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Wladimir Putin hat alle an der Nase herumgeführt. In den neunziger Jahren galt er als Demokrat und bewunderte Augusto Pinochet. Nachdem er sich ins Präsidentenamt trickste, beginnt er mit einer Seilschaft hartgesottener KGB-Leute, Russland zur autokratischen Despotie umzuwandeln. Und genauso schnell bastelt er sich eine Staatsphilosophie. Deren Elemente: autokratischer Führerkult, Patriotismus, Imperium, orthodoxe Spiritualität – und Gekränktheit. Dabei stützt er sich auch auf faschistische Denker, etwa auf Ivan Iljin, der Hitler und Mussolini bewunderte. Und er spinnt Netzwerke im Westen, um die Demokratien zu spalten. Putin stilisiert sich zum harten Kerl, zum starken Mann, mit vulgärer Sprache und einer Rhetorik der Gewalt. Nach dieser Lektüre bleibt nur die Frage: Wie konnten wir so blind sein? Robert Misik zeichnet ein Regime und das Charakterbild eines rücksichtslosen Despoten, der Europa die Friedensordnung raubt, an die wir uns gewöhnt hatten.
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Seitenzahl: 134
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Robert Misik
Copyright © 2022 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © Rodrigo Abd/AP/picturedesk.com
ISBN 978-3-7117-2131-0
eISBN 978-3-7117-5482-0
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www.picus.at
Robert Misik
Wie wladimir putin russland in eine despotie verwandelte und jetzt europa bedroht
Picus verlag wien
Einleitung in putins welt
1. »Ich war ein echter schlÄger«
2. Der rächer des beleidigten russland
3. Putins brauner philosoph
4. Die geschichte als waffe
5. »An seinen eiern aufhängen«
6. Putins schlimmster albtraum
7. Der mann, der unsere gehirne hackt
8. Der kgb-mafia-kapitalismus
9. Black thursday
Literatur
Über den autor
Im August 1999 wird Wladimir Putin zum Premierminister ernannt und ein rasanter Aufstieg beginnt. Vom No-Name wird er zum populärsten Politiker Russlands, übernimmt Ende des Jahres provisorisch die Präsidentschaft und wird kurz danach zum regulären Präsidenten gewählt. Dazwischen führt er einen brutalen Krieg in Tschetschenien und hat auch sonst ein paar Sorgen. Am 2. August 1999 ist sein Vater, Wladimir Spiridonowitsch Putin, nach längerer Krankheit verstorben. Putin fährt zumindest einmal die Woche von Moskau nach Sankt Petersburg, um seinen todkranken Vater zu besuchen. »Mein Sohn ist wie ein Zar«, hat der bei einem der letzten Besuche stolz gesagt. Vielleicht hat er etwas vorhergesehen, was damals nur wenige sehen konnten. Aber vielleicht ist es auch nur eine von Putins Spindoktoren gut erfundene Geschichte. Oder ein belangloser Satz eines stolzen Vaters am Ende seines Lebens.1
Wladimir Putin hat sich über die Jahre immer mehr radikalisiert. Es begann damit, dass er sich als der präsentierte, der die Dinge »regelt«, der nach den Jahren der Wirren Ordnung schafft. Er erklärte, dass die Russen einen starken Staat wünschten. Das Machtzentrum um Putin herum nahm das Land allmählich in einen harten Griff. Bald begann Putin sich auch rhetorisch gegen den Westen zu wenden, der eine monopolare Ordnung etabliert habe, Russland nicht mit Respekt behandle, ein ums andere Mal betrüge.
Innerhalb von wenigen Jahren wurde eine regelrechte neue Staatsphilosophie entwickelt, gebildet aus den Komponenten »starker Staat« mit einem souveränen »Anführer« an der Spitze, gewürzt mit der imperialen Idee (»Russkij Mir«, »russische Welt«), Vorstellungen von der russischen Eigenart, Konservativismus und ergänzt um Revanchegedanken einer Nation, die gekränkt worden sei. Jede Herausforderung – seien es Demokratiebewegungen in den »nahen« Nachbarländern, Bürgerbewegungen in Russland selbst, regionale Konflikte – wurde wiederum zum Anlass für radikalisierte Reaktionen, vielleicht auch für Panikreaktionen.
Putin wurde auch älter und bekundete schon mal, mit dem Alter werde man »konservativer«. Umgeben von Jasagern und einer Männertruppe, die sich immer mehr in eine reaktionäre Weltsicht hineinschraubte, wurde Putin offenkundig auch immer isolierter und geriet in eine Feedback-Schleife, in der sich der reaktionäre Konservativismus immer mehr bestätigt. Es sieht stark danach aus, als wäre er nur mehr von Leuten umgeben, die sich gegenseitig hochschaukeln.
Mehr und mehr entwickelte die Putin-Entourage eine Paranoia. Postulate, die man zunächst vielleicht zynisch trommelte, weil sie einem als pr nützlich waren, glaubte man langsam selbst immer mehr. Ideologien und Propaganda verfällt man irgendwann auch selbst, man muss sie nur oft genug wiederholen. Wie diese Prozesse im Detail abliefen und bis heute ablaufen, wissen wir natürlich nicht genau. Wir können in Putins Kopf nicht hineinschauen, und die zwischenmenschlichen Prozesse in seinem engsten Kreis sind unklar, da das Regime stark abgeschottet ist. Zwar gibt es immer wieder Aussagen von Leuten, die ausgestiegen sind – aber vornehmlich von solchen, die sich in den Westen absetzen konnten. Aussteiger, die in Russland überleben wollen, tun gut daran, den Mund zu halten. Einer der hochrangigsten Aussteiger ist Andrei Illarionow. Er war Putins engster Wirtschaftsberater, brachte Russland in die G8-Gruppe, repräsentierte den Präsidenten im Kreis der wichtigsten internationalen Politikerinnen und Politiker. Dann warf er hin, weil Russland »ein unfreier, kriegshetzerischer Staat wurde, der von einer Clique regiert wird«2.
Putin hat sich, verstrickt in seine eigenen ideologischen Erzählungen, ganz offenbar verkalkuliert. Putin, so formulieren das einige Biografen und Analysten, ist zwar durchaus ein Stratege, der für »kontingente« Ereignisse plant. Der also nicht allein auf eine Karte setzt, sondern Sorge trägt, dass er ein Blatt mit mehreren Karten in der Hand hält, je nachdem, wie sich die Dinge entwickeln. Einer, der für verschiedene Szenarien vorplant. Aber einige Dinge hat er ganz offensichtlich nicht zu Ende gedacht.
Sicher ist, dass Putin sich immer rasanter radikalisierte. Zuletzt sagte er öffentlich: »Jedes Volk, und insbesondere das russische Volk, wird immer die wahren Patrioten von dem Abschaum und den Verrätern unterscheiden können, um diese einfach auszuspucken wie eine Mücke, die versehentlich in ihren Mund geflogen ist.« Innere Kritiker, aufmüpfige Oligarchen, die paar Tausend mutigen Leute, die gegen seinen Krieg auf die Straße gehen, die letzten verbliebenen widerborstigen Publizisten – sie werden mit Insekten verglichen, die man ausspuckt und zermalmt. Das ist die Sprache des reinen Faschismus und des Totalitarismus. In den berüchtigten Moskauer Prozessen der 1930er Jahre bezeichnete der Chefankläger Andrei Wyschinski die Beschuldigten als »tollwütige Hunde«, die erschossen gehörten. Es ist die Sprache einer radikalisierten Säuberungspolitik.
Dieser Prozess der Selbstradikalisierung ist seit längerer Zeit im Gange. So redete sich Putin bereits 2013 bei dem jährlichen Zusammentreffen mit internationalen Russlandspezialisten in eine antiwestliche Tirade hinein, in eine reaktionäre Schmährede gegen die Ordnung des Liberalismus, der Homosexualität bewerbe, die gleichgeschlechtliche Ehe gestatte und der nun ernsthaft darüber diskutiere, »eine Partei zuzulassen, die sich für pädophile Propaganda einsetzt«.3
Später erklärten Kreml-Sprecher, der Präsident habe diese Information von Freunden erhalten. Gerne ist in der reaktionären Kreml-Propaganda von »Gayropa« die Rede, wenn Europa gemeint ist.
In der Ukraine, sagte Putin bei anderer Gelegenheit, entstehe ein »Anti-Russland«, das »vollständig von außen kontrolliert« sei. Wer einer Ideologie verfällt, der sieht nur mehr, was seine Annahmen stützt. Wer an der Spitze einer politischen Hierarchie steht, hat auch tatsächlich Gegner (potenzielle Konkurrenten im Land, Widersacher in anderen Ländern), und neigt gewissermaßen schon von Berufs wegen dazu, die Welt in Freund und Feind einzuteilen und irgendwann beinahe überall Feinde zu sehen. Das ist sogar in Demokratien so, und erst recht in despotischen Autokratien und Mafia-Staaten, in denen man leicht eine Kugel in den Rücken bekommt, wenn man einen Augenblick unachtsam ist.
»Niemand weiß«, formuliert Michel Eltchaninoff, »ob Wladimir Putin den Verstand verloren hat.« Aber es gibt schon verdammt viele Hinweise, »dass er in einer Parallelwelt vor sich hin dämmert.«
Angela Merkel äußerte Berichten zufolge bereits 2014 gegenüber Barack Obama nach einem Gespräch mit Putin, Letzterer »lebt in einer eigenen Welt«4. Ob Merkel damit meinte, dass Putin entrückt sei und quasi den Kontakt zu Realität verloren habe? Das ist nicht so sicher. Es kann auch heißen: Putin lebt in seiner eigenen Welt, er sieht die Welt auf seine Art, anders als wir. Er sieht sie mit den Augen des Geheimdienstlers, der überall Verschwörungen wähnt, er sieht sich von Feinden umgeben und in den Sicherheitsinteressen seines Landes (und in seinen eigenen) bedroht, er sieht Russlands Politik als konsistent an, die des Westens als in sich unlogisch, was ja durchaus nicht falsch ist. Kann also auch heißen: Er hat eine Rationalität, die anders ist als die unsere. Was auch heißt: Wir können seine gar nicht verstehen. Wir interpretieren seine Handlungen im Lichte unserer Rationalität. Und deswegen machen wir auch Fehler. Der kgb-Mann und Homo Sowjeticus Putin ist einfach in einer anderen Realität groß geworden und belebt sie auch heute noch.
Oft wird jetzt gefragt: »Wie konnten wir so blind sein?« Es lag ja alles offen zutage, die innere Verhärtung des Regimes, die imperiale Wende von Putin, seine ungeschönten Aussagen in Hinblick auf seine Ziele, die Erfahrungen mit seiner Bereitschaft zur Brutalität. Aber viele im Westen haben sie einfach im Lichte ihrer eigenen Rationalität interpretiert. Etwa: Reden ist besser als schießen. Kooperation wird Spannungen verringern können. »Entspannungspolitik« ist immer gut und hat mit der Sowjetunion seit den sechziger Jahren eigentlich ganz passabel funktioniert. Ein rückständiges, zerfasertes Großreich wie Russland brauche auch eine starke Hand, sonst breche Chaos aus – auch diese Komponente von Putins Staatsideologie waren viele bereit zu akzeptieren.
Höchstwahrscheinlich dachten manche auch, die überideologisierten Aussagen von Putin dürfe man auch nicht so ernst nehmen, das sei nur Gerede für die Galerie, also für das Publikum. Im Westen reden doch auch alle Politiker irgendwelche »Narrative« daher, die ihnen Spindoktoren einsagen, die meinen, dies komme beim Wähler gut an. Es sei doch alles Schauspielerei. Und außerdem: Welche guten Alternativen hätte man denn gehabt? Hätte sich, beispielsweise, 2014 die Überzeugung flächendeckend durchgesetzt, dass Putin nicht mehr für vernünftige Politik zu gewinnen sei, er für Verhandlungswege nicht mehr zu haben sei, er vielmehr auf die Errichtung einer halbfaschistischen, imperialen Despotie zusteuere – was hätte man denn dann tun sollen? Massiv aufrüsten, das westliche Militär an den Grenzen zu Russland zusammenziehen, schnell alle Nachbarstaaten in die nato aufnehmen, einen Raketenabwehrschutzschirm gegen die atomare Bedrohung aus dem Boden stampfen, die wirtschaftliche Verflechtung mit Russland schnell rückgängig machen? Besonders verlockend wäre das für Politikerinnen und Politiker nicht gewesen. Erstens hätten sie es in einem fragmentierten, zerstrittenen Westen sowieso nicht hingekriegt, zweitens waren sie gerade mit anderem beschäftigt (Finanzkrise, Trump-Jahre, Brexit, Flüchtlingsbewegungen), drittens hätte das alles sehr viel Geld gekostet und die Bevölkerung hätte jeden abgewählt, der eine solche Aufrüstungspolitik vorgeschlagen hätte. Außerdem hatten wir uns an so etwas wie die Idee des »ewigen Friedens« in der europäischen Politik gewöhnt. Somit war die attraktive Alternative: Kopf in den Sand stecken und hoffen, dass es schon nicht so schlimm kommt. Sich selbst in den Sack lügen.
Einen guten Plan hatte niemand. Hinterher ist es leicht zu sagen, dass es einen geben hätte müssen.
Putins Russland ist zwar schwach, Putin macht dafür aber im Verhältnis zum Westen sehr viel aus dieser Schwäche. Denn es gibt da ein Missverhältnis, das ihm zumindest bis heute eine ziemlich gute Hebelwirkung schenkt: Der Westen will keinen Konflikt mit Russland, Russland aber einen Konflikt mit dem Westen. Das verstärkt die Bereitschaft in Europa, aber auch in Washington, dem Bully nachzugeben.5
Es kommt aber noch eines hinzu.
Der Westen ist durchschaubar, die Machthaber im Kreml sind es nicht. Man weiß so ziemlich genau, was der Westen will. Man kennt dessen Checks and Balances, die inneren Kompliziertheiten jedes einzelnen Landes. Man weiß, dass kein westliches Land eine Ein-Personen-Herrschaft ist, dass also kein Verrückter eigenständig etwas Irrsinniges anrichten könnte (was nicht heißt, dass nicht verrückte Fehler begangen werden können, wie etwa der Irakkrieg vor 20 Jahren, und dass nicht besorgniserregende Halbverrückte wie Donald Trump für einen Stresstest sorgen können). Man weiß auch, dass es unendlich schwierig ist, eine gemeinsame westliche Politik zustande zu bringen, weil es dafür den Kompromiss von mindestens einem Dutzend Regierungen braucht, wenn nicht von mehr. An dieser Kompromissbildung sind Tausende Beamte und Berater beteiligt, von denen viele plaudern. Nichts im Westen bleibt lange geheim.
Auf der anderen Seite weiß man das alles nicht so genau. Auch das ist ein strategischer Vorteil von Putin. Wir können ihn gar nicht glauben machen, dass wir ihm beispielsweise eine Atombombe auf den Kopf werfen, wenn er uns nur ordentlich nervt. Er kann das umgekehrt schon. Wir müssen vor Putins nuklearem Arsenal Angst haben. Aber das heißt zugleich auch: Er will, dass wir vor seinem nuklearen Arsenal Angst haben, weil das seinen Hebel verstärkt. Was auch heißt: Unabhängig davon, ob Putin verrückt geworden ist oder nicht, er hat ein gewisses Interesse daran, dass wir es für möglich halten, dass er verrückt geworden ist und überdies eine Ein-Mann-Tyrannei errichtet hat, die ihm erlaubt, etwas völlig Verrücktes zu tun. Seine Rechnung ist ganz einfach: Solange wir Angst vor seinem nuklearen Potenzial haben, kann er machen, was er will.
Jedenfalls: Die labile Friedensarchitektur in Europa und deren Grundannahmen, an die man sich eigentlich nicht nur seit 1989, sondern schon seit der »Entspannungspolitik« und dem »Helsinki-Prozess« der siebziger Jahre gewöhnt hatte – all das liegt in Trümmern.
2012 wurde in Russland die bisherige Militärführung in die Wüste geschickt und durch eine neue ersetzt. Putins enger Freund Sergei Schoigu wurde Verteidigungsminister, Waleri Gerassimow neuer Generalstabschef. Gerassimow legte 2013 eine Art neue Militärdoktrin vor und argumentierte sie in Hintergrundgesprächen durch. Künftige Kriege würden »neue Arten von Kriegen« sein, und in diesen würden auch viele »nichtmilitärische Methoden eingesetzt werden, um politische und strategische Ziele zu erreichen«, so der Militär. Politische, ökonomische, informationstechnische, kommunikative Methoden.6 Die Grenze zwischen Krieg und Frieden würden im 21. Jahrhundert zunehmend verschwimmen, Kriege würden ohne vorausgehende formelle Kriegserklärung geführt werden.7
Der Krieg der Gegenwart sei ein »hybrider Krieg«. Genauer: Ein solcher Krieg tobe bereits, nämlich der Krieg des Westens gegen Russland. Alle diese Methoden würden gegen Russland eingesetzt, inklusive »des Protestpotenzials der Bevölkerung«. In solchen Kriegen werde mit Desinformation, mit Lüge, mit Aufstachelei gearbeitet und mit dem Versuch, Hader zu schüren. Man werde diese Methoden auch gegen den Westen einsetzen, um ihn abzuschrecken, zur militärischen Phase des Krieges überzugehen. Wladislaw Surkow, Putins dämonischer Spindoktor und pr-Genie, hat in einem literarischen Text das Szenario eines »nichtlinearen Krieges« entwickelt.8
Erinnern wir uns noch einmal an den Satz von Angela Merkel, wonach Putin in seiner eigenen Welt lebe. Wir dürfen annehmen, dass es in etwa die Welt ist, die Gerassimow da schildert. Aus dieser Sicht ist dann alles, was Putin seit einem Jahrzehnt macht, nur Notwehr gegen diesen westlichen hybriden Krieg. Oft wird angemerkt, dass Putin immerzu lügt. Aber ist das aus seiner Sicht eine moralisch verwerfliche Unehrlichkeit? Abgesehen von der Frage, ob moralische Erwägungen für Putin persönlich und einen Geheimdienstler im Allgemeinen (für den Täuschen quasi zum Beruf gehört) oder überhaupt für einen Machtpolitiker eine Kategorie sind, wäre es das natürlich nicht. Die Lüge ist dann einfach eine Waffe in dem Krieg, in dem Russland die Rolle des Bedrohten innehat, des Opfers, das sich nur wehrt. Im hybriden Krieg sind Lügen Part of the Game.
Putins pr trommelt dabei platte, ja verrückteste Propaganda, und sie versucht zugleich, bereits vorhandene Konflikte im Westen zu schüren, die Schwächen der pluralistischen Demokratien auszunützen. Er infiltriert die Diskurse, rennt sozusagen offene Türen ein. Der Judo-Meister Putin hat bestimmt einen Sinn dafür, wie man die Verwundbarkeiten der Gegenseite ausnützt. Er hätschelt die rechten Populisten und harten Rechtsextremen, umgarnt Marine Le Pen, Heinz-Christian Strache und seine fpö, Nigel Farage, Matteo Salvini und Co., er greift direkt in den us-Wahlkampf ein, der Donald Trump ins Weiße Haus bringt. Der Kreml unterstützt mit seinen Fake-News-Medien deren Diskurse – Islam, Brexit, Immigration, instrumentalisierte Corona-Leugner. Regressiven Linken wiederum präsentiert er sich als Widersacher gegen die amerikanische Weltordnung und den Neoliberalismus. Die Gender-Diskurse des Westens stellt Putin als Symptom einer Dekadenz dar und sich selbst als Posterboy für all jene, die noch »richtige Männer« oder »richtige Frauen« sein wollen.
Peter Pomerantsev: »Der Kreml sendet willkürlich wechselnde Botschaften, die seinen Zielen nutzen, bedient alle und jeden: Die rechten Nationalisten Europas werden mit eu-feindlichen Botschaften gelockt; die extreme Linke wird durch den angeblichen Kampf gegen die Vorherrschaft Amerikas vereinnahmt; religiöse Konservative in den usa werden durch den Kampf des Kremls gegen Homosexuelle überzeugt.«
Die Erfahrung lehrt, dass Putin alle Instrumente einsetzt, die ihm zur Verfügung stehen, so Fiona Hill.9 Dass er keine Grenzen kennt. Darauf muss man sich einstellen.
Es ist nicht die Frage, ob Putin alles einsetzen wird, was er hat, um seine Interessen durchzusetzen. Die Frage ist vielmehr: Was sind eigentlich seine Interessen?
Den Zusammenhalt des multinationalen russischen Imperiums zu sichern – und verlorenes Territorium wieder zurückzugewinnen –, das hat er immer wieder als seine historische Mission bezeichnet. Wie weit das aber gehen wird? Fix ist, dass Russland expansiv ist – unklar ist, wie weit das reicht.
Das allein ist schon einmal ein wichtiger Punkt, eine Erkenntnis, die viele im Westen auf dem falschen Fuß erwischte. Denn die meisten westlichen Regierungen und Außenpolitik-Expertinnen und -Experten haben ihr Verhältnis zu Putins Russland entlang ihrer Erfahrungen mit der Sowjetunion modelliert. Jetzt bemerken sie: Die Sowjetunion war ein bequemer Konkurrent, weil sie seit den fünfziger Jahren eigentlich nur an der Aufrechterhaltung des Status quo interessiert war, was für das heutige Russland eben nicht gilt. Manche Kreml-Ideologen schwadronieren von einem Eurasien »von Lissabon bis Wladiwostok«. Auch Dmitri Medwedew, der seinerzeitige Präsidenten-Statthalter und Putin-Weggefährte seit Sankt Petersburger Tagen, sprach im April 2022 davon.10 Und selbst wenn das nur Propagandageflunker sein mag – dass Russland an der Veränderung des Status quo, nicht an dessen Zementierung interessiert ist, ist offenkundig.