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Die Literaturzeitschrift Lichtungen erscheint vier Mal im Jahr und hat ihren Redaktionssitz seit 1979 in Graz. Nahezu jede Ausgabe widmet sich einem internationalen Schwerpunkt und zeitgenössischer Literatur. Lichtungen 176 behandelt Literatur der Rom*nija mit Gedichten von Ceija Stojka, Ilja Jovanović und Dragan Jevremović. Weiters finden Sie Folge 17 der Reihe »Poesie an unvermuteten Stellen« von Clemens J. Setz, Texte von Barbara Klicka, Marlene Gölz, Horst Waggershauser-Burr, Filip Rutić und Meinhard Rauchensteiner sowie Gedichte von Florian Neuner. Die Ausgabe beinhaltet auch Sabine Schönfellners Text »Springkraut« (Emil-Breisach-Preis 2022), den Essay »Unterwerfung oder Zerstörung – Linke und rechte Dystopien in der zeitgenössischen Literatur« von Leopold Federmair und »Lyrikpartitur #8« von Tamara Štajner.
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Seitenzahl: 95
Was lange währt, ist endlich gut. Die Lichtungen sind ab sofort weltweit auf allen gängigen Geräten auch als E-Book erhältlich. Wir wollen uns damit nicht vom Print verabschieden, im Gegenteil, wir wollen zusätzliche Leser:innen gewinnen. Unser von der Akademie Graz für jede Ausgabe eigens konzipierte Kunstteil wird weiterhin nur in der Printausgabe zu sehen und zu lesen sein – unsere hohen Ansprüche an Qualität der Haptik und Darstellung lassen das gar nicht anders zu. Aber die steigenden Porto- und Papierkosten haben uns zum Nachdenken darüber gebracht, wie wir unsere internationalen Autor:innen und Leser:innen weiterhin „versorgen“ können – und es gibt immer noch Länder, in denen die Post einfach nicht so will wie wir. Ab sofort können Sie also wählen, ob es weiterhin ein Print- oder doch lieber ein E-Book-Abo sein soll. Für weitere Informationen stehen wir Ihnen auch gerne per Mail zur Verfügung: [email protected].
Die vorliegende Ausgabe macht mir aus mehreren Gründen besondere Freude: Nicht nur wegen des besonders schön gestalteten Kunstteils von Robert Gabris (so viel zu unserem hohen Anspruch), sondern auch wegen des korrespondierenden Schwerpunkts Literatur der Rom*nija. Anlässlich des Tages der autochthonen österreichischen Volksgruppen dürfen wir dieses Heft sogar im österreichischen Parlament präsentieren.
Wir überlassen die Texte und Bilder dieser Ausgabe gerne Ihrer Entdeckungsfreude. Wir gratulieren unserem regelmäßigen Textbeiträger Clemens J. Setz herzlich zum Österreichischen Buchpreis. Und wir freuen uns, mit dem jungen, engagierten Verleger Paul Klingenberg einen Kooperationspartner mit großer Liebe zu guter Literatur gefunden zu haben.
Wir hoffen, Sie haben an diesem Text genauso viel Freude wie wir!
Andrea Stift-Laube
Inhalt
Editorial
Poesie an unvermuteten Stellen – Eine Serie
Clemens J. Setz
Abenteuer in der Thesaurusreihe (Folge 17)
Literatur
Barbara Klicka
Die Kur
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
Florian Neuner
venezia.
lyrische parzellen
Marlene Gölz
Flugpost
Horst Waggershauser-Burr
All das hässliche Wolfsgeschreibsel
Filip Rutić
Reis mit Ketchup
Aus dem Kroatischen von Silvia Stecher
Meinhard Rauchensteiner
Am Strand mit Kafka – Eine Reisenotiz
Emil-Breisach-Preis 2022
Sabine Schönfellner
Springkraut
Schwerpunkt: Literatur der Rom*nija
[romani] PROJEKT
Einleitung
Ceija Stojka
Gedichte
lja Jovanović
Gedichte
Dragan Jevremović
Gedichte
Kunst
Zeitkritik / Essay
Leopold Federmair
Unterwerfung oder Zerstörung
Linke und rechte Dystopien in der zeitgenössischen Literatur
Tamara Štajner
lyrikpartitur #8
Kurzbiografien
Gutes von Gestern
Vorschau
Impressum
Clemens J. Setz
Ein berühmtes Gedicht von Peter Handke, „Ratschläge für einen Amoklauf“, aus dem 1969 erschienenen Band Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, bringt uns auf folgende Ideen:
Zuerst durch ein Maisfeld rennen.
Dann in der leeren Konzerthalle durch die Stuhlreihen laufen.
Dann nach dem Ende des Länderspiels sich durch den Haupteingang zurück ins Stadion drängen.
