Lichterzauber in Schweden - Anna Lindqvist - E-Book
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Lichterzauber in Schweden E-Book

Anna Lindqvist

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Beschreibung

Über uns leuchtet die Nacht

Lilje wird nach Jokkmokk in den hohen Norden Schwedens geschickt, um für das Online-Magazin eines Tourismusunternehmens über den traditionellen Wintermarkt der Sámi zu berichten. Dort angekommen gibt es jedoch eine böse Überraschung: Das Hotel ist überbucht, und Lilje muss sich ein Zimmer mit Juha teilen. Juha ist als Sohn eines Rentierzüchters aufgewachsen, und lebt als Wissenschaftler in Stockholm. Während er Lilje die atemberaubende Schönheit des verschneiten Lapplands zeigt, kommen sich die beiden näher. Doch dann erfährt Lilje, dass Juha ihr etwas verschwiegen hat. Kann der Zauber der Polarnacht die beiden doch noch zusammenführen?

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Seitenzahl: 451

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DASBUCH

Romantischer konnte es gar nicht sein, als mit einem begehrenswerten Mann in einer einsamen Hütte eingeschneit die Nacht zu verbringen.

»Das Polarlicht«, sagte Lilje ergriffen. »Himmel, siehst du das? Es bewegt sich!«

»Die Feuerfüchse rennen.« Juha zog sie zu sich heran, bis Lilje ihren Kopf an seine Schulter legen konnte. »In Finnland nennt man die Nordlichter auch Revontulet, das bedeutet Feuerfuchs. Jagen sich Fähe und Fuchsrüde über den Horizont, färben sich die Lichter manchmal sogar rot.« Er zeigte aus dem Fenster. »Siehst du, da ist bestimmt ein Liebespaar unterwegs.«

»Eigentlich kann ich dem verrückten Fahrer nicht böse sein, dass er den Wagen deiner Schwester beschädigt hat. Ohne ihn wären wir nicht hier, und das fände ich äußerst schade.« Sie trank einen Schluck Glögg. Ob die Hitze in ihren Wangen vom Glühwein kam, oder weil Juha sie wortlos von der Seite anblickte, wusste Lilje nicht. »Ich muss das jetzt tun«, sagte sie und beugte sich vor.

DIEAUTORIN

Anna Lindqvist liebt glitzernden Schnee, lichte Wälder und den eleganten Lauf der Rentiere im Herbst. Sie wuchs umgeben von Büchern auf, trinkt ihren Kaffee nach samischer Tradition mit Käse, grillt Würstchen in der Sauna und drückt sich gern um die Hausarbeit. Wenn Anna nicht gerade mit ihrem Mann Lauri romantische Geschichten webt, verbringt sie ihre Freizeit am liebsten mit Lesen, Dogdancing und Eisessen. In ihrem Roman »Lichterzauber in Schweden« verbindet Anna Lindqvist ihre Liebe zur Natur mit einem unerschütterlichen Glauben an ein Happy End. Mehr über die Autorin unter www.anna-lindqvist.eu und auf Instagram bei @annalindqvist.books.

ANNA LINDQVIST

Lichterzauber in Schweden

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Dieser Roman wurde gefördert durch das Stipendienprogramm der VG Wort im Rahmen des Programms NEUSTARTKULTUR der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Trotz intensiver Recherche konnte der Verlag nicht alle Rechtegeber ermitteln. Bitte wenden Sie sich gegebenenfalls an den Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.

Originalausgabe 09/2023

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Catherine Beck

Covergestaltung: t.mutzenbach design

unter Verwendung von Shutterstock.com (miniwide, plushik, Volha Valadzionak,

RedKoala, Maria Skrigan, Olga Burkova)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29146-4V002

www.heyne.de

»I leave to arrive, go away to be closer.«

Nils-Aslak Valkeapää

1. Kapitel

Lilje

Das digitale Thermometer in der Empfangshalle des Flughafens zeigte -17 ° Celsius an. Darunter stand: Välkommen til Arvidsjaur, und ein Zusatz in fünf Sprachen informierte die Reisenden, dass sie sich keine hundert Kilometer südlich des Polarkreises befanden.

Lilje fröstelte unwillkürlich und sah sich um. Der Flughafen war winzig, die Halle überschaubar, und ihre Mitreisenden, die sich nun unter einem mit bunten Ornamenten verzierten Schild versammelt hatten, waren nicht zu überhören. Im Flugzeug hatten sie Sekt getrunken und nach der Landung applaudiert. Unfreiwillig hatten die anderen Fluggäste erfahren, dass die muntere Gruppe aus einer niedersächsischen Kleinstadt nahe Braunschweig stammte und jedes Jahr eine Reise unternahm, die sie diesmal zum Wintermarkt in Jokkmokk führte. Der kleine Ort am Polarkreis war auch Liljes Ziel, und ihr wurde klar, dass sie die Weiterreise mit dem Transferbus gemeinsam unternehmen würden. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Müde schob sie ihren Koffer voran, um dazuzustoßen.

Ein älterer Mann erreichte die Gruppe gleichzeitig mit ihr. Die Aufschrift auf seinem Pullover wies ihn als Mitarbeiter des Tourismusbüros von Jokkmokk aus. Er klatschte in die Hände, und als er ihre Aufmerksamkeit hatte, sagte er: »Willkommen in Norrbottens län, der nördlichsten Provinz Schwedens. Ich bin Anders, euer Fahrer.«

Hierzulande sprachen sich die Leute mit Vornamen an, wenn sie es nicht gerade mit der königlichen Familie zu tun hatten.

»Wir warten noch auf Reisende aus Stockholm. Die Maschine hat möglicherweise ein bisschen Verspätung.« Er bat sie, das Gepäck zum Bus zu bringen und anschließend ins Gebäude zurückzukehren. »Das Restaurant hat schon geschlossen, aber es gibt einen Getränkeautomaten«, sagte er entschuldigend.

»Wieso können wir nicht im Bus warten?«, fragte eine rotgesichtige Frau.

»Weil es sehr kalt ist und ich den Motor nicht die ganze Zeit laufen lassen kann.« Freundlich signalisierte er ihnen, ihm zu folgen.

Als er zuletzt Liljes Koffer in den Bus schob, stellte sie sich auf Englisch vor: »Hallo, Anders, ich bin Lilje von Traumziele.«

Er gab ein freundliches Glucksen von sich. »Lilje klingt, als hättest du Wurzeln in Norwegen.«

»Ich glaube nicht. Meine Mutter ist Dänin, dort gibt es den Namen auch.«

»Dann kommst du wohl aus Grönland?«

»Wieso …?«, fragte sie überrascht. »Ach, wegen der Haarfarbe? Das ist nicht Grün, sondern Blaugrün, wie meine Augen. Siehst du?« Sie klapperte übertrieben mit den Lidern. Bei dem schwachen Licht hier auf dem Parkplatz konnte er solche Nuancen sowieso nicht sehen. »Mein Sternzeichen ist übrigens auch nicht ›Stier‹, falls du dich das gefragt haben solltest.« Nun sah Anders sie ratlos an. Lachend zeigte sie auf ihr Septum-Piercing. »Den Ring habe ich aus Indien.«

»Tut mir leid. Ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Kein Problem. ›Grönland‹ war ziemlich witzig. Aber ich lebe in Flensburg, das liegt direkt an der dänischen Grenze.«

Er lächelte verlegen. »Weiß Brita Westerlund Bescheid, dass du kommst?«

Brita war die Leiterin des Tourismusbüros in Jokkmokk, die den Aufenthalt für sie organisiert hatte. »Sie ist informiert. Es hat kurzfristig eine Änderung gegeben. Mein Kollege …« Sie überlegte kurz, ob sie darüber sprechen sollte, und entschied sich dafür. »Er sitzt in diesem Augenblick vermutlich auf meinem Liegestuhl in der Karibik und lässt sich die Sonne auf den Pelz brennen.«

Anders lachte laut auf. »Ärgere dich nicht. In der Sonne liegen kannst du immer irgendwo auf der Welt, aber unser Vintermarknad findet nur einmal im Jahr statt, und das seit über vierhundert Jahren. Du wirst sehen, er ist etwas ganz Besonderes. Ich wette, wir haben auch bessere Saunen als die da in der Karibik.«

»Damit könntest du recht haben. Auf einen Saunabesuch freue ich mich wirklich sehr, es ist – frisch bei euch.«

»Das ist noch gar nichts, letzte Woche hatten wir minus sechsunddreißig Grad.«

»Du machst Witze!«

»Aber nein, so was kommt um diese Jahreszeit vor. Keine Sorge, in den kommenden Tagen soll es mild werden.«

Lilje zog eine Grimasse. Was er unter mild verstand, konnte sie sich vorstellen. Minus sechsunddreißig Grad! Sie würde während dieser unfreiwilligen Reise wahrscheinlich erfrieren.

