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Eigentlich wollte Noelle nur ein sexy Dress für eine Weihnachtsparty shoppen. Aber in der Umkleidekabine fällt ihr ein Traummann buchstäblich in den Schoß! Den sie sich wunderbar als Geschenk für sich selbst vorstellen kann. Mit nichts als einer hübschen roten Schleife bekleidet …
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Seitenzahl: 193
IMPRESSUM
Lieb mich, Fremder! erscheint in der HarperCollins Germany GmbH
© 2005 by Leslie Kelly Originaltitel: „Don’t Open Till Christmas“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANY SEASONBand 4 - 2015 by HarperCollins Germany, GmbH Hamburg Übersetzung: Johannes Heitmann
Umschlagsmotive: GettyImages_grinvalds
Veröffentlicht im ePub Format in 12/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733745271
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Es war schon schlimm genug, am Freitag nach Thanksgiving ein kleines Schwarzes anprobieren zu müssen. Aber dann auch noch zuhören zu müssen, wie ein Pärchen in der Nachbarkabine Sex hatte, das war mehr, als Noelle Bradenton ertragen konnte.
Sie betrachtete sich prüfend im Spiegel und fand, dass ihre Hüften in dem kurzen sexy Cocktailkleid viel zu breit wirkten. Gleichzeitig hörte sie die Unterhaltung aus der Nachbarkabine. Ganz eindeutig, das waren ein Mann und eine Frau. Und es bestand auch kein Zweifel, wovon sie redeten.
„Red nicht immer nur, tu es jetzt einfach.“ Das Flüstern der Frau klang fast verzweifelt. „Nein, mach dir keine Sorgen, es hat dich ja niemand reinkommen sehen.“
„Das ist verrückt“, antwortete der Mann. Seine tiefe Stimme klang genervt und auch belustigt. „Hör auf zu zappeln.“
Unglaublich! Noelle traute ihren Ohren nicht. Schlimm genug, dass jetzt die verhasste Weihnachtszeit anfing, da brauchte sie nicht noch daran erinnert zu werden, wie erbärmlich es um ihr Liebesleben stand, indem sie zuhören musste, wie die beiden sich in der Umkleidekabine nebenan austobten.
Ich bin selbst schuld, dachte sie. Warum gehe ich auch ausgerechnet dann ins Kaufhaus, wenn halb Chicago zum Shoppen unterwegs ist?
Eigentlich versuchte sie jedes Jahr, den gesamten Weihnachtstrubel zu vermeiden, indem sie ihre Geschenke online kaufte.
Leider hatte sie dieses Jahr bei der Lotterie des Sozialamts eine Eintrittskarte zur Weihnachtsparty beim Bürgermeister gewonnen, obwohl solche festlichen Anlässe überhaupt nicht nach ihrem Geschmack waren. Anstatt für Champagner und Mini-Quiches sollte das Geld lieber für die Frauen und Kinder im Frauenhaus eingesetzt werden, in dem sie arbeitete.
Aber jetzt musste sie dorthin, und im Internet hatte sie kein passendes Kleid gefunden.
Noelle stand in der Kabine, zerrte an dem schwarzen Stoff und fluchte leise. War sie tatsächlich so dick? Oder lag es an dem Schnitt, dass das Kleid überall perfekt passte, nur nicht an den Hüften?
Und jetzt noch das Pärchen nebenan! Hoffentlich lehnen sie sich beim Sex nicht an die Trennwand zu meiner Kabine! dachte Noelle. Sonst bricht die Wand ein, und die beiden landen direkt vor mir und dürfen mich in meinem schwarzem BH und dem kleinen Slip bewundern.
