen ach so glücklich aus. Haben uns viel Glück gewünscht. Ich habe zu Ljusja Karpowa und Wowa Hallo gesagt. Es hatte noch nicht geklingelt, wir warteten in der Halle. In unserer Gruppe waren alle ­unsere Jungs, außer Wowka Kljatschko. Ich fragte Wowa, ob er es geschafft hat, alles zu wiederholen. Er sagte, dass er nicht alles wiederholt hat, ich wollte gern noch irgendwas zu ihm sagen, aber da war er schon bei seinen Jungs.

Es klingelte, wir sind die Treppe hinauf und ins Klassenzimmer gegangen. Alle waren sehr aufgeregt, aber ich war ganz ruhig, weil ich mir sicher war, dass ich durchfallen würde: Die Biografien waren in meinem Kopf durcheinandergeraten, die Daten auch. Außerdem hatte ich manches noch nicht einmal gelesen. Ich muss gerechterweise anmerken, dass ich mir um andere mehr Sorgen gemacht habe als um mich selbst.

Ljusja und ich setzten uns an die vorletzte Bank. Vor uns saßen Ljonja, Jana und in der Mitte Wowka. Das Aufrufen begann. Aber ich dachte mehr an Wowka als an die Prüfung. Nicht dass ich mir Sorgen um ihn gemacht hätte, nein, ich wollte sogar, dass er durchfällt. Ich wollte gerne mit ihm zusammen sein, mich mit ihm unterhalten, seinen Blick spüren und überhaupt ihm so nah wie möglich sein. Wenn er durchgefallen wäre, wäre er traurig und betrübt gewesen, und ich mag es sehr, ihn so zu sehen. Wenn er traurig ist, habe ich das Gefühl, dass er mir nahe ist, dann will ich meine Hand auf seine Schulter legen, ihn trösten, damit er mir in die Augen blickt und mich zärtlich, dankbar anlächelt. Jetzt war er mir auch ganz nah, ich hätte meine Hand ein bisschen ausstrecken und seinen Ellenbogen berühren können, der auf unserer Bank lag. Aber nein, ich traue mich das nicht, er ist so fern, hinter uns sitzen die Mädchen, sie werden meine Geste registrieren, neben ihm sitzen seine Kameraden. Sie werden das bemerken, sich ihren Teil denken, und das wird dann sonderbar, ganz sonderbar. Inwiefern sonderbar? Weiß ich selbst nicht. Ich saß da, die Hände ­unters Kinn gestützt, und beobachtete Wowa so, dass es keiner merkte. Nein, beobachtete ihn eigentlich nicht, sondern schaute ihn einfach nur an. Für mich ist es eine Freude und eine große Erfüllung, seinen Rücken zu betrachten, die Haare, die Ohren, die Nase, den Gesichtsausdruck. Wowa saß, halb zur Seite gedreht, schaute Dimka an, der gerade geprüft wurde, und flüsterte ab und zu etwas Jan, manchmal Ljonja zu. Er hätte sich wenigstens einmal zu mir umdrehen können. Warum flüstert er mit Janka und Ljonja und wechselt vielsagende Blicke mit ihnen, während er mich wie Luft behandelt. Aber ich bin ja nicht wie die: Wowa ist kein Mädchen, ich bin kein Junge. Ich bin ja auch keine Ausnahme, mit den anderen Mädchen wechselt er ja auch keine Blicke. Für eine Minute vergaß ich mich, legte meinen Kopf auf die Bank. Aber als ich wieder zu ihm blickte, o nein, kann das wahr sein, das, wovor ich Angst hatte, da war er, mein lieber Wowka, genauso wie damals im Theater, im selben Anzug, und das Lächeln war auch dasselbe. Meine Schüchternheit war wie weggeblasen, genau, ihn, ja ihn liebe ich mehr als alle anderen, dachte ich, und war gar nicht verlegen wegen dieser Gedanken. Ich habe Ljusjas Heft mit dem Studienplan für Literatur zu mir gezogen und auf den Einband geschrieben: »Wünsche Dir, dass Du mit ›sehr gut‹ bestehst!« Ich hab ihn am Ellenbogen angestoßen und ihm das Gekritzelte hingeschoben. Er hat sich sofort umgedreht und sich anscheinend darüber gefreut, er hat über das ganze Gesicht gestrahlt und mir das Gleiche gewünscht. Ich hab irgendwas Undeutliches gemurmelt und irgendwie den Kopf geschüttelt, ich wollte ihm auf diese Weise zeigen, dass ich sicher bin, dass ich durchfalle.

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