Damit lässt sich schon mal ganz gut arbeiten. Opferlose Amokläufe, also ein ohne erfolgreich umgesetzte Mordlust ausgelebtes absurdes Anrennen gegen irgendwelche Hindernisse, können so etwas wie poetische Akte ergeben. Oder zumindest interessante, durch ihren Reichtum an Slapstick am Ende vielleicht kathartisch wirkende Unternehmungen im Alltag.
Glücklicherweise ist es nicht schwierig, zahlreiche weitere solche Anleitungen zu finden. Die allgegenwärtige Ratgeberliteratur ist besonders gut darin. Meine bevorzugten Ratgeber sind, auch wenn das etwas paradox klingen mag, Schreibratgeber. Paradox deshalb, weil man aus Schreibratgebern bekanntlich nur sehr wenig oder eigentlich fast nichts über das tatsächliche Schriftstellerhandwerk lernt, dem ich seit etwa fünfzehn Jahren nachgehe. Stephen Kings On Writing oder Chuck Palahniuks Consider This sind lesenswerte und enorm unterhaltsame Bücher zu diesem Thema, aber die darin aufgelisteten Einsichten und Daumenregeln kann man leider nur dann übernehmen, wenn man, durch einen bemerkenswerten kosmischen Zufall, in seinem Inneren genau wie Stephen King oder Chuck Palahniuk funktioniert. Solche Menschen existieren, aber ich glaube, sie bilden eine sehr kleine Gruppe. Der Rest kann die Bücher nur als Literatur genießen.
Und genau das haben wir auch im vorliegenden Fall vor. Schreibratgeber sind für mich vor allem als Quelle großartiger Listenpoesie verwend- bzw. genießbar, und die weitaus witzigste und reichste Spielart findet sich in der von Angela Ackerman und Becca Puglisi in mehreren Bänden herausgegebenen Thesaurus-Reihe:
Im Emotion Thesaurus etwa lernen wir, welche körperlichen Bewegungen zu bestimmten Gefühlen gehören. Sehen wir uns zum Beispiel die Handlungsanleitung für die Empfindung „Angst“ an:
Sich den Nacken reiben
Die Arme verschränken, aus ihnen eine Barriere bilden
Dastehen, mit einer Hand auf dem Ellbogen des anderen Arms
Sich an einer Handtasche anklammern oder an einem Mantel
Händeringen
An einer Armbanduhr drehen
Das ist natürlich nur der Anfang der Liste. Auch sie lässt sich ohne weiteres als Anleitung für einen gewaltlosen Amoklauf lesen. Man fühlt sich auch an verwandte Beschreibungen bei Peter Handke erinnert, etwa diese aus dem Journal Das Gewicht der Welt:
Amoklaufphantasie am Nachmittag, auf offener Straße: ich konnte meine Wut nicht auf denjenigen richten, der sie ausgelöst hatte, und so, im Bewußtsein, daß gegen den Auslöser keine Tätlichkeit, nicht einmal eine Äußerung mehr möglich war, entstand die Amokvorstellung, die sich sofort auf die Umwelt richtete: auf eine fremde Frau, der ich ein Messer hineinrennen wollte, auf ein Schaufenster, das ich auf der Stelle eintreten wollte; gleichzeitig jedoch, ausgelöscht durch die so heftig in mir siedenden Phantasien, daß wieder einmal nur ein leichter Schubs zur Verwirklichung fehlte, empfand ich eine völlige Schwächlichkeit, eine den Körper und die Seele ganz entleerende Schwachheit und Ohnmacht; dabei war die einzige Bewegung, die ich dann ausführte, ein Griff an den Hinterkopf.
Sehen wir uns nun, zur Abwechslung, einmal eine positive Emotion an, „Inspiration“ bzw. „Inspiriert sein“. Was tut sich da alles?
Für längere Zeit verschwinden
Stimulanzien verwenden, wie Kaffee oder Energy-Drinks
Auf den Fußsohlen hin und her wippen
Auf jemanden zurennen, um mit ihm zu diskutieren
Selbstgespräche führen
Schon wieder eine Anleitung für einen gewaltlosen Amoklauf! Trifft das denn auf alle Listen in dem Buch zu? Ja. Das macht es so unterhaltsam. Die kontextlose Form der Liste verwandelt die eigentlich separat gedachten charakteristischen Bewegungen in eine chronologisch lesbare Cartoon-Bildfolge.