Nur für alle Fälle griff sie schon mal nach ihren Taschen, doch die Stimme des Mannes ließ sie plötzlich innehalten. „Der Tresen mit den Verkäuferinnen ist kaum fünf Meter weg.“ Wieder klang er eher belustigt als besorgt. „Bestimmt platzt gleich eine Verkäuferin herein und sieht nach, warum du hier einen Mann in der Kabine hast.“
„Hast du nicht die Schlange von Kundinnen gesehen, die sich da draußen drängeln? Zehn Prozent Rabatt auf alles, da verlassen die Verkäuferinnen erst zu Weihnachten wieder ihren Platz an der Kasse.“
Noelle musste lächeln. Die Unbekannte war anscheinend genauso genervt vom Weihnachtstrubel wie sie selbst. Wahrscheinlich hätte Noelle sich unter anderen Umständen mit der Frau anfreunden können, aber im Moment war diese Frau nebenan wahrscheinlich nackt und kurz davor, Sex zu haben. Mein letztes orgastisches Aufstöhnen habe ich neulich von mir gegeben, als ich ein Stück Nusstorte gegessen habe, dachte sie.
Nusskuchen! Kein Wunder, dass das Kleid an den Hüften spannte.
„Ja, genau. Noch ein bisschen. Jetzt … toll, ich glaube, jetzt ist er drin.“ Die Frau klang atemlos.
Sie glaubte es nur? Verwundert runzelte Noelle die Stirn. Wenn die Frau da nicht sicher war, dann war der Mann mit der sexy Stimme vielleicht doch kein Hauptgewinn.
Schlagartig ging es Noelle wieder besser. Lieber kein Sex als schlechter Sex, dachte sie. Und wenn ich jemals den Mut aufbringe, an einem öffentlichen Ort Sex zu haben, dann sicher mit einem Partner, der so gebaut ist, dass ich auch spüre, was er tut.
„Okay, fertig“, sagte der Mann. „Den Rest schaffst du allein, oder? Kann ich hier raus?“
Noelle verdrehte die Augen. Was für ein Gentleman! Verschafft sich schnell Befriedigung, und dann darf seine Frau oder Freundin sich um sich selbst kümmern.
Grrr! Einer Frau bei der Selbstbefriedigung zuzuhören fand Noelle noch widerlicher, als ein Pärchen beim Sex zu belauschen.
Hektisch versuchte sie, sich die Jeans wieder anzuziehen, bevor nebenan das einsame Stöhnen einsetzte. Davon hörte sie in ihrem eigenen Schlafzimmer in letzter Zeit schon genug.
Ein Fuß im Hosenbein, bekam Noelle kaum mit, dass nebenan die Kabine geöffnet wurde. Dann erklang draußen eine Männerstimme.
„Entschuldigen Sie.“ Dann lauter: „Vorsicht!“
Ein lautes Poltern erklang, und dann flog die Tür zu Noelles Umkleidekabine auf!
„Hey, was tun Sie da?“, schrie Noelle auf, als ein Unbekannter in die kleine Kabine gestolpert kam.
Er prallte gegen Noelle und drückte sie an die Rückwand. Ihr Herz begann zu rasen, als der Fremde sich schnell mit beiden Händen am Spiegel hinter ihr abstützte. Sonst wären sie sicher beide auf die kleine Sitzbank getaumelt.
Es dauerte einen Moment, bis Noelle begriff, was geschehen war. Ihr Atem ging keuchend, und dann sah sie sich den Mann an, dessen Körper sich von den Knien bis zu den Schultern an sie presste.
„Nicht zu glauben!“, flüsterte sie.
Dieser Mann sah so gut aus, dass jede Frau sofort ins Grübeln kam, ob sie ein Kondom in der Handtasche hatte.
Seine dunkelgrünen Augen waren vor Schreck geweitet, und einen Moment lang konnte Noelle nichts tun, als in seine faszinierenden Augen zu sehen. Menschen mit so einer Augenfarbe hatten meistens helles Haar, aber die glänzenden kurzen Haare dieses Mannes waren tiefschwarz. Wie mochte es sich anfühlen, mit den Fingern hindurchzufahren? Noelle musste sich beherrschen, um den Mann nicht an sich zu zerren.
Auf den Wangen zeigten sich Bartstoppeln. Anscheinend gehörte er zu den Männern, die sich an Feiertagen ungern rasierten. Der Bartschatten ließ sein Gesicht noch kantiger erscheinen, seine Lippen wirkten im Gegensatz dazu jedoch voll und sinnlich.
Fast hätte Noelle die Augen geschlossen, um sich vor der Wirkung des Mannes zu schützen, aber sie war zu neugierig. Sie legte den Kopf in den Nacken, bis sie an den Spiegel stieß, und blickte an dem Mann hinab. Breite Schultern in schwarzer Lederjacke, eine muskulöse Brust, unter dem eng anliegenden T-Shirt ein flacher Bauch und schmale Hüften.
Immer noch waren ihre Körper von der Hüfte abwärts aneinandergeschmiegt, und Noelle spürte ganz genau, dass der Mann überall perfekt war. Sein von rauem Jeansstoff bekleideter Schenkel streifte ihren zarten Slip.
Auf einmal wurde Noelle bewusst, dass sie nichts am Leib trug als ihren sexy schwarzen BH und den schwarzen Slip. Beides hatte sie nur angezogen, weil sie sich heute ein schwarzes Cocktailkleid kaufen wollte. Ihr wurde heiß. Bestimmt bin ich rot geworden, dachte sie.
„Hi“, sagte er leise.
Noelle brachte keinen Ton heraus.
„Ich wurde von einer jungen Frau angestoßen, die beim Shoppen offenbar über Leichen geht.“
Und ich bin von einem Mann angestoßen worden, der einfach zum Anbeißen aussieht, dachte Noelle und leckte sich die Lippen.
Der Mann sah auf ihre Lippen, und seine Pupillen weiteten sich. So, als würde er ihre spärliche Kleidung jetzt erst bemerken, blickte er an ihr hinab.
Schlagartig war Noelle sehr froh, ihren Push-up-BH angezogen zu haben, denn sie sah den Fremden schlucken, als sein Blick auf ihre mittelgroßen, aber optimal in Szene gesetzten Brüste fiel. Er spannte sich am ganzen Körper an, und Noelle beglückwünschte sich zur Investition in diesen BH.
„Sind Sie okay? Ich habe Ihnen doch nicht etwa wehgetan, oder?“
Seine tiefe Stimme klang samtweich. Noelle wollte schon wohlig die Augen schließen und den Klang genießen, als sie die Stimme erkannte: Vor ihr stand der Mann aus der Nachbarkabine! Gerade eben erst war er mit einer anderen Frau zusammen gewesen.
Sie wollte ihn schon angewidert von sich stoßen, doch da spürte sie, dass der Fremde körperlich auf ihre Nähe reagierte. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Noelles Puls schlug schneller, und sie verspürte ein vertrautes Ziehen zwischen ihren Schenkeln.
Sie sehnte sich nach ihm, und als er sie mit einer Hand an der Taille stützte und „Habe ich Ihnen wirklich nicht wehgetan?“ fragte, seufzte sie unwillkürlich.
Ganz offenbar empfand der Mann die körperliche Nähe genauso erregend wie sie. Und in diesem Moment wurde ihr auch klar, dass sie die Geschehnisse in der Nachbarkabine völlig falsch gedeutet haben musste. Bestimmt würde jede Frau bei diesem Mann sehr genau wissen, ob er in sie eindrang oder nicht.
Wieder seufzte Noelle leise, fast sehnsüchtig auf.
„Das ist ja wie im Film“, sagte er leise, ohne sich von Noelle zu lösen.
Sie räusperte sich. „Scheint so.“
„Ich glaube, wir wissen beide genau, was im Film in solchen Situationen immer passiert.“ Begehren schwang in seiner Stimme mit.
Noelle war nicht ganz sicher, was der Mann meinte. Allerdings ahnte sie, dass …
„Tut mir leid, meine Schöne, aber ich würde es bis an mein Lebensende bereuen, wenn ich das jetzt nicht tue.“ Damit senkte er die Lippen auf ihren Mund und küsste sie so sinnlich, dass Noelle nicht mehr fragen, zögern oder denken konnte. Sie genoss es nur und gab sich hin.
Langsam öffnete sie die Lippen, und sofort drang der Mann stöhnend in ihren Mund vor. Noelle legte ihm die Arme um den Nacken und fuhr ihm durchs Haar, wie sie es sich bereits ausgemalt hatte, als er vorhin in die Kabine gestürmt war.
Ihre Zungen berührten sich sachte, zogen sich zurück und streiften einander wieder. Noelles Verlangen, auf die Bank zu sinken und den Mann an sich zu ziehen, wurde mit jeder Sekunde stärker.
Doch von draußen drangen Geräusche zu ihnen herein, und allmählich nahm Noelle wieder ihre Umgebung wahr. Der Mann reagierte, als sei ihm im selben Moment dasselbe klar geworden, denn er beendete abrupt den Kuss und trat einen Schritt zurück.
Seine Wärme nicht mehr zu spüren war wie ein Verlust, und am liebsten hätte Noelle sich gleich wieder an ihn geschmiegt. Doch bevor sie dazu kam, erklang die Stimme einer Frau: „Dies ist die Damenumkleide, Sir! Anscheinend haben Sie vergessen, dass Sie sich in der Öffentlichkeit befinden!“
Der Fremde fuhr herum und schirmte dabei Noelle vor den Blicken anderer ab. Diese Reaktion kam völlig spontan und selbstverständlich.
Ich will mehr über ihn erfahren, dachte Noelle. Ich will alles von ihm wissen: Name, Adresse, Familienstand, seine Größe. Aber vor allem wollte sie sicher sein, dass er nicht gerade nebenan eine andere Frau im Arm gehabt hatte.
Aber solange die empörte Verkäuferin dastand und sich aufregte, würde sie, Noelle, ihm keine weiteren Informationen entlocken. Während die für Noelle unsichtbare Frau tadelnd auf den schwarzhaarigen Mann in der Lederjacke einredete, schob er sich langsam aus der Kabine. Als Letztes sah Noelle von ihm Rücken und Po – und sein rasches Lächeln, begleitet von einem Augenzwinkern, als er sich noch einmal zu ihr umdrehte, bevor er die Tür schloss.
Als Noelle drei Minuten später die Umkleide verließ, war sie angezogen und konnte wieder normal atmen. Die Kabine neben ihr, in der noch kurz zuvor das mysteriöse Pärchen miteinander gesprochen hatte, war leer.
Der schwarzhaarige Fremde mit den grünen Augen war fort.
Detective Mark Santori hatte in seinen sechs Jahren bei der Polizei in Chicago schon so manchen bizarren Fall bearbeitet, aber der jetzige Fall übertraf alles Dagewesene. Eine als Weihnachtsmänner verkleidete Diebesbande stahl, was ihnen in die Finger kam. Mark hielt nicht viel von der Weihnachtszeit, aber dass Ganoven sich als Santa Claus kostümiert das Vertrauen ihrer Opfer erschlichen, fand er besonders niederträchtig.
Mark zog sich die Lederjacke an. Heute hatte ein Weihnachtsmann in einem Frauenhaus das Geld gestohlen, das für die Weihnachtsgeschenke der Kinder der misshandelten Frauen bestimmt war. Das war bereits heute Vormittag gewesen, doch Mark fand erst jetzt Zeit, dorthin zu fahren. Er fragte sich, wie er mit den wütenden Sozialarbeiterinnen umgehen sollte. Oder hatte sich die Stimmung im Frauenhaus in den vergangenen Stunden vielleicht schon wieder etwas beruhigt?
Seine Partnerin Harriet Styles war gerade im Kaufhaus „Riley’s“, das ein paar Tage zuvor von einem dort engagierten Weihnachtsmann bestohlen worden war. Wenn der Diebstahl bei „Bloomingdale’s“ stattgefunden hätte, wo er bei einer dunkelhaarigen Schönheit in der Umkleide gelandet war, wäre Mark sicher selbst dorthin gefahren. Er konnte die Frau nicht vergessen. Immer wieder hatte er an sie gedacht und von ihr geträumt. Leider hatte er sie nicht nach ihrem Namen gefragt oder nach ihrer Telefonnummer. Oder nach ihren sexuellen Vorlieben.
Mark besaß keinerlei Hinweis auf die Identität der Frau. Er wusste genauso wenig über sie wie über die stehlenden Weihnachtsmänner.
