Leonce und Lena - Georg Büchner - E-Book

Leonce und Lena E-Book

Georg Büchner

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Beschreibung

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. »Mein Leben gähnt mich an, wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus«, sagt Prinz Leonce. Als sein Vater ihn dann auch noch mit Lena verheiraten will, die er noch nie gesehen hat, flieht er aus dem absolutistischen Miniaturstaat. Unterwegs trifft er Lena, die auch auf der Flucht ist, und plötzlich ist nichts mehr, wie es war… Eine Politsatire voller Wortwitz, ein Drama mit absurden Zügen und zugleich eine zarte, verträumte Liebesromanze.

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Georg Büchner

Leonce und Lena

Ein Lustspiel

Drama/en

Fischer e-books

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Leonce und Lena

Ein Lustspiel

Vorrede

Alfieri: ›E la fama?‹

Gozzi: ›E la fame?‹

Personen

KÖNIG PETER vom Reiche Popo

PRINZ LEONCE, sein Sohn, verlobt mit

PRINZESSIN LENA vom Reiche Pipi

VALERIO

DIE GOUVERNANTE

DER HOFMEISTER

DER CEREMONIENMEISTER

DER PRÄSIDENT DES STAATSRATHS

DER HOFPREDIGER

DER LANDRATH

DER SCHULMEISTER

ROSETTA

Bediente, Staatsräthe, Bauern etc.

Erster Act

O wär’ ich doch ein Narr!

Mein Ehrgeiz geht auf eine bunte Jacke.

Wie es Euch gefällt.

Erste Szene

EIN GARTEN

Leonce halb ruhend auf einer Bank. Der Hofmeister.

LEONCE

Mein Herr, was wollen Sie von mir? Mich auf meinen Beruf vorbereiten? Ich habe alle Hände voll zu thun, ich weiß mir vor Arbeit nicht zu helfen. Sehen Sie, erst habe ich auf den Stein hier dreihundert fünf und sechzig Mal hintereinander zu spucken. Haben Sie das noch nicht probirt? Thun Sie es, es gewährt eine ganz eigne Unterhaltung. Dann – sehen Sie diese Hand voll Sand? – er nimmt Sand auf wirft ihn in die Höhe und fängt ihn mit dem Rücken der Hand wieder auf – jetzt werf’ ich sie in die Höhe. Wollen wir wetten? Wieviel Körnchen hab’ ich jetzt auf dem Handrücken? Grad oder ungrad? – Wie? Sie wollen nicht wetten? Sind Sie ein Heide? Glauben Sie an Gott? Ich wette gewöhnlich mit mir selbst und kann es tagelang so treiben. Wenn Sie einen Menschen aufzutreiben wissen, der Lust hätte [als] mit mir zu wetten, so werden Sie mich sehr verbinden. Dann – habe ich nachzudenken, wie es wohl angehn mag, daß ich mir einmal auf den Kopf sehe. – O wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte! Das ist eins von meinen Idealen. [Mir wäre geholfen.] Und dann – und dann noch unendlich Viel der Art. – Bin ich ein Müßiggänger? Habe ich keine Beschäftigung? – Ja es ist traurig …

HOFMEISTER

Sehr traurig, Eu[er] Hoheit.

LEONCE

Daß die Wolken schon seit drei Wochen von Westen nach Osten ziehen. Es macht mich ganz melancholisch.

HOFMEISTER

Eine sehr gegründete Melancholie.

LEONCE

Mensch, warum widersprechen Sie mir nicht? Sie [sind pressirt,] nicht wahr? Es ist mir leid, daß ich Sie so lange aufgehalten habe. Der Hofmeister entfernt sich mit einer tiefen Verbeugung. Mein Herr, ich gratulire Ihnen zu der schönen Parenthese, die Ihre Beine machen, wenn Sie sich verbeugen.

LEONCE allein, streckt sich auf der Bank aus

Die Bienen sitzen so träg an den Blumen, und der Sonnenschein liegt so faul auf dem Boden. Es krassirt ein entsetzlicher Müßiggang. – Müßiggang ist aller Laster Anfang. – Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studiren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheirathen und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich [an der] Langeweile und – und das ist der Humor davon – Alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken warum, und meinen Gott weiß was [dabei]. Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe, diese Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im Grunde nichts als raffinirte Müßiggänger. – Warum muß ich es grade wissen? Warum kann ich mir nicht wichtig werden und der armen Puppe einen Frack anziehen und einen Regenschirm in die Hand geben, daß sie sehr rechtlich und sehr nützlich und sehr moralisch würde? – Der Mann, der eben von mir ging, ich beneidete ihn, ich hätte ihn aus Neid prügeln mögen. O wer einmal jemand Anders sein könnte! Nur ’ne Minute lang. –

Valerio, [halb trunken, kommt gelaufen.]

LEONCE

Wie der Mensch läuft! Wenn ich nur etwas unter der Sonne wüßte, was mich noch könnte laufen machen.

VALERIO stellt sich dicht vor den Prinzen, legt den Finger an die Nase und sieht ihn starr an

Ja!

LEONCE eben so

Richtig!

VALERIO

Haben Sie mich begriffen?

LEONCE

Vollkommen.

VALERIO

Nun, so wollen wir von etwas Anderm reden. Er legt sich ins Gras. Ich werde mich indessen in das Gras legen und meine Nase oben zwischen den Halmen herausblühen lassen und romantische Empfindungen beziehen, wenn die Bienen und Schmetterlinge sich darauf wiegen, wie auf einer Rose.

LEONCE

Aber Bester, schnaufen Sie nicht so stark, oder die Bienen und Schmetterlinge müssen verhungern über den ungeheuren Prisen, die Sie aus den Blumen ziehen.

VALERIO

Ach Herr, was ich ein Gefühl für die Natur habe! Das Gras steht so schön, daß man ein Ochs sein möchte, um es fressen zu können, und dann wieder ein Mensch, um den Ochsen zu [fressen,] der solches Gras gefressen.

LEONCE

Unglücklicher, Sie scheinen auch an Idealen zu laboriren.

VALERIO

Es ist ein Jammer. Man kann keinen Kirchthurm herunterspringen, ohne den Hals zu brechen. Man kann keine vier Pfund Kirschen mit den Steinen essen, ohne Leibweh zu kriegen. Seht, Herr, ich könnte mich in eine Ecke setzen und singen vom Abend bis zum Morgen: »Hei, da sitzt e Fleig an der Wand! Fleig an der Wand! Fleig an der Wand!« und so fort bis zum Ende meines Lebens.

LEONCE

Halt’s Maul mit deinem Lied, man könnte darüber ein Narr werden.

VALERIO

So wäre man doch etwas. Ein Narr! Ein Narr! Wer will mir seine Narrheit gegen meine Vernunft verhandeln? Ha, ich bin Alexander der Große! Wie mir die Sonne eine goldne Krone in die Haare scheint, wie meine Uniform blitzt! Herr Generalissimus Heupferd, lassen Sie die Truppen anrücken! Herr Finanzminister Kreuzspinne, ich brauche Geld! Liebe Hofdame Libelle, was macht meine theure Gemahlin Bohnenstange? Ach bester Herr Leibmedicus Cantharide, ich bin um einen Erbprinzen verlegen. Und zu diesen köstlichen Phantasieen bekommt man gute Suppe, gutes Fleisch, gutes Brod, ein gutes Bett und das Haar umsonst geschoren – im Narrenhaus nämlich –, während ich mit meiner gesunden Vernunft mich höchstens noch zur Beförderung der Reife auf einen Kirschbaum verdingen könnte, um – nun? – um?

LEONCE

Um die Kirschen durch die Löcher in deinen Hosen schamroth zu machen! Aber Edelster, dein Handwerk, deine Profession, dein Gewerbe, dein Stand, deine Kunst?