Sehen wir uns nun das lustigste Buch der Reihe an, den Urban Setting Thesaurus: A Writer’s Guide to City Spaces. Hier bilden verschiedene städtische Elemente die Kapitel, also etwa „Im Restaurant“ oder „Im Jugendknast“ oder „Im U-Bahn-Tunnel“, gefolgt von ausführlichen Listen der für den jeweiligen Ort bezeichnenden Phänomene. Was sieht, hört, riecht man alles in einem U-Bahn-Tunnel? Wer das nicht auswendig weiß, kann es hier endlich nachschlagen und lernt: „Blaue Streifen aus Licht, die zwischen den Gleisen verlaufen, Dunkelheit, Betonwände, Graffiti, Rohre, die horizontal über die Mauern verlaufen, Bewegungsmelder, das Licht am Ende des Tunnels“ und so weiter. Ebenfalls angegeben wird eine Liste der „possible sources of conflict“ in einem U-Bahn-Tunnel. Wenn man also nicht genau weiß, weshalb man seine Figur soeben in einen U-Bahn-Tunnel geführt hat, findet man zahlreiche Vorschläge für mögliche Abenteuer:
Von einem einfahrenden Zug erfasst werden
Ins Gleisbett stürzen
Gefährlichen Menschen begegnen, z. B. Drogensüchtigen, Gangs oder Obdachlosen
Sich im Tunnel verlaufen und nicht mehr herausfinden
Von Klaustrophobie befallen werden
Angst im Dunkeln haben
In die Tunnel flüchten, um einer größeren Gefahr zu entkommen
Vom U-Bahn-Personal entdeckt werden
Sich beim Flüchten den Fuß verstauchen
Mit dem Hosenbein in den Gleisen hängen bleiben
Über eine im Tunnel liegende Leiche stolpern
Und so weiter. Apropos Leiche. Was für Abenteuer ergeben sich eigentlich „Im Leichenschauhaus“? Welche Konfliktsituationen entstehen dort? Schlagen wir nach, auf Seite 91 des Urban Setting Thesaurus:
Versehentlich eine Leiche verlieren
Die persönlichen Habseligkeiten eines Verstorbenen verlegen
Unfähig sein, die Todesursache festzustellen
Einen Stromausfall erleben
Im Leichenschauhaus festsitzen
Mangelhafte Sicherheitskleidung tragen
Gewebeproben vertauschen
Das falsche Schild auf eine Leiche kleben
Sich dafür schämen, dass man hier arbeitet
Die eigenen Gefühle nur mit Mühe vom Beruf trennen
Nun muss die Leserin nicht viel mehr tun, als diese Liste als zeitliche Folge zu denken, und fertig ist das Gedicht. Man kann dies im Druckbild durch Nummerierung der Zeilen oder auch durch die Einfügung von Temporaladverbien erzeugen. Hier ein Vorschlag:
ANLEITUNG FÜR ABENTEUER IN DER MORGUE
Zuerst versehentlich eine Leiche verlieren
Dann die persönlichen Habseligkeiten eines Verstorbenen verlegen
Immer wieder unfähig sein, die Todesursache festzustellen
Dann einen Stromausfall erleben
Und im Leichenschauhaus festsitzen
Mangelhafte Sicherheitskleidung tragen
Jeden Sonntag Gewebeproben vertauschen
Schließlich das falsche Schild auf eine Leiche kleben
und sich dafür schämen, dass man hier arbeitet
Und hin und wieder die eigenen Gefühle
nur mit Mühe vom Beruf trennen
Seit einigen Jahren habe ich den großen Wunsch, Leuten an einer Uni etwas über die Mysterien des Schreibberufs erzählen zu können. Im Jahr 2019 durfte ich das tatsächlich, ein Semester lang an der Freien Universitätin Berlin, und das gefiel mir so sehr, dass ich seither immer wieder Material sammle, für den Fall, dass sich eine ähnliche Gelegenheit wieder einmal ergibt. Die Thesaurus-Buchreihe von Ackerman und Puglisi wäre definitiv Teil meiner alljährlich angeordneten Pflichtlektüre. Allerdings würde ich nicht erwarten, dass meine Student:innen aus ihr brauchbare Anleitungen für den Umgang mit literarischen Figuren „im Fitness-Center“ oder „in einer Phase emotionaler Verwirrtheit“ oder „auf einer Gemeindewiese während des Dorffests“ beziehen. Nein, all diese Dinge würden sie, wenn sie tatsächlich den edlen, alten Schreibaffen auf dem Rücken hocken haben, ohnehin früh genug selbst herausfinden. Ich würde lediglich von ihnen erwarten, dass sie zumindest zwei oder drei Bände der Thesaurus-Reihe ständig griffbereit im Regal stehen haben, um sich anhand der absurd übergenauen Listen und Aufzählungen immer wieder auf die leuchtende Seltsamkeit des menschlichen Lebens besinnen zu können, was schließlich das wichtigste und wahrscheinlich einzige reale Lernziel eines Schreibstudiums darstellt.
Barbara Klicka
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann