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13 ¾, heimlich verliebt und Stimmungstiefs, die genau dann anklopfen, wenn er es gar nicht gebrauchen kann – für Leon Hertz ist das Leben nicht einfach. Immerhin bekommt er bei seinem Referat zum Thema Tod und Trauer Unterstützung: Der stille Rouven hilft ihm bei seinen Recherchen über ein rätselhaftes Holzkreuz an der Ampel. Leon merkt bald, dass auch Rouven Traurigkeit kennt und sie einiges gemeinsam haben. Aber etwas scheint ihrer Freundschaft im Weg zu stehen … •(K)eine Außenseiter-Geschichte – dieses Jugendbuch ab 12 Jahren erzählt einfühlsam und außergewöhnlich von einem des "gewöhnlichen" Teenagers auf der Suche nach der eigenen Identität •Plädoyer für das Hinsehen und gegen das Wegschauen - Dieses Buch für Freundschaft einzustehen und sich gegen Mobbing zu stellen •Diese Geschichte beschäftigt sich mit dem sensiblen Thema Tod und Trauer. Zugleich ist sie eine Hommage an Toleranz, Akzeptanz und die Vielfalt von Lebenswegen
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Seitenzahl: 216
Veröffentlichungsjahr: 2024
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1. Das Referat
Isabel quiekte. Dabei war ich noch gar nicht zu der Sache mit dem Kopf gekommen.
Als ich dann zu der Sache mit dem Kopf kam, unterbrach mich Frau Redecker sofort. »Leon, das reicht.«
»Aber …«, sagte ich.
»Leon, ich glaube nicht, dass wir all die unappetitlichen Details dieses Unfalls erfahren müssen.« Ein Aufatmen ging durch den Klassenraum.
Ich nickte, sehr langsam.
»Überspring diesen Part doch einfach«, sagte Frau Redecker. »Und mach vielleicht direkt bei dem Kreuz weiter.«
»Na ja.« Ratlos schaute ich in das Heft mit meinen Notizen. Dann drückte ich eine der kleinen Pfeiltasten auf der Fernbedienung des Beamers, um ein paar Bilder zu überspringen, die er noch hätte zeigen sollen.
»Also, deshalb steht da dieses Kreuz«, schloss ich und klappte mein Heft zu.
In der Klasse war es so still wie nach einem Unfall.
Frau Redecker fing sich als Erste. »Na gut. Hat jemand … äh … Fragen an Leon?«
Halt, stopp.
Das war zwar der Anfang von allem, aber das ist ein blöder Anfang. Ich komm da ja rüber wie der total gestörte Geek, der sich nur für Blut und Hirnmatsch interessiert. Das bin ich natürlich nicht. Aber es ist nun mal der Anfang dieser Geschichte, und ja, zugegeben, ein klein bisschen gestört bin ich schon, aber anders. Erklär ich später.
Zuerst möchte ich mich mal kurz vorstellen. Damit ihr wisst, wer dieses Buch hier eigentlich schreibt. Ich hab zwar, ehrlich gesagt, noch nie ein Buch gelesen, wo der Autor sich am Anfang vorstellt, aber hey, es ist mein Buch, also darf ich das.
Ich bin Leon, hallo. Und eigentlich bin ich ganz normal.
Ich bin ganz normale 13¾, bin ein ganz normales Einzelkind, lebe bei meiner Mutter, die ist auch ganz normal, mein Vater kann mich mal, und ich gehe in eine ganz normale Schule. Da sag ich nicht viel. Mein Lieblingsort in der Schule ist draußen zwischen der Turnhalle und dem Schulgarten. Dort, wo sonst niemand ist, dort, wo ich allein sein kann, wenn ich allein sein möchte. Dort, wo mich niemand sieht.
Referate sind nicht mein Ding, sie sind mir egal. Eigentlich. Nur dieses hier war die Ausnahme. Aber keine Sorge, das ist nicht die Geschichte eines vergurkten Referats. Es ist meine Geschichte, aber die ging halt mit einem vergurkten Referat los.
Referat zum Thema Tod und Trauer: Das Holzkreuz an der Ampel
In meinem Referat geht es um dieses Holzkreuz, das ihr auf dem Weg zur Schule vielleicht schon mal gesehen habt. Es steht an der Kreuzung Kottbusser Allee/Brückentalstraße auf der Verkehrsinsel. [Bild zeigen!]
Hier noch mal in groß. Vor zweieinhalb Jahren ist da am 29. September ein Lukas gestorben bei einem Verkehrsunfall.
Und obwohl das so lange her ist, stehen da trotzdem immer frische Blumen und meistens leuchtet auch ein rotes Teelicht.
An einem Laternenpfeiler hängt dieser vergilbte Zettel. [Nächstes Bild zeigen!]
»Zeug*innen gesucht!!!!!!!!
Am 29.9. starb hier Lukas, 23 Jahre alt, bei einem Verkehrsunfall. Er wurde von einem Lkw überrollt, obwohl er Vorfahrt hatte!!!
Die Polizei behauptet, er wäre ohne Licht gefahren! Aber es war 18.30 Uhr! !! Da ist es noch gar nicht dunkel!!! Außerdem ist es in der Stadt doch immer hell!!!!! Wer hat den Unfall beobachtet? ! Zeug*innen melden sich bitte bei [email protected]!!!!!!«
Ich habe auch einen Zeitungsartikel über den Unfall gefunden.
[Nächstes Bild zeigen!]
»Erneut Radfahrer getötet
Am frühen Donnerstagabend kam es erneut zu einem tödlichen Verkehrsunfall auf der Kottbusser Allee. Ein Sattelzug mit Baustoffen erfasste beim Linksabbiegen einen 23-jährigen Radfahrer, der, aus der Brückentalstraße kommend, die Kottbusser Allee überqueren wollte. Die Fahrradampel zeigte grün. Wieso der Lkw-Fahrer ihn übersah, konnte noch nicht ermittelt werden. Zeugen berichteten, der Radfahrer sei mit hoher Geschwindigkeit und ohne Licht gefahren. Zur Zeit des Unfalls hatte die Abenddämmerung eingesetzt. Der Radfahrer erlitt schwere Kopfverletzungen und verstarb noch am Unfallort, der Lkw-Fahrer erlitt einen Schock. Dies ist bereits der 11. Fahrradfahrer, der in diesem Jahr in Berlin zu Tode kam.«
Auf dem nächsten Bild seht ihr das Google-Earth-Bild von der Kreuzung. Ich hab da mal Pfeile reingemalt, wo der Radfahrer langfuhr und wie der Lkw da abbiegen wollte. Zum Unfall muss es da gekommen sein, wo sich die beiden Linien kreuzen.
Ich hab hier auch mal ein Bild von einem Sattelzug gegoogelt. So ein Lkw hat fünf Achsen und zehn Räder. Er ist bis zu 16,5 Meter lang, bis zu 2,6 Meter breit und kann voll beladen 36 Tonnen wiegen. Und weil in der Zeitung ja stand, dass da Baustoffe drauf waren, und die sind ja megaschwer … Das heißt, auf jedem Rad lag ein Gewicht von rund 3,6 Tonnen, also im Durchschnitt.
In der Zeitung stand ja, dass der Radfahrer an Kopfverletzungen gestorben ist.
– Quieken Isabel.
Also versucht euch mal selbst vorzustellen, wenn ein Rad mit 3,6 Tonnen über einen Kopf –
– »Leon, das reicht.« Referat Abbruch. Mayday!
»Na gut. Hat jemand … äh … Fragen an Leon?«
Frau Redecker schaute in die Runde. Und natürlich! Sonst ignorierten mich die anderen in der Klasse, aber kaum hielt ich mal ein Referat, rissen alle die Klappe auf.
»Leon hat gar nichts zum Kreuz gesagt«, blökte Jule als Erste.
»Das ist keine Frage, Jule. Könntest du es bitte als Frage formulieren?«, sagte Frau Redecker.
»Wenn’s sein muss«, erwiderte Jule schnippisch. »Warum hat der Leon gar nichts zum Kreuz gesagt?«
»Ich hab wohl was zum Kreuz gesagt!«, verteidigte ich mich, woraufhin Frau Redecker gleich pädagogisch wurde. »Du hast etwas zu dem Unfall gesagt, Leon, der Anlass für das Kreuz war. Aber unser Thema ist ja die Trauer. Warum stellt man ein Kreuz dort auf, wo jemand gestorben ist? Sonst findet man Kreuze auf dem Friedhof, wie Rouven und Samuel ja letzte Woche sehr eindrucksvoll geschildert haben.«
Ein Stöhnen ging durch den Raum. Das war die langweiligste Ethikstunde ever gewesen. Rouven und Sam sind die beiden Emos in unserer Klasse. Ja, es gibt tatsächlich noch welche. Sie hatten in der letzten Stunde ein Referat über Friedhöfe gehalten. Über Trauerkultur, Blumengestecke, Bilder und Kuscheltiere auf Gräbern und so Zeug, und dann haben sie eine geschlagene halbe Stunde lang Bilder von Grabsteinen gezeigt, und irgendwann fiel selbst Frau Redecker auf, dass die Grabsteine alle von 13- oder 14-Jährigen waren. Von einigen hatten die beiden sogar noch die Todesanzeigen ergoogelt. Keine Ahnung, wie sie das gemacht haben und warum überhaupt! Voll spooky. Die Friedhöfe hatten Rouven und Sam auch nur als Referatsthema bekommen, weil Jule, Nesrin und Frieda beim Thema »Suizid und Prävention« schneller gewesen waren.
So traurig, wie ich oft bin, sollte ich wohl auch so was wie ein Emo sein. Rouven und Sam sind eigentlich auch in Ordnung. Also, wenn sie nicht gerade Referate halten. Sie laufen halt nur immer ganz in Schwarz rum, haben ziemlich lange Haare und gucken ihre Frisur am liebsten von innen an. Ich hab mal versucht, ihre Musik zu hören, aber die mag ich nicht so. Den Look schon, ein bisschen zumindest. Ich hab mir deshalb die Haare schon etwas länger wachsen lassen und trag auch Skinny Jeans. Vielleicht bin ich Emo light. Aber so light, dass selbst Rouven und Sam es noch nicht mitbekommen haben. Irgendwie finde ich das auch nicht schlimm. Ich weiß gar nicht, ob ich irgendwo dazugehören will.
»Vielleicht wird am Unfallort ein Kreuz aufgestellt, weil die Seele dort rausgegangen ist aus dem Körper«, meldete sich Edda. Das fand ich nicht ganz doof.
»Was soll’n das sein?«, maulte Samuel. »Seele.«
»Das ist das, was bei dir schwarz ist«, witzelte der rechte Leon. Er ist immer für einen dummen Spruch gut.
Er ist der rechte Leon, weil wir drei Leons in meiner Klasse sind. Ich glaub, das sagt alles über meine Eltern. Als sie mich bekommen haben, haben sie sich mal eben umgehört, wie man neugeborene Jungs gerade so nennt, und haben mich dann auch so genannt. Tolle Leistung! Leon und Leon haben offenbar genauso einfallslose Eltern und deshalb sind wir zu dritt. Es gibt den »großen Leon« und den »Leon mit den langen Haaren«, die sogar noch nebeneinandersitzen und deshalb auch »der linke und der rechte Leon« genannt werden. Das sorgt aber immer wieder für Verwirrung, weil man nie weiß, von welcher Seite aus man gerade gucken soll, was die beiden Leons auch geschickt ausnutzen. Na ja, und dann gibt es den »dritten Leon«. Das bin ich. Manchmal werde ich sogar so aufgerufen: »Der dritte Leon, bitte.« Geht schon klar.
»Ich fand Leons Thema eigentlich total interessant«, sagte Edda, und ich horchte auf. »Aber irgendwie hat Leon so gar nix draus gemacht, das find ich voll schade.« Sie guckte mitleidig zu mir rüber. Oh Scheiße. Ich wurde sofort rot und starrte die nächsten Minuten angestrengt meinen Tisch an. Die Diskussion ging noch irgendwie weiter. Ich habe nicht mehr zugehört, und kein Leon hat noch was gesagt.
»Na gut, kommen wir zum nächsten Referat«, erlöste mich Frau Redecker irgendwann. »Hao, Lukacz und Celina, seid ihr vorbereitet? Braucht ihr den Beamer?«
Während die drei nach vorne gingen, kam Frau Redecker an meinen Platz und sagte leise: »Kommst du nach der Stunde bitte kurz zu mir?«
Okay, doch keine Erlösung. In diesem Moment war mir so was von klar: Mein ganzes Referat war auch ein einziger Unfall gewesen.
»Du hast ja gehört, was deinen Mitschülerinnen und Mitschülern an deinem Referat gefehlt hat«, sagte Frau Redecker nach der Stunde. »Nimm dir das bitte nicht zu Herzen.« Sie hatte einen megarücksichtsvollen Ton drauf, der klang wie Erkältungssalbe. Irgendwie schienen alle im Lehrerzimmer über mich Bescheid zu wissen.
Ich nickte.
Sie salbte weiter: »Du bist einfach ein bisschen vom Thema abgekommen.«
Ich nickte.
Unsere Referate wurden benotet, als Teil der mündlichen Mitarbeit. Dazu sammelte Frau Redecker sie hinterher ein. Ich könnte mir mit der Abgabe aber noch etwas Zeit lassen, bot sie mir an, könnte noch ein paar Sätze ergänzen. Salb. Oder das Referat später noch einmal halten, wenn ich das wollte und noch etwas Spannendes rausfinden würde. Salb, salb.
Ich nickte.
»Warum steht dort ein Kreuz, wo jemand gestorben ist? Begraben ist der junge Mann … Wie hieß er noch gleich?«
»Lukas«, sagte ich, Frau Redecker hatte nicht aufgepasst.
»Ah ja, also beerdigt ist Lukas ja ganz woanders. Warum zündet hier jemand immer eine Kerze an? Was sind die Motive dahinter?«
Ich nickte, verstand aber nur Bahnhof. Wo jemand gestorben ist, steht ein Kreuz und wo ein Kreuz ist, ist ’ne Kerze nicht weit. Ist doch logisch! »Aber woher soll ich denn wissen, wo das Kreuz herkommt?«
»Tja«, sagte Frau Redecker. »Vielleicht ist das eine viel wichtigere Frage, als was ein Kopf aushält, Leon.«
Die Frage mit dem Kopf war allerdings einfacher zu beantworten.
In der Pause schlich ich mich hinter die Turnhalle. Mir war nach Rennen zumute, aber ich wollte nicht auffallen. Nicht noch mehr. Ich hatte eh schon das Gefühl, dass mich alle anstarrten, als ich auf den Schulhof kam. Selbst Rouven guckte zu mir rüber, und der guckte in der Pause sonst nur seine Schuhe an, wenn er neben Sam rumstand wie dessen Schatten.
Ich heulte nicht. Heute nicht. Ich starrte nur sinnlos in die Bäume am Schulgarten. Sie wirkten größer als sonst, aber wahrscheinlich nur, weil ich mir gerade so klein vorkam.
Ich soll mir das nicht zu Herzen nehmen. Was fürn Scheißspruch! Nix nahm ich mir hier zu Herzen. Ein Referat in Ethik. Das nahm man sich doch nicht zu Herzen! Das dumme Quieken von Isabel – nahm man sich doch nicht zu Herzen! So was war meinem Herz schnurzegal. Dass Edda mein Referat vielleicht sogar interessant gefunden hätte, wenn ich’s nicht vergeigt hätte – meinem Herz … na ja, nicht ganz so egal. Dass meine Lehrerin meinte, mich besonders rücksichtsvoll behandeln zu müssen – meinem Herz auch nicht egal. Denn ich will das nicht! Ich will keine Rücksicht. Ich will einfach nur normal sein.
2. Die E-Mail
Von: [email protected]
Seit einer Stunde hatte ich nicht mehr getippt als die Adresszeile der E-Mail. Ich wusste einfach nicht, wie ich anfangen sollte. Aber wenn jemand was über das Kreuz an der Straße wusste, dann doch wohl der, der diesen Zettel da hingehängt und tausendmal mit Tesafilm überzogen hatte, damit er wasserfest war. Oder die, die das gemacht hat. Ich weiß ja nicht mal das Geschlecht von dem. Oder der. Von der »Person«. Das hatte Frau Redecker gesagt, als sie mir noch den Tipp gab, ich könnte da doch mal hinmailen.
Ich glaub, ich hatte den abfotografierten Zettel schon mindestens zwanzigmal gelesen. Wenn ich das Bild auf meinem Handy groß zog, konnte ich sogar die einzelnen Tesafilmstreifen zählen: 14 waren’s. Die hatten den Wisch über Jahre an der Laterne festgeschweißt.
Ein halbes A4-Blatt quer, mit dem Computer geschrieben. Times New Roman in Fettdruck. Schriftgröße 14 oder 16. Zeugen*innen gesucht!!!!!!!! Es waren verdammt viele Ausrufezeichen in dem Text. So viele, dass ich sicherheitshalber gleich zweimal nachgezählt hab: dreißig. Meine Güte, wer verwendete dreißig Ausrufezeichen in so einem kurzen Aushang? Und wie schrieb man so jemanden an?
Liebe Person ging ja nicht, da würde die Person ja gleich denken: Wie doof ist der denn! Und wahrscheinlich dachte sie das dann mit ganz vielen Ausrufezeichen und würde meine E-Mail nicht beantworten. Das wollte ich nicht riskieren. Diese E-Mailadresse war meine einzige Spur, da musste ich äußerst sensibel vorgehen! Jetzt klang ich schon wie ein Fernsehkommissar. Leon ermittelt, SOKO Brückentalstraße. CSI: Holzkreuz.
Ich hab meine Mutter gefragt, wie das Fachwort dafür heißt, wenn jemand tot ist und man übrig bleibt. Ich wusste, es gab da ein Wort für, aber es fiel mir nicht ein. Hat man ja mit 13 auch nicht oft mit zu tun.
»Witwe?«, hat sie gefragt und etwas komisch geguckt. Warum ich das denn wissen wollte.
»Für die Schule«, hab ich gesagt. »In Ethik machen wir gerade Tod.« Das hatte ich ihr zwar neulich schon mal gesagt, aber meine Mutter hat’s nicht so mit Sachen merken. Vor allem, wenn ich sie erzähle.
»Na, ob das das richtige Thema ist für 13-Jährige«, meinte sie und schüttelte ein wenig den Kopf dabei.
»Es sterben auch Leute in meinem Alter«, sagte ich. Meine Mutter guckte daraufhin etwas besorgt. Ich musste an Rouvens und Samuels Grabsteine denken. Ich hasse es, wenn meine Mutter besorgt guckt.
»Ich glaube, ›Witwe‹ passt nicht«, sagte ich deshalb schnell. »Dazu muss man doch verheiratet sein. Da gibt’s doch noch ein anderes Wort. So ein Fachwort. In den Nachrichten sagen sie das manchmal.«
»Ach, du meinst ›Hinterbliebene‹«, sagte meine Mutter.
»Danke«, rief ich und war schon wieder auf dem Weg zurück in mein Zimmer.
»Hast du deine Tablette genommen?«, rief meine Mutter in den Flur.
»’türlich«, rief ich zurück und klappte die Tür hinter mir zu.
Sehr geehrter Hinterbliebener (oder Hinterbliebene, falls Sie eine Frau sind)
Mann, das klang megabescheuert. Wer auch immer so eine Mail bekam, musste mich für total bekloppt halten oder für einen lebensunfähigen Nerd mit dicker Hornbrille. Delete. Delete. Delete. Hätt ich mir den Besorgnisausflug zu Mama auch sparen können.
Verdammt, wie redete man jemanden an, über den man nix weiß? Wie machte ich das denn sonst? Was sagte ich denn, wenn ich in der Schule ins Sekretariat ging und dort was wollte? Da kam ich doch nicht rein mit: »Liebe Hinterbliebene, kann ich mal ’nen Beamer holen für die 8c?« Na gut, blödes Beispiel. Unsere Sekretärin heißt Frau Stratmann, von der kenne ich ja den Namen, und bei ihr war, glaube ich, auch niemand gestorben. Aber wenn da plötzlich nicht Frau Stratmann säße, würde ich doch einfach »Hallo« oder »Guten Tag« sagen.
Oh Mann, war ich blöd! Da hätt ich auch gleich drauf kommen können!
Der Rest ging dann ganz einfach:
Guten Tag,
mein Name ist Leon Hertz und ich habe Ihren Aushang an der Kreuzung gesehen.
Ich halte ein Referat in der Schule zum Thema Tod und ich wollte Sie fragen, wieso an der Kreuzung das Kreuz immer so gepflegt wird. Meine Lehrerin findet, das ist eine interessante Frage, und ich finde das auch. Stellen Sie da immer frische Blumen hin und so? Wenn ja, warum? Bitte antworten Sie mir bald, wir haben am Freitag wieder Ethik.
Mit freundlichen Grüßen
Leon Hertz
PS: Es tut mir leid, dass ich kein Unfallzeuge bin.
Den letzten Satz schrieb ich kurz vorm Abschicken noch dazu. Weil ich dachte, wenn man so einen Aushang machte, um Unfallzeugen zu suchen, war man ja sicher enttäuscht, wenn einen dann nur so ein neugieriger Schüler anschrieb. Da war es sicher gut, etwas Verständnis zu zeigen. Wegen gemeinsamer Wellenlänge oder so. Ich hatte sogar kurz überlegt, noch ein paar Ausrufezeichen einzufügen, aber ich wusste nicht wohin und wär mir dabei auch irgendwie blöd vorgekommen. Ausrufezeichen sind nicht so meins.
3. Keine Spur
Keine Antwort von der Ausrufezeichenperson. Alle halbe Stunde habe ich meine Mails gecheckt. Zumindest bis ich schlafen gegangen bin.
Am nächsten Morgen auch noch nicht. Aber auch kein Mailer-Daemon. Angekommen war die Mail also. Wieso schrieb die Person nicht zurück?
»Wie geht es dir heute?«, fragte Frau Menke. Wie jedes Mal.
»Hm«, sagte ich. »Okay.« Wie jedes Mal.
Es war Donnerstag, und wie jeden Donnerstag hatte ich meinen Termin bei Frau Menke. Punkt 16:00 Uhr ging ich rein und zog meine Chucks aus, angeblich wegen Teppich. Dabei liegt bei Frau Menke kaum Teppich, außer in der Spielecke, in der wir natürlich nicht sind. Ich darf in einem Sessel sitzen, der allerdings quietschgrün ist. Aber na ja, wenn man drinsitzt, sieht man ihn ja nicht mehr. Ich sah auf meine Socken und versuchte mich zu erinnern, ob ich heute Morgen eigentlich frische angezogen oder die genommen hatte, die noch vorm Bett lagen. Ich würd das in ihrem Job ja nicht machen, all die gammeligen Teenager zwingen, ihre verseuchten Sneaker auszuziehen. Aber vielleicht steht sie ja auf den Geruch, lol. Wär sicher nicht die erste Seelenklempnerin, die selbst einen an der Klatsche hat.
»In der Schule alles klar?«, fragte Frau Menke.
»Ja«, sagte ich. »Auch okay.«
»Keine Highlights?«
Highlights? Hallo, wir redeten hier von Schule! Was erwartete Frau Menke?
»Hab ’n Referat gehalten.«
»Und wie ist es gelaufen?«
»Nicht so gut.«
»Willst du’s mir erzählen?«
Nee, wollte ich eigentlich nicht. Aber ich wusste auch, wenn ich nicht von der Schule erzählte, fragte sie womöglich wieder nach meinem Vater. Und wenn ich über irgendwas noch ungerner spreche als über Schule, dann über alles, was mit meinem blöden Vater zu tun hat.
Also erzählte ich von meinem misslungenen Referat. Frau Menkes Augen wurden dabei immer größer, so wie bei diesen komischen Miniaffen. Kennt ihr die, die ihre Augen so weit aufreißen können, dass man denkt, gleich macht’s plup und die fallen raus und werden vom nächsten Chamäleon aufgelutscht? So guckte Frau Menke.
Das klingt ein bisschen so, als fände ich Frau Menke doof. Ist sie aber eigentlich gar nicht. Sie ist schon okay. Ich meine, ich hab mir nicht ausgesucht, zu ihr zu gehen. Also irgendwie schon, ich durfte immerhin Ja oder Nein sagen, als meine Mutter mich fragte, ob ich weiter hingehen wollte, nachdem ich ein paarmal da war. Und da ich keinen Bock hatte, wieder woanders hingeschleppt zu werden und ich Frau Menke auch ganz nett fand, obwohl man die Schuhe ausziehen musste, hab ich Ja gesagt. Hätte ich Nein gesagt, säße ich jetzt bei jemand anders und müsste da vielleicht auch die Schuhe ausziehen. Jedenfalls meinte die Kinderärztin, es wäre gut, wenn ich jemanden zum Reden hätte. Dabei rede ich gar nicht so gern.
