Let the Games Begin - Rufaro Faith Mazarura - E-Book

Let the Games Begin E-Book

Rufaro Faith Mazarura

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Beschreibung

Als sich die Wege von Sprinter Zeke und Volunteer Olivia kreuzen, fliegen die Funken ...

Sommer 2024. Olivia und Zeke reisen beide mit einem klaren Ziel zu den Olympischen Spielen nach Athen: Olivia will den Grundstein für ihre Karriere beim IOC legen, Zeke – der Herzensbrecher und Starsprinter des britischen Teams – träumt von der Goldmedaille im 100-Meter-Lauf. Als Zeke im Olympischen Dorf versehentlich in Olivia hineinstolpert, geraten die beiden ordentlich aneinander. In den nächsten Tagen kreuzen sich ihre Wege immer wieder, und von Wortgefecht zu Wortgefecht wächst die gegenseitige Anziehung, bis sie ihre Gefühle nicht mehr leugnen können. Aber wird ihre Liebe sie über die Ziellinie tragen, oder scheitern sie an der ersten Hürde?

Für alle, die diese Tropes lieben:
•Celebrity romance
•Athlete romance
•Enemies to lovers

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Seitenzahl: 410

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Buch

Olivia Nkomo reist zu den Olympischen Spielen, um ein Praktikum beim Internationalen Olympischen Komitee zu absolvieren und damit den Grundstein für eine erfolgreiche Karriere zu legen. Doch als sie in Athen ankommt, erfährt sie, dass sie sich stattdessen mit einem Job als Volunteer zufriedengeben muss.

Ezekiel »Zeke« Moyo, Herzensbrecher und Starsprinter des britischen Teams, reist zu den Olympischen Spielen, um der schnellste Mann der Welt zu werden. Ganz Großbritannien hofft, dass er die Goldmedaille im Hundert-Meter-Lauf gewinnt. Zeke spielt die Rolle des Sonnyboys perfekt, doch der Druck setzt ihm mehr zu, als er zugeben will.

Gleich am ersten Tag geraten Olivia und Zeke ordentlich aneinander. Sie hält ihn für arrogant und eingebildet, er findet sie unverschämt und überheblich. Beide nehmen sich fest vor, einander in Zukunft zu meiden. Doch das olympische Dorf ist klein, und ihre Wege kreuzen sich immer wieder …

Autorin

Rufaro Faith Mazarura ist eine britisch-simbabwische Schriftstellerin. Sie wuchs in Birmingham auf und studierte Kreatives Schreiben an der University of Surrey. Sie arbeitet als Podcast-Produzentin, u. a. für die BBC, und ist ein großer Fan der Olympischen Spiele. »Let the Games Begin« ist ihr Romandebüt.

Rufaro Faith Mazarura

Let the Games Begin

Roman

Aus dem Englischen von Anne Morgenrau

Die englische Originalausgabe erscheint 2024 unter dem Titel »Let the Games Begin« bei Penguin UK.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2024

Copyright © 2024 by Rufaro Faith Mazarura

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: FinePic®, München

Redaktion: Friederike Arnold

LS · Herstellung: ik

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-641-32239-7V001

www.goldmann-verlag.de

London, UK

Sommer 2024

Kapitel 1

Zeke

Vier Tage vor der Eröffnungsfeier

Ezekiel Moyo hatte noch nie attraktiver ausgesehen als auf dem Titelbild der Augustausgabe von GQ. Es war die jährliche Sportausgabe, und da Ezekiel (oder Zeke, wie ihn alle nannten) die größte Hoffnung des Landes auf eine Goldmedaille bei den Olympischen Spielen in diesem Sommer darstellte, war es nur recht und billig, dass man ihn zum Gesicht des Magazins gemacht hatte.

Zeke verbrachte das gesamte Fotoshooting damit, alle am Set zu umgarnen. Er unterhielt sich mit der Empfangsdame über das Foto auf ihrem Schreibtisch und machte der Dame vom Catering ein Kompliment für das gute Essen.

»Auntie«, begann er – weil er dazu erzogen worden war, jede ältere Schwarze Frau Auntie zu nennen –, »das ist das beste Ochsenschwanzragout, das ich je gegessen habe, und meine Mutter macht ein unglaubliches Ochsenschwanzragout.«

Kichernd gab sie ihm eine weitere Portion. Zekes Diät vor dem Wettkampf erlaubte ihm nur eine Portion, aber wenn man ihm als Kind eines beigebracht hatte, dann, dass er eine Lunchbox, die ihm eine Auntie gab, mitnehmen musste.

Zeke unterhielt sich gerade mit dem Sicherheitspersonal über das Fußballspiel vom Wochenende, da entdeckte er ein paar Assistentinnen, die ihn von der anderen Seite des Raums aus schüchtern beäugten. Er wusste, dass sie zu professionell waren, ihn um ein Foto zu bitten, obwohl sie definitiv eins haben wollten. Also ging er nach der Fotosession mit diesem unverschämt charmanten Lächeln im Gesicht zu ihnen hinüber und sagte: »Das hier ist mein erstes großes Shooting, und ich hätte gern eine schöne Erinnerung daran. Kann jemand ein Foto von uns allen machen?« Ihre Gesichter leuchteten vor Begeisterung.

Die Sicherheitsleute erzählten jedem, Zeke sei der bodenständigste Kerl, der je das GQ-Büro betreten habe, und eine Produktionsassistentin postete die Aufnahmen, die sie gemacht hatten, mit der Bildunterschrift: Dies ist ab jetzt ein Ezekiel-Moyo-Fan-Account.

»Gibt es bei den Spielen in diesem Jahr eigentlich jemanden, auf den Sie sich besonders freuen?«, fragte die Journalistin, die das Cover-Interview führte, und zog kaum merklich eine Augenbraue hoch. Zeke lächelte. Er wusste genau, worauf die Frau hinauswollte, aber er hatte nicht die Absicht, darauf einzugehen.

»Oh, ich freue mich einfach darauf, all meine Freunde aus dem Team GB anzufeuern«, sagte er.

»Und abgesehen vom Team GB … Gibt es da noch jemanden, auf den Sie sich freuen?«, fragte die Journalistin und beugte sich vor, als könnte diese Geste Zeke dazu bewegen, sich zu öffnen. Wenn überhaupt, erhöhte ihre Annäherung höchstens seine Entschlossenheit, zu diesem Thema zu schweigen. »Jemand von … der anderen Seite des Großen Teichs vielleicht?«, hakte sie nach. Zeke legte den Kopf schief, als hätte er keine Ahnung, worauf die Journalistin anspielte.

Den ganzen Tag lang hatten die Redakteure ihm immer wieder dieselbe Frage gestellt. Aber Zeke roch eine derartige Falle schon aus zwei Kilometern Entfernung.

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Wollen wir jetzt weitermachen?«, sagte er jedes Mal höflich, aber bestimmt.

Zeke hatte mit vierzehn angefangen, für das Team GB zu laufen. Mit sechzehn hatte er sein erstes großes Presseinterview gegeben und mit zwanzig seine erste Beziehung gehabt, die natürlich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregt hatte. Er hatte also jahrelange Übung darin, genug zu liefern, damit man daraus eine gute Story machen konnte, und gleichzeitig von Themen abzulenken, über die er nicht sprechen wollte. Er würzte seine Antworten mit lustigen Anekdoten und nutzte seinen Charme, um die Tatsache zu verschleiern, dass er sich mit der Wendigkeit eines altgedienten Politikers durch jedes Interview lavierte.

Und es funktionierte.

GQ Sommer 2024

Dürfen wir vorstellen? Zeke Moyo, der Goldjunge (in spe) des Teams GB

Der Titel ließ Zeke leicht zusammenzucken. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war eine weitere Schlagzeile, die ihm in Erinnerung rief, dass er in diesem Sommer womöglich eine Goldmedaille gewann. Er stand schon genug unter Druck. Trotzdem las er weiter.