Die Weihnachtszeit war für ihn die schlimmste Zeit des ganzen Jahres. Mittlerweile fingen die ersten Geschäfte schon Mitte September an, ihre Schaufenster weihnachtlich zu dekorieren, und erst Mitte Januar verschwanden die letzten Schleifchen und Sternchen wieder. Dieses Jahr war alles noch schlimmer, denn jetzt mussten die Leute auch noch aufpassen, dass sie nicht vom Weihnachtsmann bestohlen wurden.
Auf dem Weg zu seinem Auto zog er den Reißverschluss seiner Jacke hoch. Ein eisiger Wind fegte durch die Straßen, der Winter war in diesem Jahr früh angebrochen.
Vom Weihnachtsmann bestohlen zu werden, das war der schlechteste Start in den Dezember, den man sich vorstellen konnte.
Noelle Bradenton hasste Weihnachten sowieso. Ihr graute vor der ständigen Werbung für CDs, auf denen die ewig gleichen Weihnachtslieder immer wieder neu zusammengestellt wurden. Ohne auf die Girlanden und die übrige Weihnachtsdekoration zu achten, ging sie in ihr Büro in einem der vorderen Zimmer des Frauenhauses.
Einladungen ihrer Freunde, das Fest mit ihnen zu verbringen, lehnte Noelle prinzipiell höflich ab. Sie plante keine Weihnachtsüberraschung, und bislang war es ihr sogar gelungen, halbwegs gut gelaunt zu bleiben und nicht wie sonst zur Weihnachtszeit ständig mit mürrischer Miene herumzulaufen.
Dann hatte sie heute Morgen festgestellt, dass der verkleidete Weihnachtsmann, der die verschüchterten Kinder eigentlich hätte aufheitern sollen, mit dem Geld für die Weihnachtsgeschenke verschwunden war. Und seitdem war ihre Freude auf den 25. Dezember verflogen.
Auf diesen Tag hatte sie sich bis heute gefreut. Während sie für die Bewohner dieses Hauses ein Weihnachtsfest im üblichen Rahmen plante, hatte sie dieses Jahr ihr ganz eigenes Fest vorbereitet. Ohne Schnee, Weihnachtsmänner und hektische Einkäufe. Ohne wütende Ehemänner, die versuchten, ihre verängstigten Ehefrauen und die vernachlässigten Kinder zu belästigen.
Einfach nur Sonne, Strand und Cocktails und mit etwas Glück auch ein gut gebauter Boy vom Pool oder ein blonder Surfer, von dem sie nicht einmal den Namen kannte, dessen Körper sie aber umso besser kennenlernen würde. Das Abenteuer mit dem blonden Surfer wurde ihr immer wichtiger, denn seit der Begegnung im Kaufhaus am letzten Freitag war sie fast ständig erregt. Die ganze Zeit über dachte sie fast nur an den Mann, in dessen Armen sie gelegen hatte und der dann ohne ein Wort verschwunden war. Jede Nacht träumte sie von ihm.
Noelle sehnte sich nach Sex. Seit dem Ende ihrer Verlobung war jetzt fast ein Jahr vergangen, und in diesem Jahr hatte sie mit keinem Mann geschlafen. Eigentlich lag der letzte großartige Sex sogar noch viel länger zurück.
Dieses Jahr würde sie sich zu Weihnachten mit einem fantastischen Liebhaber beschenken. Das Erlebnis mit dem Fremden hatte sie auf den Geschmack gebracht. Sein Kuss und ihre Reaktion darauf hatten ihr deutlich gemacht, dass sie nicht wie eine Nonne leben musste, nur weil sie keinem Mann mehr vertraute.
Die perfekte Lösung für ihr Problem lag in heißem Sex mit einem namenlosen Fremden. Sie würden sich keinerlei Versprechungen machen, und folglich würde es keinen Liebeskummer geben. Niemand konnte sich betrogen fühlen. Genau so eine Affäre brauchte sie jetzt.
Der Urlaub war ihr als perfekte Möglichkeit erschienen, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Weit weg, auf Santa Lucia in der Karibik, gab es sicher viele Männer, die nur darauf warteten, die unerfüllten Sehnsüchte einer allein reisenden Touristin wahr werden zu lassen. Dort würde Noelle sich wieder als sinnliche Frau fühlen. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass diese Frau noch in ihr schlummerte, bis ein Fremder ihr das vor einer Woche in einer winzigen Umkleidekabine gezeigt hatte.
Vielleicht ein dunkelhaariger Surfer, dachte sie. Genau, mit dunklem Haar und grünen Augen. Sonne, Sand und Strand und dazu Glut, Lust und Leidenschaft.
Oder auch nicht.
In Gedanken nahm sie Abschied von ihrem Traumurlaub und von dem sexy Fremden. Manchmal war die Wirklichkeit wirklich grausam. Noelles Urlaub war in dem Moment in weite Ferne gerückt, als ein widerlich dicker Weihnachtsmann alles Geld hatte mitgehen lassen, das sie während des ganzen Jahres für die Geschenke für die Kinder gesammelt hatten. So bald würde es keinen Urlaub für sie geben. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass durch den Diebstahl das wichtigste Ereignis in diesem Haus ruiniert wurde. Zur Not würde sie die Geschenke und das Fest eben zum Großteil aus eigener Tasche bezahlen.
Beim Weihnachtsfest für die Kinder ging es nicht nur um Barbiepuppen und ein paar Spiele. Diese Kinder und auch ihre Mütter hatten zum Teil noch niemals ein richtiges Weihnachten ohne Schläge, Wutanfälle und Drogenmissbrauch erlebt.
Zum Fest im Frauenhaus gehörten neben den Geschenken auch der geschmückte Weihnachtsbaum, die gemeinsamen Spiele, selbst gebackene Kekse, die feierliche Kleidung und das Dinner, dessen Hauptgang der Truthahn bildete. Auch ehemalige Bewohnerinnen des Frauenhauses, die jetzt irgendwo in der Stadt versuchten, sich eine eigene Existenz aufzubauen, wurden beschenkt. Und Noelle würde dafür sorgen, dass dies alles in diesem Jahr nicht ausfiel.
Sie wandte sich an ihre Kollegin Casey Miller, die gemeinsam mit ihr den Diebstahl entdeckt hatte. „Wir werden die umliegenden Geschäfte um Spenden bitten, damit wir den Verlust so weit wie möglich decken können.“ Sie schluckte. „Und was den Rest angeht … ich habe ein paar Ersparnisse, mit denen ich einspringen kann.“
„Oh, Liebes, jetzt sag bloß nicht, dass du deinen Traumurlaub absagen willst.“ Die schlanke rothaarige Casey wusste, wie lange Noelle sich schon auf ihren Weihnachtsurlaub freute.
„Ich verschiebe meinen Urlaub eben und fliege im Frühling.“
„Im Frühling! Aber da gibt es keine Weihnachtschöre mehr in Chicago, keine Glöckchen und Weihnachtsmänner.“ Casey gehörte zu den wenigen Menschen, die wussten, wie Noelle über Weihnachten dachte.
„Besonders auf einen ganz bestimmten Weihnachtsmann habe ich dieses Jahr eine Mordswut“, sagte Noelle leise. „Wie konnte Alice ihn bloß allein im Büro telefonieren lassen? Sie wusste doch, dass das Geld in der untersten Schreibtischschublade versteckt war. Wie hat er das eigentlich so schnell gefunden? Als hätte er gewusst, dass wir unser Konto geplündert haben, um nächstes Wochenende unsere große Einkaufstour zu unternehmen.“
„Er war ein Profi und hat uns alle reingelegt.“ Casey seufzte. „Als Weihnachtsmann wirkte er sehr überzeugend. Die Kinder haben ihn gemocht.“
„Wenn ich ihn in die Finger bekomme, wird er sich von ein paar Körperteilen trennen müssen, mit denen wir dann unseren Baum schmücken.“
„Ich hoffe doch, dass Sie nicht zur Selbstjustiz greifen.“
Bei der tiefen Männerstimme fuhr Noelle herum. Endlich ließ sich also Chicagos Polizei blicken. Gerade als sie sich bei dem Beamten über die lange Wartezeit beschweren wollte, erblickte sie den Mann an der Tür zu ihrem Büro, und die bissige Bemerkung blieb ihr im Hals stecken.
Das war der dunkelhaarige Fremde, der sie vor einer Woche in der Umkleidekabine geküsst hatte. Mit diesem Mann verbrachte sie seitdem in ihren Träumen jede Nacht.
„Unglaublich.“ Erstaunt riss er die Augen auf, als er sie erkannte.
Einen Moment lang glaubte Noelle, er habe sie gesucht und endlich nach einer Woche gefunden. Aber das lag vermutlich an den erotischen Fantasien, die ihr seit einer Woche im Kopf herumspukten. In einer Großstadt wie Chicago einem Menschen durch Zufall wiederzubegegnen war so gut wie unmöglich. Dennoch stand der Fremde jetzt vor ihr.
„Detective Mark Santori“, stellte er sich vor und zeigte ihr seine Dienstmarke.
Ein Cop. Schlagartig löste sich ihre Fantasie, er habe die Stadt nach ihr durchsucht, in Luft auf. Warum enttäuschte sie das? „Du hast ganz schön lange gebraucht.“ Es klang schnippisch.
„Moment mal. Du hast mir schließlich deinen Namen nicht verraten.“
Offenbar spielte er auf letzten Freitag an. Noelle runzelte die Stirn. „Du hast mich nicht danach gefragt.“
„Ihr zwei kennt euch?“ Casey sah von einem zum anderen.
Als Noelle bemerkte, wie interessiert Casey sie beobachtete, wurde sie rot. „Ich komme allein klar, Casey. Willst du nicht mal nachsehen, wo Alice steckt?“ Sie wandte sich dem Polizisten zu. „Sicher möchte Detective Santori auch mit ihr sprechen.“
Casey nickte skeptisch. Auf dem Weg zur Tür lächelte sie dem Detective freundlich zu. Kurz bevor sie den Raum verließ, sah sie zu Noelle und hob hinter seinem Rücken anerkennend den Daumen. Dann ging sie hinaus.
„Zu deiner Information“, sagte der Detective, sobald sie allein im Zimmer waren, „letzten Freitag habe ich nur kurz mit der Verkäuferin gesprochen, und als ich fünf Minuten später zur Umkleide zurückgekehrt bin, warst du verschwunden.“
Er war zurückgekommen! Ihretwegen! Noelles Herz schlug schneller, und ihr wurde heiß. „Oh.“
„Also: Bevor wieder jemand hier hereinplatzt und uns stört, könntest du mir bitte deinen Namen verraten?“
„Noelle Bradenton.“ Den verunsicherten Klang ihrer Stimme erkannte sie selbst nicht wieder. Das war nicht die Frau, die in der Öffentlichkeit einen Fremden küsste. Das klang eher nach dem verunsicherten Mädchen vom Lande, das vor einem Jahr in die Großstadt gezogen war, um sich einen Job als Sozialarbeiterin zu suchen. „Bist du sicher, dass du meinetwegen zurückgekommen bist? Oder wegen der Frau in der Nachbarkabine?“
Er zuckte zusammen. Anscheinend fühlte er sich ertappt. „Du hast uns gehört? Ich habe ihr gesagt, dass man uns erwischen würde.“
Angewidert verzog sie das Gesicht. Anscheinend hatte sie tatsächlich einen Mann geküsst, der kurz zuvor mit einer anderen Frau zusammen gewesen war. Wie eklig! „Vielleicht sollte lieber jemand diesen Diebstahl untersuchen, der nicht in Kaufhäusern von einer Umkleide zur nächsten schleicht.“
„Moment mal, Lady.“ Er presste die Lippen zusammen. Heute war er glatt rasiert, und das fand Noelle fast noch anziehender als den leichten Bartwuchs neulich. Er trug dieselbe Lederjacke, doch darunter diesmal einen schwarzen Pullover. Seine muskulösen Beine steckten heute in einer Kakihose. „Es war schließlich nur ein Kuss.“
„Nur ein Kuss?“ Vor Wut schnappte sie nach Luft und trat einen Schritt näher.
Auch er trat einen Schritt näher. „Genau. Ein Kuss. Und du hattest daran genauso großen Spaß wie ich.“