Meine Mutter ist jetzt doppelt froh. Erstens hab ich jemanden, bei dem ich reden muss. Und zweitens muss sie dann nicht mit mir reden. Na gut, ich bin ja auch froh, dass ich mich nicht mit meiner Mutter unterhalten muss. Ich würd auch nie mit meiner Mutter über die Dinge reden, über die ich mich mit Frau Menke unterhalte. Zum Beispiel über sie. Haha. (Meine Mutter ist übrigens auch okay. Anders als meinen Vater mag ich sie schon. Meistens jedenfalls. Klammer zu.)
Ich war total froh, dass es nie in die Spielecke ging. Davor hatte ich am meisten Angst, als ich das erste Mal da war vor ’nem Jahr oder so. Einmal hat Frau Menke es mit Malen probiert. Da hatte sie gefragt, ob ich Lust hätte, aufzumalen, wie ich mich fühle. Ich hab ihr das weiße Blatt zurückgegeben und gesagt: »Leer. So fühle ich mich.« Das hat gesessen. Ich musste nie wieder malen.
Später meinte sie, ich dürfte auch aufschreiben, was mich beschäftigt, und wenn ich wollte, könnten wir dann darüber sprechen. Das ging jedenfalls besser als Malen. Eigentlich hat Frau Menke sich das selbst eingebrockt, dass sie hier grad auftaucht. Tja, selber schuld, sag ich mal. Denn wisst ihr was? Im Grunde hat sie mich auf die Idee gebracht, meine Geschichte hier mal aufzuschreiben.
Ein paar Mal war ich echt froh, dass ich ihr jeden Mist erzählen konnte, vor allem wenn’s mir richtig dreckig ging. Und manchmal geht’s mir richtig dreckig. Dazu vielleicht später mehr.
Aber es geht mir nicht immer so, zum Glück, und dann nerven die Termine mit Frau Menke. Dann ist das immer nur Palaver und zieht sich wie ein paar Tage alter Kaugummi, den man aus der Schuhsohle knibbeln will.
»Und du hast dir das Thema selbst ausgesucht?«, fragte Frau Menke.
»Ja.« Ich war tatsächlich etwas stolz, dass ich da mal »was Eigenes eingebracht« hatte, wie Frau Redecker es ausgedrückt hatte.
»Das ist ein ungewöhnliches Thema für ein Referat«, sagte Frau Menke. »Wieso, Leon, interessiert dich dieses eine Kreuz so?«
»Weiß nicht … Interessiert mich halt.«
»Das ist noch keine Begründung.«
»Ich bin halt neugierig.« Ich sah schon an Frau Menkes Gesicht: Auch das reichte ihr nicht.
»Ich bin da immer wieder vorbeigefahren und hab mir auch nie was Besonderes dazu gedacht. Da ist halt jemand gestorben. So what? Aber irgendwann hat es plötzlich klick gemacht, und ich dachte: Verdammt! Da ist jemand gestorben!«
»Kannst du dich erinnern, wie es dir in diesem Moment ging?«
Ich überlegte. »Na ja, das war an einem dieser eher schlechteren Tage. In der Schule hatte ich mich hinter die Turnhalle verzogen …«
»So schlimm?«
Ich nickte. Wisst ihr ja schon, weiß auch Frau Menke, und das ist das Schöne, wenn man mit ihr spricht: Ich sag nur »Turnhalle« und sie weiß Bescheid. Es gibt Momente, da geht’s mir so elend, da will ich lieber nicht gesehen werden. Das hat dann überhaupt nichts mit »zu Herzen nehmen« zu tun, da sackt mein Herz einfach weg und ich steh rum wie ’ne Hülle.
»Und dann hatte ich mich auf dem Weg nach Hause auch noch mit dem Fahrrad gemault.«
»Gemault?«
»Ja, aufs Maul gelegt.«
»Oh«, sagte Frau Menke.
»Ja, war aber nix passiert.«
Das war keine Lüge, aber auch nur die halbe Wahrheit. Ein Taxi hatte mich fast umgenietet.
Ehrlich gesagt weiß ich auch nicht mehr, wie genau es passierte. Es war mir wirklich nicht gut gegangen an dem Tag, mir standen Tränen in den Augen und ich wollte einfach nur nach Hause in mein Zimmer, in mein Bett, unter die Bettdecke. Plötzlich hupte ein Auto wie irre. Ich ging voll in die Eisen, mein Vorderrad rutschte weg und zack, lag ich auch schon auf dem Asphalt, einen halben Meter vor der Stoßstange eines Taxis. Ich glotzte hoch, die Ampel war rot, aber ich war mir sicher, dass ich bei Grün gefahren war, hundertpro. Oder zumindest noch fast Grün. Glaube ich. Der Taxifahrer ließ die Scheibe runter und brüllte mich an, ich stand auf und schob mich und mein Rad auf die Verkehrsinsel. Mein Herz wummerte, das Taxi gab wütend Gas und rauschte davon. Und ich dachte: Tja, fast wär’s das gewesen. Dann hätt ich’s hinter mir gehabt.
»Und in diesem Moment fielen mir die Blumen am Kreuz auf«, erzählte ich Frau Menke. »Die stehen da ständig. Und es brennt immer eine Kerze. Solche Dinge fallen ja nicht einfach vom Himmel. Das hat mich völlig fertiggemacht.«
Und um ein Haar hätt man ein zweites Kreuz danebenstellen können. Wer hätte das wohl gemacht für mich?
»Soll das heißen …«, Frau Menke sprach leise und sehr gedehnt, »… du spürtest … die Traurigkeit … die von diesem Ort … ausging?«
»Hm. Ja, kann sein.«
»Wann war das?«
»Vor … zwei, drei Monaten oder so.«
»Das hättest du ruhig hier erzählen können. Dafür bin ich da.«
»Ja«, murmelte ich. »Ich weiß.«
Frau Menke überlegte.
»Und seitdem lässt dich das nicht mehr los?« Ihre Stimme klang eine Spur zu verwundert, fand ich.
»Sie finden das komisch, oder? Sie interessiert das mit dem Kreuz und den Blumen, wo jemand gestorben ist, genauso wenig wie alle anderen!«
Jetzt guckte Frau Menke seltsam. Vielleicht ertappt. Ha!
»Ich habe, ehrlich gesagt, einfach noch nie so richtig darüber nachgedacht.«
»Eben. Weil es Sie nicht interessiert!«
Frau Menke guckte betreten. Das fand ich gut. Normalerweise war ich es, der hier irgendwann mal betreten guckte.
»Viele Erwachsene sehen das nicht. Und das finde ich …«, ich suchte nach dem richtigen Wort, »… komisch. Nein, falsch … eher … verdächtig.«
Frau Menke machte wieder dieses Ding mit den großen Augen.
»Verdächtig?«
»Hm … ist vielleicht doch nicht das richtige Wort. Ich meine, da ist jemand gestorben. Der war noch ganz schön jung. Wenn ich einen Bruder hätte …« Da musste ich kurz schlucken. Lieber schnell weiter. »Dann könnte das mein großer Bruder sein … Gewesen sein, meine ich.«
Frau Menke nickte.
»Und es scheint keinen Arsch zu interessieren! Da fahren zigtausend Leute im Auto vorbei. Daneben ist ein U-Bahn-Eingang. Da laufen tausend Leute die Stunde lang. Und irgendwie guckt niemand hin. Und dann gehen sie nach Hause und gucken einen Krimi nach’m andern und können gar nicht genug Tote kriegen!«
Frau Menke nickte.
»Aber das sieht irgendwie niemand. Das ist doch … seltsam, oder?«
»Mhm«, machte Frau Menke.
Wir schwiegen uns einen Moment lang an. Am Anfang hat mich dieses Angeschweige immer voll fertiggemacht. Inzwischen weiß ich, das hat nix zu bedeuten. Wir sind dann wie beim Netflixen kurz am Zwischenspeichern.
»Leon, warum wühlt dich das gerade so auf?«
»Weil ich das Referat richtig gut machen wollte und dann voll vergeigt habe.«
»Na ja, es ist nur ein Referat in Ethik. Wen kümmert’s?«, versuchte es Frau Menke auf die Kumpeltour.