Die Sache ist die: Ezekiel (»Zeke«) Moyo wollte schon immer ein Star werden. Er ist dafür geboren. Er entschied sich für den Sprint, und eine olympische Silbermedaille ist der Beweis für sein Talent. Aber mit seinem natürlichen Charisma, dem sympathischen Lächeln und seinem spielerischen, entwaffnenden Charme hätte er alles werden können, was er wollte.

Zeke hätte die Hauptrolle in einem Hollywoodfilm spielen und Kinosäle füllen können; er hätte für ein Modelabel als Model arbeiten können, und die gesamte Kollektion wäre über Nacht ausverkauft gewesen. Denn Zeke besitzt diese seltene Kombination aus Starpower und Menschlichkeit. Er ist der Junge, für den du in der Schule geschwärmt, und der atemberaubende Fremde, in den du dich auf einer Party verliebt hast. Die Begriffe It-Girl und It-Boy sind überstrapaziert, aber als ich Moyo kennenlernte, wusste ich sofort, dass er dieses schwer fassbare Etwas hat, nach dem so viele moderne Stars jahrelang streben.

Das GQ-Titelbild illustrierte sehr gut, was die Journalistin meinte.

Die Aufnahmen waren auf der Leichtathletikanlage in West-London gemacht worden, auf der Zeke als Heranwachsender trainiert hatte. Statt seines Team-GB-Outfits trug er schicke, alltagstaugliche Sportklamotten, entworfen von Zeus Athletics, seinem Hauptsponsor. Er stand auf der Laufbahn, auf der er bereits als Elfjähriger trainiert hatte, und hielt sein allererstes Paar Laufschuhe in der Hand. Aber niemand, der das Cover betrachtete, blickte auf die Laufschuhe oder dachte über seine Erfolgsgeschichte nach. Alle schauten wie gebannt auf Zeke, der der Kamera, dem Fotografen und jedem, der die Zeitschrift in die Hand nahm, diesen entwaffnenden Blick, dieses Lächeln und diesen verschämten Biss auf die Unterlippe schenkte, wodurch alle das Gefühl hatten, der einzig wichtige Mensch auf der Welt zu sein. Was auch immer dieses Etwas sein mochte, Zeke besaß es.

Es öffnete ihm Türen und brachte ihm achtstellige Sponsorenverträge ein, aber die Menschen, die er liebte, interessierten sich weder für Fotoshootings noch für Auszeichnungen oder dafür, dass dies der Sommer war, in dem er möglicherweise seine erste olympische Goldmedaille gewinnen würde. Tatsächlich war es seine Familie, die ihn deswegen am gnadenlosesten aufzog.

»Nicht schon wieder der Schmollmund!«, sagte sein ältester Bruder Takunda. Dann reichte er die Zeitschrift an den mittleren Bruder Masimba weiter, der einen Blick auf die Titelseite warf und leise zu lachen begann.

»Er zeigt Mode … Couture … ein männliches Model«, sagte Masimba und lachte ebenfalls.

»Sieh dir nur diese Posen an«, sagte Takunda, während er Zeke imitierte. Masimba machte mit, und die beiden fingen mitten im Supermarkt, im Gang mit den Konservendosen, an, ein Fotoshooting nachzuäffen. Sie liebten es, ihren Bruder in Verlegenheit zu bringen.

»Wir versuchen nur, so zu sein wie du, Little Z«, sagte Masimba und lehnte sich an das Regal mit den Gemüsekonserven. Er war dreißig Jahre alt, verwandelte sich aber wieder in einen Dreizehnjährigen, als Takunda Fotos von ihm machte und ihn mit seinen Kommentaren zu schauspielerischen Höchstleistungen antrieb.

Der Rest der Welt sah in Zeke einen Frauenschwarm und potenziellen Goldmedaillengewinner, aber für die beiden war er einfach nur ihr jüngerer Bruder.

»Mum wird in Tränen ausbrechen, wenn sie das hier sieht«, sagte Masimba, als sie in Zekes schwarzen Ferrari stiegen, um nach Hause zu fahren.

Zeke lächelte und nickte, denn er wusste, dass seine Mutter tatsächlich weinen würde, wenn sie das Titelbild sah. In seiner Familie waren alle eng miteinander verbunden, und Mai Moyo, die Matriarchin der Familie Moyo, weinte häufig über die Dinge, die ihre Söhne taten. Das Titelbild des Magazins, das ihren Jüngsten auf dem Weg zu seinen dritten Olympischen Spielen zeigte, würde sie mit Sicherheit zum Schluchzen bringen.

Als er seinen ersten siebenstelligen Vertrag unterzeichnet hatte, wollte Zeke seiner Mutter ein neues Haus kaufen. Aber sie hatte sich geweigert und behauptet, sie wolle lieber in dem Haus leben, in dem sie ihre Kinder großgezogen hatte. Doch der wahre Grund bestand darin, dass das Haus mit seinen gerahmten Fotos und der abblätternden Farbe all ihre Erinnerungen an ihren Mann, Zekes Vater, enthielt, der zehn Jahre zuvor verstorben war. Zeke war damals erst vierzehn gewesen. Auch seine liebsten Erinnerungen an seinen Vater waren in diesem Haus entstanden. Anstatt ihr ein neues Haus in einem schöneren Stadtteil zu kaufen, kamen Zeke und seine Brüder weiterhin an jedem Sonntag zum Abendessen nach Hause.

Doch als er an diesem Sonntag die Haustür öffnete, wusste er sofort, dass etwas nicht stimmte. Normalerweise hörte seine Mutter alte Gospelmusik aus Simbabwe in voller Lautstärke, während sie etwas Leckeres kochte, das die Diätberaterin des Team GB ihm garantiert nicht genehmigt hätte. Aber als er heute hereinkam und »Hallo« rief, war es still im Haus. Irgendetwas stimmte nicht. Er machte einen weiteren Schritt in das Haus hinein, und plötzlich explodierten um ihn herum Geräusche und Farben, und Menschen riefen laut: »Überraschung!«

Die zahlreichen Familienmitglieder, die sich im Flur versteckt hatten und nun in den Garten hinausströmten, warfen blaue, weiße und rote Luftballons nach ihm und riefen aufgeregt durcheinander. Sämtliche Familienmitglieder und Freunde von Zeke hatten sich im Wohnzimmer seiner Mutter versammelt, um ihn zu feiern, bevor er zu den Olympischen Spielen 2024 nach Athen flog. Er spürte, wie ihn eine Welle der Freude überrollte; alle, die er liebte, waren da. Okay, alle außer seinem Vater.

Er ermahnte sich zu lächeln, als nun Musik aus den Lautsprechern ertönte und seine Mutter auf ihn zueilte, um ihn zu umarmen.

»Ezekiel!«, rief sie und drückte ihn fest an sich. Mai Moyo war doppelt so alt und ungefähr halb so groß wie er, versuchte aber immer noch, ihn hochzuheben, wenn er nach Hause kam. Sie umarmte ihn und blickte stolz zu ihm auf, ehe sie einen Schritt zurücktrat, um ihm ihr neues T-Shirt zu zeigen, auf dessen Vorderseite sie ein Babyfoto von ihm hatte drucken lassen und auf dessen Rückseite der Schriftzug Team Moyo 2024 zu sehen war. Seine Mutter besaß mindestens zwanzig mit seinem Konterfei bedruckte Shirts.

»Das ist bisher dein bestes«, sagte Takunda und lachte über das Foto, auf dem Zeke Laufschuhe trug, die zehnmal so groß waren wie seine dreizehn Monate alten Füße.

»Mama, ich dachte, wir essen heute einfach zu Abend«, sagte er und sah sich belustigt in dem voll besetzten Raum um.

