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Wie funktioniert die Liebe in Zeiten des Kapitalismus? Warum sehnen wir uns nach Sicherheit? Was wird uns die Zukunft bringen? An welchen Gott wollen wir noch glauben? Warum finden wir Geiz geil? Was bedeutet uns Freiheit? Welche Konsequenzen hat Digitalisierung, Automatisierung und Robotisierung? Robert Misik, der renommierte Sachbuchautor, macht sich Gedanken zu unserer Gegenwart. Anhand zehn exemplarischer Begriffe, die Zeitgeist und Verfasstheit unserer Gesellschaft treffend skizzieren, geht er der Frage nach, welchen Paradigmen wir unsere Leben unterwerfen.
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Seitenzahl: 242
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ROBERT MISIK
LIEBE IN ZEITEN DES KAPITALISMUS
ROBERT MISIKarbeitet regelmäßig für die in Deutschland erscheinende taz sowie für die in Österreich erscheinenden Zeitschriften profil und Falter, des Weiteren betreibt er auf der Website der Tageszeitung Der Standard einen Videoblog. Er ist Sachbuchautor, etwa des Theoriebestsellers Genial dagegen, publizierte bisher bei Aufbau und Picus. Jüngste Publikation: Christian Kern. Ein Porträt. Residenz Verlag 2017.
EINLEITUNG – STAY STRONG, STAY BRAVE, STAY REBEL
#ANGST #UNSICHERHEIT
#VERDRUSS
#GLEICHHEIT #UNGLEICHHEIT
#GEGEN INTEGRATION
#FREIHEIT
#WERTE #IDEALE
#PATRIOTISMUS
#WAREN #ÄSTHETIK
#LIEBE #KAPITALISMUS #TINDERISIERUNG
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#ERFOLG #KRITIK DES ERFOLGS
#OPTIMISMUS #PESSIMISMUS
#SPIESSIGKEIT
#IRONIE
#TOLERANZ
#GEGEN IDENTITÄT
#GLÜCK
Wir brauchen Begriffe, um unsere Welt zu begreifen – oder auch um nur uns selbst zu verstehen. Es gibt das bekannte antiintellektuelle Vorurteil, dass Begriffe doch nur Worte seien, das tiefe Verstehen aber eine Sache der Gefühle ist, die präzise Arbeit am Begriff aber nur etwas für leidenschaftslose Bücherwürmer. Das ist natürlich Unsinn aus der Esoterikabteilung der Ratgeberliteratur. Ohne klar durchdachte Begriffe können wir gar nichts verstehen. In Wirklichkeit nicht einmal fühlen. Wer beispielsweise Liebe und existenzielles Zusammengehörigkeitsgefühl nicht vom temporären Rausch von Begehren und Verliebtheit unterscheiden kann, weiß nicht, wie er oder sie fühlt. Wer es unterscheiden kann, der hat dafür Begriffe, auch wenn er sich einredet, dass er sie nicht benötigt. Denn: Wir denken in Worten, wir reflektieren unsere Empfindungen, wir fühlen und horchen in uns hinein, aber wir tun das, auch wenn wir nicht sprechen, mit den Begriffen, die uns zur Verfügung stehen. Erlebnisse werden zur Erfahrung, indem wir sie verarbeiten, und das geschieht andauernd über die Sprache – auch über Selbstgespräche.
„Die Behauptung, dass ich eine absolut persönliche Erfahrung mache, ist unsinnig: ich kann überhaupt keine Erfahrung außerhalb einer Sprache machen, mittels derer ich sie erfassen kann“, sagt der britische Theorieguru Terry Eagleton, und fügt hinzu: „Das Charakteristikum der ‚lingusitischen Revolution‘ … ist die Erkenntnis, dass Bedeutung nicht einfach etwas von Sprache ‚Ausgedrücktes‘ oder ‚Widergespiegeltes‘ ist: sie wird durch sie überhaupt erst hergestellt.“
„Stichworte zur geistigen Situation der Zeit“ hieß ein legendärer Suhrkamp-Band, den Jürgen Habermas vor beinahe vierzig Jahren herausgebracht hat. Eine Zeit beschreiben, ihre Umbrüche und Veränderungen, auch den Zeitgeist, wohin er führt, was er aus den Menschen macht, die Umstände, die wir produzieren, aber deren Produkte wir auch sind – all das kann man nicht abschließen, während man noch in einer Zeit drinnen steckt. Es sind eher Versuchsanordnungen, Andeutungen, die sich für essayistische Skizzen eignen, nicht für geschlossene resümierende Habilitationen. Die Zeitdiagnosen, die in diesem Buch versucht werden, sind auch um Begriffe gruppiert. 33 Begriffe, 33 Thematiken: von Liebe bis Kollaps, von Angst bis Freiheit, von Erfolg über Ironie bis Identität, Warenkonsum oder Integration – und Glück. Die Texte haben sich in den vergangenen siebzehn Jahren angesammelt. Manche wurden eigens für diesen Band geschrieben, andere beruhen auf Vorträgen oder Universitätsvorlesungen, wieder andere auf Texten, die in verschiedenen Zeitschriften erschienen sind, etwa im „Falter“, in der deutschen „tageszeitung“, dem Berliner „Freitag“, der „Neuen Zürcher Zeitung“ oder dem „profil“. Die Absicht war, sie so zu montieren, dass sie ein Panorama der Jetztzeit ergeben.
Für die Titel wurden bewusst Signalwörter, Catchphrases, benutzt, die mit einem #Hashtag versehen sind. Der Hashtag selbst ist schon Symbol für die Aufmerksamkeitsökonomie der Gegenwart, in der nur wahrgenommen wird, was ausreichend schnell ins Auge springt und zugleich verknüpfbar und verschlagwortet ist und im Internet gefunden werden kann: dem großen Archiv des Wissens, das den Vorteil hat, dass man alles darin findet, aber auch den Nachteil, dass man nichts mehr darin findet.
„Nur der Einverstandene hat Chancen, die Welt zu ändern“, formulierte Walter Benjamin. Einverständnis heißt nicht, den Umständen zuzustimmen, sich Kritik zu versagen. Einverstanden heißt, mit seiner Zeit einverstanden zu sein, sich ihr auszusetzen, sich von ihr nicht abzuwenden. Auf der Höhe der Zeit sein, nicht in Nostalgie schwelgen. Radikal zeitgenössisch, absolut contemporary. So ist das zu verstehen: Seine Zeit annehmen, um sie verändern zu können.
Unsere Zeit ist unruhig. Was selbstverständlich schien – Menschenrechte, pluralistische Demokratie, gesellschaftliche Liberalität, sozialer Fortschritt –, all das ist nicht mehr selbstverständlich. Radikale Parteien, die Hass schüren und Menschen gegeneinander aufhetzen, ziehen in Parlamente ein. In meinem Heimatland Österreich regieren sie sogar. Sie vergiften das Klima und verschlechtern die Welt. Die Antwort darf aber nicht Verzagtheit sein, sondern knallharte Opposition und das Abenteuer des radikalen Denkens. Wo viele viel zu kurz greifen, gehe ich lieber entschieden zu weit.
„Intellektuelles ‚Begehren‘ wie sexuelles Begehren“, notierte die große Essayistin Susan Sontag in ihr Tagebuch, eine Frau, die ich wie kaum eine andere bewundere. Und: „Intellektuelle Ekstase“. Kein ein Begriff steht so zentral in Sontags Essayistik wie der Begriff der „Intensität“. Über Lyrik und Prosa schrieb sie, die Romantik verteidigte die Poesie, indem sie „prosaisch“ zu einem herabsetzenden Begriff machte, „in der Bedeutung von langweilig, abgedroschen, alltäglich, zahm“, während die Poesie „als ein Ideal von Intensität“ gefeiert würde. Immer wieder: Intensität, Tempo, der Reiz, den eine „Tendenz zum Ungesunden“ verströmt, das Ideal persönlicher Kraft. Oder auch, wie noch in den spätesten Essays: Risiko.
Denken ist das größte Abenteuer. Es gibt kein entschiedenes Handeln, das mit zahmem Denken einhergeht: Stay Strong, Stay Brave, Stay Rebel!
Wir haben nichts zu fürchten, außer, dass man uns unsere Angst ansieht. Dauernd ist von ihr die Rede, aber wirklich gesprochen darf über sie nicht werden. Sie ist stets die Angst der Anderen. Wir dürfen sie immer analysieren, aber dabei nie von uns sprechen. Die Angst ist ein eigentümliches Ding. Und nicht zuletzt ist sie ein peinliches Gefühl. Wir leben in einer Erfolgsgesellschaft, die sich zuvorderst dadurch auszeichnet, dass man den Erfolg ausstellen muss: Du musst optimistisch erscheinen, voller Tatendrang, jeder muss Dir ansehen, welch toller Hecht Du bist. Wo niemand über seine eigene Angst redet, sondern allenfalls über die Angst als gesellschaftliches Phänomen, bleibt das schiere Ausmaß der Angst wahrscheinlich sogar unsichtbar. Die Angst davor, dass die Waschmaschine kaputt geht und man sich keine neue mehr leisten kann. Die Angst vor der Steuernachzahlung. Die Angst vor der Mahnung der Sozialversicherungsanstalt. Die Angst, dass irgendeiner schneller, billiger, jünger, besser ist als Du. Die Angst, dass Du aus Deiner Wohnung fliegst, dass Dein befristeter Mietvertrag nicht mehr verlängert wird, oder die Miete böse nach oben schnalzt. Denn heute hat ja praktisch jeder nur mehr einen befristeten Mietvertrag. Das ist weit mehr als ein Phänomen des zeitgenössischen Immobilienmarktes, die Befristetheit ist gewissermaßen ein allgemeines Signum der Gegenwart. Man kann auf nichts mehr langfristig bauen, nichts mehr planen, an allen Ecken kann stets das Unvorhergesehene ins Leben einbrechen. Vom befristeten Mietvertrag über den befristeten Arbeitsvertrag bis zur immer schon im Kopf potentiell befristeten Lebensabschnittspartnerschaft: Alles ist per se befristet. Man kann die heutige Zeit mit gutem Recht auch als die „befristete Gesellschaft“ bezeichnen. Auch wenn Sicherheit vorhanden ist, ist sie nie garantiert. In der befristeten Gesellschaft leben mehr und mehr Leute mit dem dauernden Gefühl, dass permanent alles auf des Messers Schneide steht. Wenn man die Leute fragen würde, wovor sie denn gerne frei wären, würden sie wohl spontan als erstes sagen: Von dieser Angst wäre ich gerne frei. Sofern sie die Angst überhaupt realisieren, sofern sie sie überhaupt wahrnehmen und von ihr nicht begleitet werden wie von einem Schatten. Mein Ex-Schwager, der in den Siebzigerjahren als „Gastarbeiter“ nach Österreich kam, sagt: „Die Sozialdemokratie war ungeheuer erfolgreich, den einfachen Leuten Wohlstand zu schaffen. Aber sie ist gescheitert daran, ihnen das Gefühl zu geben, dass dieser Wohlstand sicher ist.“
„ANGST ERSCHÖPFT“, formuliert der Soziologe Heinz Bude, der vor einiger Zeit ein ganzes Buch über diese neue Angst geschrieben hat mit dem Titel: „Gesellschaft der Angst“. Neid, permanente Aufmerksamkeit auf die Erfolge der anderen, der stete Vergleich mit dem Nachbarn, hinter all dem verberge sich, so Bude, „die tiefe Angst, nicht mithalten zu können, außen vor zu bleiben und allein als der Düpierte übrig zu bleiben … Den Erfolgreichen bleibt der Erfolg so lange treu, wie sie den Eindruck des Erfolgs zu vermitteln vermögen. Die Siegesgewissheit räumt alle Zweifel aus dem Weg.“ Gesellschaft der radikalen Individualisierung und „Flexibilisierung“ ist eine Gesellschaft, in der Unsicherheit endemisch wird, und ihre paradigmatischen Gestalten sind die „Schnellen und Gewitzten, … Ausgeschlafenen und Abgebrühten, Vorsichtigen, Schreckhaften, Erschöpften, Verwundeten.“ Und Bude weiter: „Man fühlt sich gehetzt, getrieben und angegriffen. Alles wirkt stumpf, matt und reizlos. Man wacht morgens wie gerädert auf, als habe man nicht geschlafen. Der Rest des Ichs, das den Kaffee macht und den Rechner hochfährt, schafft es nicht, sich gegen den selbstzerstörerischen Hang zu wehren, alles infrage zu stellen … Warum um Himmels willen läuft immer alles so schief?“
Wo der Sozialstaat zurückgebaut wird und seine Institutionen delegitimiert, wo das Kollektive in schlechten Ruf gesetzt und der Erfolg nie dem Gemeinsamen und stets der Anstrengung des Einzelnen zugeschrieben wird, da wird auch der Angsthemmer Sozialstaat durch den Angsttreiber „individuelles Risikomanagement“ ersetzt. Stets hängt alles vom Einzelnen ab, dass der keine Fehler macht, Gefahren frühzeitig erkennt, vorausblickend in sich selbst investiert, seine Kompetenzen aktiv sichert und ja nicht ausschert. Der weiß, wenn es nicht rund läuft, ist niemand anderer schuld als er selbst. Das neoliberale Selbst weiß stets, dass der Boden wankend ist, auf dem sein Hamsterrad steht. Es ist ein Ich, das von der Angst gebeutelt ist.
DIE ANGST, die sich überall hineinfrisst, ist aber auch eine zutiefst politische Emotion. Sie ist der Humus, auf dem der rechte Populismus gedeiht. Die Angst treibt Wähler in die Hände von Trump und anderen. Wenn ohnehin die Umwelt eine permanente Bedrohung ist, dann will ich nicht auch noch zusätzliche Konkurrenz, also Mauern bauen, Zäune hochziehen. Die Vorstellung, dass man sich gegen Unbill nur mehr bestmöglich verteidigen kann, aber unsere Zeit keine positiven Veränderungen mehr im Angebot hat, ist für einen hartherzigen Defensiv-Konservativismus günstig. Und auch die politischen Eliten setzen auf Angstmache. Vor ein paar Jahren saß ich mit meinem Freund Yanis Varoufakis in einem Café in Wien, er war erst ein paar Wochen aus seinem Ministeramt ausgeschieden. „Eine Politik der Angst“, sagt Yanis, das ist es, was die Politik in Europa zunehmend kennzeichnet, und zwar auf Ebene der Europäischen Union wie auch auf der Mikroebene der Mitgliedsstaaten. Die politischen Eliten umgarnen die Bürger nicht mehr mit positiven Versprechen, im Kapitalismus im Krisenmodus ist die Drohkulisse allgegenwärtig: Wenn ihr nicht spurt, wenn ihr nicht tut, wie wir von euch verlangen, wenn ihr die Falschen wählt, wenn ihr den Gürtel nicht enger schnallt, wenn die Abgeordneten nicht innerhalb weniger Stunden den Notprogrammen zustimmen, dann droht der Kollaps, dann werden die Finanzmärkte alles verheeren – wie auch immer die jeweiligen Droh-Rhetoriken lauten. Die Gefahren sind in gewissem Sinne austauschbar, aber die Rhetorik bleibt immer die gleiche. Auch das ist ein Element der „Gesellschaft der Angst“, von der Bude sprach. Die Gegenwart hält, anders als die Vergangenheit, keine Versprechen mehr bereit. Früher war das Versprechen („die Kinder werden es besser haben“, etc.) der Treibstoff gesellschaftlicher Integration, heute ist es das Bedrohungsgefühl. Das moderne Subjekt funktioniert nicht, weil es sich etwas Positives davon erhofft, sondern primär aus Angst. Bude: „Man wird nicht mehr durch eine positive, sondern nur noch durch eine negative Botschaft bei der Stange gehalten.“
Von einer schieren „Angstepidemie“, die die Gesellschaften des Westens erfasst habe, sprach jüngst der Soziologe Hartmut Rosa. Die Angst hat Gründe, aber einmal in der Welt, verliert sie die Fäden zu den Gründen. Sie wird grundlos und auch anlasslos. Anders als die Furcht, die zielgerichtet ist (die Furcht vor Spinnen, die Furcht im Dunkeln), ist Angst existenziell, nicht mehr auf konkrete Objekte bezogen, eine generalisierte Einfärbung des Gemüts. Objekte können dann phantasiert werden (etwa die „Flüchtlingsinvasion“), sind aber letztendlich nicht nur austauschbar, sondern völlig irrelevant.
Entsolidarisierung ist eine Folge von Angst. Der deutsche Wirtschaftsjournalist Christian Rickens beschreibt das an dem Aufleben bürgerlicher Werte in den Mittelschichten, in deren Leben sich Instabilität hineinfrisst. Er spricht vom „Placebo gegen die eigene Abstiegsangst, nach dem Motto: Unser Kind wird nicht in die Unterschicht abrutschen, denn es heißt nicht Kimberley, sondern Sophie-Charlotte, und es spielt Klavier, nicht Playstations.“ Man fühlt sich dabei an die Beobachtung von Siegfried Kracauer aus den späten Zwanzigerjahren erinnert: „Der Andrang zu den vielen Schönheitssalons entspringt auch Existenzsorgen, der Gebrauch kosmetischer Erzeugnisse ist nicht immer ein Luxus. Aus Angst … färben sich Damen und Herren die Haare.“ Wo sich Existenzangst breit macht, folgt der Konkurrenzgeist auf den Fuß. Dann muss man stets besser aussehen als der Hungerleider von Nebenan.
DIE ANGST, die heute endemisch geworden ist, hat ihre Geschichte. Angstdiskurse führen wir schon seit den Achtzigerjahren. Die Finanzkrise der Nullerjahre schließlich verstärkte noch einmal das Gefühl, dass die Welt aus den Fugen gerät und politische Eliten keinen Plan mehr haben. Das Gefühl eines elementaren Kontrollverlustes greift um sich. Vorbereitet war das untergründig aber schon länger. Es begann mit Waldsterben, Aids, der Angst vor dem Super-GAU, dann vor dem Y2K-Bang, vor SARS und vor der Vogelgrippe. Das waren noch Diskurse des wohligen Schauers, die aber eine ganze Kultur der Panik vorbereiteten. Schon Mitte der Nullerjahre analysierte der amerikanische Soziologe Frank Furedi in seinem Buch „Politics of Fear“ dieses Gefühl ganzer Gesellschaften, von Gefahren umgeben zu sein. Heute hat die Angst „ihr Verhältnis zur Erfahrung verloren“, so Furedis Schlüsselthese. Mussten auch frühere Geschlechter einen Umgang mit der Emotion der Angst finden, so war diese doch, eher der Furcht verwandt, immer eine Reaktion auf Gefahren, die sich in ihrem Blickfeld befanden. Angst war ein emotionaler Mechanismus, sich gegenüber realen Gefahren zu orientieren, so Furedi. Heute dagegen „scheinen wir uns geradezu vor allem zu fürchten“. Die Furcht selbst produziert bisweilen die Gefahren: Wir fürchten um unseren Gesundheitszustand – und das macht uns krank. Kriminalitätspolitik ist ganz wesentlich damit beschäftigt, das Gefühl der Bedrohung zu bearbeiten, das bekanntlich in keinem Verhältnis zur realen Kriminalität steht. Die moderne Angst also ist eher eine Anleitung zur Desorientierung als zur Orientierung.
Sowohl die Folge wie die Ursache dessen (man kann das wirklich nur mehr schwer auseinanderhalten) ist der Aufstieg der Angst-Industrie. Medien, Politik, Versicherungsunternehmen, Pharmaindustrie, Ökogruppen, sie alle existieren innerhalb dieses Komplexes der Angst – und leben damit auch von ihm. Es wäre natürlich ein vulgärmaterialistischer, verschwörungstheoretischer Unsinn zu sagen, sie seien seine Ursache. Fast schon eine Pointe: Wir leben in einer Moderne der umfassenden Risikobearbeitung – die man dennoch nicht „Sicherheitsgesellschaft“ nennt, sondern, mit einem Soziologenwort, das Furore machte, als „Risikogesellschaft“ beschreibt.
NEBEN DEN FAKE NEWS gibt es noch etwas anderes, das man Fake Reality nennen könnte, ein völlig krauses Wirklichkeitsverständnis, das sich aber auf Informationen stützt, die wahr sein können, oder zumindest nicht unbedingt falsch sein müssen. Ja: Man kann aus lauter wahren Informationen eine Fake Reality zusammensetzen, indem man sich aus dem unendlichen Meer an Informationen eben nur jene herauspickt, die das eigene Weltbild stützen. Nehmen wir nur diese beliebten Zeitungsartikel, „so gefährlich ist dieser und jene Bezirk in unserem Land“. Unlängst begegnete ich einer Bekannten, die irgendwo in Niederösterreich wohnt, und nach einiger Zeit eröffnete sie mir, dass sie nicht mehr nach Wien fährt, denn dort sei es ihr zu gefährlich. Und als ich sie fragte, wie sie das meint, wo sie das her hat, meine sie, nun, ihr Mann arbeite in Wien und pendelt jeden Tag und bringt dann die Gratiszeitungen mit. Und in denen liest sie Tag für Tag, dass in Wien täglich gemordet und gebrandschatzt wird. Und nun ist diese Dame keineswegs dumm, und die Berichte in den Zeitungen müssen auch nicht falsch sein. Natürlich gibt es in einer Stadt mit zwei Millionen Einwohnern jede Woche ein paar Einbrüche, auch ein paar Raubüberfälle, auch sexuelle Übergriffe (wobei natürlich die meisten innerhalb der Familien stattfinden), und gelegentlich sogar einen Mord. Wenn nun diese Frau alle paar Tage liest, in Ottakring gab es zuerst einen Mord, ein paar Tage später einen Raubüberfall und dann eine Razzia gegen Drogendealer, während sie in ihrem ganzen Leben noch nie in Ottakring war, sie also auch kein Erfahrungswissen darüber hat, dass man natürlich hunderte Stunden völlig entspannt durch Ottakring gehen kann, ohne dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, mit einer irritierenden Situation konfrontiert zu werden – dann gewinnt sie einen Eindruck, dem kein eigenes Erfahrungswissen gegenübersteht.
Und seien wir ehrlich: Das ist doch bei uns, die wir uns als weniger dumm wähnen, aber nur wähnen, auch nicht anders. Wenn ich, um ein fiktives Beispiel zu wählen, Schwerin nicht kenne, dort nie bin, und dann lese ich, es gab dort 2016 drei Morde und zwanzig Raubüberfälle, denke ich mir, dass Schwerin ein gefährlicher Ort ist. Womöglich denke ich es nicht explizit, aber die Information ist dann in meinem Kopf und wird mein emotionales Verhältnis zu Schwerin einfärben. Ich werde Schwerin gewissermaßen instinktiv mit dem Begriff „unsicher“ verbinden.
Nun kann man all das, da die Dame ganz offensichtlich nicht dumm ist, und daher Dummheit als Erklärung ausfällt, auch dem Sensationalismus der Boulevardblätter anrechnen. Das ist nicht falsch. Aber auch nicht völlig richtig. Denn natürlich ist ein Mord oder ein Raubüberfall eine „Story“ – dazu muss das Blatt gar kein Revolverblatt sein. Wohingegen der normale Alltag natürlich nie und nimmer eine Schlagzeile wert ist. Beispiel: „Monika M. ging gestern fünf Stunden in Ottakring spazieren und jeder war nett zu ihr“ – nun, eine solche Nachricht werden Sie natürlich nie in der Zeitung finden. Und das ist auch völlig okay so. Um das noch an einem anderen Beispiel zu sagen: Wenn einmal im Jahr ein Zug entgleist und es vielleicht sogar Tote gibt, steht das in jeder Zeitung. Aber Sie werden nie in der Zeitung lesen: „Gestern sind wieder alle Züge pünktlich und sicher in ihrem Zielbahnhof angekommen.“
Kurzum: Vom Alltag erfahren wir nie, von Mord und Katastrophen immer. All das färbt unsere Sicht von der Welt – und insbesondere von der Welt, über die wir kein sonstiges Wissen haben, von der wir insbesondere kein Erfahrungswissen haben, das diese Art von „Fake Reality“ etwas konterkarieren könnte. Das Interessante daran ist, dass wir heute mehr und mehr dazu neigen, Welten oder ganze Kulturen nach für sie typischen Verbrechen zu beurteilen. Wenn sich ein IS-Terrorist in die Luft sprengt und zwanzig Unbeteiligte mit in den Tod reißt, halten wir das für einen Ausdruck islamischer Kultur. Und wenn ein afghanischer Jugendlicher einen sexuellen Übergriff begeht, dann leider zunehmend auch. Aber das hängt damit zusammen, dass die meisten Menschen, wenn sie von Afghanen hören, eine Nachricht lesen, die im Zusammenhang mit irgendeiner Form von Bandenkriminalität oder Ähnlichem steht. Weil eben, genauso wenig wie Artikel über friedliche Sparziergänge und sichere Zugsankünfte erscheinen, auch solche Geschichten in den Medien nie vorkommen werden: „Das ist Mohammed I., 23, er ist nett, hat sich gerade ein Eis gekauft und heute schon wieder niemanden vergewaltigt.“
UM SICH EINE FAKE REALITY zu schaffen, ein Bild von der Welt, das mit der Wirklichkeit nur peripher zu tun hat, braucht es weder zwangsläufig Fake News noch Dummheit. Beunruhigende Nachrichten zu Sachverhalten, über die wir kein wirkliches Erfahrungswissen haben, werden unsere instinktiven Haltungen zu diesen Sachverhalten einfärben. Und oft haben wir kaum andere Informationen, die dieses Gefühlswissen durchkreuzen. Gewiss, manchmal hören wir von Statistiken, die dann das Gegenteil von dem belegen, was das Gefühlwissen nahelegt – aber seien wir ehrlich, das Gefühlswissen, das ja auch mit Emotionen einher geht, ist stärker als eine kalte Statistik oder eine nackte Zahl.
Dass es dabei auch um Geschäftemacherei, politische Vorteile und Ähnliches geht, versteht sich von selbst. Diese verallgemeinerte Panik, diese Angstkultur, die sich in die Gesellschaft hineinfrisst, ist eben nicht Resultat erfahrener Risiken, sondern wird vom alarmistisch-medialen Komplex produziert. Aufmerksamkeit ist das knappe Gut, um das Pharmaindustrie, Medien, Politik, Umweltschützer und Versicherungswirtschaft auf gleiche Weise konkurrieren. In all diesen Konkurrenzfeldern werden diejenigen die Nase vor ihren Mitbewerbern haben, die deutlich zu machen verstehen, dass ihre Sache am Dringlichsten ist. Und dies schafft man am besten mit Panikmache.
Politik wird zunehmend mit Angst gemacht und nicht mehr mit Hoffnungen. Und was machen wir? Der Kopfschüttelmodus, Ärger und Zorn, das Missbehagen und auch die leise Verachtung – das ist der Modus, in dem wir der Politik gegenübertreten. Dann reden wir vom Verdruss über die Politik, und tun so, als wäre das der Verdruss der anderen; als wäre der Verdruss etwas, was sich nur auf bestimmte Teile der Bevölkerung erstreckt. Auf die Jungen etwa, die lieber Party machen, als sich mit Politik zu beschäftigen; oder auf die deklassierten „Modernisierungsverlierer“, mit ihrem Zorn auf die Politiker, aus dem heraus sie dann andere Politiker wählen, um die Politiker zu ärgern. Ist irgendjemand eigentlich nicht verdrossen? Nun, vielleicht ist gerade das das Problem. Gewiss kann man meinen, der Verdruss ist berechtigt – und wie kann denn etwas, was berechtigt ist, ein Problem sein? Aber der Verdruss, so berechtigt er sein mag, so sehr er eine Reaktion auf eine Problemlage ist (nämlich den Zustand der Politik), ist selbst auch schon wieder zum Problem geworden. Und wir alle sind Teil dieses Problems.
WIE HAT DAS eigentlich angefangen, diese übel gelaunte Abkehr von der parteiförmigen Politik, der „Politik-Politik“, mit ihren Spielen, Ritualen, Machtkämpfen, Parteilichkeiten? Der Zufall will es, dass vor wenigen Jahren ein Buch mit nachgelassenen Schriften des französischen Soziologen Pierre Bourdieu erschienen ist, das den simplen Titel „Politik“ trägt. Gleich zu Beginn heißt es in einem Text aus dem Jahr 1988: „Wir werden von Politik überflutet. Wir schwimmen im unentwegten und wechselhaften Strom des täglichen Geschwätzes über die vergleichbaren Chancen und Verdienste von austauschbaren Kandidaten. … Die Äußerungen zur Politik sind, wie das leere Gerede über gutes oder schlechtes Wetter, im Grunde flüchtig.“
Damals, Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre, begann etwas, was Bourdieu schon 1988 wie selbstverständlich zu diesem Urteil kommen ließ. Aber was hat sich da, zunächst allmählich und beinahe unmerklich verändert. Das politische Feld begann sich selbst abzukapseln. Parteiführungen, Mandatare wurden zu Spezialisten. Es etablierte sich ein politisches Feld mit seinen eigenen Spielregeln, mit seinen „Experten“ und „Professionellen“. Die Mitglieder in den Parteien verloren an Bedeutung, Bürger sahen sich zu passiven Wählern reduziert, die gelegentlich ihre Stimme abgeben, aber dazwischen sind die Spezialisten und Experten für das Politische am Zug. Je mehr sich das politische Feld professionalisiert und abkapselt, umso mehr haben die Professionellen die Tendenz, auf die Laien herabzusehen. Bloß ist die Trennung zwischen „Eingeweihten“ und „Laien“ keine vollständige. Anders als andere Spezialisten sind die Spezialisten der Politik ständig auf ihre Klientel bezogen, sie brauchen die Laien, und sei es nur, um gelegentlich von ihnen gewählt zu werden. Viel mehr aber sind die Professionellen aufeinander bezogen, auf die Mitspieler im politischen Spiel. Es entwickelt sich ein bestimmter Habitus, ein Rollenmodell, wie ein Politiker auszusehen habe, und ein Jargon, der die Sprache in diesem Feld wird. Bei aller Rivalität bilden die Berufspolitiker der unterschiedlichen Parteien doch die Gemeinschaft der Berufspolitiker, was, wie Bourdieu schön formuliert, bei den Laien, den Bürgern also, den Argwohn nährt, dass eine Art grundsätzliche Komplizenschaft die Leute, die bei dem Spiel mitspielen, das man Politik nennt, miteinander verbindet, vor jeder Meinungsverschiedenheit.
UND ALL DAS geschieht in einem Moment, in dem noch ein paar andere Dinge geschehen: Die Zeit der großen Wachstumsraten ist vorbei, und Wohlstandszuwachs ist bekanntlich eine wichtige Quelle von Legitimität von Politikern; grundsätzliche programmatische Antagonismen schleifen sich ab. Es entsteht auch eine Entertainmentkultur in der politischen Medienberichterstattung. Parteiapparate entwickeln ein Eigenleben – eine innere Kultur. In ihnen kommt nur hoch, wer hineinpasst. Ein Politikertypus setzt sich durch, der natürlich jene eher anzieht, die zu ihm passen – also jene, die ihm „ähnlich“ sind –, und schreckt „unähnliche“ sowieso schon ab, er muss sie gar nicht mehr aggressiv abwehren. Menschen umgeben sich nun einmal lieber mit Menschen, die ihnen ähnlich sind. Das ist ganz normales menschliches Verhalten. Aber es hat eben auch politische Effekte. Demgegenüber wächst seit den Achtzigerjahren ein Verdruss in seinen unterschiedlichen Betriebsformen. Erst wird Indifferenz attestiert – sinkende Wahlbeteiligungen. Dann der Aufstieg diverser Populismen, hinterher ein sich verallgemeinerndes „Wutbürgertum“. Die Realität zeigt, dass es durchaus verschiedene Aggregatzustände dieses Frustes gibt. Da gibt es jene, die der Parteienordnung zunehmend reserviert gegenüberstehen, die sich selbst etwa so charakterisieren würden: Die Politik ist geprägt von überholter Parteilichkeit, nichts als Gezänk, kleinliche Streitereien um Vorteile im politischen Spiel. Die Kritik an den politischen Parteien lautet aus dieser Perspektive, dass sie selbst einfachste praktische Lösungen für Probleme nicht mehr zu finden imstande sind, weil es den Parteien nur um taktische Vorteile geht und sie sich gegenseitig blockieren. Jene, die solchen Deutungen nahestehen, definieren sich selbst gerne als „Jenseits des Parteiensystems“. Es ist vielleicht so etwas wie der Verdruss der bürgerlichen Mitte.
Dann gibt es den – zweiter Aggregatzustand – unpolitischen Yuppieprotest: Bürger, die den Staat als bürokratisches Monstrum betrachten, der von „den Parteien“ gekapert wurde, um es sich an seinen Futtertrögen gut gehen zu lassen. Hinzu kommt – dritter Aggregatzustand – das Milieu der real (oder gefühlt) einheimischen Unterprivilegierten: Sie sind instinktiv der Auffassung, dass sich für sie im Grunde niemand interessiert, dass sie links liegen gelassen werden; dass keiner weiß, wie es ihnen wirklich geht. Über Politiker würden sie sagen: Die leben ja ganz anders. Die leben ja ganz woanders. Die haben ja gar keine Ahnung, wie es uns geht. Das hat auch wieder mit der milieumäßigen Verengung des politischen Personals in Folge der Professionalisierung zu tun, mit einem politischen Personal, das aus Menschen besteht, die von ihren gesamten Lebensumständen und ihrem personalen Habitus, ihrer Art, sich zu kleiden, zu sprechen und sich zu bewegen, mit diesen Unterprivilegierten nichts mehr zu tun haben. Natürlich sind diese Aggregatszustände nicht fein und trennscharf unterschieden. Eher lässt sich sagen, dass bestimmte populistische Vorstellungsreihen in bestimmten Milieus auf fruchtbaren Boden fallen, andere in anderen – und dass sie sich gegenseitig aufschaukeln. Das Ergebnis ist ein allgemeines, nebulöses, waberndes populistisches Klima.
Die Pointe ist nun: Mag dieser Verdruss als Reaktion auf Entwicklungen im politischen Feld auch berechtigt sein, verstärkt er diese Entwicklungen noch. Parteien, denen alle den Rücken zukehren, werden in ihrer Selbstbezogenheit noch bestärkt. Politik, der die Legitimation entzogen wird, wird eher feiger als mutiger. Insofern produziert der Verdruss objektiv und ganz unabhängig davon, ob einem das gefällt oder nicht, die Probleme längst mit, die er ressentimentbeladen beklagt. Sodass es längst mehr als genug Gründe gibt, verdrossen am Verdruss zu sein. Aber verdrossen sind natürlich immer die Anderen. Ich bin nicht verdrossen. Sie sind es ja auch nicht. Wir sind ganz anders. Aber stimmt das überhaupt? Sind wir nicht auch voll gestopft bis Oberkante Unterlippe mit Ressentiments? Sind wir nicht schnell zur Stelle mit unserer Häme gegenüber beinahe allen Politikern? Ist nicht auch diese Häme, dieses kopfschüttelnde „die können es einfach nicht“, Ausdruck eines Verdrusses? Nehmen wir, nur als Beispiel, die mit viel theoretischem Geklingel vorgetragene linke Aversion gegen „Repräsentation“, dieses Hochhalten basisdemokratischer Verhinderung, dass irgendjemand nur seinen Kopf zu weit rausstreckt. Reiht sich das nicht ein in dieses Panoptikum?
Aus dieser Perspektive wird das Feld der Politik-Politik links liegengelassen, und die Hoffnung wird auf die sich stets und täglich neu und spontan organisierende Vielheit gelegt – von Occupy Wall Street bis zur Audimax-Bewegung. Aber verweigert sich dieses „Against Representation“ nicht der Frage, ob nicht gerade das völlig ergebnislose Versanden von Bewegungen wie Occupy Wall Street auch in ihrer Abneigung begründet ist, tragfähige Organisationen mit einem Mindestmaß an Repräsentation, Arbeitsteilung und, ja, sagen wir das böse Wort, auch Anführern zu etablieren, die ihre Anliegen an eine breite Öffentlichkeit kommunizieren können und die den langen Atem haben, den man braucht, wenn man dicke Bretter bohren will? „Le Monde Diplomatique“ hat diese Frage (oder ist es bereits eine Antwort?) unlängst so formuliert: „Warum ist sie (die Occupy Wall Street-Bewegung) gescheitert und hat alle zunächst so hoffnungsfrohen Erwartungen krass enttäuscht? Warum versinken selbst die populärsten Aktionen der Linken früher oder später in einem Gebräu aus akademischer Rhetorik und sinnloser antihierarchischer, antietatistischer Kraftmeierei?“
DIE UNFÄHIGKEIT von Parteien und Regierungen sowie die Unfähigkeit von Bewegungen, NGOs und Aktivisten, gemeinsam mit Realismus, Elan und langem Atem Ziele zu verfolgen, sind korrespondierende Aspekte eines einzigen Problemzusammenhanges. Wer ernsthaft glaubt, das bunte Gewusel von Bewegungen, die heute entstehen und morgen verpuffen, wäre auch nur annähernd die Kraft, die eine völlig andere Konfiguration herbeiführt, muss sich fragen lassen: Wie, bitteschön, heißt der Planet, auf dem Du lebst? Oder noch einmal anders gesagt: Ist, während sich auf der eher rechten Seite ein antipolitischer Populismus breitmacht, auf der linken nicht ein Zynismus endemisch geworden, der von seiner Verwandtschaft mit Ersterem bloß nichts wissen will? Und wie begründet das allgemeine Misstrauen auch sein mag: Stellt es nicht längst auch die Funktionstüchtigkeit unserer Demokratien in Frage?