Anders schloss die Ladeklappe des Busses und begleitete sie zurück ins Gebäude. Auf der Anzeigetafel waren drei weitere Landungen angekündigt. Nur eine hatte Verspätung.

»Neunzig Minuten.« Er unterdrückte ein Gähnen. »Dann sind wir erst nach Mitternacht in Jokkmokk.«

»Langer Tag?«

Er zuckte mit den Schultern. »Es ist Saison.« Danach verabschiedete er sich, und sie sah ihm nach, wie er mit einem anderen Mann hinter einer Tür mit der Aufschrift Personalrum in den Bereich verschwand, der dem Bodenpersonal und Mitarbeiterinnen der Airlines vorbehalten war. Lilje kaufte am Automaten einen Kaffee und beobachtete, wie das dampfende Gebräu langsam in ihren Becher lief. Dabei steckte sie sich ihre Kopfhörer in die Ohren und setzte sich anschließend auf eine helle Holzbank, die so neu aussah, dass sie glaubte, den Geruch frisch geschlagener Fichten wahrzunehmen.

Ich bin keine gute Journalistin, dachte sie und sah zu den Mitreisenden, die sich ein Stück weiter niedergelassen hatten. Das gemeinsame Warten wäre eine günstige Gelegenheit, mit ihnen in Kontakt zu kommen, um mehr über ihre Erwartungen und Pläne für den Aufenthalt zu erfahren. Aber sie war immer noch verstimmt.

Als gestern ihr Handy geklingelt hatte, war es ihr gerade mit einem nicht unerheblichen Kraftaufwand und dem Einsatz ihres gesamten Gewichts gelungen, den Koffer zu schließen. »Moin, Lilje. Du sprichst doch Schwedisch?«

»Ein bisschen«, sagte sie abwartend. Jan, der Neue in der Redaktion des Online-Portals Traumziele, für das sie arbeitete, verstand es geschickt, Aufgaben an andere zu delegieren. Und sie hatte gehört, dass er über irgendeinen schwedischen Wintermarkt schreiben sollte. Seitdem die Alpen nicht mehr schneesicher waren, zog es viele Urlauber auch im Winter nach Nordeuropa, und das Reiseunternehmen, zu dem Traumziele gehörte, wollte sein Portfolio entsprechend erweitern.

»Wusste ich’s doch! Kleine Planänderung«, sagte er heiter. »Du fährst zu den Lappen.«

»Spinn nicht rum. Ich fliege nach Barbados.«

»Irrtum. Dein Flieger geht ab Hannover direkt ins ewige Eis.« Er lachte, als hätte er einen Scherz gemacht. »Dein Ticket ist in Hannover hinterlegt, du musst dich um nichts kümmern. Ich schicke dir gleich eine Mail mit allen Infos.« Er klang äußerst zufrieden.

Lilje, der selten die Worte fehlten, klappte den Mund auf und wieder zu, was Jan natürlich nicht sehen konnte. Schließlich presste sie heraus: »Und was ist mit meiner Reise?«

»Du, ich muss los …« Im Hintergrund war eine englischsprachige Flughafendurchsage zu hören, und eine Frau quengelte: »Jannie, das Boarding hat begonnen!«

Die Stimme kannte sie. »Wo bist du, verdammt?«

»Heathrow.« Er lachte selbstgefällig, bevor er seine Stimme zu einem vertraulichen Raunen senkte. »Wir haben ein First-Class-Upgrade bekommen. Da sagt man doch nicht Nein.«

Fassungslos starrte Lilje auf ihr Smartphone. Der verdammte Kerl machte ihre Reise, auf die sie sich so sehr gefreute hatte! Und damit nicht genug. Die Stimme war unverkennbar gewesen, er flog zusammen mit der Chefredakteurin – ganz entspannt in der Luxusklasse!

Aber es half nichts. Wenn sie am Monatsende ihre Miete bezahlen wollte, musste sie schnellstens umdisponieren. In Windeseile hatte sie den Inhalt des Koffers aufs Bett gekippt, Flipflops und Pareo beiseitegeräumt und die wärmsten Sachen aus ihrem Schrank gezerrt. Immerhin, davon besaß sie nach der Islandreise im November reichlich, und der Tiegel mit dem Kältebalsam fürs Gesicht war auch noch halb voll.

Die Wut darüber, auf diese Weise ausgebootet worden zu sein, ließ sie mit den Zähnen knirschen. Verdrossen trank sie einen Schluck Automatenkaffee, der immerhin besser schmeckte als gedacht. Danach öffnete sie die Wetter-App, tippte auf die kleinen Antillen und hoffte inständig, dass den beiden wenigstens ein winziger Wirbelsturm die Reise verderben würde. Stattdessen waren für die nächsten vierzehn Tage gleichbleibende plus achtundzwanzig Grad und überwiegend Sonnenschein vorhergesagt. Beinahe fünfzig Grad Temperaturunterschied zwischen Bridgetown und Jokkmokk. Sechs Stunden Zeitunterschied bedeuteten, dort hielt man jetzt eine Siesta nach dem Lunch.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie Jan und die Chefin ein gepflegtes Hotelrestaurant verlassen und sich am Pool unter Palmen vergnügen …

Das Leben ist so verdammt ungerecht! Um sich abzulenken, blickte sie mit verschränkten Armen hinaus aufs eisige Rollfeld. Aufregendes passierte da draußen allerdings nicht. Schnee und Eis glitzerten im Flutlicht, was eigentlich sehr hübsch aussah, und ein Truck rollte langsam heran. Sie wusste, dass sich nicht weit von hier ein Testgelände befand, auf dem sich Mitarbeitende großer Unternehmen jeden Winter ein Stelldichein gaben, um neue Fahrzeuge über zugefrorene Seen zu jagen und die Zuverlässigkeit elektronischer Sicherheitssysteme zu prüfen. Deshalb gab es im Winter Direktflüge praktischerweise aus den Zentren der deutschen Autoindustrie, die natürlich auch andere Reisende nutzen konnten. Im Flugzeug, mit dem sie gekommen war, hatten allerdings außer ihr und der Reisegruppe nur Ingenieure und Techniker aus Wolfsburg und irgendwelche Reifenleute gesessen, keine einzige Frau war dabei gewesen.

Gelangweilt wollte sie sich abwenden, doch nun wurde es dort draußen geschäftiger. Eine Maschine aus Stuttgart landete, und wenig später durchquerten Reisende die Ankunftshalle, auf deren dicker Winterkleidung ein großer Stern verriet, zu welchem Automobilkonzern sie gehörten. Ihnen folgte eine Kamerafrau, die den Trolley mit ihren Gerätschaften im Blick hatte, dazu ihr Team und ein halbes Dutzend Männer, deren Gepäck sie ebenfalls als Presse auswies. Sie alle verschwanden nahezu lautlos in der eisigen Dunkelheit.

Doch schließlich war es so weit: Der Flug aus Stockholm wurde angekündigt. Ihr Fahrer Anders erschien und bat sie, in den Bus einzusteigen. »Ich habe ihn vorgeheizt«, sagt er.

Die Reisegruppe verzog sich in den hinteren Teil, sie war still geworden. Dennoch hielt Lilje Abstand und wählte einen Sitz in der zweiten Reihe. Ganz vorn auf dem Reiseleitersitz saß sie nicht gern.

Es dauerte nicht lange, bis die anderen Touristen auftauchten. Das Gepäck war schnell verstaut, und gerade stieg Anders ein, als noch ein Mann über die Straße gelaufen kam. Er zog einen Koffer hinter sich her und winkte wild.

2. Kapitel

Lilje

Der Busfahrer ließ den Mann einsteigen. Im schwachen Nachtlicht sah sie einen dunklen Haarschopf und ein ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen und ausgeprägtem Kinn. Interessiert beugte sich Lilje vor, als er direkt in ihre Richtung blickte. Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. Fast so, als wäre er es gewohnt, von Frauen angestarrt zu werden.

Verlegen sah sie beiseite, lehnte sich zurück und lauschte neugierig, worüber die beiden Männer sprachen. Doch sie verstand kein Wort, obwohl der Sprechrhythmus vertraut klang. Normalerweise konnte Lilje einer auf Schwedisch geführten Unterhaltung problemlos folgen, mit ihrer Familie hatte sie als Kind einige Jahre in Göteborg gelebt. Während ihres Aufenthalts wollte sie dies allerdings nach Möglichkeit verschweigen, denn so ein kleiner Vorteil war gelegentlich recht hilfreich.

Was auch immer die Männer besprochen haben mochten, sie kamen schnell zu einer Einigung. Der Spätankömmling hob seinen Koffer hinein, die Tür schloss sich zischend, und der Bus setzte sich in Bewegung. Als er an ihrem Sitz vorüberging, glaubte Lilje, seinen Blick auf sich zu spüren, und ihr Herz schlug plötzlich schneller. Der Platz neben ihr war frei. Allerdings hatte sie die dicke Winterjacke darauf ausgebreitet, als Hinweis, dass sie lieber ungestört bleiben wollte. Sollte sie sie beiseiteziehen? Bevor sie eine Entscheidung getroffen hatte, war er schon vorbei. Offensichtlich hatte er ihr Signal verstanden, aber vielleicht hatte er auch ebenso wenig Lust auf eine Unterhaltung wie sie.

Die Gespräche der Mitreisenden und das Gedudel aus den Buslautsprechern blendete Lilje mit ihrer eigenen Musik aus. Sie spürte mehr, als dass sie hörte, wie allmählich Ruhe einkehrte.

Zum Lesen war sie zu müde, und für die folgenden Tage wollte sie bewusst keine Pläne machen. Laut Jan hatte das Tourismusbüro in Jokkmokk angekündigt, ein umfangreiches Programm zusammenzustellen. Also bitte, dann würde sie sich überraschen lassen. Jan hatte diese Brita auf einer Fachmesse in Berlin kennengelernt und damit angegeben, wie locker die Schwedinnen in Sachen Erotik seien.

Lilje nahm an, dass Sprüche wie diese der Grund für den ärgerlichen Reisetausch waren. Seine Affäre mit der Chefredakteurin war noch frisch, und jemanden wie Jan ließ man nicht ohne Folgen aus den Augen.

Besser, man lässt sich mit so einem gar nicht erst ein, dachte Lilje. Jan hatte sie beim letzten Quartalstreffen in Berlin, wo der Verlag sein Büro betrieb, auch abschleppen wollen. Obwohl er charmant sein konnte, hatte sie sich nicht für ihn interessiert, und schließlich musste er wohl bei der Chefin gelandet sein. Wahrscheinlich kam sein Interesse an Lilje ohnehin nur daher, dass sich unter den Kolleginnen hartnäckig das Gerücht hielt, sie stamme aus einer wohlhabenden Familie und arbeite nur zum Zeitvertreib. Dass dies leider nur halb der Wahrheit entsprach, zeigte sich an jedem Monatsende auf ihrem Konto, aber die Leute glaubten eben, was sie glauben wollten. Sollte sich ihr Kollege neben dem Vergnügen auch die Vorteile einer Affäre versprechen, und darauf würde sie wetten, war ihre Chefin für ihn eindeutig die bessere Wahl.

Ein anderes Gesicht erschien vor ihrem geistigen Auge. Benoît war auch so einer gewesen. Sie hatte ihn bei einer Reportage über den Club Med kennengelernt und sich in den sexy Barkeeper verliebt. Die Sterne hatte er ihr vom Himmel holen wollen und war sogar so weit gegangen, unter ihrem Balkon aufzutauchen, um ihr ein Ständchen zu bringen. Sie hatte natürlich geahnt, dass er es nicht ernst meinte, aber ihn schon am dritten Abend knutschend mit einer anderen zu erwischen, war dennoch ziemlich ernüchternd gewesen.

Ihre beste Freundin Ida hatte über Liljes Empörung nur gelacht. »Von One-Night-Stands solltest du dich lieber fernhalten, wenn du dich immer gleich verliebst.«

Vermutlich hat sie recht damit, dachte sie. Der französische Filou hatte ihrem Herzen einen Stich versetzt, und sosehr sie sich auch bemühte, die Liebelei auf die leichte Schulter zu nehmen, ganz gelang es ihr nicht, zu vergessen, wie verletzt sie sich gefühlt hatte. Den Rat befolgte sie seither jedenfalls, und es ging ihr nicht schlecht damit.

Weil es im Bus sonst nichts zu tun gab, sah sie zwischen den Sitzen hindurch nach vorn auf die Straße. Frisch gefallener Schnee glitzerte im Licht der Straßenbeleuchtung, doch schon bald verließen sie bewohntes Gebiet, und die Scheinwerfer auf der eisigen Piste waren die einzige Lichtquelle, sah man vom farbigen Schein der Instrumente im Cockpit des Busses ab. Wenn ihnen Fahrzeuge begegneten, wirkte die Straße zwischen den Schneebergen für einen kurzen Augenblick beunruhigend schmal. Zwei lange Stunden sollte die Fahrt dauern, hatte es in ihren spärlichen Unterlagen geheißen. Zu Beginn vertrieb sie sich die Zeit damit, die Minuten zu zählen, bis ihnen ein Fahrzeug entgegenkam. Doch bald wurden die Abstände immer länger, und sie lauschte dem gleichmäßigen Brummen des Motors. Dabei hoffte sie darauf, dass der Fahrer in der warmen Luft nicht ebenso schläfrig werden würde.

Als im Bus Unruhe entstand, erwachte sie aus ihrem Schlummer und sah hinaus. Vor ihnen fuhr ein Schneepflug durch wirbelnde Flocken, die hohe Straßenbeleuchtung reichte gerade weit genug, um helle, mit Lichterketten geschmückte Holzhäuser erkennen zu lassen.

Ob die von Weihnachten übrig geblieben waren? Oder erfüllten sie die Sehnsucht der Menschen nach Licht, die in diesen langen Nächten am Polarkreis überwältigend sein konnte, wie sie auf ihrer Islandreise eindrücklich erfahren hatte.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es kurz nach Mitternacht war. Das hier musste also Jokkmokk sein. Sie streckte sich, um wach zu werden. Der letzte Schluck Wasser aus der Plastikflasche war warm und schmeckte abgestanden.

Ihr Bus bog in eine Seitenstraße ein und hielt vor einem bunt geschmückten Haus.

»Kvikkjokk Hus«, kündigte Anders an und begleitete vier Fahrgäste hinaus, um deren Koffer aus dem Bauch des Busses zu holen. Als er wieder einstieg, folgte ihm ein eisiger Luftzug. Das wiederholte sich einige Male, bis sie vor einem hellgrau gestrichenen Gebäude hielten, vor dem Fackeln im Schnee brannten. Mit den beleuchteten Fenstern wirkte es einladend, aber als die zu neuer Munterkeit erwachte Reisegruppe hier ausstieg, war sie ganz froh, in einem anderen Hotel zu wohnen. Ob das tatsächlich ein Vorteil sein würde, wusste sie natürlich noch nicht. Auf ihren beruflichen Reisen war es häufig erstaunlich, welche Unterkünfte die Leute lokaler Tourismusbüros für repräsentativ hielten. Sie war schon in normalerweise unerschwinglich luxuriösen Resorts untergebracht worden, aber auch in ziemlich schäbigen Absteigen.

»So, dann haben wir nur noch dich.« Anders kam herein, zog die Handschuhe aus und rieb sich die Hände. »Dein Hotel ist genauso schön«, sagte er mit einem Zwinkern, als ahnte er ihre Gedanken. Ruhig steuerte er den Bus durch die menschenleeren Straßen, und es dauerte nicht lange, bis sie vor einem rot gestrichenen Gebäude im typisch skandinavischen Stil hielten. Lilje schloss ihre Jacke, bevor sie ihm in die kalte Nacht hinaus folgte und zitternd darauf wartete, dass er ihren Koffer herausgab.

»Ist das deiner?«, fragte jemand auf Englisch. Erschrocken fuhr sie zusammen. Hinter ihr stand der Spätankömmling von vorhin. Er hielt ihren Schal in der Hand.

»Oh, thanks a lot! Den hätte ich glatt vergessen«, antwortete sie ihm verlegen.

Nachdem Anders sich verabschiedet hatte, bot der Mann an, ihr das Gepäck zum Haus zu tragen.

»Danke, der Koffer hat ja Rollen«, sagte sie überrascht.

»Na dann …«

Als sie das Hotel betraten, schlug ihnen trockene, warme Luft entgegen. In der Lobby war niemand zu sehen, aber nach kurzer Zeit erschien eine junge Frau, eher noch ein Mädchen, an der Rezeption und lächelte den Mann an. »Guten Abend Juha, ich wusste gar nicht, dass du dieses Jahr bei uns wohnst«, begrüßte sie ihn vertraulich auf Schwedisch.

»Hej, Trixi. Das war eigentlich auch nicht geplant, aber Petter hat kurzfristig sein Haus komplett vermieten können.«

Die Rezeptionistin nickte. »Ich weiß, er ist mit der Familie auf den Campingplatz gezogen. Das machen dieses Jahr viele, mein Bruder auch«, erklärte sie leutselig, besann sich dann aber auf ihre Aufgaben. »Würdet ihr die Anmeldung bitte ausfüllen? Ihr könnt euch da hinten hinsetzen, da sind auch Stifte.« Sie legte zwei Klemmbretter auf den Tresen und rief über die Schulter: »Ich bin gleich zurück.«

Auch das noch. Sehnsüchtig warf Lilje einen Blick auf ein Schild mit der Aufschrift Toalett und einem entsprechenden Symbol. Das Einchecken konnte ja nicht so lange dauern, dachte sie, zuckte mit den Schultern und ging zu der Sitzgruppe. Der Mann namens Juha folgte ihr. Unterwegs streifte sie sich den kirschroten Thermomantel von den Schultern und zog ihre Handschuhe aus. »Ziemlich warm hier«, sagte sie, um irgendetwas zu sagen. Dabei ließ sie sich auf eine Bank fallen. Ihren Rucksack stellte sie neben sich ab und stieß dabei versehentlich ein Kissen hinunter. Ehe sie sich danach bücken konnte, hatte er es schon aufgehoben.

»Allerdings.« Er öffnete den Reißverschluss seines gepolsterten Polarparkas und bedachte Lilje mit einem kleinen Lächeln, das ihre Innentemperatur spontan weiter ansteigen ließ. Unter der Jacke, auf der sie das dezente Schafslogo einer teuren Marke erkannte, kam ein schwarzer Pullover mit Zopfmuster zum Vorschein, dazu trug er eine dunkelgraue Hose. Es war offensichtlich, dass dieser Juha eine Vorliebe für hochwertige Kleidung in gedeckten Farben hatte – und obendrein ein umwerfendes Lächeln.

Lilje blickte schnell beiseite, um nicht aufdringlich zu wirken, und sah auf den Anmeldezettel, der eher einem Fragebogen glich. Das Hotel wollte den Grund ihrer Reise erfahren, die Dauer des Aufenthalts – als könnten sie das nicht an der Reservierung erkennen – und ob sie schon mal in Jokkmokk oder an einem anderen Ort in Lappland gewesen sei. »Das sind ziemlich ungewöhnliche Fragen.«

Er tippte auf sein Klemmbrett. »Sie kommen vom Tourismusbüro. Siehst du, hier steht es. Du musst es nicht ausfüllen, nur die Anmeldung auf der letzten Seite.«

Diesen Hinweis hatte sie überlesen. Lilje kam sich ein bisschen unbeholfen vor, was nur daran lag, dass dieser Mann so ungeheuer souverän wirkte. Schnell füllte sie ihren Bogen aus und stand auf. »Ich bin gleich zurück, könntest du meins zur Rezeption mitnehmen?«

»Kein Problem.« Er nickte ihr zu.

Sie kam gerade rechtzeitig zurück, als die Rezeptionistin die Klemmbretter entgegennahm und ihm zwei Klappkarten reichte. »Hier sind eure Schlüssel.« Dabei warf sie Lilje einen prüfenden Blick zu.

»Wir sind nicht …«, widersprachen sie beide gleichzeitig. Amüsiert sahen sie sich an. Kleine Fältchen um seine Augen verrieten, dass er viel lachte, und sie dachte für einen winzigen Augenblick: Eigentlich schade!

»Wir gehören nicht zusammen«, stellte er jetzt auf Englisch klar, griff nach einer Schlüsselkarte und trat beiseite.

Sie schob ihren Pass über den Empfangstresen. »Ich heiße Lilje Sommer. Das Zimmer kann aber auch auf Traumziele reserviert sein«, fügte sie hinzu, als die Rezeptionistin stirnrunzelnd auf den Bildschirm ihres Computers blickte.

»Wie schreibt man das?«

Sie buchstabierte ihren Namen und den ihrer Firma. Dabei spürte sie eine gewisse Ungeduld in sich aufsteigen. »Oder sehen Sie unter Jan Adenberg nach.«

»Ach ja, den habe ich.« Die Frau stutzte. »Aber die Reservierung wurde storniert.«

»Umgebucht«, korrigierte sie. »Jan ist mein Kollege, er ist … verhindert. Dafür bin ich da. Brita Westerlund vom Tourismusbüro weiß Bescheid.«

Trixi wirkte auf einmal ziemlich blass. »Bitte entschuldige. Das wusste ich nicht. Warte, ich …« Nervös tippte sie auf ihrer Tastatur herum, stöhnte nach einer Weile leise und sah verschreckt auf. »Es tut mir furchtbar leid. Das letzte freie Zimmer hat er bekommen.« Sie zeigte in die Richtung, in die der Mann namens Juha verschwunden war.

»Das kann nicht sein!« Dieser idiotische Jan! Bekam der nicht mal eine einfache Umbuchung hin, oder hatte er sie aus Bosheit in diese Situation gebracht? Lilje holte tief Luft. Es war sinnlos, sich aufzuregen. »Na gut. Daran lässt sich nichts ändern. Gibt es in der Nähe noch ein anderes Hotel?«

»Sicher, sogar mehrere. Aber die sind alle ausgebucht. Wissen Sie, wenn wir im September die Zimmer für den Wintermarkt freigeben, sind sie innerhalb von wenigen Minuten weg. Das ist hier überall so.« Hilflos zuckte sie mit den Achseln.

»Und was mache ich jetzt?« Erhitzt riss sie sich den Schal vom Hals. Das durfte doch alles nicht wahr sein!

»Es ist ein Zweibettzimmer.« Trixi griff zum Telefon.

»Was …?«, fragte sie irritiert. Als ihr klar wurde, was sie vorhatte, war es schon zu spät.

Die junge Frau säuselte in den Hörer: »Juha? Wir haben hier ein Problem. Kannst du noch mal herkommen?«

Trixi legte auf. »Er ist gleich da«, sagte sie erleichtert, als wäre das die Lösung, und wich ihrem Blick aus, indem sie sich an irgendwelchen Unterlagen zu schaffen machte.

Keine Minute später stand der Mann wieder vor ihnen und sah sie mit gerunzelter Stirn an. »Was gibt’s?«

Trixi setzte zu einer umständlichen Erklärung an und verhedderte sich vor Aufregung prompt in ihren Worten.

»Sie will sagen, dass du das letzte freie Zimmer hast und ich draußen im Schnee schlafen soll«, kürzte Lilje die Sache kurz entschlossen ab.

»Genau«, stimmte ihr Trixi erleichtert zu, korrigierte sich aber sofort. »Nein! Ich meine, das mit dem Schnee habe ich nicht gesagt! Ich muss Erik anrufen, meinen Chef. Er schläft bestimmt schon. Erik hat gesagt, ich darf ihn nur im äußersten Notfall anrufen«, fügte sie hinzu und wirkte nun so verzweifelt, dass Lilje spontan das Bedürfnis verspürte, sie zu trösten.

Sanft sagte sie: »Ich denke, falls er nicht zufällig ein Magier ist, der Hotelzimmer herbeizaubern kann, wird das nicht nötig sein.« Ein wütender Chef, der sich um seinen Schlaf gebracht sah, war das Letzte, was sie jetzt brauchten. Suchend sah sie sich um und entdeckte eine offene Bar mit bequem wirkenden Sofas. Lilje hatte in den letzten Jahren manch eine unkomfortable Nacht an Flughäfen und auf Bahnhöfen verbracht, wo es zuweilen deutlich kälter gewesen war als in dieser Hotellobby. »Wenn Sie mir ein paar Decken beim Housekeeping besorgen können und vielleicht ein Kopfkissen, lege ich mich dorthin, und morgen sehen wir weiter.«

»Ist das dein Ernst? Ich könnte …«, setzte Juha an. Trixi unterbrach ihn: »Auf keinen Fall! Erik wirft mich raus, wenn ich das erlaube!« Trixi schluchzte und sah ihn bittend an: »Könnt ihr euch das Zimmer vielleicht teilen?«

»Das geht nicht!« Lilje schüttelte den Kopf.

Doch der Mann sah sie mit diesem Lächeln an, das ein Herz aus Stein hätte schmelzen können, und zuckte mit den Schultern. »Von mir aus. Kein Problem.«

»Du bist der Beste!« Trixi sah aus, als wäre sie ihm um den Hals gefallen, hätte sich der Empfangstresen nicht zwischen ihnen befunden.

Lilje dachte kurz nach. Die Alternative wäre zwar keine Nacht draußen im Schnee, aber die Vorstellung, morgen früh von den ersten Frühstücksgästen geweckt zu werden, war nicht verlockend, und im Tourismusbüro würde sie so spät auch niemanden erreichen. Sie bemühte sich um einen möglichst lässigen Ton und sah ihn direkt an. »Also gut. Eine Nacht, wenn du wirklich nichts dagegen hast …«

3. Kapitel

Juha

Oh, das ist recht übersichtlich.« Sie zog sich die Mütze vom Kopf.

Interessante Haare, dachte Juha und beobachtete, wie die Frau ihren Koffer ins spartanisch eingerichtete Zimmer rollte. Der Röhrenfernseher direkt unter der Decke, darunter ein schmaler Schreibtisch, der gerade mal als Ablage ausreichte, grau-schwarze Vorhänge mit Ethnomuster und ein Doppelbett, das man auseinanderziehen konnte – das hatte zumindest Trixi behauptet. »Was hast du erwartet?« Insgeheim gab er ihr recht, aber das würde er nicht zugeben.

»Etwas mehr Platz wäre nett gewesen«, sagte sie, quetschte sich am Bett vorbei und stiegt über sein Gepäck, um ins Bad zu sehen.

Sein Blick landete auf ihrem wohlgeformten Po. »Ein Glück, keine Gemeinschaftsdusche.« Er rieb sich die brennenden Augen. »Ich hole mir noch was zu trinken, soll ich dir etwas mitbringen?«

»Ein Bier wäre super!«, sagte sie zu seiner Überraschung.

»Geht klar.« Er schloss die Zimmertür leise von außen und ging zurück in die Lobby. Nach kurzem Zögern kaufte er Wasser und zwei Bier bei Trixi und für sich am Automaten ein Sandwich. Außer einer Schale Müsli am Morgen hatte er heute nichts gegessen. Obendrein war sein Flug verspätet und der letzte Bus nach Jokkmokk längst weg gewesen. Gerade noch rechtzeitig hatte er den Shuttlebus bemerkt. Das musste wohl auf der Plusseite der vergangenen Tage notiert werden.

Die zähen Verhandlungen der letzten Wochen hatten ihn zermürbt. Aus Regierungskreisen gab es eindeutige Signale, das seit Jahren geplante Bergbauprojekt in Gállok gegen alle Widerstände durchzuwinken, obwohl sich über die Landesgrenzen hinaus bekannte Aktivistinnen wie Greta Thunberg lautstark dagegen aussprachen. Die zuständigen Stellen in der Regierung waren offenbar entschlossen, sogar eindeutige Bewertungen der UNESCO zu ignorieren. Für Proteste der Sámi war man in Stockholm ohnehin so gut wie taub.

Bei einer Pressekonferenz hatte einer der Befürworter die Frage nach den Ansichten der Bevölkerung damit beantwortet, dass er ein Foto der unberührten Landschaft in die Kamera hielt und fragte: »Welche Bevölkerung?«

Hinzu kam, dass die Umweltorganisation, für die er arbeitete, überraschend wegen Unregelmäßigkeiten in die Kritik geraten war. Das Problem hatte sich schnell aus der Welt schaffen lassen, nicht jedoch der Schaden. Juha hatte einen Verdacht, woher die Gerüchte gekommen waren, aber Beweise gab es nicht. Mit den wertvollen Bodenschätzen war viel Geld zu verdienen, da kämpften alle Beteiligten mit harten Bandagen. Und obendrein hatte ihm eine Redakteurin in der gestrigen Montagsausgabe einer gern gelesenen Boulevardzeitung öffentlich Befangenheit vorgeworfen. Er setze sich nur gegen den Tagebau ein, behauptete sie, weil seine Familie am Fluss Lilla Luleälven eine Menge Land besäße.

Das war lachhaft. Außer dem Hof nordwestlich von Jokkmokk in dem kleinen Sameby, wie sich die Dörfer ihrer Rentierhirten-Kooperativen nannten, gehörte ihnen überhaupt nichts. Die Sámi waren ein Nomadenvolk und betrachten das Land nicht als ihren Besitz, sondern als ihre Verantwortung. Ein Lebensentwurf, den sich die meisten Menschen nicht vorstellen konnten.

Verärgert biss er ins Sandwich und bekam einen Hustenanfall. Vielleicht hätte er doch der Einladung seines Freunds folgen sollen, der ein erfolgreicher Künstler war und die Winter in einer Villa hoch über Kapstadt verbrachte. Doch es gab einen besonderen Grund, zum Wintermarkt nach Jokkmokk zurückzukehren.

Juha wickelte das Sandwich wieder ein, stand auf und sah sich nach einem Abfalleimer um. Vielleicht nächstes Jahr. Nun erwartete ihn erst mal ein Abenteuer ganz anderer Art. Die unerwartete Zimmergenossin war hübsch, aber schon ein bisschen speziell. Knallbunt gekleidet und noch dazu mit türkisfarbenen Haaren. Wie alt mochte sie sein? Auf jeden Fall unter dreißig, dachte er. Wenn man jedoch über ihr ungewöhnliches Styling hinwegsah, wirkte Lilje Sommer sympathisch. Er war beeindruckt, wie souverän sie auf die unangenehme Situation reagiert hatte. Manch andere hätte getobt oder womöglich geweint. All das machte es ihm leicht, sich innerlich auf eine gemeinsame Woche einzurichten. Er rechnete nicht damit, dass es bis zum Ende des Wintermarkts irgendwo in Jokkmokk ein freies Bett geben würde. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Meinte es das Schicksal gut mit ihm? Sie trug keinen Ehering, und die Art, wie sie ihn vorhin im Bus angesehen hatte … Nun, vielleicht war sie nur neugierig. Das gehörte zu ihrem Beruf.

Als er die Zimmertür am Ende des langen Hotelflurs erreicht hatte, zögerte er kurz und klopfte dann.

»Komm rein!«

Der Raum hatte eine erstaunliche Veränderung erfahren. Die Vorhänge waren beiseitegezogen, und draußen schwebten Straßenlaternen wie Monde hinter einem Schleier aus wirbelnden Schneeflocken. Auf dem Fensterbrett flackerten zwei Teelichter, und das bunte Tuch über einer der Nachttischlampen tauchte den Raum in warmes Licht. Seine Zimmergenossin sah ihm mit einem zurückhaltenden Lächeln entgegen. Sie saß in der Betthälfte am Fenster, die Daunendecke bis zum Kinn hochgezogen.

»Die Betten lassen sich nicht auseinanderschieben«, sagte sie und legte ihr Tablet beiseite.

Ihm hätte es nichts ausgemacht, neben ihr zu schlafen. Doch ihr wahrscheinlich schon, und meistens war er ein höflicher Mensch, dem daran lag, dass sich andere in seiner Gesellschaft wohlfühlten. »Lass mich mal sehen.« Er stellte die beiden Flaschen auf dem Nachttisch ab und beugte sich hinunter, um am Bett zu ziehen. Bestimmt war sie einfach nicht kräftig genug, um es zu bewegen.

Rasch stellte sich heraus, dass es mit Kraft nicht getan war. Also schlug er die Bettdecke auf seiner Seite zurück und steckte eine Hand zwischen die Matratzen. Es dauerte nicht lange, bis er etwas ertastete.

»Sie sind verschraubt«, sagte er, verärgert darüber, dass Trixi sie offenbar an der Nase herumgeführt hatte. Zu seiner Überraschung schob die junge Frau in seinem Bett ihre Decke nun ebenfalls beiseite, um selbst nachzufühlen, und offenbarte dabei ein rot kariertes Nachtgewand aus Flanell. »Tatsächlich. Das können wir dann wohl nicht ändern«, sagte sie mit einem spitzbübischen Glitzern in den Augen. »Ich bin sicher, jemand, der des Nachts über mich herfallen wollte, würde sich auch von ein paar zusätzlichen Zentimetern Abstand zwischen den Betten nicht abhalten lassen«, sagte sie.

»Damit könntest du recht haben. Du traust mir also?« Es erstaunte ihn, wie wichtig ihm ihre Antwort war.

Sie legte den Kopf schräg und musterte ihn. Als er sich langsam unter ihrem prüfenden Blick unwohl zu fühlen begann, sagte sie ernst: »Ja, ich vertraue dir.«

»Das freut mich«, entgegnete er wahrheitsgemäß und bot ihr ein Bier an.

»Lieber nicht. Ich dachte, ich würde es zum Einschlafen brauchen, aber eigentlich bin ich todmüde.«

»Dann heben wir es – zum Frühstück auf?«, fragte er belustigt, griff nach seiner Reisetasche und zog sich ins Bad zurück. Ihr Lachen folge ihm.

Ein Hauch von Seife – Melone und Honig – erinnerte ihn an einen warmen Tag am Mittelmeer. Es war ihr Duft, und er machte ihrem Nachnamen alle Ehre. Bevor er in Versuchung kam, weiter darüber nachzudenken, kramte er seine Zahnbürste hervor und machte sich nachtfertig.

Als er ins Zimmer zurückkam, war sie eingeschlafen. Ihr schmales Gesicht wirkte bemerkenswert jung. Vorhin hatte er sie auf Ende zwanzig geschätzt, aber vielleicht lag er damit falsch.

Während Juha sie betrachtete, fragte er sich, wie sie zu der Einladung von Brita Westerlund gekommen war. Er kannte die ehrgeizige Leiterin der Tourismusabteilung von Jokkmokks Stadtverwaltung nicht persönlich, aber was man so hörte, war sie nicht gerade für ihre Großzügigkeit bekannt. Offenbar sollte Lilje Sommer für dieses Traumziele-Magazin, das sie erwähnt hatte, über den Wintermarkt berichten. Als bräuchte es dafür noch Werbung. Seit Jahren kamen jeden Februar mehr Touristen nach Jokkmokk. Gewiss, damit wurde das Wissen um die Situation der Sámi in die Welt hinausgetragen. Andererseits empfand er es als Ausverkauf seiner Kultur, wenn Sámi, die ihre Liebe zum Gákti und der übrigen traditionellen Kleidung wiederentdeckt hatten, wie Darsteller in einer großen Open-Air-Show fotografiert wurden.

Es geht mich nichts an, dachte er, blies die Teelichter auf dem Fensterbrett aus und tappte im Dunkeln zurück zum Bett. Noch lange lauschte er ihren gleichmäßigen Atemzügen, bis er selbst einschlief.

4. Kapitel

Lilje

Es war noch dunkel, als ihr Wecker klingelte. Lilje kniff die Augen zusammen. Auf Reisen brauchte sie morgens oft etwas länger, bis sie wach genug wurde, um sich zu erinnern, wo sie war. Viele Hotelzimmer ähnelten einander, ganz gleich, wo auf der Welt man sich befand.

Sie lauschte. Es kam ihr vor, als summte das Haus geschäftig. Im Gang vor der Zimmertür hörte sie gedämpfte Stimmen, draußen vor dem Fenster aber war es still. An der guten Isolierung konnte es nicht liegen, denn sie spürte einen kühlen Luftzug im Gesicht, der von dort kam. Den Fuß, den sie unter der Bettdecke hervorgestreckt hatte, zog sie schnell wieder zurück ins Warme. Es war kalt im Zimmer, die Karibik konnte es also schon mal nicht sein. Mit einem Schlag kam die Erinnerung. Sie knipste die Nachttischlampe an. Der Platz im Bett neben ihr war leer.

Auch das noch, ein Frühaufsteher, dachte sie. Immerhin war er so rücksichtsvoll gewesen, sie nicht durch lautes Gepolter zu wecken. Aber beides konnte ihr gleich sein, denn sie hatte nicht vor, eine weitere Nacht mit ihm in diesem traurigen Zimmer zu verbringen.

Mit diesem Vorsatz schwang sie die Beine aus dem Bett und hüpfte über den eisigen Boden ins Bad. Der schlecht beleuchtete Spiegel zeigte ihr ein schmales Gesicht mit für diese Uhrzeit ungewöhnlich großen Augen unter einem zerwühlten Haarschopf. Der war nicht ungewöhnlich. Bei ihr hielt keine Frisur lange, was auch daran lag, dass sie sich selten besondere Mühe damit gab, und momentan waren ihre Haare obendrein strohig und schwierig zu bändigen. Heute Morgen ähnelten sie einem Vogelnest. Einem leuchtend türkisfarbenen Nest, um genau zu sein.

Bad-Hair-Day ist das Motto des Tages. Danke, Jessie, dachte sie und zog eine Grimasse. Den ohnehin hellen Blondton weiß zu bleichen, damit die Farbe besser zur Geltung kam, war die Idee ihrer Friseurin Jessie gewesen. Lilje hatte Lust auf eine Veränderung gehabt, dabei aber ursprünglich an einen neuen Haarschnitt gedacht. Doch sie liebte es bunt, besonders in ungewöhnlichen Kombinationen, und es war nicht das erste Mal, dass sie mit unüblichen Haarfarben experimentierte. Für das strahlende Blaugrün hatte sie sich entschieden, weil die Haarkünstlerin behauptete, es passe perfekt zu Liljes Husky-Augen. So ganz hatte sie den Farbton dann doch nicht getroffen, aber nach einem Tag der Eingewöhnung fand Lilje den neuen Look nicht übel, obwohl die Haare durch die Behandlung trocken waren und nach aufwendiger Pflege verlangten. Das konnte sie hier ja wohl vergessen, und Kälte war dem Zustand bestimmt auch nicht zuträglich. Trotz allem … Ein Grinsen schlich sich in ihre Mundwinkel, als sie an das entsetzte Gesicht ihrer Schwester dachte. Ungeachtet der äußeren Ähnlichkeit, was Naturhaarfarbe, den hellen Teint mit einem Hauch von Sommersprossen – die Madita hasste, Lilje jedoch liebte – und die zierliche Gestalt betraf, hätten sie unterschiedlicher nicht sein können. Die ältere der Schwestern war zielstrebig und hatte nie einen Zweifel am genau geplanten vor ihr liegenden Lebensweg und der Karriere als Anwältin gehabt. Seit drei Jahren war sie verheiratet und erwartete inzwischen ihr zweites Kind, während sie weiter in Vollzeit arbeitete. In der Kanzlei und bei Gericht fand Madita wenig Verständnis für die Entscheidung, den Ehemann – und Staranwalt – die Elternzeit übernehmen zu lassen. Rabenmutter hätte eine Richterin sie neulich hinter ihrem Rücken genannt, hatte sie empört erzählt und damit sofort Liljes Solidarität geweckt. Wie auch immer sie zueinander standen, als Schwestern hielten sie zusammen, wenn es wirklich darauf ankam.

Drei Kinder waren geplant. Oder vier, wenn sich die Finanzen entsprechend entwickelten, auf keinen Fall aber mehr. Das war so typisch für ihre Schwester, sie glaubte fest daran, man müsste nur gut genug organisiert sein, dann würde das Leben einem geben, was man von ihm erwartete. Bisher hatte sie damit allerdings nicht falschgelegen, und sie gönnte ihr das Glück, aber wie sie über Liljes vergleichsweise bescheidene berufliche Entwicklung sprach, ging ihr dennoch gewaltig auf die Nerven.

Missvergnügt knöpfte sie den Pyjama auf. Immerhin hatte sie die hübscheren Brüste, das gab sogar Madita, die Perfekte, zu. Lilje streckte ihrem ungekämmten Spiegelbild die Zunge raus, zog sich aus und kletterte zum Duschen in die eiskalte Badewanne.

Ein verlockender Kaffeeduft hob ihre Laune schlagartig, und sie folgte ihm einen langen Gang entlang durchs Hotel. Je näher sie dem Frühstücksraum kam, desto deutlicher wurde eine zweite Verlockung: Frisch gebackene Zimtwaffeln erinnerten sie an ihre Kindheit. Konzentriert darauf, weitere Köstlichkeiten zu erschnuppern, wäre sie beinahe mit jemandem zusammengestoßen.

»Huch!« Sie murmelte eine Entschuldigung, sah auf und machte erschrocken einen Schritt zurück. Vor ihr stand ein lebensgroßer ausgestopfter Bär.

»Der hat mich gestern genauso erschreckt.« Eine Frau zwinkerte ihr vergnügt zu.

Lilje betrachtete das ausgestopfte Tier genauer. Die Präparatoren hatten versucht, ihn richtig grimmig wirken zu lassen. »Mister Braunbär scheint es darauf anzulegen, harmlose Passantinnen zu erschrecken«, sagte sie.

»Meinen Sie? Ich glaube fast, seine wilden Zeiten liegen hinter ihm.«

Sie lachten gemeinsam, wünschten sich einen angenehmen Tag, und Lilje betrat bestens gelaunt den Frühstücksraum, wo sie freundlich empfangen und an einen schönen Tisch geführt wurde. Von Juha, dem früh aufstehenden Zimmergenossen, war nichts zu sehen.

Im ersten Augenblick war sie erleichtert, aber andererseits sollten sie miteinander reden. Sie konnte unmöglich während ihres gesamten Aufenthalts in seinem Zimmer bleiben. Nicht dass sie schlecht geschlafen hätte, ganz im Gegenteil sogar. Aber das war ja kein Grund, sich bei einem vollkommen fremden Mann einzunisten.

Jokkmokk hatte laut Wikipedia keine dreitausend Einwohner, und zu den drei Markttagen wurden mehr als vierzigtausend Besucherinnen und Besucher erwartet. Sicher waren viele Tagesgäste darunter, und die Aussteller mochten in Wohnwagen oder privat unterkommen, aber mit freien Hotelzimmern war nicht zu rechnen. Das hatte diese Trixi gestern ja auch gesagt.

Andererseits hatte ihr unfreiwilliger Gastgeber anständige Manieren, und – was nicht zu verachten war – er sah blendend aus. Er sprach nicht viel, aber vielleicht war das ganz gut so. Fänden sie also keine Lösung für ihr Zimmerproblem, wäre es nett, sich ein bisschen miteinander bekannt zu machen.

Nach dem Frühstück versuchte Lilje, die Dauer seiner Buchung herauszufinden, aber der ältere Rezeptionist schüttelte freundlich den Kopf. »Datenschutz.«

Trixi ist bestimmt zugänglicher, dachte sie, bedankte sich mit einem vorgetäuschten verständnisvollen Blick und ging zurück ins Zimmer, um sich für den Fußmarsch zum Tourismusbüro um-, oder besser gesagt, anzuziehen. Die passende Winterkleidung bei den herrschenden Temperaturen auszuwählen war eine Wissenschaft für sich. Nach ihrer Erfahrung war es am besten, sie in Schichten übereinander zu tragen, um einerseits gegen die Kälte geschützt zu sein und andererseits bei einem Aufenthalt in Innenräumen nicht zu schmelzen wie ein Schneeball.

Trotz dieser Vorbereitung traf sie die Luft, die ihr vor der Tür entgegenschlug, wie ein Schock. Sofort froren die Nasenhaare ein, was sich so merkwürdig anfühlte, dass sie niesen musste. Lilje zog sich den Schal höher und die Mütze tiefer über die Ohren und stapfte los.

Immerhin schneite es nicht mehr. Die Wege zwischen den weit auseinanderstehenden Häusern waren bereits geräumt und gestreut, obwohl die Sonne noch nicht lange aufgegangen war. Die ersten Marktleute fuhren sogar schon vor, um ihre Stände für morgen aufzubauen. Zwei Frauen begrüßten sich in derselben Sprache, in der sich gestern der Busfahrer Anders und Juha unterhalten hatten. Natürlich, wieso war sie nicht gleich darauf gekommen? Die beiden hatten Sámi miteinander gesprochen, die Sprache der indigenen Bevölkerung der Region.

Nachdem sie eine Reihe Wohnwagen passiert hatte und einmal falsch abgebogen war, erreichte sie den Marktplatz. Obwohl sie etwas spät dran war, blieb sie einen Augenblick vor einer silberfarbenen Metallskulptur stehen, die einen stilisierten Sámi mit Rentier in einem Kreis zeigte. Die Worte Jokkmokks Marknad waren in den Sockel mit rostiger Patina eingeflext. Sie würde nach der Verabredung ein Foto davon machen.

Wärme schlug ihr entgegen, als sie das weiße, zweistöckige Gebäude betrat, in dem sich das Touristbyrå befand. Hastig nahm sie die Mütze vom Kopf und zog die Jacke aus.

»Hej, wie kann ich dir helfen?«

Eine Frau mit blonden Zöpfen und einem sympathischen Lächeln begrüßte sie und warf dabei einen interessierten Blick auf ihre zweifellos wieder strubbeligen Haare.

»Lilje Sommer. Ich habe eine Verabredung mit Brita Westerlund.«

»Die Chefin ist momentan beschäftigt. Fernsehleute von der BBC. Die planen eine Reportage über unseren Wintermarkt.« Sie reichte ihr mit einem Lächeln die Hand und zeigte auf eine Gruppe im Foyer. »Ich bin Elsi Holmgren und deine Reiseleiterin diese Woche. Elsi, wenn du magst«, sagte sie in flüssigem Deutsch. »Wie war deine Anreise?«

»Super.« Die lange Wartezeit am Flughafen verschwieg sie. Das war ja nicht mehr zu ändern, so was passierte eben. Über das Zimmerproblem hätte sie auch lieber nicht gesprochen, doch das musste sein. »Mit der Buchung gab es allerdings ein Problem. Mein Hotelzimmer scheint storniert worden zu sein. Jedenfalls habe ich jetzt keins.«

Elsi wurde erst blass, dann stieg ihr eine leichte Röte ins Gesicht. »Das kann nicht sein! Ich habe doch nur Bescheid gegeben, dass sich der Name ändert.« Sie holte tief Luft. »Wo hast du übernachtet?«

Lilje erzählte von dem Arrangement. »Es war ganz okay, aber da kann ich natürlich nicht bleiben.«

»Natürlich nicht. Ich werde mich darum kümmern.« Ihr Lächeln wirkte angestrengt, und sie sah sich nach Brita um, die in diesem Augenblick den Kopf in den Nacken legte und laut über irgendetwas lachte, das der TV-Redakteur zu ihr gesagt hatte. »Lass uns in mein Büro gehen, dann erkläre ich dir das Programm für die nächsten Tage.«

Lilje folgte Elsi und wickelte dabei den Schal ab. Inzwischen trug sie beinahe ebenso viel Kleidung in der Hand wie am Körper, und ihr war trotzdem noch warm.

»Der Markt beginnt morgen. Deshalb ist heute eine Motorschlittentour geplant. Am Nachmittag sehen wir uns das Museum an.«

»Das klingt super. Hoffentlich bin ich dafür richtig angezogen«, sagte Lilje, obwohl sie es nicht besonders schätzte, wenn ihr Tag so ungefragt verplant wurde.

»Keine Sorge, einen Overall und alles, was wir sonst noch so brauchen, bekommen wir vom Veranstalter.« Elsi sah auf die Uhr und stand auf. »Es ist schon spät. Wir sollten uns beeilen.«

»Dann mal los …« Lilje unterdrückte einen Seufzer.

Sie fuhren mit Elsis Geländewagen durch Jokkmokk. Am Ortsausgang kreuzte eine Gruppe Schneemobile röhrend ihren Weg. Solche Schneescooter fuhren ziemlich schnell, und Lilje wurde erst in diesem Augenblick bewusst, auf welch ein Abenteuer sie sich eingelassen hatte. Noch nie war sie Motorrad gefahren, geschweige denn so ein schweres Schneefahrzeug. Sie spürte die Aufregung in sich wachsen, und als Elsi gleich darauf vor einem wenig spektakulären flachen Gebäude hielt, war ihr flau im Magen. Sie atmete unauffällig durch, schließlich wollte sie nicht als Weichei gelten, und löste den Sicherheitsgurt, um auszusteigen. So schwierig konnte es ja nicht sein, hier im Norden fuhren bereits Teenager damit herum.

Eine Tür mit der großspurigen Aufschrift Easy Rider sprang auf, und fünf Männer kamen heraus. Sie waren etwa im gleichen Alter, um die vierzig, schätzte Lilje. Die Gruppe wandte sich den nebeneinander aufgereihten Fahrzeugen zu, um sie in Augenschein zu nehmen. Sie konnte sich vorstellen, wie die Männer über PS, Beschleunigung und Höchstgeschwindigkeiten diskutierten. Nur einer sah auf und folgte ihnen mit Blicken, als sie aus Elsis SUV ausstiegen und durch den Schnee zum Haus gingen.

Innen wurden sie von einer älteren Frau empfangen, die sie einen Augenblick zu taxieren schien.

»Dann sind wir ja komplett. Kommt mal mit«, sagte sie schließlich freundlich und ging zu einem Umkleideraum voraus, in dem sich gerade ein junges Paar anzog. Die Mitarbeiterin fragte nach ihrer Schuhgröße und kam wenig später mit zwei leuchtend roten Overalls, Schuhen und einem Korb mit Kleinteilen zurück.

»Das müsste euch passen. Was für Unterwäsche trägst du?«

Zuerst war sie überrascht, aber dann wurde ihr bewusst, dass die Frage berechtigt war. Bei so extremen Temperaturen war es wichtig, richtig angezogen zu sein. »Aus Merinowolle. Die riecht nicht so schnell«, sagte sie schmunzelnd und fügte hinzu: »Darüber eine Fleecejacke und diesen Pullover.«

Die Frau erwiderte ihr Lächeln. »Sehr gut. Es ist schade, wenn man auf einem unserer Ausflüge friert und ihn deshalb nicht genießen kann. Zu schwitzen ist fast genauso schlimm. Hier, die Seidenhandschuhe ziehst du unter den Fäustlingen an. Das hält schön warm.«

Sie nickte und nahm die Stiefel entgegen. »Die sehen ziemlich groß aus.«

»Sie sind eine Nummer größer, aber wenn du die Socken über deine eigenen Strümpfe ziehst, müssten sie passen. Sind die Schuhe zu eng, kühlen deine Füße schnell aus.« An die anderen Gäste gewandt, sagte sie: »Wenn ihr fertig seid, wartet bitte draußen, damit ihr nicht ins Schwitzen geratet.«

Folgsam gingen sie hinaus. Lilje musste kichern, und als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sagte sie: »Die laufen wie Eisbären.«

Die beiden Frauen fielen ein. »Elegant ist anders«, sagte Elsi. »Aber Wärme geht vor Schönheit.«

Wenig später stapften sie mindestens ebenso ungelenk hinaus. Lilje zog den Reißverschluss des geliehenen Anzugs hoch und blinzelte unter dem Visier ihres Helms in die milchige Scheibe der Sonne, die sich vergebens durch die Wolkenschichten zu arbeiten versuchte.

»Nachher wird es sonnig. Ein perfekter Tag«, sagte Elsi neben ihr munter.

Sie würden sich ein Schneemobil miteinander teilen, Lilje sollte zuerst fahren. Später wollten sie tauschen, damit sie als Beifahrerin Fotos machen konnte.

»Ich habe noch nie auf so einem Gerät gesessen, ist es schwierig?« Die Aufregung hatte sich zu einem kribbelnden Knoten in ihrem Bauch zusammengeballt.

»Nicht besonders. Wenn du dich daran hältst, was der Guide sagt, bist du sicher. Wichtig ist, die Füße auf dem Fußsteg zu lassen. Das Mobil kann auf normalen Strecken nicht umfallen, falls das doch passieren sollte, willst du die dreihundert Kilo nicht mit deinem Knöchel auffangen.« Die junge Reiseleiterin lachte fröhlich. Lilje fand die Aussicht auf einen Sturz wenig erheiternd, aber sie deutete ein Schmunzeln an.

»Hej, ich bin Mårten«, stellte sich ihr Tourguide vor, der etwas vom Charme eines jungen Skilehrers an sich hatte. Er wirkte sportlich, hatte ein sympathisches Lächeln, und sie schätzte ihn auf etwa Mitte dreißig. Er wechselte ins Schwedische und fragte die Männer, ob es in Ordnung für sie sei, wenn er die Instruktionen auf Englisch halten würde. »Na klar«, sagte einer von ihnen großspurig. »Wir machen das nicht zum ersten Mal.«

Während Mårten sie über wichtige Sicherheitsmaßnahmen und allgemeine Regeln informierte, stand Elsi etwas abseits und telefonierte. Lilje schnappte ein paar Worte auf und nahm an, dass sie sich um ihr Zimmerproblem kümmerte oder jemanden bat, es für sie zu tun.

»Hallo, nicht träumen!«, rief Mårten, und die anderen sahen sich nach ihr um. »Was habe ich gesagt?«

»Dass ich nicht vom Weg abkommen soll.«

»Sehr gut, du hast also doch aufgepasst!«

»Multitasking. Mehrere Bälle gleichzeitig in der Luft halten, das können wir Frauen, weißt du?«

Zur Antwort grinste er nur, aber aus der Männergruppe rief ein großer Kerl mit der Nase eines Adlers auf Englisch: »Träum weiter, kleine Zirkusprinzessin.« Die anderen lachten herausfordernd, und einer machte in seiner Muttersprache einen Spruch über Frauen, den sie lieber nicht verstanden hätte. Sie bemühte sich um eine ausdruckslose Miene, während sie die dreisten Blicke wahrnahm, mit der sie der Adlertyp abcheckte. Mårten war anzusehen, dass ihm die Sache peinlich war. Doch sie tat so, als bemerkte sie nichts. Daraufhin verloren die Männer das Interesse. Der Guide fuhr mit seiner Einweisung fort, und Lilje erfuhr, dass die gerade gestartete Gruppe aus erfahrenen Teilnehmerinnen bestand, die zu einer Tiefschneetour aufgebrochen waren. Ihre eigene Fahrt durch die weiße Wildnis sollte sie zu einer Hütte führen, wo es ein Mittagessen geben würde.

»In etwa zwei Stunden werden wir dort sein«, sagte er zum Abschluss des Vortrags.

»Keine Pinkelpause zwischendurch?«, fragte einer der Männer.

»Nur wenn es sein muss. Du kannst dir denken, warum«, Mårten grinste.

Das konnte sie sich ebenfalls denken. Es war bestimmt kein Spaß, sich in freier Natur aus den Klamotten zu schälen. Auch nicht für einen Mann.

»Also, auf gehts!« Einige fuhren zu zweit, andere hatten einen Schlitten für sich allein gebucht. Er kam herum, um die Schneemobile für sie zu starten. Es gehörte zu den zahlreichen Sicherheitsvorschriften, die er vorgetragen hatte, dass niemand von ihnen dies selbst tun durfte. Nachdem Mårten ebenfalls aufgestiegen war, bewegte er den Arm auf und ab, das verabredete Zeichen, dass sie nun aufbrachen, und fuhr langsam los. In der vorher besprochenen Reihenfolge starteten auch die anderen Mobile. Elsi und Lilje würden die Nachhut bilden, hatte er bestimmt. Die Reiseleiterin war die erfahrenste Teilnehmerin und konnte ihn über eine Funkverbindung im Helm informieren, falls es Probleme geben sollte.

Als es so weit war loszufahren, legte Lilje die Hände auf den Lenker und gab Gas. Das Gefährt sprach direkt an und machte einen gewaltigen Satz nach vorn.

5. Kapitel

Lilje

Elsi klopfte ihr auf die Schulter und rief gegen den Lärm an. »Langsam, die Scooter haben einen leistungsstarken Motor, und wir sind auch zusammen nicht allzu schwer.«

Der zweite Versuch funktionierte besser, und sie folgten den anderen im erforderlichen Abstand über ein weites Schneefeld hinaus in die Taiga.

»Alles klar bei euch, Elsi?«, fragte Mårten von vorn. Offenbar hatte er sie über die in den Helmen integrierten Kopfhörer gehört. Auch Lilje war freigeschaltet.

»Ja, wir sind ein bisschen schnell gestartet, aber sie macht es gut. Sehen wir uns heute Abend?«

Die beiden redeten Schwedisch miteinander und nahmen offenbar nicht an, dass Lilje sie verstand. »Der Schlitten hat ganz schön Power«, sagte sie deshalb schnell in ihrer Sprache. Es erschien ihr plötzlich nicht mehr richtig, ihre Sprachkenntnisse zu verbergen.

Die beiden lachten, und er sagte: »Gut zu wissen.«

»Mårten ist mein Stiefbruder. Die Familie trifft sich am Abend vor dem Markt, aber er drückt sich gern davor«, fügte Elsi hinzu, als müsse sie erklären, was es mit der Verabredung auf sich hatte.

»Diesmal werde ich da sein«, versprach er, und ein Piepton verriet, dass er irgendetwas umgeschaltet hatte. Nun hörte sie ihn auf Englisch bei allen nachfragen, ob jeder zurechtkäme. »Dann fahren wir jetzt etwas schneller, aber dort vorn im Wald geht es im Bogen bergab, das sollten wir langsam angehen. Haltet bitte ausreichend Abstand und bleibt auf der Spur.«

Die Funkverbindungen waren so geschaltet, dass sich jeweils Fahrer und Beifahrer unterhalten konnten, außerdem gab es eine Verbindung zu Mårten. Das System hatte bei der Einweisung ziemlich kompliziert geklungen, erwies sich aber in der Praxis als einfach zu bedienen.

Bergab musste sie die Geschwindigkeit mehrfach mithilfe der Bremse reduzieren. Einmal schlingerte der Schlitten vor ihr bedenklich, aber sie kamen schließlich doch alle gut durch das Wäldchen. Als sich unten unerwartet eine große, weite Fläche öffnete, fühlte sich Lilje sicher genug, um nicht mehr dauernd auf die Spur oder das Vorderfahrzeug zu blicken. Die Landschaft wirkte, als wäre sie mit gefrorener Schlagsahne übergossen worden, Schnee und Wind hatten die Fichten zu geisterhaften Figuren geformt – gebeugte Riesen, die jeden Augenblick wieder zum Leben erwachen konnten und in der Abenddämmerung gewiss zu gruseligen Geschichten inspirierten.

Mårten zeigte auf eine Anhöhe. »Wir überqueren gleich einen See. Er ist zwar zugefroren, aber es gibt ein paar Löcher im Eis. Vorheriges Jahr ist jemand hineingestürzt, der nicht auf den gespurten Wegen geblieben ist.«

»Dein Bruder will uns wohl Angst machen?«, fragte sie belustigt.

»Auch, aber es stimmt. Letztes Jahr ist jemand aus Jokkmokk hier ertrunken. Allerdings war das zu Beginn des Winters, und es hatte tagsüber getaut. Der Briefträger ist in der Dunkelheit vermutlich zu langsam gefahren und dabei im Schneematsch versunken. Niemand weiß, weshalb er vom Weg abgekommen ist …« Elsi senkte die Stimme, als hätte sie Sorge, gehört zu werden. »Manche sagen, er wäre betrunken gewesen. Ich glaube das nicht. Er hatte drei Jobs, um seine Familie zu versorgen. Wahrscheinlich war er übermüdet und hat nicht auf den Weg geachtet.«

»Lieber Himmel, das ist ja eine schreckliche Geschichte.«

»Stimmt, und du solltest sie in deinem Reisebericht besser nicht erwähnen, wenn du Brita nicht erzürnen willst.«

Das war eine erstaunliche Bemerkung. Lilje hakte nach: »Wird deine Chefin schnell ärgerlich?«