»Ach, ich habe doch nur ein paar Leute eingeladen, Familie und Freunde, chete chete, nicht der Rede wert«, sagte sie schelmisch und deutete auf die Menschenmenge, die aus mindestens fünfzig Personen bestand.

Zeke begrüßte seine Tanten und Onkel und ließ sich dann mit seinen Cousins und Cousinen fotografieren. Er wusste, dass sie die Bilder sofort ins Internet stellen würden, um ihren Freunden in Erinnerung zu rufen, dass sie mit einem Promi verwandt waren.

Allerdings wurde er nicht von allen mit dem gleichen Enthusiasmus begrüßt. Als er in den Garten hinausging, kam ihm ein Mädchen mit hellblauen Zöpfen entgegen, das sich linke, feministische, gegen das Establishment gerichtete Sticker an die Jeansjacke geheftet hatte. Als sie näher kam, bemerkte Zeke, dass sie einen neuen leuchtenden Aufnäher mit einem Audre-Lorde-Zitat auf der Jacke trug: Mit den Werkzeugen des Meisters lässt sich das Haus des Meisters nicht abreißen. Zeke seufzte; er wusste bereits, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde.

»Na, wie fühlt es sich an, die Kolonialgesellschaft Großbritannien bei den Spielen des korrupten Internationalen Olympischen Komitees zu vertreten?«, fragte Rumbi, seine siebzehnjährige, nicht leiblich mit ihm verwandte Cousine, die ein Semester lang einen Grundkurs Geschichte des Britischen Empires belegt und danach nie mehr zurückgeblickt hatte.

»Nicht so schlimm, wie du denkst, Rumbi«, versetzte Zeke.

Rumbi war die Tochter einer engen Freundin seiner Mutter. Er kannte sie seit dem Tag ihrer Geburt, und obwohl sie streng genommen nicht seine kleine Schwester war, verfolgte sie ihn wegen seines politischen Bekenntnisses oder dessen Fehlens mit einer Intensität, als wäre es ihr höchstpersönliches Anliegen, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. In letzter Zeit schickte sie ihm wöchentlich Artikel, in denen sie problematische Verhaltensweisen all seiner Sponsoren auflistete und Kommentare schrieb wie: Es war mir wichtig, dir das mitzuteilen. Zeke ging mit Rumbis Kommentaren zu Themen wie Neokolonialismus und das feindselige Umfeld, mit dem du dich verbündet hast genauso um wie mit den Shitstorms, die seine Twitter-Beiträge auslösten, sobald er es wagte, seine Meinung zu etwas anderem als Sport zu äußern. Er verdrängte seine Angst, versuchte, sich nicht weiter davon beeinflussen zu lassen, und konzentrierte sich einfach auf den nächsten Wettkampf.

Im Teenageralter, als sich namhafte Trainer für Zeke zu interessieren begannen, hatte er ernsthaft in Erwägung gezogen, für Simbabwe anstatt für Großbritannien anzutreten. Aber das Team GB verfügte über einige der besten Trainer und Sportstätten der Welt und … nun ja, auch über eine Menge Geld. Seine Entscheidung stand also fest – er wusste, dass er sich nie wieder Gedanken um Sponsoren oder Reisekosten zu Wettkämpfen machen musste.

Die spalterische Politik und die fremdenfeindliche Rhetorik, mit der er aufgewachsen war, hatten Zeke davon abgehalten, sich als patriotischer Brite zu fühlen, ausgenommen, wenn er Fußball spielte oder mit seinen Freunden zusammen war, die beim NHS arbeiteten. Obwohl seine Familie aus Simbabwe stammte, war das Vereinigte Königreich das einzige Land, in dem er je gelebt hatte. Also beschloss er, die Menschen und Bestandteile des Landes zu vertreten, die ihm ein Gefühl von Heimat vermittelten. Wenn er Rumbi all das zu erklären versuchte, würde sie ihm vermutlich einen Vortrag darüber halten, dass der britische Reichtum auf dem Kolonialismus beruhte, und ihn fragen, ob er seine Integrität wirklich von schicken Laufschuhen kompromittieren lassen wollte. Und dann würde sie ihm ein Buch von Afua Hirsch als leichte Lektüre in den Koffer packen. Aber er hatte seine Entscheidung getroffen, und er würde sich nicht mehr umstimmen lassen.

Sie zuckte mit den Schultern. »Solange du mit dir selbst und dem Wissen leben kannst, dass dieses Land Menschen wie uns nur liebt, solange wir die Rolle der guten Einwanderer spielen«, sagte sie mit diesem unerschütterlichen Sinn für Recht und Unrecht, den man nur mit siebzehn haben kann.

»Das kann ich, danke der Nachfrage«, sagte er und legte sich die Hand auf die Herzgegend.

»Das schwächste Glied in der Kette«, murmelte Rumbi kaum hörbar.

»Ach, übrigens, hat das Empfehlungsschreiben geholfen, das ich dir für die Sommerakademie in Oxbridge geschrieben habe?«, fragte er und zog eine Augenbraue hoch.

»Ja … Sie haben mich genommen«, sagte Rumbi und wirkte leicht verlegen. Sie ließ keine Gelegenheit aus, ihn zu kritisieren, war sich andererseits aber nicht zu schade, ihn um überzeugende Empfehlungsschreiben für Praktika und voruniversitäre Kurse zu bitten. »Danke«, murmelte sie, und dann führten ihn die übrigen Cousins und Cousinen ins Wohnzimmer. Seine Tanten sangen alte simbabwische Hymnen, seine Onkel hielten lange Reden, und seine Mutter sprach ein fünfzehnminütiges Gebet.

»Herr Jesus! Möge Ezekiel gute Entscheidungen treffen«, betete sie, und ein Chor von Tanten und Onkeln sagte: »Amen.«

»Möge er auf seiner Reise nach Athen Erbarmen finden«, betete sie, woraufhin alle Anwesenden applaudierten. Zeke glaubte nicht wirklich an Gott, aber seine Mutter war eng mit Jesus befreundet. Darum hatte er sich längst damit abgefunden, dass jedes Geburtstagsessen, jedes Familientreffen und jede Verabschiedung zu einem Wettkampf für den Rest seines Lebens immer genauso enden würden. Mit einem langatmigen, nicht sehr subtilen Gebet, bei dem üblicherweise die schmutzige Wäsche anderer Leute gewaschen wurde.

»Möge er der Kopf sein und nicht das Endstück«, betete seine Mutter, woraufhin alle Erwachsenen im Raum zustimmten. Ein Onkel, von dem alle wussten, dass er ein Problem mit dem Glücksspiel hatte und regelmäßig mehrere hundert Pfund auf eine Medaille für Zeke setzte, sagte besonders laut Amen.

»Möge er dem Team GB Ehre bringen! Für Simbabwe! Und für den Namen Moyo!« Eine Tante, die nie ohne Tamburin das Haus verließ, schüttelte es, um den Worten Nachdruck zu verleihen. Zum Glück, dachte Zeke, hat sie nicht verkündet, dass ich eine Goldmedaille mit nach Hause bringen werde. Dennoch spürte er, wie sich bei dem Gedanken, unbedingt gewinnen zu müssen, ein gewisser Druck in seiner Brust aufbaute.

»Und möge er nicht in die Irre geführt werden«, betete seine Mutter in dem feierlichen Ton weiter, den sie für den Schlussakt ihrer Gebete reserviert hatte. Sie legte eine kurze dramatische Pause ein, dann begann sie zu weinen. Nur mit Mühe gelang es Zeke, nicht die Augen zu verdrehen. Er kannte seine Mutter gut genug, um zu wissen, worauf sie hinauswollte.

»Allmächtiger Vater, bewahre Ezekiel vor der Sünde!«, rief sie, und die Onkel begannen zu klatschen. »Bewahre ihn vor dem Geist der Ungerechtigkeit!« Eine Tante, deren Sohn ein wandelndes dreizehnjähriges Problem war, nickte zustimmend und flüsterte erschöpft: »Ja, Herr.« Zeke biss sich auf die Zunge.

»Vor Stolz! Vor … Trunksucht …«, fuhr sie fort. Eigentlich betete sie für Zeke, aber alle drehten unwillkürlich den Kopf in Richtung Onkel Isaiah, der dafür berüchtigt war, sich bei jeder Familienfeier bis zum Umfallen zu betrinken, und der an diesem Abend bereits mit der sechsten Dose Bier beschäftigt war.

»Herr Gott, himmlischer Vater … Bewahre Zekes Herz vor Promiskuität«, rief seine Mutter, woraufhin seine Tanten zustimmend »Ja, Herr!« und »Amen« riefen. Zeke sah seine Brüder an, die sich bemühten, nicht in Gelächter auszubrechen. Es war ein ganz normales Familientreffen der Moyos.

Schließlich endete das Gebet, und Zeke stand in der Mitte des Raums, während all seine Tanten und Onkel zu ihm kamen, um ihn zu umarmen, ihm Ratschläge zu erteilen und danach mit mindestens drei Behältern voller Essensreste nach Hause zu gehen. Das Haus leerte sich, bis nur noch er und seine Brüder übrig waren.

»Viel Glück, Little Z«, sagte Takunda und griff nach seinem Autoschlüssel. »Du wirst uns stolz machen, das weiß ich.« Zeke vertraute seine Sorgen eigentlich nie jemandem an, nicht einmal seinen Brüdern, aber die kannten ihn besser als jeder andere. Er wusste, dass sie spürten, wie sich der Druck, siegen zu müssen, auf ihn auswirkte, denn sie hatten ihm in den letzten Wochen immer wieder in Erinnerung gerufen, dass sie ihm zwar ebenso wie der Rest des Landes seine erste olympische Goldmedaille wünschten, aber auch ohne diesen Sieg stolz auf ihn sein würden.

»Sieh zu, dass du ein bisschen Spaß hast, okay?«, sagte Masimba. Zeke nickte.

»Ich meine es ernst«, sagte Masimba und sah ihm in die Augen.

»Einfach einen Fuß vor den anderen setzen«, sagte Zeke.

»Aber schneller als je zuvor«, wiederholten seine Brüder die Worte, die ihr Vater immer zu ihnen gesagt hatte, als sie noch klein waren. Zeke spürte ein seltsames Brennen in den Augen, aber er blinzelte die Tränen weg. Takunda schaute ihn so besorgt an, wie er es seit Zekes vierzehntem Lebensjahr fast immer tat. Seitdem waren beinahe zehn Jahre vergangen, und Zeke war noch immer nicht bereit, über seinen Vater zu sprechen. Zum Glück beherrschte Masimba die Kunst des Themawechsels.

»Wahrscheinlich sollte ich dich auch ermahnen, verantwortungsbewusst zu sein und so, aber …« Masimba verstummte, ein vielsagendes Lächeln im Gesicht.

»Was im Dorf passiert … bleibt auch im Dorf«, sagte Zeke.

»Hört bloß auf, meinen lieben Sohn zu verderben!«, schimpfte ihre Mutter und durchquerte das Wohnzimmer. Sie vergaß dabei gern, dass meistens Zeke derjenige war, der seine Geschwister aufstachelte.

»Wenn dein Vater dich jetzt nur sehen könnte«, sagte sie mit Tränen in den Augen.

Zeke war gut einen halben Meter größer als sie, aber neben seiner Mutter kam er sich klein vor. Als wäre er wieder der Vierzehnjährige, dessen Vater gerade gestorben war, völlig hilflos angesichts der Trauer. Also tat er das Einzige, wozu er in der Lage war, das Einzige, was sie je von ihm erwartet hatte: Er legte ihr einen Arm um die Schulter und drückte sie an sich. Für sie war diese Geste immer mehr als genug gewesen.

»Er wäre so stolz auf dich gewesen«, sagte sie leise.

Zeke nickte, spürte aber das altbekannte Schuldgefühl, das ihn hin und wieder überkam. Ja, sein Vater wäre stolz auf ihn. Aber es wäre eine komplizierte Art von Stolz. Sein Vater hätte gejubelt und gefeiert, aber gleichzeitig wäre in seinen Augen eine kaum verhüllte Enttäuschung aufgeblitzt. Denn Zeke war zahlreiche Kompromisse eingegangen. Er war sich der vielen kleinen Entscheidungen bewusst, die seine Integrität geschmälert hatten, und auch der Wege, die er hätte beschreiten müssen, um der Mann zu werden, auf den sein Vater stolz gewesen wäre. Und gleichzeitig wusste er, dass ein Leben, das er nach seinen eigenen Vorstellungen führte, niemals ganz im Einklang mit den Wünschen seines Vaters stehen würde. Es gab ein einziges Versprechen, das er immer hielt: Er überquerte die Ziellinie stets in dem Wissen, dass er sein Bestes gegeben hatte.

Als Zeke das Haus, in dem er aufgewachsen war, verließ, um zurück zu seiner Wohnung zu fahren, betrachtete er den Sonnenuntergang und versuchte, sich vorzustellen, wie die nächsten drei Wochen seines Lebens aussehen würden. Die Rennen, die er bestreiten würde, die alten Freunde, die er wiedersehen, und all die Erinnerungen, die er erschaffen würde. Zum dritten Mal an den Olympischen Spielen teilnehmen zu dürfen, war sein bisher größter Erfolg. Seit seiner Kindheit hatte er davon geträumt und fast sein ganzes Leben lang dafür trainiert. Er war der Favorit der Buchmacher für den ersten Platz im Hundert-Meter-Finale, und wo auch immer er war, versicherten ihm die Leute, sie wüssten, dass er die Goldmedaille mit nach Hause bringen könne. Und Zeke wollte die Goldmedaille mit nach Hause bringen. Er wollte den Applaus der Menge hören, wenn er die Ziellinie überquerte, und er wollte wissen, dass er endlich auf dem Höhepunkt des Erfolgs war.

Doch als er vor seinem Koffer stand und sich vergewisserte, dass alles Nötige darin lag, konnte er das Gefühl der Angst, das sich langsam in seiner Brust aufbaute, nicht länger leugnen. Hier und jetzt, allein in seinem Zimmer, wo er niemanden beeindrucken musste, spürte er die Zweifel in sich aufsteigen.

Es ging bei diesen Spielen um so viel. Darum, eine Goldmedaille zu holen, einen persönlichen Rekord zu brechen und ein Land stolz zu machen. Zeke wusste, dass er das Rennen gewinnen konnte, aber er hatte Angst vor dem, was nach dem Überqueren der Ziellinie kam. Denn nach dem Gewinn der Medaille, die über dem Kaminsims seiner Mutter hing – eine atemberaubende silberne Erinnerung an die letzten Olympischen Spiele –, hatte er mehr Freude empfunden als je zuvor.

Doch als er das Stadion, die Menge und den Applaus hinter sich gelassen hatte, war diese Freude bald in etwas Dunkleres übergegangen, etwas, das nur schwer zu erklären war. Eine Welle von Emotionen, die ihn in die Knie gezwungen hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er wirklich zusammengebrochen.

Und einen weiteren Zusammenbruch konnte sich Zeke nicht leisten.

Kapitel 2

Olivia

Vier Tage vor der Eröffnungsfeier

»Können Sie mir von einer Herausforderung erzählen, der Sie in Ihrem Leben begegnet sind, und davon, wie Sie sie bewältigt haben?«, fragte der Mann, der sie per Videoschalte interviewte.

Olivia Nkomo blieb ganz ruhig, während sie über den Bildschirm den Blickkontakt hielt. Eine Sekunde lang hob sie den Kopf, als wäre sie tief in Gedanken versunken. Doch tatsächlich hatte sie die Antwort auf diese Frage schon hundertmal geübt. Sie hatte mehr erfolgreiche Vorstellungsgespräche für begehrte Praktika hinter sich gebracht als jeder andere, den sie kannte. Sie war also Expertin darin, genau das zu sagen, was die Person auf der anderen Seite des Tisches hören wollte. Und ehrlich gesagt war die Frage leicht zu beantworten, denn Olivia Nkomo hatte bei der Arbeit mehr als genug schwierige Momente erlebt.

Sie hatte ihre Zeit an der Universität damit verbracht, ihrem Lebenslauf so viele Qualifikationen hinzuzufügen wie nur irgend möglich. Auch wenn es manchmal unangenehm war … Zum Beispiel, als sie ihren Vorgesetzten bei der Investmentbank dabei ertappte, wie er auf dem Waschbecken in der Damentoilette eine Line zog, nachdem er kaum zehn Minuten bei dem von der Firma gesponserten Empfang mit Begrüßungsgetränken verbracht hatte. Oder der seltsame Sommer, den sie in einer Krisen-PR-Agentur für Musiker verbracht hatte, deren Probleme von geleakten Privatfotos bis zu Strafverfahren reichten. In der zweiten Woche hatte man sie gebeten, mit dem unglaublich teuren Mercedes ihres Managers quer durch London zu fahren, um einem Prominenten, der nur knapp einer Gefängnisstrafe wegen Körperverletzung mit Todesfolge entgangen war, ein Paket nach Hause zu bringen.

»Unschuldig, bis die Schuld bewiesen ist«, rief der Chef ihr ins Gedächtnis.

»Aber die Beweise wurden doch nur deshalb nicht zugelassen, weil …«, setzte Olivia an.

»Unschuldig. Bis. Die. Schuld. Bewiesen. Ist«, wiederholte ihr Vorgesetzter. Olivia versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, welchem Verschleierungsversuch sie das Team-Dinner in einem Restaurant mit Michelin-Sternen verdankten, das zweihundert Dollar pro Person gekostet hatte. Sie hatte einfach ihre Kündigung eingereicht und einen kleinen Teil ihrer Ersparnisse für wohltätige Zwecke gespendet. Aber keine Spende und keine lange, heiße Dusche der Welt konnten die Erinnerung an das unheimliche Flüstern vertreiben, das sie im Büro gehört hatte, während sie darauf wartete, dass das Kaffeewasser zu kochen begann.

Im Sommer ihres zweiten Studienjahres absolvierte Olivia ein Praktikum bei einem großen Techkonzern. Genau, bei diesem Techkonzern. Die Praktikanten bekamen kostenloses Frühstück, um sie von der Tatsache abzulenken, dass sie vier Wochen unbezahlte Arbeit leisteten. Und um sie daran zu erinnern, dass das Prestige, das dieser Sommer ihrem Lebenslauf verleihen würde, die vergiftete Arbeitsatmosphäre, die sie während ihres Aufenthalts erlebten, bei Weitem aufwiegen würde. Auf der nur vorgeblich freiwilligen Bürosommerparty erfand Olivia eine Ausrede, um sich von ihrem Team zu entfernen und mit den anderen Praktikanten Snooker zu spielen. Sie hatte zugegeben, dass sie die Regeln nicht kannte, aber als einer der anderen Praktikanten sie ihr erklären wollte, spürte sie, wie sich ihr von hinten ein Kollege näherte. Er arbeitete in der Buchhaltung, war größer als sie und auch älter, in den Vierzigern vermutlich. Er hatte ihr behutsam eine Hand auf die Schulter gelegt und gemurmelt, er würde ihr »beibringen, wie man spielt«.

Bevor sie höflich ablehnen konnte, hatte er seinen Körper an ihren gepresst und ihr den Queue zwischen Finger und Daumen geklemmt. Olivia verkrampfte sich, als sich seine schweißfeuchte Hand um ihre Finger schloss. Es waren so viele Leute in dem Raum, dass sie ihm keine Szene machen konnte. Ihr Abteilungsleiter stand ganz in der Nähe und unterhielt sich mit den hohen Tieren des Unternehmens. Die anderen Praktikanten standen einfach nur da, bemerkten ihr Unbehagen, schwiegen aber. Der Mann aus der Buchhaltung drückte sich noch immer mit dem ganzen Körper an sie; sein nach Wodka und Limetten riechender Atem kondensierte auf ihrer Schulter.

Aber sie konnte sich nicht wehren.

Also riss sie sich zusammen, zählte bis zehn und sagte, sie müsse zur Toilette, woraufhin er sie endlich losließ.

In der Toilettenkabine redete sie sich ein, dass sie den Mund aufgemacht hätte, wenn sich diese Szene in der Öffentlichkeit abgespielt hätte. Sie hätte etwas unternommen. Hätte sich in einer Kneipe ein schmieriger älterer Mann an sie gedrückt, hätte sie ihn abgeschüttelt, ihn angebrüllt und das Lokal verlassen. Aber sie wusste, dass es ihr nichts bringen würde, eine Szene zu machen in einem Raum voller Leute, die ihr glänzende Empfehlungsschreiben ausstellen oder ihr – nach ihrem Abschluss – sogar einen prestigeträchtigen Job verschaffen konnten. Also spritzte sie sich etwas Wasser ins Gesicht, tat so, als wäre überhaupt nichts passiert, und machte einfach weiter.

Denn ungewöhnliche, teure und manchmal unbequeme Erfahrungen waren der Preis, den man zahlte, wenn man in einem angesehenen Unternehmen arbeiten wollte, bevor man wenige Monate später in einer Phase der Rezession seinen Abschluss machte. Als der Interviewer sie also nach einer erfolgreich bestandenen Herausforderung fragte, erzählte sie routiniert von einem Praktikum, das sie im Sommer zuvor bei einer NGO absolviert hatte, und ließ in Sachen Sport eine undurchsichtige Bemerkung fallen, die den Journalisten aufhorchen ließ. Olivia beendete das Gespräch in dem Wissen, dass sie sich gut geschlagen hatte, war aber dennoch überrascht, als sie in ihrem Posteingang eine E-Mail mit der Betreffzeile Herzlichen Glückwunsch sah. Sie hatte viele Stunden in der Bibliothek verbracht, in allen Semesterferien Praktika gemacht und ihre Karriere akribisch geplant in der Hoffnung, das Ziel zu erreichen, von dem sie ihr Leben lang geträumt hatte. Und nun hatte sie es endlich geschafft. Olivia hatte ihren Traumjob bei den Olympischen Spielen ergattert, etwas, worauf sie seit ihrem achten Lebensjahr hingearbeitet hatte.

Angefangen hatte alles im Sommer 2008 bei den Olympischen Spielen in Peking. Ihre Eltern hatten drei große Schüsseln Popcorn zubereitet, den Fernseher eingeschaltet und gemeinsam mit Millionen von Menschen auf der ganzen Welt die Eröffnungsfeier verfolgt. Olivia erinnerte sich vage, dass eine Lehrerin ihrer Klasse von den Olympischen Spielen erzählt hatte, aber erst als sie mit acht Jahren auf dem Sofa vor dem Fernseher saß und zum ersten Mal den Beginn der Spiele verfolgte, fing sie an zu verstehen, warum ihre Eltern derart begeistert von diesem Event waren. Sie sah zu, wie sich die Darsteller der Eröffnungsfeier auf der Bühne versammelten, um mit Gesang und Tanz eine Geschichte zu erzählen, und war völlig fasziniert von dem, was sich vor ihren Augen abspielte. Am nächsten Tag schaltete sie ein und sah sich das Synchronschwimmen an. Ehrfürchtig starrte sie auf den Fernseher, denn sie hatte erkannt, wie viel Disziplin und Übung die Schwimmer gebraucht hatten, um so weit zu kommen. Sie schaute sich eine Dokumentation über einen Radfahrer an, der seine Kindheit im Slum verbracht, sich hochgearbeitet und eine Goldmedaille gewonnen hatte, und sie staunte, wie sehr Sport das Leben eines Menschen verändern kann. In diesem Sommer saß Olivia jeden Tag stundenlang vor dem Fernseher und verfolgte die Wettkämpfe. Sie ging in die Bibliothek, um sich über die verschiedenen Sportarten zu informieren, und durchforstete die Fernsehzeitschrift nach Dokumentationen und Filmen über legendäre Sportler. Als sie und ihre Eltern sich gemeinsam das Feuerwerk bei der Abschlussfeier ansahen, war Olivia derart überwältigt, dass ihr auf einmal kristallklar vor Augen stand, was sie später einmal tun oder, genauer gesagt, wo sie arbeiten wollte.

Sie konnte nicht anders, als sich von dieser Magie anstecken zu lassen. Olivia tapezierte ihre Wände mit Postern mit den offiziellen Grafiken aller Sommerspiele der letzten fünfzig Jahre. Ihre Eltern stöberten in Vintage-Läden herum, nahmen an Online-Auktionen teil und schenkten ihr olympische Fanartikel zum Geburtstag. Seit dieser ersten Eröffnungsfeier träumte Olivia von einem Leben, in dem sie um die Welt reiste und diesen fünf ineinander verschlungenen Ringen folgte. Eigentlich war sie keine Idealistin, aber diese Spiele vermochten Grenzen, Sprachen und politische Differenzen zu überwinden, und das gab ihr etwas, woran sie glauben konnte. Ein Glaube, der so stark war, dass sie ihr Leben danach ausrichten wollte. Und nun würde ihr Traum endlich wahr werden. Sie hatte einen Praktikumsplatz bei den Spielen ergattert, und in wenigen Tagen würde sie sich auf den Weg nach Athen machen. Sie brauchte nur noch das perfekte Outfit dafür.

»Olivia, Schätzchen, du siehst großartig aus«, sagte ihre Mutter, Mai Nkomo, die vor den Umkleidekabinen saß und sich mit einem Papiertaschentuch behutsam die Augen abtupfte. Olivia hätte in einem Kleid aus Lumpen herauskommen können, und ihre Eltern hätten ihr trotzdem versichert, dass sie wie ein Supermodel aussah.

Aber als sie sich im Spiegel betrachtete, stellte sie fest, dass sie tatsächlich gut aussah. Sie trug einen eleganten smaragdgrünen Anzug, der ihr wie auf den Leib geschneidert war. Beim Anziehen hatte sie auf das Preisschild geschaut und das Gesicht verzogen. Sie wusste, dass ihre Eltern sich diese Ausgabe nicht leisten konnten. Olivia hatte vorgehabt, den Anzug wieder auszuziehen und zu behaupten, er passe ihr nicht richtig, um sich dann nach etwas Preiswerterem umzusehen, aber ihre Eltern hatten sie herausgerufen, ehe sie sich eine vernünftige Ausrede einfallen lassen konnte.

»Mein schönes, intelligentes, erfolgreiches Mädchen. Dreh dich doch mal!«, sagte ihr Vater, Baba Nkomo.

Olivia vollführte eine kleine Drehung und versuchte, sich nicht allzu sehr zu schämen, als sie die Verkäuferinnen sah, die im Laden standen und sie lächelnd beobachteten.

»Ich sehe es genau vor mir«, sagte ihre Mutter und erhob sich aufgeregt von ihrem Platz. »Wie du diese Büros betrittst, eine smarte, kultivierte Karrierefrau, die alle begeistert!«

»Du wirst Shootingstars die Hand schütteln und sie mit deiner Brillanz beeindrucken … Meine Tochter, Rechtsberaterin bei den Olympischen Spielen.«

»Dad, ich bin noch keine Anwältin.« Olivia hatte zwar ein dreijähriges Jurastudium absolviert, bislang aber noch nicht mit dem Referendariat begonnen. »Und es ist auch noch kein Job, sondern nur ein Praktikum«, sagte sie und bemühte sich, seine Begeisterung zu dämpfen, bevor die Geschichte zum Thema Nummer eins in den WhatsApp-Gruppen wurde, wo ihre Eltern und deren Freunde sich darüber ausließen, wie gut sich ihre Kinder entwickelten.

»Aber ich kann die Ziellinie schon sehen«, sagte ihre Mutter und umarmte sie, während sie gemeinsam in den Spiegel schauten. Olivia erwiderte die Umarmung und lächelte ihr Spiegelbild an.

Sie wollte ihre Eltern davon abhalten, diesen Anzug zu kaufen, und behauptete, sie habe bereits ein perfektes Outfit. Aber die beiden waren hartnäckig. Olivia wusste, dass sie zu stolz waren, um zuzugeben, dass sie sich diesen Hosenanzug nicht leisten konnten, und sie zutiefst beleidigt wären, wenn sie ihnen anböte, ihn selbst zu bezahlen. Also drückte sie ihre Mutter ein weiteres Mal. Sie würde sich bei ihnen revanchieren und in diesem Monat die Lebensmittel bezahlen. Sie nähmen niemals Geld von ihr an, aber zu einem Kühlschrank voller Lebensmittel sagten sie nicht Nein.

Seit ihrem siebten Lebensjahr hatten Olivias Eltern ihr jedes Jahr eine neue Schuluniform gekauft, sogar wenn das Geld knapp war und sie sie lieber gebraucht erstanden hätten. Als Olivia Praktika absolvierte und dann ihre ersten Jobs antrat, setzten sie diese Tradition fort und kauften ihr heruntergesetzte Ware im Kaufhaus. Ihr Vater ermahnte sie immer wieder, sich passend zu kleiden, und ihre Mutter sagte, das richtige Outfit sei die Voraussetzung dafür, sich in jeder Lage wohl in seiner Haut zu fühlen. Als Olivia also den wunderschönen smaragdgrünen Anzug im Schaufenster sah, wusste sie sofort, dass sie das perfekte Outfit gefunden hatte, um den wichtigsten Job ihres Lebens anzutreten. Und das Ziel zu erreichen, auf das auch ihre Eltern praktisch ihr Leben lang hingearbeitet hatten.

Als Olivias Eltern in den Neunzigerjahren Simbabwe verließen und nach Großbritannien gingen, waren sie junge, hoffnungsvolle Mittzwanziger. Sie folgten dem Traum, dem so viele vor und nach ihnen ein Leben lang nachgejagt waren: ein besseres Leben im Vereinigten Königreich. Sie lernten sich an der juristischen Fakultät kennen, heirateten weniger als ein Jahr später und kamen mit jugendlichem Tatendrang in England an, bereit, sich ein eigenes Leben aufzubauen.

Aber sie wurden sehr bald desillusioniert. Erstklassige Abschlüsse aus Ländern der Dritten Welt bedeuteten in ihrer kalten, grauen neuen Heimat rein gar nichts. Die Jahre des Studiums waren umsonst gewesen. Renommierte Anwaltskanzleien wollten keine Einwanderer mit starkem Akzent aus einem Land einstellen, mit dem sie lediglich die Begriffe Diktatur und Armut verbanden. Also machten sie beide eine Umschulung und versprachen einander, eines Tages wieder als Anwälte zu arbeiten. Aber dieser Tag war nie gekommen. Ihr Vater hatte einen Job als Sozialarbeiter angenommen. Er verbrachte seine Zeit damit, gefährdeten Erwachsenen zu helfen, während das Budget der Stadtverwaltung jede Woche schrumpfte. Und ihre Mutter arbeitete als Lehrerin für Rechtskunde. Die Mittelstufenschüler, die sie unterrichtete, machten sich über ihren Akzent lustig und taten so, als verstünden sie nicht, was sie sagte. Aber Olivias Mutter blieb bis spätabends auf, um im Auftrag des Jugendamts mit den Eltern gefährdeter Schüler zu telefonieren, und im Sommer betreute sie einen wöchentlich stattfindenden Mittagstisch für Kinder, die außerhalb der Schule vermutlich keine anständige warme Mahlzeit bekamen.

Das bessere Leben, von dem die beiden geträumt hatten, bestand aus viel Arbeit, um gerade so über die Runden zu kommen und am anderen Ende der Welt in einer Stadt zu leben, in der sie sich niemals zu Hause fühlen würden. Aber dann sahen sie ihre Tochter an, und Olivia wusste, dass sie dachten, die harte Arbeit habe sich gelohnt. Olivia würde all das erreichen können, wozu ihre Eltern nicht in der Lage gewesen waren. Ihre Tochter, ihr einziges Kind, war das Produkt ihrer kühnsten Träume.

Kapitel 3

Olivia

Drei Tage vor der Eröffnungsfeier

»Bist du bereit, dich in einen heißen griechischen Kerl zu verlieben, eine von der Sonne geküsste Göttin zu werden und den besten Sommer deines Lebens zu verbringen?«, fragte eine vertraute Stimme. Eine Sekunde später wurde Olivia in eine nach Espresso duftende Umarmung gezogen. Von Aditi Sharma, ihrer besten Freundin.

»Äh … ich bin bereit, in diesem Praktikum zu brillieren, eine Vollzeitstelle beim Internationalen Olympischen Komitee zu ergattern und den besten Sommer unseres Lebens zu verbringen«, sagte Olivia, während Aditi sie noch fester umarmte.

Aditi Sharma war der Typ Frau, dem man all seine Geheimnisse erzählen und vollkommen sicher sein konnte, dass sie niemals den Raum verlassen würden. Ihr welliges, langes schwarzes Haar, ihre goldbraune Haut und ihre Figur sahen immer super aus. Sie hatten sich im Alter von fünf Jahren auf dem Spielplatz kennengelernt und waren seither unzertrennlich. Aditi war der personifizierte Sonnenschein.

»Ich bin so stolz auf dich, Liv!«, sagte Aditi und nahm Olivias Gesicht in beide Hände. Olivias Traum von Olympia war seit Jahren Thema. Nachdem sie sich den Praktikumsplatz gesichert hatte, hatte ihre beste Freundin sie gebeten, mitfahren zu dürfen. Aditi war hauptberuflich Influencerin, mit einem Nebenjob als Grafikdesignerin bei einem Technologiekonzern. Im Grunde konnte sie arbeiten, wo sie wollte, darum hatten sie sich für den Sommer eine Wohnung in Athen gesucht. Wenig überraschend war Olivias Praktikum unbezahlt, also hatte sie einen Teil ihres Überziehungskredits für den Flug und einen noch größeren Teil ihres Kreditkartenguthabens für das Airbnb verwendet und das finanzielle Schlamassel, in das sie sich zu stürzen drohte, einfach ignoriert. Denn es waren die Olympischen Spiele! Mit ihren Finanzen würde sie sich befassen, sobald sie einen ihrer Qualifikation entsprechenden Job gefunden hatte.

Sie gingen durch den Flughafen, passierten die Sicherheitskontrolle und stöberten in einem Buchladen, während sie auf die Bekanntgabe ihres Gates warteten. In der Duty-Free-Abteilung testeten sie noble Parfüms und malten sich aus, wie die folgenden Wochen in Griechenland verlaufen würden.

»Wird uns die Sommer-Olivia auch dieses Jahr begleiten?« Olivia senkte die Hand mit dem Parfümtester und drehte sich zu Aditi um.

Sie und Aditi hatten jahrelang für den Sommer nach ihrem neunzehnten Geburtstag gespart. Keine von ihnen hatte jemals Urlaub im Ausland gemacht, also planten sie eine Mädelsreise, die ihren Träumen entsprach. Sie lasen Reiseblogs, sahen sich Urlaubsvlogs an und suchten nach sicheren, nicht rassistischen Städten für junge Frauen, ehe sie sich für Portugal entschieden. Aditi benutzte dafür das Geld, das sie mit ihren ersten Markendeals verdient hatte, und Olivia kombinierte das Einkommen aus ihrem Teilzeitjob mit einem beträchtlichen Teil ihres Überziehungskredits für Studierende … und sie hatten eine tolle Zeit. Doch am vierten Tag ihrer Erkundungstour durch Lissabon lernte Olivia Tiago kennen, einen großen, wahnsinnig attraktiven jungen Portugiesen, der in der Pension arbeitete, in der sie wohnten. Tiago nahm sie in seine Lieblingsbäckerei mit, damit sie köstliche Pasteis de Nata probieren konnten, zeigte ihnen wunderschöne Ausblicke auf die Skyline der Stadt und küsste Olivia, als sie bei Sonnenuntergang am Strand spazieren gingen. Olivia verliebte sich in ihn … und zwar sehr bald. Irgendwann hatte sie sich an Aditi gewandt und gesagt: »Ich glaube, die Sonne hier steigt mir zu Kopf; der Sommer macht mich total leichtsinnig«, und so war der Spitzname geboren. Aber sie war fest entschlossen, in diesem Jahr einen kühlen Kopf zu behalten.

»Die Sommer-Olivia ist dauerhaft in den Ruhestand versetzt«, sagt Olivia energisch.

»Aber sie ist so lustig«, erwiderte Aditi mit einem schelmischen Lächeln.

»Sie ist so lange lustig, bis sie anfängt, schlechte Entscheidungen zu treffen, die ihr Leben ins Chaos stürzen, nur weil ihr die Sonne zu Kopf gestiegen ist«, sagte Olivia und erinnerte sich an das letzte Mal, als ihr Sommer-Ich die Zügel in die Hand genommen hatte. Am Ende hatte sie mit ihrer Kreditkarte in letzter Minute einen Flug gebucht und während der gesamten Heimreise im Flugzeug geweint.

»Aber weißt du noch, wie viel Spaß wir hatten?«

»Und weißt du noch, wie ich fast nicht nach Hause gekommen wäre?«

»Wäre das denn so schlimm gewesen?« Aditi lächelte.

»Das sagst du nur, weil du einen Vorwand gehabt hättest, jeden August an einem portugiesischen Strand zu verbringen, wenn ich mein Leben für diesen Jungen auf den Kopf gestellt hätte«, sagte Olivia und zog eine Augenbraue hoch. Sie lachte, als sich Aditis Gesichtsausdruck veränderte. »Diesmal steht der Plan an erster Stelle«, sagte sie und schlug auf den Deckel ihres Koffers, um jedes Wort zu betonen.

Nach dem impulsiven, fast katastrophalen Sommer 2019 war Olivia nach Hause zurückgekehrt und hatte einen genauen Plan für die nächsten Jahre ihres Lebens aufgestellt. Sie hatte sich ihren Fünfjahresplan über den Schreibtisch gehängt und sich selbst versprochen, alles zu tun, um sämtliche Ziele auf ihrer Liste zu erreichen.

»Ach ja? Und wie genau sieht dieser Plan noch mal aus?« Aditi kannte jeden einzelnen Punkt, aber sie wusste auch, wie gern Olivia über den Plan sprach.

»Jahre eins bis drei: einen erstklassigen Abschluss in Jura an der UCL machen und ein Praktikum bei jeder der vier großen Anwaltskanzleien«, sagte Olivia.

»Check«, sagte Aditi lächelnd und malte ein Häkchen in die Luft.

»Im dritten Jahr absolviere ich im Sommer ein Praktikum bei einer Firma in New York, die mit den Olympischen Spielen zu tun hat. Und ich schreibe mich für den Master an der LSE ein.«

»Check«, sagte Aditi.

»Im vierten Jahr beende ich meinen Masterstudiengang mit einem akademischen Titel und mache Praktika bei einer Reihe von Tech-Start-ups und NGOs.«

»Check!«, rief Aditi und drückte Olivias Arm.

»Dann fängt das fünfte Jahr mit einem Praktikum bei den Olympischen Spielen an, und ich beende es, indem ich mir meinen Traumjob beim Internationalen Olympischen Komitee oder der UNO sichere«, sagte Olivia, während sie zu ihrem Gate gingen. »Und den Rest, bis ich dreißig werde, widme ich der totalen Weltherrschaft. Mit neunundzwanzig stehe ich entweder auf der Forbes-Liste der 30 Under 30 oder ich bin für den Nobelpreis nominiert, kapiert?« Olivia lachte, aber sie wussten beide, dass sie es ernst meinte; sie wurde von reinem, ungefiltertem Ehrgeiz angetrieben.

»Oder beides!«, sagte Aditi. Olivia konnte sich darauf verlassen, dass ihre beste Freundin immer ihre beste Freundin war. Im Flugzeug synchronisierten sie ihre Bildschirme, damit sie sich während des Flugs denselben Film anschauen konnten. Als sie sich auf halbem Weg zwischen England und Griechenland über den österreichischen Alpen befanden, holte Aditi ihren Kulturbeutel heraus und begann – zur Verwunderung des Mannes mittleren Alters, der neben ihnen saß – mit ihrer aus sechs Schritten bestehenden Hautpflege. Auch Olivia legte eine Vlies-Gesichtsmaske auf, schloss die Augen und lächelte.

Dieser Sommer war die Gelegenheit, den Träumen, die sie schon ihr Leben lang hegte, einen großen Schritt näher zu kommen. Und zwar auf eine Art, an die ihre Eltern schon lange nicht mehr glaubten. Sie konnte es sich nicht leisten, auch nur einen Zentimeter von ihrem sorgfältig ausgearbeiteten Plan abzuweichen.

»Meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Pilot«, ertönte eine Stimme aus den Lautsprechern über ihnen. »Wir werden in Kürze in Athen landen, wo die Temperatur vierunddreißig Grad Celsius beträgt. Wenn Sie nach links schauen, sehen Sie die majestätischen Hügel und die Akropolis.« Olivia drehte den Kopf nach links und erhaschte durch ein Fenster auf der gegenüberliegenden Seite einen Blick auf die Stadt.

»Und wenn Sie nach rechts schauen, sehen Sie das, weswegen so viele von Ihnen in diesem Sommer nach Athen kommen«, sagte er. Olivia sah aus dem Fenster, und das Flugzeug setzte zum Sinkflug an. Sie erblickte die Stadt, die sich am Horizont erstreckte. Und dann sah sie genauer hin. Dort stand es, abseits vom Rest der Stadt. Olivia hatte Jahre mit der Planung verbracht, Monate mit den konkreten Vorbereitungen und ihr ganzes Leben, um davon zu träumen. Jetzt war der Traum endlich zum Greifen nah.

Kapitel 4

Zeke

Zwei Tage vor der Eröffnungsfeier

Die Trikots des britischen Teams kamen in Schachteln mit blauen Schleifen bei Zeke zu Hause an. Er machte gerade Krafttraining und sah sich dabei ein altes Rennen an, um es zu analysieren. Doch als der Kurier eintraf, hörte er sofort damit auf. Er legte die erste Schachtel auf den Couchtisch, löste vorsichtig das Band und hob den Deckel an. Eine nagelneue weiße Jacke kam zum Vorschein. Auf der linken Seite der Brust prangte die britische Flagge, auf der rechten Seite stand Team GB, auf dem Rücken sein voller Name. Als Zeke sich im Spiegel betrachtete, wurde ihm endgültig klar, dass er für die Olympischen Spiele tatsächlich nach Athen fliegen würde. Und zum ersten Mal seit Monaten würde er all seine Mannschaftskameraden wiedersehen.

Als er am Tag des Abflugs am Flughafenterminal ankam, umringte ihn eine aufgeregte Menge, die rot-weiß-blaue Fahnen schwenkte und jedem Athleten zujubelte, der die Halle betrat. Auf beiden Seiten des Eingangs standen Reporter und Kamerateams. Eine Gruppe von Schulkindern hielt Blumen und Banner mit Glückwünschen hoch. Ein Mädchen erblickte ihn in der Menge und stupste ihre Freundin an, woraufhin sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer unter den Fans ausbreitete, bis schließlich alle seinen Namen riefen.

»Zeke!«, rief eine bekannte Stimme. Er drehte sich um und sah Anwar, einen seiner Freunde, Speerwerfer im Team GB. Das komplette Team befand sich im Flughafenterminal; Freunde aus unterschiedlichen Sportarten, die sich nur wenige Male im Jahr sehen konnten, trafen sich endlich wieder.

»Wie ich sehe, hast du dir deine Shirts mal wieder zwei Nummern zu klein bestellt«, sagte Camille, eine der Hochspringerinnen.

»Nur für dich, Camille«, sagte Zeke und ließ lächelnd seine Zähne blitzen.

»Hey, Frankie, was hörst du da?« fragte er. Frankie war ein Läufer, der während des Marathontrainings immer Hörbücher hörte.

»Ein wenig Leben«, sagte Frankie.

»Puh, alles in Ordnung mit dir?«, fragte Zeke überrascht. Er hatte das Buch im Sommer zuvor gelesen und war danach wie alle anderen, die es gelesen hatten, ziemlich erschüttert.

»Nicht gerade leichte Kost, das stimmt«, sagte Frankie. »Aber es dauert zweiunddreißig Stunden, ist also perfekt fürs Training.«

Als die Teammitglieder ihre Tickets checkten, um zu sehen, wer im Flugzeug neben wem saß, befanden sich über vierhundert Athleten im Flughafen: Fechter, Radfahrer, Ruderer, Turner, Boxer und Leute, die in Sportarten antraten, von denen der Durchschnittsbürger noch nie etwas gehört hat. Das war das Beste an den Spielen: das Gefühl, Teil von etwas viel Größerem zu sein. Zu einem Team von Athleten zu gehören, die aus allen Ecken des Landes kamen und sich in Sportzentren, auf Sportplätzen und Gewässern ein Zuhause geschaffen hatten. Begeisterung und Anspannung lagen in der Luft, als Zeke und seine Mannschaftskameraden allmählich begriffen, wohin die Reise gehen würde. Sie alle hatten vier Jahre lang für diesen Augenblick trainiert. Sie hatten sich ausschließlich auf ihre Ziele konzentriert, auf Geburtstagsfeiern, Urlaubsreisen und unbeschwerte Wochenenden mit Freunden verzichtet, um jeden Tag zu trainieren. Und es hatte sich absolut gelohnt, denn sehr bald würden sie sich mit den besten Athleten der Welt messen.

Zeke erinnerte sich an den Tag, an dem er den Anruf erhielt. Schon in seiner Kindheit hatte er an lokalen und regionalen Laufwettbewerben teilgenommen, und sein Vater und er hatten im Lauf der Jahre mit vielen Trainern zusammengearbeitet. Während langer Autofahrten entwickelten sie Strategien für seine Karriere und recherchierten abends über Läufer wie Linford Christie, Usain Bolt und Tyson Gay, um von deren Methoden zu lernen. Knapp einen Monat nach der Beerdigung seines Vaters erhielt Zeke den Anruf von Coach Adam, der ihn einlud, dem britischen Olympiateam beizutreten.