VALERIO mit Würde

Herr, ich habe die große Beschäftigung, müßig zu gehen, ich habe eine ungemeine Fertigkeit im Nichtsthun, ich besitze eine ungeheure Ausdauer in der Faulheit. Keine Schwiele schändet meine Hände, der Boden hat noch keinen Tropfen von meiner Stirne getrunken, ich bin noch Jungfrau in der Arbeit, und wenn es mir nicht der Mühe zu viel wäre, würde ich mir die Mühe nehmen, Ihnen diese Verdienste weitläufiger auseinanderzusetzen.

LEONCE mit komischem Enthusiasmus

Komm an meine Brust! Bist du einer von den Göttlichen, welche mühelos mit reiner Stirne durch den Schweiß und Staub über die Heerstraße des Lebens wandeln, und mit glänzenden Sohlen und blühenden Leibern gleich seligen Göttern in den Olympus treten? Komm! Komm!

VALERIO singt im Abgehen

Hei! da sitzt e Fleig an der Wand! Fleig an der Wand! Fleig an der Wand! Beide Arm in Arm ab.

Zweite Scene

EIN ZIMMER

König Peter wird von zwei Kammerdienern angekleidet.

PETER während er angekleidet wird. DER MENSCH MUSS DENKEN UND ICH MUSS FÜR MEINE UNTERTHANEN DENKEN, DENN SIE DENKEN NICHT, SIE DENKEN NICHT. – DIE SUBSTANZ IST DAS ›AN SICH‹, DAS BIN ICH. Er läuft [fast nackt] im Zimmer herum

Begriffen? An sich ist an sich, versteht ihr? Jetzt kommen meine Attribute, Modificationen, Affectionen und Accidenzien, wo [ist mein Hemd, meine Hose?] – Halt, [pfui!] der freie Wille steht [davorn] ganz offen. Wo ist die Moral, wo sind die Manschetten? Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung, es sind zwei Knöpfe zuviel zugeknöpft, die Dose steckt in der rechten Tasche. Mein ganzes System ist ruinirt. – H[a,] was bedeutet der Knopf im Schnupftuch? Kerl, was bedeutet der Knopf, an was wollte ich mich erinnern?

ERSTER KAMMERDIENER

Als Eure Majestät diesen Knopf in Ihr Schnupftuch zu knüpfen geruhten, so wollten Sie …

[PETER

] Nun?

ERSTER KAMMERDIENER

Sich an Etwas erinnern.

PETER

Eine verwickelte Antwort! – Ei! Nun [an] was meint Er?

ZWEITER KAMMERDIENER

Eure Majestät wollten sich an Etwas erinnern, als Sie diesen Knopf in Ihr Schnupftuch zu knüpfen geruhten.

PETER läuft auf und ab

Was? Was? Die Menschen machen mich confus, ich bin in der größten Verwirrung. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen.

Ein Diener tritt auf.

DIENER

Eure Majestät, der Staatsrath ist versammelt.

PETER freudig

Ja, das ist’s, das ist’s. – [Ich wollte mich an mein Volk erinnern!] Kommen Sie meine Herren! Gehn Sie symmetrisch. Ist es nicht sehr heiß? Nehmen Sie doch auch Ihre Schnupftücher und wischen Sie sich das Gesicht. Ich bin immer so in Verlegenheit, wenn ich öffentlich sprechen soll. Alle ab.

König Peter. Der Staatsrath.

PETER

Meine Lieben und Getreuen, ich wollte euch hiermit kund und zu wissen thun, kund und zu wissen thun – denn entweder verheirathet sich mein Sohn, oder nicht, legt den Finger an die Nase entweder, oder – ihr versteht mich doch? Ein Drittes gibt es nicht. Der Mensch muß denken. Steht eine Zeit lang sinnend: Wenn ich so laut rede, so weiß ich nicht wer es eigentlich ist, ich oder ein Anderer, das ängstigt mich. Nach langem Besinnen: