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Nach der gelungenen Festnahme einer Bande von Pseudopolizei-Trickbetrügern fahnden die Kieler LKA-Sonderermittler um Nili Masal vereint mit Sören Madsens Itzehoer Mordkommission nach dem Mörder einer umstrittenen Fernsehmoderatorin in Oldenmoor. Hierzu scheinen zwei ähnlich geartete, ungelöste Cold Cases aus Hamburg und im Nordseewatt zu passen, wegen denen Kriminalhauptkommissar Motti Wunderlich vom LKA Hamburg hinzugezogen wird. Ein vierter Leichenfund auf einem Autobahnrastplatz bietet Nili und ihrem Team endlich entscheidende Hinweise auf die wahren Zusammenhänge, die sie schließlich zum Täter führen. Erneut vereint der Autor zwei üble Zeiterscheinungen in unserer Gesellschaft: hemmungslose Gewalt gegen Frauen sowie die infam-rücksichtslose Telefonabzocke von arglosen älteren Mitmenschen.- »Eine Themenwahl Eisners, die wieder einmal voller Brisanz steht …« (Ilke Rosenburg, Norddeutsche Rundschau, Wilstersche Zeitung, Glückstädter Fortuna)
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Wolfgang Wagner
LIEBE HINTERDEN MASKEN
Roman
Engelsdorfer Verlag Leipzig 2022
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Copyright (2022) Engelsdorfer Verlag Leipzig Alle Rechte beim Autor
Titelbild © Fokke Baarssen [Adobe Stock]
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Liebe hinter den Masken
Lady in red
Das Jazzkonzert
Die Sporttasche
In Pilawi
Scheiden tut weh
Nachwort
Sie lag auf einer Liege und las einen Krimi. Neben ihr, auf einem Hocker, stand ein Glas mit Weißwein. Daneben lag das Oberteil ihres Bikinis. Zusammen mit ihrer Geschäftspartnerin, die Familie hatte, hatte sie dieses Grundstück gepachtet. Das Grundstück war nicht groß, aber jeweils bis zur Seeseite von Büschen und kleinen Bäumen umgeben. Sie blickte auf den See, aber sie war nur mit den Füßen drin gewesen. In ein paar Wochen würde sie eine Woche zur Nordsee fahren.
Sie trank einen Schluck Wein und in den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr. Als sie in Richtung Wäldchen blickte, sah sie einen älteren Mann, der sich mühsam vorwärtsbewegte und etwas auf dem Rücken trug. Sie sprang auf, ohne an ihr Oberteil zu denken. Er nahm seinen verbeulten Hut ab und grüßte: „Hey, Lady! Schöner Tag heute.“
„Hallo, aber Sie wissen schon, dass das Betreten des Grundstücks verboten ist.“
Er war wieder etwas nähergekommen und sie konnte nun seine verschlissene Kleidung erkennen. Er ging gebeugt, wahrscheinlich wegen des Rucksacks.
„Verbote! Überall Verbote. Ausziehen!“
Sie hatte ihn sehr wohl verstanden, aber sie wollte Zeit gewinnen. Außerdem war sie sich sicher, dass sie es mit ihm körperlich spielend aufnehmen könnte.
„Ich habe Sie nicht verstanden.“
„Ich sagte, Ausziehen!“
„Sie können doch schon meine Brüste sehen, sie sind nicht mehr rund und fest.“
„Ich will wissen, ob Sie da unten buschig sind.“
Sie sah, wie Jorin hinter dem Mann auftauchte und schneller wurde. Er sprang von hinten auf den alten Mann und riss ihn zu Boden. Der schrie auf.
„Sind Sie verletzt?“
„Geht schon.“
„Was ist denn mit dir los, Jorin?“, brüllte sie ihn an.
„Der hatte ein Messer in der Hand, der wollte dich vergewaltigen.“
Sie half dem Mann auf die Beine.
„Ich wäre auch allein klargekommen und außerdem hatte er kein Messer.“
„Du hilfst dem Penner und bei mir bedankst du dich noch nicht einmal.“
„Du kannst mich mal!“, rief sie wütend, als Jorin im Begriff war, das Grundstück zu verlassen. Sie zog ihr Oberteil an und fragte freundlich,
„Wollen Sie sich setzen und etwas trinken? Wasser, Wein oder Bier?“
Sie hatte einen Klappstuhl bereitgestellt und der ältere Mann setzte sich schwerfällig darauf.
„Wenn Sie mich so nett fragen, soll es heute Wein sein.“
Sie ging zur Bude und holte den Wein aus der Kühlbox.
„Darf ich Sie fragen, wo Sie nachts schlafen?“
„Da drüben, unter der Brücke, gibt es zehn Schlafplätze, und einer von uns bewacht den Platz immer.“
Sie prostete ihm zu.
„Ihre Lebensgeschichte wollen Sie mir heute wahrscheinlich nicht erzählen, oder?“
Er trank einen Schluck und lächelte sie an,
„Ich lass das mal; morgen müssen Sie wahrscheinlich arbeiten.“
Als sich der Mann nach einer Stunde verabschiedete, war sie sich sicher, dass sie mit Jorin Schluss machen würde.
Als er vor ein paar Minuten durch die lange Bahnhofshalle gegangen war, hatte er den Eindruck gehabt, lange nicht mehr so viele Masken gesehen zu haben, außer im Fernsehen, wenn sie über Demonstrationen oder Fußballspiele berichteten. Es gab nicht nur weiße, sondern auch blaue und rote.
Er war froh, einen Sitzplatz reserviert zu haben, denn der Zug schien proppenvoll zu sein. Er nahm eine Flasche Wasser und ein Buch aus dem Rucksack und nahm seinen Fensterplatz ein. Er schaute sich ein bisschen um und wieder einmal fiel es ihm schwer zu sagen, welche Menschen hinter den Masken verborgen waren.
Der Zug fuhr sachte an, um dann aber stetig zu beschleunigen. Er wusste nicht, ob es die nahe Ruhr war, die ihn an eine Fahrradtour mit seinem Freund Peter erinnern ließ. Peter hatte seine Ausbildung bei der Bundesbahn begonnen und er studierte.
In mehreren Etappen hatten sie Würzburg erreicht und ihre Zelte am Main aufgeschlagen.
„Wir könnten in der Stadt ein paar Pommes frites essen und uns Bier besorgen.“
„Und die Zelte?“
„Die klaut keiner. Wir sagen den Nachbarn Bescheid.“
Als sie nach einer Stunde mit dem Bier zurückkamen, waren sie überrascht, dass nunmehr in der Nähe ein weiteres Zelt stand. Sie setzten sich vors Zelt und prosteten sich mit den geöffneten Flaschen zu.
Aus dem anderen Zelt krochen zwei Mädchen im Badeanzug, die in ihrem Alter waren. Er hörte sofort, dass es Französinnen waren.
„Verstehst du die?“
„Nicht alles, aber sie kommen aus Frankreich.“
„Willst du sie ansprechen?“
Er blickte zu den Mädchen hinüber und rief, „Salut!“
„Salut!“
Sie kamen mit ihren Campingstühlen herüber und er begann, sich lebhaft mit ihnen zu unterhalten. Peter fühlte sich irgendwie ausgeschlossen, obwohl sein Freund Bruchstücke übersetzte.
„Die beiden Mädchen wollen über den Main schwimmen.“
„Gute Idee! Da bin ich dabei, ich brauch ja nichts zu sagen.“
Zu ihrer Überraschung streiften die beiden Mädchen ihre Badeanzüge ab und liefen nackt ins Wasser.
„Komm, Peter, das können wir auch.“
Sie warfen die T-Shirts und die Badehosen vor das Zelt. Als sie auf der anderen Seite des Mains angekommen waren, sagte Peter keuchend:
„Das waren zwei Bahnen, so hundert Meter.“
„Cent mètres.“
Als sie zurückgekommen waren und sich abgetrocknet hatten, kam ein Mädchen auf ihn zu.
„Tu as des préservatifs?“
„Bien sûr. Mais pourquoi des préservatifs?“
Die junge Französin prustete los.
„Un pour toi et un autre pour ton ami.“
Die Mädchen hatten wohl schon ausgemacht, wer mit wem schlafen würde.
Als Peter ins Zelt zurückkehrte, sagte er nur:
„Ich bin todmüde: die Fahrradtour, das Schwimmen und dann noch …“
„Wie heißt deine?“
„Weiß ich nicht.“
„Meine heißt Babette. Bonne nuit.“
„Du auch.“
Sie hatten lange geschlafen, und als sie den Reißverschluss ihres Zeltes öffneten, sahen sie nur noch die beiden Mädchen mit ihren Rucksäcken von hinten. Vielleicht wanderten sie durch die Lande.
Er hatte gar nicht den nächsten Halt, Duisburg, bemerkt und die Frau, die im Gang stand. Sie war mittleren Alters, trug eine schwarze Maske und auf dem Kopf hatte sie eine lustige Mütze. Wahrscheinlich hatte sie den Sitzplatz neben seinem reserviert. Sie sagte mit wachen, strahlenden Augen: „Hallo!“
„Hallo! Darf ich Ihnen meinen Fensterplatz anbieten? Ich kenne die Strecke ziemlich gut.“
Da war keine Anmache in seiner Stimme; sie klang fest und freundlich.
„Gern, das Angebot nehme ich an.“
Er stand auf und machte ihr Platz. Sie schlängelte ihre sportliche Figur an ihm vorbei. Sie nahm die Mütze ab und er sah ihre gepflegten, langen Haare. Wie er, nahm auch sie eine Flasche Wasser und einen Roman aus dem Rucksack.
Im Nachhinein war er immer wieder mehr als froh, dass er vor ein paar Jahren das Angebot der Altersteilzeit angenommen hatte. Das bedeutete weniger Gehalt, aber eine reduzierte Stundenzahl. Mit dem Gehalt kam er aus, brauchte er doch keine Miete zu zahlen. Und der Schulstress hatte sich stark reduziert, auch weil er weniger Korrekturen hatte. Wahrscheinlich hätte er jetzt deswegen gar nicht wegfahren können.
Vor ungefähr drei Monaten hatte die Leiterin des Städtischen Seniorenzentrums in einem Zeitungsartikel Freiwillige gesucht, die einmal in der Woche einer Seniorin/einem Senior etwas vorlasen. Er hatte Frau Blankenstein angerufen und sich breitschlagen lassen, zwei Personen vorzulesen.
„Während der Pandemie vereinsamen immer mehr Menschen in unseren Heimen“, hatte sie ihm erklärt.
Nach einmaligem Klingeln nahm sie ab.
„Selma Meyer hier, mit ey.“
„Mein Name ist Lambert Wilde. Sie haben aber schnell abgehoben.“
„Frau Blankenstein hat Ihren Anruf angekündigt und ich habe mich den ganzen Tag darauf gefreut.“
„Wie geht es Ihnen, Frau Meyer?“
Sie druckste etwas herum.
„Diese vielen Monate, das war schon eine harte Zeit.“
„Was war für Sie am schlimmsten?“
„Dass ich lange Zeit meine Freundinnen hier im Heim nicht sehen konnte. Und meine Kinder. Und die vielen Toten.“
„Hat Frau Blankenstein Ihnen die Zahlen mitgeteilt?“
„Nein. Sie ist zwar eine fähige, freundliche Frau, aber wahrscheinlich wollte sie uns nicht noch mehr beunruhigen.“
„Haben Sie Lust, mir etwas über Ihr Leben zu erzählen?“
„Ich wurde 1932 in Oldenburg/Niedersachen geboren, und da mein Vater Berater in der Landwirtschaft war, sind wir oft umgezogen.“
„Und wo waren Sie während des Krieges?“
„Da haben wir in Brilon gewohnt, in einem großen Haus. Da waren mein Bruder und meine Schwester auch schon auf der Welt.“
„Und wie haben Sie die Kriegsjahre verbracht?“
„Relativ ruhig, im Gegensatz zu den Großstädten. Wir sind kaum bombardiert worden, nur im Januar 1945. Und haben Sie mir eine Geschichte mitgebracht?“
„Ich habe eine große Sammlung von Kurzgeschichten, und ich hoffe, dass Ihnen die heutige gefällt.“
„Dann mal los!“
Sie saß auf der Bank, in ihrem roten Kleid, die Hände auf ihrem Schoß verschränkt. Sie hatte die Augen geschlossen, schlief aber nicht. Sie genoss die erste Wärme des Frühlings. Sie dachte an früher, als sie jung war, als ihr Mann noch lebte, an ihre drei Söhne, die weit weg wohnten. Wie aufgeregt sie in ihren Büros herumlaufen oder vor ihren Computern sitzen würden.
Zwei junge Männer sahen die ältere Dame auf der Bank und stoppten ihre Fahrräder.
„Schlafen Sie, Lady?“
Die Dame öffnete ihre Augen und sah in die Gesichter der beiden Männer. Sie trugen wilde, zerrissene Hosen und ihre Haare waren grün gefärbt.
„Nein.“
„Schöner Tag heute.“
„Das kann man wohl sagen. Der Frühling ist da, endlich.“
„Darf ich Sie fragen, wo Sie wohnen?“
„Sicher. Da drüben, hinter den Bäumen. Könnt ihr das große Gebäude sehen?“
„Ja, jetzt schon.“
„Im Altenheim ‚Friedensruh‘. Heute sagt man Seniorenstift.“
Der eine wollte besonders witzig sein und fragte: „Habe ich richtig verstanden? Auf dem Friedhof?“
„Hast du gehört? Sie wohnt auf dem Friedhof. Wie passend!“
Die ältere Dame musterte die beiden jungen Männer und schwieg.
„Haben Sie Geld dabei? Leute, die in einem solchen Heim wohnen, haben doch genug Kohle, oder?“
„Komm Alte! Mach schnell!“
„Nein, schaut mich an! Ihr könnt mich durchsuchen. Wenn ich spazieren gehe, nehme ich nie mein Portemonnaie mit.“
„Welche Zimmernummer hast du?“
„Komm! Wir hauen ab. Da kommt eine Dicke mit ihrem Schäferhund.“
Als die beiden Männer sich auf ihre Fahrräder geschwungen hatten, holte die ältere Dame ihr Handy aus der Tasche des Kleids und wählte die Nummer der Polizei.
„Man wollte mich gerade ausrauben. Ich sitze auf einer Bank an der Atter, in der Nähe der kleinen Holzbrücke. Die beiden jungen Männer, übrigens schlecht gekleidet und mit grünen Haaren, fahren gerade auf ihren Fahrrädern in Richtung Finanzamt. … Was? Gern geschehen.“
Sie steckte das Handy in ihr Kleid, blinzelte in die Sonne und ging nach Hause.
„Und wie hat Ihnen die Geschichte gefallen, Frau Meyer?“
„Toll. So passend, weil ich auch in einem Altenheim wohne. Und sie ist so mutig, einfach bewundernswert. Und wer hat die Geschichte geschrieben?“
„Müsste ich nachschauen. Aber unsere Zeit ist leider zu Ende. Ich hoffe, Sie sind nicht enttäuscht.“
„Ich freue mich schon auf das nächste Mal. Ihre Stimme ist so angenehm und tief.“