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Die spannende Autobiografie des weltweit führenden Trauma-Therapeuten
Diese bemerkenswerte Autobiographie enthüllt die innere Geschichte eines herausragenden Menschen, der die Art und Weise, wie Psycholog*innen, Ärzt*innen und Heiler*innen die Wunden von Trauma und Missbrauch verstehen und behandeln, grundlegend revolutioniert hat. Der renommierte Trauma-Therapeut Peter A. Levine half mit dem von ihm entwickelten Ansatz Somatic Experiencing (SE) Tausenden von Menschen, bevor er Jahre später damit sein eigenes Trauma auflösen konnte.
Peter A. Levine beschreibt die traumatischen Erfahrungen seiner Kindheit, erzählt von seiner Heilung dieses schweren Kindheitstraumas und bietet tiefe Einblicke in die Entwicklung seines innovativen Ansatzes zur Trauma-Heilung. Er lässt uns teilhaben an seiner inneren Erfahrung, durch Somatic Experiencing angeleitet worden zu sein, seine traumatischen Wunden zu erforschen und zu heilen. Levine gewährt zudem Einblick in seine Ausbildung und seinen Werdegang, berichtet von Begegnungen mit ihn prägenden Persönlichkeiten und teilt seine bisweilen geheimnisvollen und unerwarteten Träume und Visionen, die ihn durch sein Lebenswerk geführt haben.
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Seitenzahl: 301
Das Buch
Diese bemerkenswerte Autobiographie enthüllt die innere Geschichte eines herausragenden Menschen, der die Art und Weise, wie Psycholog*innen, Ärzt*innen und Heiler*innen die Wunden von Trauma und Missbrauch verstehen und behandeln, grundlegend revolutioniert hat. Der renommierte Trauma-Therapeut Peter A. Levine half mit der von ihm entwickelten Methode Somatic Experiencing (SE) Tausenden von Menschen, bevor er Jahre später mithilfe dieses Ansatzes sein eigenes Trauma auflösen konnte.
Peter A. Levine beschreibt die traumatischen Erfahrungen seiner Kindheit, erzählt von seiner Heilung dieses schweren Kindheitstraumas und bietet tiefe Einblicke in die Entwicklung seiner innovativen Methode zur Trauma-Heilung. Er lässt uns teilhaben an seiner inneren Erfahrung, durch Somatic Experiencing angeleitet worden zu sein, seine traumatischen Wunden zu erforschen und zu heilen. Levine gewährt zudem Einblick in seine Ausbildung und seinen Werdegang, berichtet von Begegnungen mit ihn prägenden Persönlichkeiten und teilt seine bisweilen geheimnisvollen und unerwarteten Träume und Visionen, die ihn durch sein Lebenswerk geführt haben.
Der Autor
Dr. Peter A. Levine, geboren 1942, Biologe, Physiker und Psychologe, ist einer der international anerkanntesten Trauma-Therapeuten. Seine Methode Somatic Experiencing®, ein ganzheitlicher Ansatz zur Trauma-Heilung, unterrichtet er weltweit. Er wurde u. a. mit dem Lifetime Achievement Award der amerikanischen Vereinigung der Körperpsychotherapeuten ausgezeichnet und ist Autor vieler erfolgreicher Bücher mit weltweit über einer Million verkaufter Exemplare.
www.somaticexperiencing.com
Peter A. Levine
Lernen, den Tiger zu reiten
Die Autobiographie des wegweisenden Trauma-Experten
Aus dem Amerikanischen von Ursula Bischoff
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »An Autobiography Of Trauma. A Healing Journey« bei Park Street Press, a division of Inner Traditions International, Rochester/Vermont, USA.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © 2024 by Peter A. Levine
Published by Arrangement with Inner Traditions International LTD., Rochester, VT 05767 USA
Copyright © 2024 für die deutsche Ausgabe by Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München, nach einer Originalvorlage von Park Street Press
Coverdesign: Aaron Davis
Creative Director: Inner Traditions International
Innenillustration Sonne: © roomoftunes / stock.adobe.com
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-32095-9V001
www.koesel.de
Dieses Buch ist den zwei wichtigsten Stützpfeilern meiner Reise gewidmet.
Laura Regalbuto, deren unerschütterliche redaktionelle Führung mir bei diesem abenteuerlichen Vorhaben als Leitstern diente. Die scharfsinnigen Herausforderungen, die sie mir beim Aufzeigen von Widersprüchen oder Unklarheiten in meinen Gedankengängen stellte, waren unverzichtbar.
Und meinem Freund Butch Schuman, der unermüdlich Hilfsorganisationen unterstützte, die sich für die Heilung traumatisierter Kinder einsetzen. Er trug dazu bei, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Inhalt
Vorwort: Warum ich dieses Buch geschrieben habe
1 Geboren in einer Welt der Gewalt
2 Heilung mit Wissenschaft und Schamanismus
3 Träume weisen uns den Weg
4 Verborgene Tränen: ein psychedelischer Auftakt
5 Die Wunden des Verrats
6 Pouncer, der Dingo-Mischling
7 Sexuelles Erwachen, verspätet
8 Viele Kulturen, eine Menschheit
9 Die vier wichtigsten Frauen in meinem Leben
10 Die vier wichtigsten Männer in meinem Leben
11 Reflexionen eines nichts ahnenden Propheten
12 Mein Sterben leben
Anhang
Anmerkungen
Über Somatic Experiencing (SE) ®
Literaturempfehlungen
Weitere Bücher von Peter A. Levine
Vorwort: Warum ich dieses Buch geschrieben habe
Obwohl ich viel Zeit im Blickpunkt der Öffentlichkeit verbracht habe, können diejenigen, die mich gut kennen, bestätigen, dass ich normalerweise ein zurückhaltender Mensch bin und bisweilen sogar unbeholfen wirke. Da ich außerdem großen Wert auf meine Privatsphäre lege, zögere ich oft, ins Rampenlicht zu treten oder die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. In Anbetracht der Entscheidung, dieses Buch zu schreiben und zahlreiche intime Einzelheiten meines Lebens preiszugeben, fühlte ich mich ungeschützt und verletzlich. Noch belastender war der Gedanke, dass es früher einmal sowohl für mich selbst als auch für meine Herkunftsfamilie lebensbedrohlich gewesen wäre, mich in irgendeiner Form auffällig zu verhalten; auf die Gründe gehe ich in Kürze näher ein. Deshalb hatte ich seit frühester Kindheit Angst, aus der Masse herauszustechen oder Verdacht zu erregen.
Wichtige Stationen und Ereignisse in meinem Leben schriftlich festzuhalten, war zunächst als ganz privates Unterfangen gedacht. Ursprünglich sollte es dazu dienen, verborgene oder verleugnete Aspekte meiner Vergangenheit oder meiner Persönlichkeit aufzudecken und mir zu helfen, Bruchstücke zusammenzufügen, um sie uneingeschränkt akzeptieren und integrieren zu können. In der Zeit, als ich mit der Entscheidung rang, ob ich meine Geschichte teilen sollte, hatte ich einen Traum: Ich stehe am Rand einer weitläufigen Wiese, in der Hand einen Stapel maschinegeschriebener Seiten. Während mein Blick über die offene Graslandschaft schweift, spüre ich, wie hinter mir eine starke Brise aufkommt. Ich hebe die Arme und öffne die Hände, überlasse die Blätter dem Wind, der sie, wohin auch immer, tragen wird … Und deshalb, liebe Leserinnen und Leser, überlasse ich Ihnen die nachfolgenden Seiten, die von Herzen kommen und Aufschluss über ganz persönliche und verletzliche Aspekte und Bereiche meines Lebens geben. Ich lade Sie ein, mich auf eine Reise zu begleiten, die schwierig und herausfordernd war, sich am Ende aber als heilsam erwiesen und mich innerlich gestärkt hat.
Mein Wunsch wäre, dass meine Lebensgeschichte als Katalysator dient und ich Ihnen anhand meiner Gefühle und meiner Geschichte vor Augen führen kann, dass wir auch nach einem verheerenden Trauma in der Lage sind, inneren Frieden zu finden und uns in unserer Ganzheit zu erleben, das heißt, uns mit Körper, Geist und Seele wahrzunehmen, deren Zusammenwirken uns zu dem Menschen macht, der wir sind. Ich hoffe, dass dieses Buch Sie ermutigt, Ihre eigene Geschichte zu erzählen. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Offenheit wichtig ist und uns hilft, uns der eigenen Vergangenheit zu stellen, um zu wachsen und auf den Weg der Genesung zu gelangen.
Und schließlich stelle ich mir die Frage: Wenn eine Geschichte ein gelebtes Leben verkörpert, kann ich sie dann loslassen, sobald ich sie erzählt habe? Mit der Entscheidung, sie dem Wind zu überlassen, habe ich genau das getan, sowohl für mich selbst als auch für alle, die sie gelesen und Anteil daran genommen haben. Deshalb lassen Sie mich von vorn beginnen.
Da es in diesem Buch um unverarbeitete traumatische Erfahrungen geht, könnte die Lektüre schwierige Körperempfindungen, Gefühle und Vorstellungsbilder auslösen oder reaktivieren. Falls das geschehen sollte, hoffe ich, dass Sie darin eine Chance sehen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Informationen zu Therapeutinnen und Therapeuten, die auf Somatic Experiencing spezialisiert sind, finden Sie unter www.traumahealing.org, mehr Informationen zu dieser Arbeit am Ende des Buches.
Geboren in einer Welt der Gewalt
»Was ist wahrhaftiger als die Wahrheit?
Antwort: die Geschichte.«
Jüdisches Sprichwort1
Eine Geschichte, die sich Schritt für Schritt entfaltet
Wir alle haben unsere Geschichte, und das ist meine. Es ist meine Wahrheit. Wie bei den russischen Matrjoschka-Puppen handelt es sich um eine Geschichte, die in mehreren anderen Geschichten enthalten ist. Wie mein Freund Ian einmal sagte: »Die kürzeste Entfernung zwischen zwei Punkten ist nicht zwangsläufig eine gerade Linie.« In meiner Autobiographie mit ihren ineinander verschachtelten Geschichten geht es um eine Seelenreise. Oft erfolgt sie auf einsamen Pfaden, die wir einschlagen, wenn wir nichts ahnend einem inneren Ruf folgen und uns auf eine Suche voller Herausforderungen begeben, die bisweilen unlösbar erscheinen.
Ein Grundsatz der Trauma-Lösungsmethode, die ich im Verlauf der letzten fünfzig Jahre entwickelt habe, besteht darin, dass wir die Betroffenen nicht auffordern, sich im Sinne einer Konfrontationstherapie mit ihren traumatischen Erlebnissen auseinanderzusetzen. Stattdessen ermutigen wir sie, sich achtsam, Schritt für Schritt, diesen schwierigen Körperempfindungen, Emotionen und Vorstellungsbildern anzunähern, und helfen ihnen, zuerst Zugang zur bewussten Wahrnehmung bestimmter positiver Körpererfahrungen und -signale zu finden, um einen Wendepunkt einzuleiten. Der Rückblick auf bestimmte positive Erinnerungen dient der Vorbereitung auf die Verarbeitung eines angstauslösenden traumatischen Ereignisses, zum Beispiel eines sexuellen Übergriffs. Deshalb beginne ich mit der Schilderung von zwei positiven Erfahrungen in meiner Kindheit, die mich im späteren Leben verankert haben. Sie waren beide nicht nur ungeheuer spannend, sondern vermittelten mir darüber hinaus auch ein Gefühl von Sicherheit, Wärme und großmütiger Liebe.
Eine Geburtstagsüberraschung
Obwohl meine Kindheit von Gewalterfahrungen und lebensbedrohlichen Ereignissen geprägt war, gab es Zeiten, in denen ich mich geliebt und beschützt fühlte. Ich erinnere mich noch gut an zwei Begebenheiten, die mein Herz öffneten, positive Gefühle hervorriefen und das Bedürfnis in mir weckten, einen Freudentanz aufzuführen. Ich bin überzeugt, dass mir diese sinnlich wahrnehmbaren und emotional prägenden Erfahrungen halfen, Situationen durchzustehen, an denen ich sonst vielleicht zerbrochen wäre.
Als ich am Morgen meines vierten Geburtstags aufwachte, wartete eine riesige Überraschung auf mich. Mitten in der Nacht, während ich fest schlief, hatten sich meine Eltern auf leisen Sohlen in mein Kinderzimmer geschlichen. Unter meinem Bett beginnend und bis weit in den Raum hinein, hatten sie klammheimlich das kreisförmige Schienensystem einer elektrischen Lionel Modelleisenbahn verlegt.
Können Sie sich vorstellen, wie glücklich ich war, als ich vom Scheppern der Waggons aufwachte, die auf den Schienen entlangtuckerten? Ich sprang aus dem Bett und lief zum Transformator hinüber, mit dem ich die Geschwindigkeit des Zuges regulieren konnte. Voller Begeisterung betätigte ich das Signalhorn. Ich glaube, dass mir diese Überraschung das Gefühl gab, dass doch noch Wunder geschahen und dass ich geliebt und umsorgt wurde. Wenn ich über diese Erinnerung nachdenke, entsinne ich mich wieder an die zweite Situation aus einer noch früheren Zeit meines Lebens, in der ich mich unsäglich freute, weil ich mich nicht nur im wörtlichen Sinn sicher, aufgefangen und besonders wertgeschätzt fühlte.
Als ich ungefähr zwei Jahre alt war, leitete mein Vater ein Sommerferienlager in New England. Ein Schwarz-Weiß-Foto beschwor eine »Körpererinnerung« an ihn herauf, wie er im Schwimmbecken stand, nicht weit vom Rand entfernt. Ich sehe noch vor mir, wie ich loslief und ins Becken sprang. Er wollte sichergehen, dass ich nicht ertrank, als das Wasser über mir zusammenschlug und ich auf den Boden sank. Ich spüre noch heute seine Hände, die sich behutsam um meine Hüften schlossen, mich an die Oberfläche hoben und auf dem Gras neben dem Becken absetzten. Danach fühlte ich mich sicher genug, um immer wieder in vollem Tempo über die Rasenfläche zu laufen und in das Becken zu springen, in die Arme meines Vaters, die mich willkommen hießen. Nach zahlreichen Luftsprüngen wurde mir das Wasser so vertraut wie ein Freund. Mein Vater hielt meine ausgestreckten Arme, während ich auf dem Bauch im Wasser lag, mit den Beinen strampelte und die ersten Schwimmbewegungen machte. Nach dieser Einführung wurde Schwimmen meine Lieblingssportart. Später, als Erwachsener, hielt ich stets nach Möglichkeiten Ausschau, mich vom Wasser tragen zu lassen, gleich ob in einem See oder im Meer.
Diese im »Körpergedächtnis« gespeicherten Erinnerungen daran, beschützt und umsorgt zu werden, ermöglichten mir, mich einigen zutiefst belastenden Situationen zu stellen, ohne mich völlig überwältigt und hilflos zu fühlen. In späteren Jahren unterstützten sie meine Heilreise bei der Bewältigung des folgenden Traumas.
Ein Moment des grenzenlosen Entsetzens und der Gewalt
In meiner Kindheit und Jugend litt meine Familie lange Zeit unter den lebensbedrohlichen Einschüchterungsversuchen der Cosa Nostra, der New Yorker Mafia sizilianischen Ursprungs. Mein Vater war als Zeuge geladen, um gegen Johnny »Dio« Dioguardi auszusagen, ein skrupelloses Mitglied der Lucchese-Familie, die in der Bronx, ihrem Stammgebiet, weitgehend die organisierte Kriminalität beherrschte.2 Um meine Mutter, meine jüngeren Brüder und mich vor einem nahezu sicheren Tod zu bewahren, weigerte sich mein Vater, Johnny Dio ans Messer zu liefern, selbst als der junge und ehrgeizige Robert F. Kennedy, damals Chefberater des New Yorker Senatsausschusses, der die illegalen Machenschaften in den Gewerkschaften untersuchte, es unter Strafandrohung von ihm verlangte. Abbildung 1 im Bildteil in der Mitte des Buches zeigt ein Foto von Johnny Dio, das mehr sagt als tausend Worte.
Um dafür zu sorgen, dass mein Vater auch weiterhin Stillschweigen bewahrte, wurde ich als Zwölfjähriger von einer Straßengang in der Bronx, vermutlich den Fordham Daggers, brutal vergewaltigt. Der Überfall fand im dichten Gebüsch eines benachbarten Parks statt, an einem Ort, den ich bisher als Spielplatz und hochgeschätztes Refugium betrachtet hatte. Die Gruppenvergewaltigung war ein grauenvolles Geheimnis, das ich vor allen verbarg, insbesondere vor mir selbst. Ich vergrub es im hintersten Winkel meines Gedächtnisses, doch mein Körper erinnerte sich daran. Jeden Tag, wenn ich mich zu Fuß auf den Schulweg begab, war ich von Kopf bis Fuß angespannt und meine Kehle wie zugeschnürt, als wäre mein ganzes Sein darauf gerichtet, hyperwachsam und auf einen weiteren Angriff vorbereitet zu sein. Doch noch zerstörerischer war die fortwährende, quälende Angst, dass sich unsere Familie auflösen und damit jedes noch verbleibende Gefühl der Sicherheit zusammenbrechen könnte.
Ich war nie in der Lage, mit meinen Eltern offen über den Angriff zu sprechen. Mich ihnen anzuvertrauen, hätte die Gewalt nur bestätigt, der ich ausgesetzt war. Und so speicherte ich ihn tief in meiner Psyche ab, in einem Selbstbild, das von einem alles durchdringenden Gefühl der Scham, Schuld und der eigenen Minderwertigkeit geprägt war. Um diese schrecklichen Gefühle zu vermeiden, achtete ich gewissenhaft darauf, nicht auf Risse im Asphalt zu treten, wenn ich den Weg zwischen Schule und Elternhaus, der annähernd eineinhalb Kilometer betrug, zurücklegte. Ich sah in diesem klassischen Ritual eine Art Abwehrzauber, um die Bedrohung irgendwie abzuwenden.
Abgesehen davon betete ich fortwährend in der Hoffnung, dass mich eine höhere Macht vor einem weiteren Übergriff bewahren würde. Dabei pflegte ich meine Hände über dem Kopf zu falten, da es bei den orthodoxen Juden während des Gebets erforderlich war, den Kopf zu bedecken. Ich übernahm dieses Verhalten, obwohl meine Eltern in keinerlei Hinsicht praktizierende Juden waren. Als mein Vater mich dabei erwischte, ahmte er mich nach und verspottete mich. Diese Form der Erniedrigung war grauenvoll für mich. Wenn ich heute darüber nachdenke, gehe ich davon aus, dass mich dieser Demoralisierungsversuch davor bewahren sollte (zumindest nach seiner Vorstellung), ein solches Verhalten in der Öffentlichkeit an den Tag zu legen, wo ich vermutlich Empörung ausgelöst hätte. Leider hatte er damit nicht den gewünschten Erfolg. Es machte alles nur noch schlimmer. Ich fühlte mich von ihm nicht nur verspottet und erniedrigt, sondern auch allein gelassen mit meinen lähmenden Angst- und Panikattacken.
Ich brauchte vierzig Jahre, bis es mir gelang, Zugang zu meiner Körpererinnerung an die brutale Vergewaltigung zu finden und sie aufzulösen. Erst dann war ich in der Lage, Selbstempathie zu entwickeln, also mitfühlend mit mir selbst zu sein, und mein »Selbstwertgefühl« zu stärken. Diese schmerzliche Erinnerung auszugraben und zu verarbeiten, war ein langwieriger Prozess.
Ein verwundeter Heiler
Zeitraffer: Einige Jahrzehnte später. Während ich Somatic Experiencing (SE), meine Trauma-Lösungsmethode entwickelte, begannen sich auf unerklärliche Weise beunruhigende, anhaltende Körperempfindungen und flüchtig auftauchende Vorstellungsbilder einzuschleichen. Es fühlte sich an, als wären meine Kehle und mein Magen wie zugeschnürt und von einem weißen, zähflüssigen Schleim verstopft. Als diese alarmierenden Symptome nicht nachließen, wurde mir klar, dass es höchste Zeit war, mir eine Dosis meiner eigenen Medizin zu verabreichen. Wie ein altes Sprichwort besagt, versuchen wir, anderen immer das beizubringen, was wir selbst am dringendsten lernen müssten. Chiron, der Archetyp des verwundeten Heilers, forderte mich mit Nachdruck dazu auf.3
Da ich mit einem stressreichen Unterfangen rechnete, bat ich eine Therapeutin, die ein SE-Training bei mir absolviert hatte, mir beim Aufspüren der möglichen Ursachen der beunruhigenden Symptome zu helfen. Im Verlauf meiner inneren Erkundungsreise tauchten zahlreiche Erinnerungsbruchstücke auf. Ich fokussierte mich auf die körperlichen Empfindungen, bevor ich den Blick auf die verstörenden Bilder richtete, die ihre Spuren hinterlassen hatten. So gerieten einige tief vergrabene Gefühle und die damit einhergehende unterdrückte und angestaute Energie innerlich in Bewegung.
Eine Reise in die Dunkelheit
»Ein Trauma ist nicht das, was uns widerfährt,
sondern woran wir, wenn es keine mitfühlenden Zeugen gibt, innerlich festhalten.«
Peter A. Levine4
Die Schilderung einiger der nachfolgenden Einzelheiten der Vergewaltigung könnten verstörend sein. Ich habe sie eingefügt (auch wenn sie Ihnen beim Lesen vermutlich einiges abverlangen), um zu zeigen, dass es selbst nach einem solchen Martyrium mit den richtigen Lösungsansätzen und kompetenter, empathischer Unterstützung möglich ist, Traumata zu überwinden und in der Vergangenheit zu verorten, ihnen also den Platz zuzuweisen, an den sie gehören.
Meine Kollegin und Wegbegleiterin bei dieser Reise in die Finsternis bemerkte, dass meine Füße zuckten, und lenkte meine Aufmerksamkeit behutsam auf die subtile, beinahe unmerkliche Mikrobewegung. Plötzlich tauchte ein Bild vor mir auf: Ich sah, wie ich in ungebremstem Tempo die ovale Laufstrecke in der Nähe der Wohnung meiner Eltern entlangrannte. Meine Wegbegleiterin ermutigte mich, mich während dieses imaginären Laufs auf die Stärke und Kraft meiner Beine zu fokussieren. In den Somatic-Experiencing-Sitzungen wird diese innere Stärke oft heraufbeschworen. Sie ermöglicht uns, dem Gefühl der Selbstwirksamkeit und den damit verbundenen positiven Körpererfahrungen nachzuspüren, bevor wir uns behutsam, in kleinen Schritten, an das traumatische Ereignis herantasten und es aufdecken.
Ich spürte, wie sich mein Atem vertiefte und ein Gefühl der Freude meinen ganzen Körper durchströmte. Nach und nach gelang es mir, die heiß geliebte Landschaft meines Kindheitsrefugiums in den Blick zu nehmen. Ich begann, mich an ihre magische Wirkung zu erinnern und zu beschreiben, wie glücklich ich war, dass sie mich jedes Mal willkommen hieß, wenn ich nach dem Unterricht in der Middle School heimging. Wenn ich gegen fünfzehn Uhr zu Hause ankam, verdrückte ich schnell ein paar Schoko-Mint-Cookies von Pepperidge Farm, bevor ich zu einem meiner gewohnten Streifzüge durch den Reservoir Oval Park aufbrach, der sich direkt gegenüber von unserem sechsstöckigen Apartmentgebäude an der Wayne Avenue 3400 in der Bronx befand.
Statt die zwei Blocks bis zum Eingang des Parks zurückzulegen, pflegte ich die Straße zu überqueren und über den schmiedeeisernen Zaun zu klettern, um dann auf direktem Weg durch das dichte Gebüsch auf die darunter befindliche Laufbahn zu gelangen. Dort nahm ich die zunehmende Kraft in meinen Beinen wahr, während ich meine Runden drehte. Diese Entladung der aufgestauten Energie schien das ideale Gegenmittel für meine Beine zu sein, die sich infolge der Dauerbelastung durch die Rechtsstreitigkeiten meiner Familie und die Angst vor der Mafia, die vor nichts zurückschreckte, oft schwach und instabil anfühlten. Ich merkte, wie sie auf der Aschenbahn leichter, raumgreifender und mit jedem Schritt stärker wurden. Auf diesem Zustand, in dem ich meine verkörperten inneren Ressourcen bewusst wahrnahm, konnte ich aufbauen und die dringend benötigte innere Stärke und Stabilität im Rhythmus des Laufs finden. Ich genoss diese weitläufige Erinnerung. Doch plötzlich tauchte ein Schatten auf, der meine Wahrnehmung trübte. Anfangs war es ein undefinierbares Gefühl des Unbehagens, das in körperlichen Symptomen, zum Beispiel einer flachen unregelmäßigen Atmung und einem kreidebleichen Gesicht, zum Ausdruck kam. Zum Glück verlieh mir das Auf- und Nachspüren meiner inneren Kraftquellen mehr Selbstvertrauen, sodass ich tiefer in die Stresssituation einzutauchen vermochte.
An jenem Tag im Herbst hatte ich das vage Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war, als ich den Park betrat. Ich erinnerte mich, dass mir ein paar Jugendliche auffielen, offensichtlich hartgesottene Mitglieder einer Straßengang, die unweit des dichten Gebüschs herumlungerten und rauchten. Ich erinnerte mich vor allem an ihre Motorradkappen mit Lederschirm im Retrostil. Während ich mich auf diese Bilder fokussierte, nahm ich das unheilvolle Gefühl einer drohenden Gefahr wahr und spürte, wie sich mein Magen verkrampfte. Nach und nach begann das sogenannte prozedurale Gedächtnis, das die »Körpererinnerungen« einspeichert, weitere Einzelheiten preiszugeben. Als Erstes sah und spürte ich, dass ich Anlauf nahm, mit einem Satz über den Zaun sprang, auf der anderen Seite landete, den steilen, rutschigen Abhang hinunterstolperte und das dichte Gebüsch ansteuerte, um auf die Aschenbahn zu gelangen.
Plötzlich überkam mich trotz der Geschwindigkeit, die ich an den Tag legte, das unmittelbare Gefühl einer ernst zu nehmenden Gefahr. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Mein Instinkt sagte mir, dass es sich um eine tiefgreifende, überwältigende Bedrohung handelte. Ich spürte die Anspannung, die mich erfasste, mich umklammerte, meinen Nacken und meine Schultern versteifte. Ich spürte, wie mir die Angst den Atem abschnürte, wie sich mein Magen umdrehte und verkrampfte. Abrupt und völlig unerwartet, kippte ich nach vorn. Eine weitere Körpererinnerung kristallisierte sich heraus: Jemand sprang mich von hinten an und stieß mich zu Boden. Ich spürte, wie mein Gesicht in den Schmutz gedrückt wurde und meine Stirn dabei einen großen Felsbrocken streifte. Ich kämpfte mit aller Kraft, um mich zu befreien. Aber es gelang mir nicht, meine Arme wurden auf den Boden gepresst, und ein schweres Gewicht lastete schmerzhaft auf meinem Rücken. Ich war unfähig, mich zu bewegen, gefangen wie ein hilfloses Beutetier. Hinter mir begann jemand, an meiner Kleidung zu zerren, riss mir die Hose herunter. In dem Augenblick wurde mein Kopf völlig leer. Allem Anschein nach verlor ich das Bewusstsein. Kein Laut war mehr zu hören, alles wurde still, totenstill.
Behutsam legte meine Wegbegleiterin ihre Hand auf meine Schulter und holte mich aus dem tiefen Schockzustand der Dissoziation, in dem ich mich in dem Moment befunden hatte, in die Realität zurück. Ich spürte, wie der brutale sexuelle Übergriff verblasste und meine mit allen Sinnen erfahrbare Präsenz im Hier und Jetzt Gestalt annahm. Gegen Ende der Sitzung entdeckte ich, dass mein Körper imstande war, das zu tun, was er zum Zeitpunkt der Vergewaltigung nicht vermochte. Eines der Kernprinzipien der Somatic-Experiencing-Methode ist die Entdeckung neuer, positiver Körpererfahrungen und die Wahrnehmung der Selbstwirksamkeit, die dem Gefühl der überwältigenden Hilflosigkeit, ein typisches Kennzeichen von Traumata, entgegenwirken. Dank der Anwesenheit und Anleitung meiner erfahrenen Therapeutin spürte ich, wie meine Lebenskraft zurückkehrte. Ich verspürte rasende Wut in meinem Bauch, die unbändige Energie meiner Gegenwehr und am Ende ein überbordendes Gefühl des Triumphes über meine Angreifer. Ich konnte mich wieder mit der Stärke und Vitalität meiner Arme und Beine verbinden, die besiegt worden waren und mir nicht mehr gehorcht hatten. Nach und nach wurde mir auch das einzigartige Hochgefühl bewusst, das mir der Sprung über den Zaun und die Bewegungsfreiheit auf der Laufstrecke vermittelt hatten. Und dann stellte sich eine weitere, nicht willentlich steuerbare Abwehrreaktion ein, ein Würgereflex, gefolgt vom Ausstoß einer schleimigen Flüssigkeit mit einem Geruch und einer Textur ähnlich der von Sperma.
Der Ablauf und die Aufarbeitung dieser physisch präsenten und nachhaltig spürbaren Körpererinnerungen löste viele der Symptome auf, die mich bewogen hatten, um eine Sitzung zu bitten. Voller Mitgefühl weinte ich um den missbrauchten und hilflos zurückgelassenen Jungen, der ich einmal war, wiegte ihn in meinen Armen und versicherte ihm aus tiefstem Herzen: »Ja, Peter, das war real, es geschah tatsächlich. Aber jetzt ist es vorbei.«
Nach nur wenigen Nachbereitungssitzungen war ich in der Lage, mich dem Dämon der Scham zu stellen und meine allgegenwärtigen Gefühle der eigenen Schuld und Wertlosigkeit zu überwinden. Mit aufrichtiger Selbstempathie und liebevoller Akzeptanz konnte ich diese qualvolle Erinnerung in der fernen Vergangenheit verorten, wo sie in Wirklichkeit hingehörte. Der Bann, den sie ausgeübt hatte, war gebrochen. Ich war frei. Ich hatte es überlebt. Ich konnte mich wieder in meiner Ganzheit wahrnehmen.
Weitere Erinnerungsbruchstücke
»Die Wahrheit verändert ihre Farbe abhängig vom Licht, und das Morgen kann klarer sein als das Gestern.
Die Erinnerung ist eine Auswahl innerer Bilder, manche flüchtig … andere unauslöschlich im Gehirn eingeprägt.«
Aus dem Film Eve’s Bayou – Im Bann der Lügen5
Rückblickend und mithilfe meiner Brüder begann ich, die Bruchstücke der Erzählung zusammenzufügen. Ich erfuhr von ihnen, dass die Mafia meinem Vater gedroht hatte: »Wenn du aussagst, findest du deine Familie mit dem Gesicht nach unten im East River wieder.« Da es ihm nicht gelang, Zeugenschutz für uns zu erhalten, kämpfte mein Vater gegen Widrigkeiten aller Art, Jahr für Jahr, um einer Haftstrafe wegen Aussageverweigerung zu entgehen. In einem Rechtsstreit, der schließlich vor dem U.S. Supreme Court endete, wurde er wegen »Missachtung des Gerichts« zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Chief Justice Earl Warren, der das Amt des Präsidenten bekleidete und eine abweichende Position vertrat, schrieb später, das sei eine der schlechtesten juristischen Entscheidungen des Obersten Gerichts der Vereinigten Staaten von Amerika gewesen. Mein Vater musste eine Freiheitsstrafe von einem Jahr plus einem Tag verbüßen. Dieser zusätzliche Tag – alles, was über ein Strafmaß von einem Jahr hinausgeht, zählt im US-amerikanischen Strafrecht zur Kategorie der schweren Delikte – machte es ihm buchstäblich unmöglich, jemals als Lehrkraft an eine staatliche Schule zurückzukehren, was meinem Vater zusätzlich das Herz brach.
Wie Sie sich sicher vorstellen können, forderte diese fortwährende Angst und Unsicherheit von uns allen einen hohen Tribut. Mein Gefühl der Sicherheit und mein Glaube an eine vernunftgeleitete und vorhersehbare Welt waren erschüttert. Doch irgendwie gelang es mir, mein Leben fortzusetzen, obwohl ein Teil von mir im Zustand der Dissoziation, der inneren Abspaltung, zurückblieb, gefangen in der Gewalterfahrung, die mir im Gebüsch widerfahren war, und im Scheitern meines Vaters bei seinem Kampf um Gerechtigkeit. Ich hatte meine Arglosigkeit verloren, fühlte mich am Boden zerstört und erniedrigt, aber schließlich gelangte ich auf den Weg der Genesung.
Auch nach dieser Sitzung stattete ich meinen »episodischen« Erinnerungsbruchstücken hin und wieder einen Besuch ab. Doch sie waren nicht mehr so emotional aufgeladen wie in der zuvor beschriebenen wirkmächtigen Sitzung. Ich konnte gleichwohl noch weitere Einzelheiten aufdecken, die dazu beitrugen, die damalige Situation zu veranschaulichen. Vor allem erinnerte ich mich an die düstere, bedrohliche Atmosphäre, die herrschte, wenn wieder einmal ein Mafia-Anwalt in unserem Haus auftauchte, zu einer Besprechung mit meinen Eltern. Vordergründig sollten diese »Beratungsgespräche« meinem Vater helfen, sich auf den fünften Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, das Zeugnisverweigerungsrecht, zu berufen. Damit wäre ihm eine Aussage vor der Bezirksstaatsanwaltschaft und einer Grand Jury »erspart« geblieben, die vorab entscheiden, ob die Anschuldigungen eine Anklage und im Anschluss einen Prozess rechtfertigen. Doch dahinter verbarg sich in Wirklichkeit der Versuch, meinen Vater davon abzuhalten, Johnny Dio in den Rücken zu fallen.
Ich erinnere mich, wie ich auf allen vieren aus meinem Kinderzimmer kroch, mich unter einem niedrigen Telefontisch versteckte und die Ohren spitzte, um die Unterhaltung im Wohnzimmer zu belauschen. Meine Eltern sprachen nie mit uns Kindern über das Geschehen, aber meine jüngeren Brüder und ich konnten anhand ihrer Körpersprache erkennen, dass es ein schwerwiegendes Problem gab, das ihnen große Sorgen bereitete. Diese Stressfaktoren und die geheimen Gespräche höhlten mein Selbstvertrauen und meine Lebensenergie aus. Sie waren schlussendlich genauso schädlich für mein seelisches Wohlbefinden wie einige der weniger offensichtlichen, aber gleichermaßen zerstörerischen Traumata, die auf Stresserfahrungen während meiner Kindheit zurückzuführen waren.
Nachdem mein Vater jahrelang von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hatte, um seine Familie zu schützen, gab er den Kampf gegen die Obrigkeit schließlich auf und trat seine Haftstrafe an: ein Jahr und einen Tag. Ich war zu diesem Zeitpunkt siebzehn Jahre alt und frischgebackener Studienanfänger an der University of Michigan, als ich die Nachricht in einem schonungslosen, unsentimentalen Brief meiner Mutter erhielt. Ich erinnere mich, dass ich am Boden zerstört war und in Tränen ausbrach, überwältigt von Schuldgefühlen, Kummer und Schmerz.
In Abwesenheit meines Vaters musste das Bekleidungsgeschäft, das er eröffnet hatte, um seine Familie über die Runden zu bringen, Insolvenz anmelden. Angesichts dieser schwerwiegenden Belastungen und der drohenden Gefahr, in finanzielle Not zu geraten, entwickelte sich bei meiner Mutter ein Magengeschwür, und sie erlitt eine Art Nervenzusammenbruch. Doch da das Überleben der Familie nun auf ihren schmalen Schultern ruhte, riss sie sich zusammen, vervollständigte ihre pädagogische Ausbildung und erbrachte einen Lehrnachweis, der ihr ermöglichte, an einer öffentlichen Schule zu unterrichten und unseren Lebensunterhalt zu verdienen, während mein Vater seine Haftstrafe verbüßte.
Als ich während des Springbreaks, der zweiwöchigen Studienpause vor Beginn des Frühjahrsquartals, nach New York City zurückkehrte, besuchte ich meinen Vater im Gefängnis. Mit der dicken Glasscheibe und den Gitterstäben zwischen uns war ich innerlich wie erstarrt. Da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, schluckte ich die unausgesprochenen Worte »Ich liebe dich« hinunter, glaubte daran zu ersticken. Als meine Mutter und ich den Besucherraum verließen, folgte uns einer der Gefängnisaufseher und legte mir die Hand auf die Schulter. »Ich möchte, dass Sie eines wissen, junger Mann: Ihr Vater ist kein Krimineller«, sagte er leise. Er erzählte mir auch, dass mein Vater den Aufbau einer Gefängnisbücherei auf den Weg gebracht und seinen Mithäftlingen Kenntnisse vermittelt hatte, die sie nach ihrer Entlassung brauchen würden. Es war wohl eine Ironie des Schicksals, dass mein Vater hier zu seiner ersten großen Liebe zurückgefunden hatte – der Lehrtätigkeit. Meine Mutter übernahm diese Tradition, und später traten meine Brüder und ich ebenfalls in diese familiären Fußstapfen, ein jeder auf seine eigene Weise. Ich glaube, dass mir dieses innere Bedürfnis, Wissen weiterzugeben, vererbt und zu einer Leidenschaft wurde, die vielleicht sogar an eine Obsession grenzte.
Einmal traf ich zufällig den Rektor der Schule, an der meine Mutter unterrichtete. Er nahm mich beiseite und vertraute mir an, dass sie die einzige Lehrkraft war, die einen Zugang selbst zu den am stärksten beeinträchtigten Kindern fand. Als Beispiel erzählte er mir die Geschichte eines autistischen Jungen, der sich in einem Schrank verkroch, wenn die anderen Kinder nach Schulschluss heimgingen. Meine Mutter wartete geduldig, über eine Stunde, bis der Junge endlich aus dem Schrank herauskam und zuließ, dass sie ihn in den Arm nahm und wiegte. Obwohl ich mich nicht daran erinnerte, dass sie mir jemals auf diese Weise nahe gewesen wäre, konnte ich mir zumindest vorstellen, was der Rektor beschrieb.
Dieses Stress- und Trauma-Profil aus meiner Kindheit war für meine Brüder Jon und Bob mit Sicherheit keine unerwartete Vorgeschichte, genauso wenig wie mein instinktives Bedürfnis, Wissen zu vermitteln, oder meine Neigung zu unkonventionellen Heilmethoden. Obwohl es, soweit ich weiß, weder Ärztinnen noch Ärzte in meinem Stammbaum gab, ahnte ich intuitiv, dass wir aus einer langen Reihe von Rabbinern hervorgegangen sind, allesamt (spirituelle) Heiler, ein jeder auf seine Weise. Bei mir setzte sich diese Abstammungslinie in einem Leben fort, das der Erforschung von Stress und Traumata und dem angeborenen Streben nach Heilung und ganzheitlichem Erleben gewidmet war. Es überrascht daher wohl nicht wirklich, dass im Mittelpunkt meiner Doktorarbeit in Medizinischer Biophysik meine Forschungen zum Thema »Akkumulierter Stress« standen.
Zusätzlich zu den Ursachen der destruktiven Stresserfahrungen, die ich beschrieben habe und die zeitweilig durch blanke Todesangst unterstrichen wurden, war ich während meiner Kindheit und Jugend auch weiter verbreiteten traumatischen Ereignissen ausgesetzt. Auch sie wurden im Verlauf meiner Heilreise aufgedeckt. Einer meiner Freunde erklärte einmal, Forschung sei nach seiner Beobachtung auch eine »Selbsterforschung«. Vielleicht habe ich mich deshalb auf eine lebenslange Suche begeben, um unnötiges Leid zu lindern und Traumata zu überwinden, nicht nur für mich selbst, sondern für eine Welt, in der zahllose Menschen seelische Verletzungen erleiden.
Die schöpferische Kraft
»Ein kreativer Erwachsener ist ein Mensch, in dem das Kind überlebt hat.«
Julian F. Fleron
Trotz all der Schwierigkeiten glaube ich irgendwie, dass meine Eltern meine angeborene Neigung zu Neugier und Exploration immer wertgeschätzt, respektiert und gefördert haben. Im Verlauf meiner Arbeit mit zahlreichen Erwachsenen und Kindern, die sich über mehr als fünfundvierzig Jahre erstreckt, habe ich festgestellt, dass alle Kinder und die meisten Erwachsenen mit einem jüngeren Selbst, das in seinem innersten Kern unversehrt geblieben ist, den gleichen Wissens- und Forscherdrang haben. Dieser kraftvolle Impuls sollte genutzt werden, denn er kann den Heilungsprozess unterstützen.
Wir verfügen alle über die Ressourcen, die wir brauchen, um unsere Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Menschen eine grundlegende, elementare Antriebskraft besitzen, die uns Gesundheit und ganzheitlichem Wohlbefinden näher bringt. Das schließt den Zugang zu einem Teil unseres Selbst ein, der seit jeher in unserem tiefsten Innern vorhanden war, der jedes Trauma zu überleben vermag und auf immer ganz und unverletzt bleiben wird. Es ist der Teil, den man als unser Wahres oder Reales Selbst bezeichnen könnte. James Hollis, Anhänger der Analytischen Psychologie von C. G. Jung, definierte das Selbst als Zielgerichtetheit des menschlichen Organismus, als eine teleologische, sprich zweckorientierte Absicht, das eigene Potenzial so weit wie möglich auszuschöpfen, um das Selbst ganzheitlich zu erfahren.6 Ich möchte nur hinzufügen, dass diese innere Antriebskraft außerhalb unserer Rollen und Personas mit ihren typischen Erwartungsmustern, Wünschen und Bestrebungen dazu beiträgt, zu unserem Wahren Selbst heranzureifen und zu dem Menschen zu werden, der wir wirklich sind. Nach meiner Erfahrung hat diese Antriebskraft große Ähnlichkeit mit dem angeborenen Impuls zu Neugier und Exploration.
Leider wird diese elementare und instinktgesteuerte Energie allzu oft durch eine Übersozialisierung unterdrückt und in den Untergrund verbannt oder durch toxischen Stress und traumatische Erfahrungen überwältigt. Dennoch ist diese machtvolle Ressource tief in unserem Innern lebendig, in Wartestellung verharrend und bereit, im richtigen Moment aktiviert zu werden. Ungeachtet des Traumas, das tiefe Spuren hinterlässt, bin ich der Überzeugung, dass diese schöpferische Neugier, das innere Gefühl der Lebendigkeit und Freude, in meinem Leben stets vorhanden war und mir geholfen hat, meinen Weg zu finden.
Heilung mit Wissenschaft und Schamanismus
Hier und Jetzt (Ausblicke)
Mein ganzheitlicher Ansatz zur Traumabewältigung wurde manchmal als mystisch oder schamanisch beschrieben. Obwohl ich durch die Erforschung kulturübergreifender schamanischer Heilungspraktiken und Rituale mit Sicherheit beeinflusst wurde und die Gelegenheit hatte, Schamaninnen und indigene Heiler auf der ganzen Welt persönlich kennenzulernen, habe ich es als meine Aufgabe im Leben betrachtet, nachzuweisen, dass solche Zuschreibungen nur schwer fassbar und hoffnungslos unzureichend sind. Mit anderen Worten: Mein Ziel war es, aufzuzeigen, dass die von mir entwickelte Trauma-Lösungsmethode auch in den säkularen Gesellschaften des Westens gelehrt und erfolgreich angewendet werden kann. Meine Forschungsarbeit orientiert sich an traditionellen biologischen Prozessen, die ihren Ursprung in den hochgradig »objektiven« Naturwissenschaften haben. Den Zugang zur verkörperten Spiritualität fand ich erst später, eine organische Entwicklung, die auf der felsenfesten Grundlage der Biophysik, Neurobiologie und Ethologie7 in Kombination mit der Komplexitäts- und Systemtheorie beruhte.
Etwa um 1972 begann ich, meinen Trauma-Lösungsansatz einem Dutzend aufgeschlossener Therapeuten in Berkeley zu vermitteln, wenn wir uns alle zwei Wochen in meinem Baumhaus an der McBride Ave 6182 im Wildcat Canyon trafen. Heute, fünfzig Jahre später, habe ich es möglicherweise geschafft, meine Aufgabe zu beenden und den Nachweis zu erbringen, dass diese Therapieform nicht an meine individuellen Fähigkeiten und Talente gebunden ist. Sie hat sich schrittweise entwickelt und wird heute Somatic Experiencing (SE) genannt, weil hier die Körperorientierung, das Auf- und Nachspüren von Körperempfindungen, im Mittelpunkt steht. Sie ist wissenschaftlich fundiert, kann nach einer entsprechenden Ausbildung von qualifizierten Coaches und Therapeutinnen sowie Therapeuten angewendet werden und lässt sich auf traumatische Stress- und Belastungssituationen verschiedener Art übertragen. Eine der Herausforderungen beim SE und der Erforschung seiner Wirksamkeit besteht darin, dass es nicht auf einer bestimmten Formel oder einem verschlüsselten Protokoll beruht, sondern sich im Rahmen eines organischen Prozesses entwickelt, der aus grundlegenden Prinzipien und Bausteinen besteht. Trotz dieser Hürde ist jedoch durch wissenschaftliche Studien belegt, dass diese Arbeitsweise nachhaltige, hieb- und stichfeste klinische Auswirkungen hat.
Auf jeden Fall hat sich mein Trauma-Lösungsansatz wie in dem Film Das dreckige Dutzend seit der Gründung dieser »Eliteeinheit« in meinem bescheidenen Baumhaus weltweit verbreitet. 2022 hatte er dank der unermüdlichen Arbeit von mehr als siebzig internationalen Trainerinnen und Trainern bereits in vierundvierzig Ländern Fuß gefasst. Inzwischen ist die Anzahl der zertifizierten Anwenderinnen und Anwender auf mehr als 60 000 gestiegen. Wenn ich über dieses explosive Wachstum und den Verlauf meines Lebens nachdenke, bin ich völlig perplex. Ich komme mir vor wie ein Mensch, der dazu berufen wurde, wie ein »Prophet« eine säkulare Heilslehre zu verkünden, nichts ahnend und ohne Erfolgsgarantie.
Auf die Frage, ob ich in meinem Leben genug getan habe, um dieser Berufung gerecht zu werden, kann ich mit einem verhaltenen Ja antworten. Ich habe die Fackel weitergegeben: Die Aufgabe, die Botschaft in eine krisengeschüttelte Welt hineinzutragen, ruht nun auf den Schultern eines engagierten, internationalen SE-Kollegiums.
Und was ist mit der schwerer fassbaren Frage: Habe ich mein Potenzial voll ausgeschöpft? Aus dieser Zwickmühle kann ich mich nur im Alleingang befreien, denn die Arbeit an mir selbst ist noch nicht abgeschlossen. Dieses Buch zu schreiben hat mir die Möglichkeit geboten, meine Gedanken, Erinnerungen, Träume und Überlegungen zu sammeln. Die Frage, ob ich mein Potenzial voll ausgeschöpft habe, ist untrennbar mit meinem Kampf verbunden, mich zu öffnen, um zu lieben und das Gefühl zu akzeptieren, geliebt zu werden. Ich habe oft nach der Liebe eines anderen Menschen Ausschau gehalten, der die magischen Kräfte besitzt, mich von meinen seelischen Verletzungen zu heilen. Auf meinem Lebensweg hatte ich das große Glück, wunderbaren Frauen zu begegnen, die mir ihre Liebe geschenkt haben, und das Privileg, enge beständige Freundschaften mit Angehörigen beiderlei Geschlechts zu schließen.