Liebe ist schön, von einfach war nie die Rede - Sandra Poppe - E-Book
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Liebe ist schön, von einfach war nie die Rede E-Book

Sandra Poppe

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Beschreibung

Zelten? Was hat sich Großtante Lisbeth denn dabei gedacht? Nach ihrem Tod im gesegneten Alter von 92 Jahren macht diese den Zelturlaub zur Bedingung für ein stattliches Erbe. Evi, getrennt, alleinerziehend und gestresst, nimmt die Herausforderung schließlich an. Sie packt ihre Sachen und fährt mit ihrer vierzehnjährigen Tochter Helena auf einen Campingplatz nach Rügen.

Doch Wunsch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Das Wetter ist schlecht, die Ausrüstung fehlerhaft, die Leute seltsam, die Tochter mies gelaunt. Aber da gibt es diesen attraktiven alleinstehenden Familienvater, einen ungebetenen nächtlichen Besucher, den amüsanten Chakra-Klub und die sehr netten Besitzer des Campingplatzes. Evi bleibt, und die Geschichte nimmt ihren Lauf ...

Drei Wochen totale Entschleunigung auf einem bezaubernden Zeltplatz an der Ostsee

Ein wunderbarer Roman für alle Camping-Fans und solche, die es werden wollen



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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumVorwortGroßtante Lisbeths VermächtnisKomm, wir brauchen Seeluft!YouTube-TutorialRavioliNach Regen kommt Sonnenschein. Oder?AmeisenflüsterinZu neuen Ufern lockt ein neuer TagIch habe nichts gegen schönes Wetter, aber etwas gegen das schlechte danachErleuchtung to goGutes KarmaWo ist Bettina?Und Helena?Unaufhörlich bläst das MeerDie Geister, die ich riefWer alleine ist, der hat es gut, weil niemand da, der ihm was tutEs gibt keine zufälligen BegegnungenWas uns verbindetGeht es zu leicht, ist es definitiv falschSorgsame PflichterfüllungDrei Gründe für das MönchgutVersöhnung ist (k)eine KunstSturm ist erst, wenn Kühe fliegenNur ein Narr versucht es nichtFindet Wege!Hat der Weg ein Ziel?EpilogPackliste Zelturlaub

Über dieses Buch

Zelten? Was hat sich Großtante Lisbeth denn dabei gedacht? Nach ihrem Tod im gesegneten Alter von 92 macht diese den Zelturlaub zur Bedingung für ein stattliches Erbe. Evi, getrennt, alleinerziehend und gestresst, nimmt die Herausforderung schließlich an. Sie packt ihre Sachen und fährt mit ihrer vierzehnjährigen Tochter Helena auf einen Campingplatz nach Rügen. Doch Wunsch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Das Wetter ist schlecht, die Ausrüstung fehlerhaft, die Leute seltsam, die Tochter mies gelaunt. Aber da gibt es diesen attraktiven alleinstehenden Familienvater, einen ungebetenen nächtlichen Besucher, den amüsanten Chakra-Klub und die sehr netten Besitzer des Campingplatzes. Evi bleibt, und die Geschichte nimmt ihren Lauf … Drei Wochen totale Entschleunigung auf einem bezaubernden Zeltplatz an der Ostsee Ein wunderbarer Roman für alle Camping-Fans und solche, die es werden wollen.

Über die Autorin

Sandra Poppe, geboren 1975, lebt mit ihrer Familie in Bonn. Nach dem Geschichtsstudium arbeitet sie heute bei einer NGO, die sich der fairen Mode verschrieben hat. Wenn sie nicht an ihrem nächsten Roman sitzt, arbeitet sie gerne mit den Händen: nähen, Gartenarbeit oder kochen. »Ich liebe es, wenn man am Ende etwas hat, was man anfassen, anschauen oder aufessen kann.«

Ihr erster Roman bei Bastei Lübbe Liebe beginnt, wo Pläne enden punktet mit viel Charme und einem besonderen Setting: einem Freilichtmuseum, in dem ihre Hauptfiguren sechs Wochen lang leben wie im 18. Jahrhundert. Sandras Romane sind wie leckere Schokotörtchen: Sie machen einfach glücklich!

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Melanie Blank-Schröder

Textredaktion: Heike Brillmann-Ede

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, Münchenunter Verwendung von Illustrationen von© shutterstock.com: antuanetto | Trigubova Irina | Hulinska Yevheniia | TALVA

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2816-4

luebbe.de

lesejury.de

Es ist der Wind, der Stoffbahnen flattern lässt, während man mit einer Fleecedecke auf dem Campingstuhl kauert und ein Buch liest. Es ist der Regen, der sich im Zelt immer schlimmer anhört, als er ist. Es ist der Drang, zur Toilette zu müssen, den man eisern ignoriert, weil der Weg nachts viel weiter scheint als tagsüber. Es sind der Spaziergang zum Spülhaus und das Klappern des Geschirrs im Korb. Es ist das Lachen von Kindern, das Ploppen von Federbällen, das Bellen eines Hundes. Es sind die Menschen, die morgens herrlich menschlich aussehen, zerknittert und mit wirrem Haar. Es ist der Schatten vor dem Zelt, wenn die Sonne brennt, das Klicken des Gaskochers, das Geräusch von Reißverschlüssen und der Geruch nach feuchtem Gras. Es ist das Stimmengemurmel der anderen, während man auf sanften Wogen in den Schlaf gleitet.

Das alles ist Zelten.

Großtante Lisbeths Vermächtnis

Montag, 17. Mai, vereinzelte Schauer, 16 Grad Celsius

Zelten? Wie kommt sie denn nur auf die Idee?

Ich sitze auf einem schwarzledrigen Stahlrohrsessel im Bauhausstil. Man kennt diese Stühle. Sie stehen gefühlt bei jedem zweiten Rechtsanwalt oder, wie in unserem Fall, beim Notar. Man kann auf diesen Dingern nie stillsitzen, weil es Freischwinger sind. Und was tut man dann? Ja, genau! Schwingen. Es macht Spaß, ist dem Anlass aber nicht unbedingt angemessen.

Wir sitzen nämlich bei einer Testamentsverkündung. Und das heißt, dass vorher jemand gestorben ist. In unserem Fall ist das Großtante Lisbeth, die wir wirklich gern hatten. Sie war schon zweiundneunzig und ist friedlich eingeschlafen. Ein dramatischer Abgang hätte allerdings viel besser zu ihr gepasst. Großtante Lisbeth war, nach höchst eigener Erkenntnis, extraordinär. »Cherie, ich bin eine extraordinäre Frau, und dazu gehören Pomp und Gehabe«, pflegte sie gerne und oft kundzutun. Sie war in den 1950er- und 1960er-Jahren eine mäßig talentierte Schauspielerin und mit einem Regisseur verheiratet, bis sie sechzig war. Dann ließ sie sich von ihm scheiden, weil er nur noch im Sessel saß und pupste. Marlene Dietrich war ihr Vorbild und der Bademantel – beziehungsweise eine Kollektion an Bademänteln – ihr bevorzugtes Kleidungsstück. Sie hatte einen wundervollen Humor und eine leicht sadistische Ader.

Dementsprechend waren wir sehr traurig, als sie starb. Die Beerdigung ist zwei Wochen her, wir haben geweint, uns in den Arm genommen und festgestellt, dass das Leben ohne Lisbeth weniger bunt sein wird. Gerade hatten wir uns wieder gesammelt, als uns der Notar in Erbangelegenheiten zu sich zitierte. Erbangelegenheiten? Das überraschte uns, waren wir doch sicher, dass Lisbeth ihr Vermögen standesgemäß verjubelt hatte. Aber nein, es gibt da dieses Aktienpaket, ein Ferienhäuschen in Frankreich, Schmuck und einen Goldbarren in einem Schließfach – jeder von uns wird am Ende um den Wert eines ansehnlichen Einfamilienhauses reicher sein … Wir sind fassungslos.

»Wieso hat Lisbeth nie was davon erzählt?«, fragt meine Schwester Isabell. Mein Vater und ich zucken mit den Achseln. Es scheint, als hätte unser Tantchen das von langer Hand geplant.

Doch zurück zu dieser Sache mit dem Zelten. Dr. von Rosinski, ein schneidiger Herr in den Fünfzigern mit goldumrandeter Brille, Anzug, Weste und Fliege, erklärte uns vor wenigen Augenblicken Folgendes: Tante Lisbeth, Elisabeth Renata Friederike Lohenstein, hätte verfügt, dass wir nur dann in den Genuss ihres Erbes kommen, wenn wir Auflagen erfüllten. Und die haben es in sich. Lisbeth hat sich schon zu Lebzeiten gerne eingemischt, und sie hatte anscheinend nicht vor, nach ihrem Tod damit aufzuhören. Sie stellt jedem von uns eine Aufgabe, die unser Leben besser machen soll. Sie will uns voranbringen, zwingen, die Ärsche zu bewegen. Das hat Dr. von Rosinski so natürlich nicht ausgedrückt, wir haben jedoch alle Lisbeths Scotch-Marlboro-Stimme höchst lebendig in den Ohren.

Und dies sind ihre Bedingungen:

Mein Vater Wolf muss im Herbst am Kölner Halbmarathon teilnehmen. Tante Lisbeth findet wohl, er solle seine Behäbigkeit ablegen und brauche ein Hobby, um sich nicht ständig in das Leben seiner Töchter einzumischen. (Nicht dass sie besser war, aber Selbstreflexion war keine ihrer Stärken.)

Meine ältere Schwester Isabell soll Gesangsstunden nehmen und mindestens einmal öffentlich und vor Publikum auftreten. Auf die Idee könnte jeder kommen, der Isa schon beim Tortenbacken singen hörte. Doch sie ruht sich in ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau aus (mal abgesehen von einem sehr verwegenen Ausbruch vor fünf Jahren, aber dazu später mehr) und kann diesen Schubser ebenfalls gebrauchen.

Und ich soll zelten, drei Wochen lang. Lisbeths Intention leuchtet ein. Sie bedauerte immer, dass niemand in unserer Familie diese Begeisterung teilte. Sie zeltete leidenschaftlich gern. Es war eine Lebenseinstellung und stand in keinem Widerspruch zu ihrer Extravaganz. Im Gegenteil, sie fand paradoxe Verhaltensweisen ganz wunderbar. Ich wiederum war seit der Trennung von Claas vor drei Jahren, mit dem ich im Laufe der Jahre in Italien jeden antiken Stein zwischen Mailand und Catanzaro angestarrt habe, nicht mehr im Urlaub. Der Alltag funktioniert, mein Privatleben ist ein Desaster. Ich habe nämlich keins. Also muss ich wohl mal an die frische Luft. Da gebe ich Lisbeth vollkommen recht.

Warum auch nicht?, denke ich mir nach einer kleinen Schockstarre. Immerhin kann meine Agentur eine Finanzspritze sehr gut gebrauchen. Dann geh ich eben zelten. So schlimm wird es schon nicht sein. Und falls doch, werde ich die drei Wochen eben hinter mich bringen und genieße hinterher endlich finanzielle Sicherheit.

»Gesangsstunden«, ätzt Isabell, kaum dass die Tür des Notariats hinter uns ins Schloss fällt. »Lisbeth ist eine Sadistin. Sie kann froh sein, dass sie tot ist, ich würde ihr sonst ordentlich die Meinung geigen.«

»Du weißt, das hätte sie nicht beeindruckt«, wendet mein Vater ein. »Aber könnt ihr mir erklären, warum ich joggen soll?«

»Weil du deine Füße nicht mehr sehen kannst und sie sich Sorgen um dein Herz-Kreislauf-System macht?«

Mein Vater seufzt. Eins zu null für Lisbeth und Isabell.

»Ich glaube, ich nehm’s mit Humor«, sage ich, »dann geh ich eben zelten. So schlimm wird es schon nicht werden.«

»Ganz ehrlich? Spinnen, Ameisen im Essen, ein Klo für fünfzig Leute? Dann singe ich lieber.« Isabell öffnet das Tor zur Straße und wir gehen Richtung Auto.

»Man gewöhnt sich bestimmt daran«, mutmaße ich und behalte hoffentlich recht.

»Auf jeden Fall hat Lisbeth sich damit würdevoll von uns verabschiedet«, stellt mein Vater fest.

Wir stimmen ihm uneingeschränkt zu, setzen uns ins Auto und fahren nach Hause.

Komm, wir brauchen Seeluft!

Samstag, sternenklarer Himmel, 15 Grad Celsius

Ich drücke die Kofferraumklappe langsam nach unten und quetsche dabei die hineingestopften Kissen zusammen. In letzter Sekunde ziehe ich die Hand weg und lasse den Deckel mit einem Knall zufallen. Geschafft! Ich hüpfe vor Freude wie Rumpelstilzchen. Zeitweise dachte ich, wir müssten spontan einen Lieferwagen mieten, aber nein, alles ist drin. Unfassbar! Wir können losfahren! Jetzt muss ich nur noch Helena aus dem Haus lotsen.

Mein Vater kommt mit der letzten Fuhre. In der einen Hand trägt er eine Kühltasche, in der anderen einen prall gefüllten Korb mit Lebensmitteln.

»Paps, wir brauchen keine drei Tage bis zum Campingplatz.«

»Es ist Samstag. Wir werden mit Sicherheit im Stau stehen. Den Rest könnt ihr abends essen. Glaub mir, du wirst froh sein.«

Ich seufze. Nach dem Tod meiner Mutter hat er ihre Rolle mit Inbrunst übernommen, und seitdem er Rentner ist, ist es noch schlimmer. Er ist nun hauptberuflich Töchterbetüddler. Der Karrieremensch a.D. verrichtet diesen Job mit derselben Hingabe wie einst seinen Posten als Prokurist einer kleinen Firma für Sanitärtechnik.

Ich nehme ihm die Kühltasche ab, öffne die Tür hinter dem Fahrersitz und stelle sie auf das letzte freie Fleckchen auf der Rückbank.

Anschließend marschiere ich die Kieseinfahrt unseres großzügigen Einfamilienhauses aus den Sechzigern hoch. Seit zwei Jahren lebe ich hier mit meiner vierzehnjährigen Tochter Helena und meinem Vater. Wir bewohnen das Erdgeschoss, mein Vater den ersten Stock, die Küche teilen wir uns. Es ist nicht optimal, aber mit dem Geld aus Großtante Lisbeths Erbe könnten wir umbauen und zwei geschlossene Wohnungen daraus machen. Ich erklimme die Eingangsstufen zu der braunen Holztür aus dem 18. Jahrhundert. Meine Mutter sammelte Antiquitäten, und die Haustür hatten meine Eltern aus einem Frankreichurlaub mitgebracht. Es ist eine gern erzählte Familienanekdote, wie mein Vater dem Händler in gebrochenem Französisch und mit wilden Gesten klarmachte, dass dieses kostbare Stück unbedingt auf dem Dach ihres Autos transportiert werden müsste. Ich liebe diese Tür. Es ist, als würde meine Mutter mich umarmen, wenn ich hindurchgehe.

Ich finde Helena im Wohnzimmer. Sie hat riesige Kopfhörer auf und schickt ihrer besten Freundin Annika die letzten Sprachnachrichten, die diese sowieso erst morgen hören wird. Es ist nämlich mitten in der Nacht. Wir haben acht Stunden Fahrt vor uns – ohne Stau.

»Ja, also meine Mum ist da, ich glaub, wir fahren jetzt. Ich meld mich wieder und hoffe schwer, dass es auf dem Platz WLAN gibt. Sonst krieg ich echt die Krise.«

Ich baue mich vor ihr auf und stütze die Hände in die Hüften. Sie verdreht die Augen und nimmt ihre Kopfhörer ab. Ich brauche nichts zu sagen, mein Text landet via Mutter-Tochter-Datenübertragung direkt in ihrem Gehirn.

»Is gut, ich mach ja schon, aber echt, wenn’s da kein WLAN gibt, fahr ich sofort wieder nach Hause.«

»Fragt sich nur, wie du das ohne Auto und Führerschein bewerkstelligen willst.«

»Dann tramp ich halt.«

»Nur über meine Leiche. Zieh dich an, wir fahren!«

Während Helena der Aufforderung ohne Murren nachkommt – ein Wunder? –, kontrolliere ich den Herd, die Rollladen und schaue ein letztes Mal in den Briefkasten. (Klar, die Post kommt um zwei Uhr nachts.) Zum Schluss schnappe ich meine geliebte grüne knautschige Umhängetasche und schließe die Haustür ab. Im Auto schnalle ich die Kühlbox an, frage Helena, ob sie klarkommt, was sie augenverdrehend bejaht, setze mich auf den Beifahrersitz, lege den Gurt an und lasse die Luft raus. Ich verlasse Anspannungslevel hundert und sinke auf moderate achtzig. Unter fünfzig komme ich eigentlich nie.

»Wohin soll es gehen? Der Schneider-Express steht bereit, die Turbinen sind angelassen, Opa Wolf ist startklar.«

»Opa, ich bin vierzehn, Mama dreiundvierzig«, erinnert ihn Helena.

»Paps«, ächze ich, »fahr uns einfach nach Rügen.«

»Ihr seid Spielverderber«, mault mein Vater, startet den Motor, lenkt seinen betagten Volvo aus der Kieseinfahrt und wir starten in den ersten Urlaub seit drei Jahren.

Ich schließe die Augen und versuche zu dösen. Weil es nicht klappt, fische ich mein Handy aus der Handtasche und werfe einen Blick in den Mail-Account. Ehe ich durch den Zeltaufbau für Stunden blockiert sein werde, kann ich die Fahrt eigentlich nutzen, um noch schnell ein paar Dinge zu erledigen.

»Deine Agentur geht nicht gleich den Bach runter, wenn du es mal laufen lässt.« Mein Vater setzt den Blinker und überholt gemächlich einen holländischen Laster. Danach wirft er mir einen besorgten Blick zu. DEN besorgten Blick, der mir sagt, dass er der Meinung ist, ich gehe mein Leben zu hundert Prozent falsch an. Dabei komme ich zu genau diesen hundert Prozent nach ihm. Er war in seinem Job nicht anders, doch irgendwann hat es klick gemacht. Plötzlich waren nicht mehr Arbeit, Renditen und Personalführung sein Lebensmittelpunkt, sondern guter Wein, bestes Essen, klassische Musik und Opa zu sein, ohne den Druck, dass aus den Enkeln lebenstaugliche Erwachsene werden müssen. Für meine Mutter war es anfangs anstrengend, so präsent, wie er plötzlich war. Doch sie nahm es hin, wie sie ihn auch vorher hingenommen hatte: mit ihrer unerschütterlichen Ruhe. Und so durchlebten die beiden einen zweiten Frühling mit Reisen, Essen, Kultur und Natur, ehe ein schrecklicher Autounfall vor sechs Jahren uns die beste Ehefrau, Mutter und Oma nahm, die man sich wünschen konnte. Tränen steigen mir in die Augen.

Denk an was Schönes!, mahnt sie mich in meinem Kopf, und ich bin eine gute Tochter. Ich erinnere mich daran, wie sie mir kochen und backen beibrachte und mich lobte, egal, ob das Essen verkohlt war, ich Salz mit Zucker verwechselt hatte oder der Kuchen so aussah, als wäre er einem Horrorstreifen entsprungen.

»Nur kurz, Paps, du hast ja recht.« Ich überfliege die Mails und sehe, dass Saskia alles im Griff hat. Sie ist meine engste und einzige Mitarbeiterin. Meine kleine Agentur für Layout und Design läuft recht gut, doch die Selbstständigkeit hat ihre Tücken. Seit der Trennung wünsche ich mir oft eine feste Anstellung mit Lohnzettel und keinen Job, bei dem ich nicht weiß, wie viel ich am Ende eines Monats auf dem Konto habe … Trotzdem beherzige ich den Rat meines Vaters und gehe lieber ein letztes Mal die Listen für den Urlaub durch. Haben wir wirklich alles dabei? Küchensachen, Schlafsachen, Zeltausrüstung, Klamotten für jede Wetterlage, Schuhe …

»Scheiße, ich habe die Schuhe vergessen!« Ich schlage die Hände vors Gesicht.

»Welche?«, fragen meine Mitfahrenden.

»Alle. Ich habe alle Schuhe vergessen.«

Mein Vater lacht. »Schusseltrine.«

»Ups«, sagt Helena. Ich blicke zerknirscht nach hinten, aber traurig sieht sie nicht aus. Sie beäugt ihre Stoff-Sneakers. »Dann kaufst du uns halt neue. Cool.« Ihre Teeniereaktion ist zielorientiert.

»Nun gut«, sage ich seufzend. Außer mir denkt offenbar niemand ans Haushaltsbudget. »Dann gibt’s eben neue.«

Fünf Stunden später nähern wir uns Stralsund, das frühe Aufstehen macht sich bezahlt. Die letzte Stunde habe ich gedöst, die Sonne steht bereits hell über dem Horizont. Nicht mehr lange und wir sind da! Es kribbelt in meiner Magengegend. Es ist dieses Urlaubskribbeln, das mich immer dann erfasst, wenn unbekannte und neue Tage vor mir liegen.

»Mum?«

»Ja?«

»Wann sind wir da?«

»Hey, du sollst keine Kleinkinderfragen stellen, du hast mobile Daten. Sitz also gefälligst still und sei zufrieden.«

»Echt jetzt? Sag, wann sind wir da?«

»Paps, wann sind wir da?« Ich gebe die Frage weiter, schließlich bin ich selbst Tochter.

»In schätzungsweise fünf bis sechs Stunden, ich habe gestern gelesen, sie haben ab Stralsund Tempo 30 eingeführt.«

Helena schnappt hörbar nach Luft.

Mein Vater ist Meister im Erfinden von blöden Antworten. Er zelebriert sie frei nach dem Motto: Es gibt blöde Fragen und es gibt noch blödere Antworten!

»Opa, ich bin vierzehn.« Sie hat sich wieder gefangen.

»Ach, komm, Helena, da wirst du nie rauswachsen. Opa kriegt dich immer wieder.«

»Stimmt«, brummt sie. Sie mag es gar nicht, wenn es ihm gelingt, sie reinzulegen. Es ist ein routinierter Schlagabtausch. Opa Wolf entwickelt immer raffinierter seine dummen Antworten, nur um Helena zu foppen.

»Wir brauchen keine zwei Stunden mehr«, sage ich schließlich und fasse meinen Vater am Oberarm. »Und danke, Paps, dass du uns den weiten Weg fährst.«

Seine Augen funkeln belustigt, weil ich mich im Laufe der letzten Tage Dutzende Male bedankt habe. Mein schlechtes Gewissen wegen seines Taxidienstes ist groß, denn es ist leider so: Seit dem Unfalltod meiner Mutter habe ich nur noch ein Mal hinterm Steuer gesessen. Anfangs waren es der Schock und die Angst, auf dieselbe tragische Weise einem betrunkenen Lastwagenfahrer in die Quere zu kommen, nach ein paar Jahren schlicht die Überwindung, überhaupt loszufahren. Immer wieder spiele ich mit dem Gedanken, selbst zu fahren, dazu durchringen kann ich mich nicht. Außerdem habe ich mich an ein Leben gewöhnt, in dem ich mit Fahrrad, Taxi oder öffentlichen Verkehrsmitteln überallhin komme. Das eine Mal, als ich mich doch hinters Lenkrad klemmte, war im letzten Urlaub mit Claas – es ging ihm nicht gut, wir standen mitten in den Hügeln der sonnenbeheizten Toskana, und jemand musste nach Siena fahren. Claas war total genervt, blaffte mich an, als wäre ich minderbemittelt, ich war völlig verunsichert, und am Ende stieg ich mit zitternden Beinen und dem Gefühl, dem Tod knapp entronnen zu sein, aus dem Wagen. Wenige Monate später verkündete Claas, er gedenke, uns zu verlassen, und noch am selben Tag packte er die Koffer und zog bei seiner Kollegin ein. Das Ganze war so klischeehaft und billig, dass ich nach einer angemessenen Zeit der Schockstarre froh war, ihn los zu sein.

Wir erreichen Stralsund, erhaschen einen Blick auf die Altstadt und erklimmen die Rügen-Brücke. Sie ist ein erstaunliches Bauwerk, führt hoch über die altehrwürdige Hansestadt und endlich erblicken wir die Ostsee. Mir war nicht klar, welche Sehnsucht ich nach dieser Weite hatte – bis jetzt, als ich sie erblicke und mir der Anblick des Meeres ein sehnsuchtsvolles Seufzen entlockt. Das Bild bleibt uns eine Weile erhalten, denn dicht an dicht schieben sich Autos und Wohnmobile über die Brücke, und es scheint so, als hätte Deutschland einmütig beschlossen, seine größte Insel just heute zu entern. Samstag ist eben DER An- und Abreisetag.

»Ist das schön hier«, trällere ich und werfe einen Blick nach hinten.

»Schön voll«, ätzt Helena, schaut kurz aus dem Fenster und widmet sich wieder ihrem Smartphone. Ich fische meines aus dem Handschuhfach. Ich will in Vorfreude schwelgen und mir noch einmal die Bilder des Campingplatzes anschauen.

Die Wahl des Platzes war überhaupt die schwierigste Aufgabe.

»Hätte sie nicht dazuschreiben können, wo ich zelten soll?«, hatte ich seufzend zu Isabell gesagt, als ich die Urlaubsplanungen begann.

»Wie wäre es mit Italien?«, unkte Isabell, die sich immer über Claas’ Italienwahn lustig gemacht hat. Und was habe ich diese Urlaube verteidigt, die mir am Ende nur noch auf den Keks gingen.

»Na ja, ich weiß auf jeden Fall, wo ich nicht hinwill.«

»Damit bleiben nur noch ein Dutzend andere Länder übrig.«

»Falsch. Paps fährt uns, ich kann ihn schlecht bitten, uns nach Portugal zu kutschieren.«

»Er würde es tun.«

»Ich weiß. Gerade deshalb möchte ich es eingrenzen.«

Nachdem ich unzählige Internetseiten für Deutschland und alle Nachbarländer durchforstet hatte, vom Bauerncamping bis zum Fünf-Sterne-de-luxe-Camping mit Badeparadies und Wellnessangeboten, fiel meine Wahl auf einen naturnahen Campingplatz im Norden Rügens. Nicht zu groß, nicht perfekt, keine Jugendgruppen, nur eine Handvoll Dauercamper, direkt am Strand. Es war noch ein Platz frei – und ich noch nie an der Ostsee. Es fühlte sich richtig an.

Ich klicke durch die Bilder der Homepage, drehe mich nach hinten und halte Helena eines von einem Zelt mit Blick aufs Meer vor die Nase. »Ist das nicht schön?«

»Das Zelt ist grün. Ich hasse Grün.«

»Was stimmt mit dir eigentlich nicht?«

»Pubertät.«

»Ja, aber man kann sich doch mal gegen das Scheißesein wehren, oder nicht?«

»Dann würd ich meinen Job nicht richtig machen.«

Wir schauen uns an, giftig, dann zucken Helenas Mundwinkel und wir prusten los. Es ist einer der netteren Augenblicke. Einen Teenie zu haben fühlt sich manchmal an, als würde man gemeinsam in den Kindergarten gehen. Beide stampfen trotzig mit dem Fuß auf den Boden und krähen: »Du bist nicht mehr meine Freundin.«

»Kinder, jetzt hört auf zu zanken, ihr müsst drei Wochen miteinander klarkommen.«

»Ja, und danach ist eine von uns reif für die Irrenanstalt.« Ich grinse meine Tochter an. Sie nuschelt etwas und setzt ihre Kopfhörer wieder auf. Zack, Mutter weg. Schon praktisch!

Der Stau zieht sich über die gesamte Insel, nur hier und da kommen wir schneller voran. So unrecht hatte mein Vater mit seiner Vorhersage also nicht. Zum Glück zeigt sich das Wetter von der besten Seite, lediglich ein paar Wolken ziehen wie eine Herde Schafe über den strahlend blauen Himmel. Im Zentrum ist die Insel flach und landwirtschaftlich geprägt, doch Richtung Norden ändert sich das Bild. Es wird hügeliger, immer wieder öffnet sich der Blick auf die Jasmunder Bodden, dazwischen erstrecken sich Wiesen, Felder und kleine Wälder. Von Minute zu Minute wächst meine Begeisterung.

Hinter Glowe, im Norden der Insel, fahren wir kilometerlang durch einen Kiefernwald. Der Reiseführer, der seit Stralsund aufgeschlagen auf meinem Schoß liegt, verrät mir, dass es sich um die sogenannte Schaabe handelt. Eine flache, schmale und acht Kilometer lange Landbrücke, die die Ostsee vom Großen Jasmunder Bodden trennt. Auf der Meerseite erstreckt sich ein endloser naturbelassener Strand. Mein Vater und ich staunen um die Wette.

»Es ist richtig schön hier, das hast du gut ausgesucht«, lobt mich mein Vater, und ich grinse wie ein Honigkuchenpferd. Wird man je erwachsen, wenn es um die Anerkennung der Eltern geht?

Fünf Minuten später haben wir es geschafft. Nach fast zehn Stunden Fahrt biegen wir auf den Zufahrtsweg des Campingplatzes an der Ostküste der Halbinsel Wittow, einen Schotterweg, an dessen Ende mein Vater den Volvo schwungvoll in eine Parkbucht lenkt. Vor einer niedrigen Baracke, grob verputzt und mit grünen Fensterläden, steht ein geschmiedetes abstraktes Kunstwerk in Form eines Menschen, der ein Schild in den Händen hält. Darauf ist kunstvoll in dicken Lettern gemalt: Camping Arkonablick. Willkommen zu Hause. Hinter der Baracke erstreckt sich ein Kiefernwäldchen, die Sonne malt helle Flecken auf den Boden. Dazwischen stehen Zelte, Wohnwagen und auf der linken Seite, hinter ein paar Büschen, sind vier bunt bemalte Zirkuswagen zu sehen. Ich kenne die Bilder, doch in Wirklichkeit sieht alles noch schöner aus. Ich steige aus dem Wagen, strecke mich und atme tief durch. Es ist angenehm warm, riecht nach Sommer und Wald. Das Abenteuer kann beginnen. Wer braucht Italien, wenn er das hier haben kann? Es ist ein Gefühl von Zufriedenheit, das mich durchströmt.

Helena und mein Vater steigen ebenfalls aus.

»Ist das schön hier!« (Mein Vater)

»Ganz schön klein!« (Meine Tochter)

»Ich hatte dich gebeten, bei der Auswahl zu helfen, aber Netflix war dir wichtiger.« (Ich)

Helena mault ohne Ton, ich fische meine Knautschtasche aus dem Fußraum und stapfe zur Baracke, über deren Tür Rezeption, Shop, Café steht. Auch selbst gemalt. Vor der Tür gibt es ein paar gusseiserne Tische mit Mosaikplatten sowie die dazugehörigen Stühle. Im Inneren der Baracke werde ich von Regalen erschlagen, die bis an die Decke gefüllt sind mit allem, was das Camperherz begehrt. Am Ende des schmalen Raumes liegt die Theke. Es ist niemand da, doch dahinter befindet sich ein weiterer Raum, abgetrennt durch einen bunten Perlenvorhang, und ich höre Kramgeräusche.

»Hallo?«, frage ich leise.

Zu den Kramgeräuschen gesellt sich genervtes Gemurmel. »Verdammte Axt, wo ist das Scheißding, eben war es noch hier, irgendwann erschlag ich den Kerl mit der flachen Hand, ständig schleppt der alles in seinen Scheißtraktor. Die Weiber können echt froh sein, dass mein Bruder nix von ihnen will.«

Nun gut, denke ich, ich warte lieber, bis die Person fertiggeflucht hat, aber es geht munter weiter.

»Und wo sind die Küchentücher? Wozu braucht der Küchentücher? Ist es dem Herrn im Traktor zu schmutzig, oder was? Mann, Mann, Mann!«

Ich entschließe mich, die Tirade doch zu unterbrechen, am Ende erfahre ich Dinge, die ich gar nicht wissen will. Wer tut mir mehr leid? Die Flachpfeife oder die Person, die von der Flachpfeife gequält wird? Ich stelle mich auf Zehenspitzen und versuche, durch den Vorhang zu lugen.

»Entschuldigen Sie bitte, wir würden gern einchecken.«

»Ach nee«, tönt es hinter dem Vorhang, »is ja mal was ganz Neues.«

YouTube-Tutorial

Samstag, Sonne und Wolken im Wechsel, leichter Wind aus Südost, 20 Grad Celsius

Die Begrüßung hatte ich mir irgendwie … herzlicher vorgestellt. DAS hier entspricht jedenfalls nicht meiner Vorstellung von einem freundlichen, serviceorientierten Empfang auf einem naturnahen Campingplatz. Aber da hat sicher nur jemand einen schlechten Tag. In diesem Augenblick wird der Perlenvorhang beiseitegeschwungen, und heraus kommt eine eines Naturcampingplatzes würdige … nee, so nicht … Noch mal von vorne: Heraus kommt eine Frau, die hervorragend in eine alternative Kneipe in Kreuzberg passen würde. Igelschnitt, Muskelshirt, Piercings, Anglerhose, Doc Martens. Sie ist in meinem Alter und schlägt mit genervtem Gesichtsausdruck und mürrisch verzogenen Augenbrauen auf. Herzlich ist anders. Sie sieht mich, kneift die Augen zusammen und dann scheint ihr aufzugehen, dass ich Kundschaft bin. Der Ton ist unwirsch, die Wortwahl höflich.

»Hallo. Willkommen auf unserem Camping. Was kann ich für dich tun?«, sagt sie, und ich gewinne den Glauben an Kundenfreundlichkeit ansatzweise wieder zurück.

»Danke sehr. Wir haben einen Platz reserviert.«

»Na, das will ich auch geraten haben. Sonst hätte ich euch direkt wieder weggeschickt.« Der Ton ist forsch, knapp, am Rande zur Unfreundlichkeit. Mein Glaube verfliegt so schnell, wie er gekommen ist. Sie kramt umständlich hinter der Theke herum und setzt eine völlig schiefe Lesebrille auf. Derweil hat sich Helena zu uns gesellt.

»Wie lange dauert das denn noch?«

»Geduld, junge Dame«, raunzt die Frau, fixiert meine Tochter über den Rand ihrer Brille hinweg, knallt ein dickes ledergebundenes Buch auf die Theke und blättert darin herum.

»Name?«, knurrt sie im Feldwebelton.

»Schneider.«

»Zelt, Wohnmobil, Wohnwagen?«

»Zelt.«

»Mittel, groß, klein?«

Ich komme mir vor wie bei Starbucks, nur der Service fehlt. »Mittel oder klein? Ich weiß es nicht genau.«

»Dann ist es klein. Personen?«

»Zwei.«

»Standort?«

»So nah wie möglich am Meer. Meerblick wäre toll.«

»Den wollen alle.«

»Ja, aber ich habe über Internet einen Platz mit Meerblick re…«

»Sorry, kann ich nicht sehen.« Sie bläst die Backen auf. »Nichts funktioniert grad. Bin genervt.«

»Das merke ich«, antworte ich freundlich, »das ist doch jeder mal.«

»Wenn du meinst. Dann kommt mal mit.« Sie stapft hinter der Theke hervor und geht im wiegenden Männerschritt voraus. Die ist echt ein schräger Vogel. Vor der Tür schließt sich uns mein Vater an. »Ihr seid zu dritt?«

»Nein, mein Vater hat uns nur gefahren.«

Ein musternder Blick von unten nach oben. »Aha.«

Sie stapft weiter, so zackig, dass wir alle paar Schritte einen Lauf einlegen müssen. Meinen Vater haben wir bereits abgehängt. Lisbeths Idee, ihn joggen zu schicken, war nicht die schlechteste.

Auf dem Weg erklärt sie uns den Campingplatz, indem sie kurz mit der Hand in die jeweilige Richtung wedelt und knappe Infos ausgibt. »Waschhaus da drüben. Waschmaschine funktioniert mit Token. Kriegt ihr bei mir. Duschen kostet nix. Wohnwagen stehen in zweiter Reihe, Zelte im Wald. Brötchen gibt’s morgens auf dem Nachbarzeltplatz ab acht. Dahinten ist ein kleiner Durchgang, ist kürzer.« Sie bleibt abrupt stehen, und ich laufe ihr fast in die Hacken. »Ihr seid ohne Auto hier?«

»Ja, wir wollten auf der Insel Bus und Bahn nutzen.«

Das erste Mal zeigt sie so etwas wie ein Lächeln, auch wenn es ein sehr spöttisches ist. »Ihr meint die drei Busse, die hier am Tag fahren? Mietet Räder. Gibt’s auch auf dem Nachbarplatz.«

»Danke. Das ist lieb.«

»Da nicht für«, brummt sie. »Hier drüben könnt ihr das Zelt aufbauen. Sucht euch was Nettes aus.«

»Vielen Dank.« Ich möchte fragen, wie es mit der Bezahlung aussieht und ob wir sonst etwas beachten müssen, sie dreht aber auf dem Absatz um und verschwindet so schnell, als hätte sie Siebenmeilenstiefel an.

Erst jetzt hat mein Vater wieder Anschluss gefunden, und Helena glotzt der Frau perplex hinterher.

»Was war das denn für eine?«, fragt sie entrüstet. »Will die Gäste haben oder vergraulen?«

»Das frage ich mich auch.«

»Vielleicht liegt es an der Mentalität hier oben?«, mutmaßt mein Vater.

»Ist ja Osten«, setzt Helena nach.

»Also ehrlich, damit hat es bestimmt nichts zu tun. Man diskriminiert Menschen nicht aufgrund ihrer Herkunft.«

»Ja, Mum, allzeit politisch korrekt.«

»Wie es sich gehört, Tochter.«

Wir blicken uns giftig an.

»Ruhe jetzt«, mahnt mein Vater. »Drei Wochen. DREIWOCHEN!«

»Ja, leider«, ätzt Helena, dreht sich um und verschwindet Richtung Volvo.

»Paps, sag mir, dass es normal ist und ich nicht die schlechteste Mutter der Welt bin.« Mir steigen Tränen in die Augen.

»Bist du nicht.« Mein Vater schenkt mir einen liebevollen Blick und drückt mich kurz. »Vielleicht tun euch die drei Wochen ja gut und ihr rauft euch endlich wieder zusammen. Außerdem …«, er macht eine bedeutungsvolle Pause, »waren du und deine Schwester auch nicht viel besser. Das ist die Rache der Generationen.«

»Warum habe ich mit genau dieser Antwort gerechnet?«, murre ich.

Mein Vater schmunzelt. »Komm, wir fahren das Auto rüber, und dann bauen wir das Zelt auf.«

»Warum nicht hier?«

Ich verzweifle an diesem Kind.

»Ich finde es eben nicht schön hier.« Helena zuckt mit den Schultern, ich blase genervt die Backen auf.

»Such du doch einen Platz aus.«

»Hm.« Das passt meiner Tochter zwar auch wieder nicht, trotzdem steckt sie ihr Smartphone, auf dem sie die ganze Zeit herumgedaddelt hat, in die Hosentasche und trödelt im gelangweilten Teeniegang davon.

»Wann geht es vorbei?«, jaule ich theatralisch.

Mein Vater setzt dieses leicht überhebliche, wissende Grinsen auf. »Kurz vor dem Auszug. Wenn die Freiheit winkt und den Töchtern klar wird, dass Eltern nichts Selbstverständliches sind.«

»Gut, dann schick ich sie nächstes Jahr aufs Internat.«

»Evi?«

»Ja?«

»Du musst es mit Humor nehmen, es ist nichts Persönliches, weißt du?«

»Ja«, antworte ich zerknirscht, »ich weiß.«

»Sie kann nichts für eure Trennung, aber wenn Claas sie in den paar Tagen, die er sie sieht, behandelt wie eine Prinzessin, dann verhält sie sich hinterher auch so.«

»Hast ja recht.«

Mein Vater lacht. »Siehst du? Für solche Sätze lohnt es sich, die Pubertät zu überstehen.«

Ich muss jetzt auch lachen. »Ach, Paps, was würde ich nur ohne dich tun?«

»Noch so ein Satz und ich werde in meinem hohen Alter rot.«

Ich drücke ihn, und er drückt mich fest zurück.

Helena hat ihre Expedition beendet. »Dahinten. Kommt mit.«

Wir folgen ihr einen Trampelpfad entlang und gelangen an ein umwerfendes Plätzchen. Es liegt am Rande der Dünen, ist eingerahmt von hüfthohen Sanddornbüschen und schlanken Kiefern, und man hat einen traumhaften Blick auf die Ostsee. Die Ostsee! Bis zum Wellensaum sind es keine zwanzig Meter, der Ausblick ist grandios. Auf dem Stellplatz nebenan steht ein großes Familienzelt, auf der anderen Seite führt ein kleiner Trampelpfad an einer Handvoll Datschen vorbei zum Hauptweg. Perfekt.

»Der Platz ist super. Aber ist er dir nicht zu weit weg vom Klo?«

»Egal. Nachts muss ich eh nicht, und hier hab ich wenigstens WLAN.« Helena scheint zufrieden, und ich bin erleichtert, dass sich das beste WLAN nicht neben den Müllcontainern findet.

Gefühlte Stunden schleppen wir nun unsere Siebensachen zum Platz. Was ist das eigentlich für ein Urlaub, in dem man vom Kaffeelöffel bis zum Kissen alles mitbringen muss? So ganz erschließt sich mir der Reiz noch nicht. Lisbeth, was hast du dir dabei gedacht? Außerdem trage ich das meiste allein. Helena ist in einer Geschwindigkeit unterwegs, bei der sich sogar Schnecken ins Fäustchen lachen, und mein Vater soll nicht schwer tragen. Zudem hat sie einen Ort ausgesucht, der weit von der nächsten Parkmöglichkeit entfernt liegt. Aber nee, Hauptsache WLAN. Egal, es ist schön hier.

Zum Schluss klaube ich die Luftmatratze aus dem Kofferraum. Die Zeltausrüstung, die wir gestern ins Auto gestopft haben, war eine Herausforderung an sich. Was braucht man zum Zelten? Meine Anlaufstelle war natürlich das Internet. Es musste sie schließlich geben, die Campingprofis, die freundlicherweise komplette Listen online stellen, die man nur noch akribisch abarbeiten muss. Es gab sie, aber schnell stellte sich die Frage: Wer hat recht? Der Minimalist, der die Hälfte der Zahnbürste absägt, um Gewicht zu sparen, oder der Luxuscamper, der mit seiner Ausrüstung karge Winter in der Tundra übersteht? Und brauche ich den Benzinkocher, der auch während eines Tornados brav das Teewasser aufkocht, oder reicht der für 12,99 Euro bei Aldi? So viele Fragen und noch mehr Antworten. Am Ende entschied mein Konto und die anfangs größenwahnsinnige Liste wurde immer spartanischer. Gesundschrumpfen nennt man das wohl. Das Zelt lieh uns meine Freundin Vera, für den Rest der Ausrüstung schnappte ich mir eine protestierende Helena, und wir fuhren den weiten Weg zu einem der größten Freizeit- und Campingmärkte Europas. Es war ein beispielloses Erlebnis, dieses Campingparadies in Ikea-Größe zu betreten. Hier gab es einfach alles, vom Löffel bis zum Wohnwagen. Wir stritten um jeden Becher, am Ende entschied der Preis, und nach fünf Stunden war ich um Hunderte Euro ärmer.

An diesem Tag war ich nicht nett zu Lisbeth.

Mein Handy klingelt. Ich lasse die Luftmatratze zurückplumpsen, fische das Telefon aus der Gesäßtasche und gehe ran. »Hey, Saskia. Was ist los?«

»Hallo, Evi, ich störe hoffentlich nicht.«

»Ich schleppe gerade tausend Sachen vom Auto zum Stellplatz und habe jetzt schon keine Lust mehr. Wer hat eigentlich behauptet, Campen sei erholsam? Im Moment komme ich mir vor, als würde ich umziehen.«

»Klingt trotzdem spannend … Ähm, kannst du mir sagen, ob wir noch irgendwo einen Schlüssel für die Agentur haben? Mir ist heute was Dummes passiert, ich habe meinen Schlüsselbund verloren.«

Ich verdrehe die Augen. Saskia. Eine tolle Mitarbeiterin, fleißig bis zur Selbstaufopferung. Nett. Aber zwei Macken hat sie: Sie redet viel, und sie ist schusselig. Letzteres ist einer der Gründe, warum es mir nicht leichtfällt, meine Agentur drei Wochen alleine zu lassen. »Ich habe meine Schlüssel zu Hause. Mein Vater wird Sonntagabend wieder da sein, hol sie dir am besten Montag früh bei ihm ab.«

»Ah, danke, aber Montag wollte morgens der IT-Mensch kommen, also …«

Ich seufze. »Ich gebe meinem Vater deine Nummer, er ruft dich dann an. Kann aber echt spät werden.«

»Ja, aber …«

»Saskia, es geht leider nicht anders. Mein Vater ist hier, ich bin hier, der Schlüssel ist zu Hause. Du, ich muss jetzt das Zelt aufbauen, sonst schlafen wir unter freiem Himmel.«

»Na dann«, antwortet sie sauertöpfisch, »viel Spaß noch. Ich meld mich Montag.«

»Ja, mach das.«

Ich lege auf.

Wie soll das drei Wochen lang klappen? Die Agentur ohne mich?

»Also«, mein Vater reibt sich die Hände, »fangen wir an.«

In unserer Mitte liegen Planen, Stangen, Schnüre und Heringe. Jetzt fehlte nur noch die Anleitung. Bei aller Planung und Recherche habe ich glatt vergessen, Vera danach zu fragen. Ziellos wühle ich in dem Haufen und finde sie schließlich: zerknittert und mit Wasserflecken, kein Text, dafür sechs Bilder und viele Zahlen und Buchstaben.

»Was ist jetzt, Mum, fangen wir endlich an? Ich habe echt Hunger.«

»Dann hol dir was aus der Kühlbox. In der Zeit mache ich mich mit der Anleitung vertraut.« Das hört sich kompetenter an, als es ist. Ich verstehe nämlich gar nichts. Na ja, das kommt bestimmt nebenbei. Learning by doing. So funktioniert das doch, oder? Ich werfe zunächst einen Blick in die Kühlbox. Oh, da ist ja ein Bier drin. Wie schön. Was sagt die Uhr? 16:30 Uhr. Ach, ich finde, da kann ich mir eins gönnen. So macht man das im Urlaub doch, oder? Grillen, Bier trinken, gute Laune haben. Apropos. Ein Grill wäre auch nett gewesen. Andererseits kann ich gar nicht grillen, weil es das Einzige war, was Claas immer gemacht hat. Typisch Mann. Grillen: er, alles andere: ich.

Kühn fische ich die Bierflasche aus der Kühlbox.

»Ein Bier?« Mein Vater kraust die Stirn.

»So macht man das doch, oder?«

»Man ja, aber du nicht.«

»Lisbeth will, dass ich entspannter werde und mein Leben ändere, also werde ich entspannter und ändere mein Leben.«

Er schmunzelt. »Wenn das mit einem Bierchen anfängt, soll’s mir recht sein.«

17:00 Uhr. Alles klappt. Ist doch gar nicht so schwer. So ein Zelt ist in einer halben Stunde aufgebaut, ein Kinderspiel. Wir setzen die Zeltstangen zusammen und erschlagen uns fast dabei, weil sie ganz schön lang sind. Wir kommandieren uns gegenseitig rum, sind genervt und giften uns an. (Helena und ich, mein Vater versucht zu beruhigen, dann maulen wir ihn gemeinsam an.) Wir schwitzen, obwohl es gar nicht so warm ist, suchen das Innenzelt aus dem Haufen und stecken die Heringe in den Boden. Wir kriegen sie nur zur Hälfte hinein, aber das macht nichts, oder? Wir ziehen die Stangen in das Zelt und stellen es unter großem Getöse auf. Muss das so aussehen? Es steht schief, doch das gibt sich bestimmt beim Spannen der Leinen. Ich klaube die erste aus dem Knäuel, das vor mir auf dem Boden liegt, und dann …

… kracht das Zelt in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

»Das war eh total schief, da hätte ich nie drin geschlafen.« Helena steht mir mit verschränkten Armen gegenüber.

»Ist ja gut. Ich hab selbst gemerkt, dass was nicht stimmt. Scheißanleitung. Was machen wir jetzt? Es ist schon fast sechs.« Ich bin kurz davor zu verzweifeln. Lisbeth, du blöde Pute.

»Es bringt dir nichts, im Geiste auf Lisbeth zu schimpfen«, merkt mein Vater milde an.

»War das so offensichtlich?«

»Aber ja.«

Helena schnaubt genervt durch die Nase, schnappt sich ihr Handy und verzieht sich. Wie schön, mein Kind sucht sich wieder den leichtesten Weg. Ich nippe frustriert an meiner Flasche und starre die Ostsee an, derweil geht mein Vater aufs Klo. Als er zurückkommt und mein Bier leer ist, taucht auch Helena wieder auf.

»Ich weiß, wie wir’s machen.«

Ich habe dicke Fragezeichen über dem Kopf. Der Teenie zeigt uns, wie man ein Zelt aufbaut?

Helena platziert ihr Smartphone auf einem der Campingstühle und startet ein Video. »Es gibt doch Tutorials für alles, also dachte ich, ich schau mal nach. Die zeigen uns jetzt, wie es geht.«

»Helena, du bist ein Genie.« Ich bin kurz davor, sie in die Arme zu schließen, reiße mich aber im letzten Augenblick zusammen. Ich möchte nicht wieder abgewiesen werden. Wir schauen den ersten Teil des Videos, müssen stoppen, weil ein Traktor vorbeituckert und wir nichts mehr verstehen, und ein zweites Mal, als unser Nachbar nach Hause kommt. Er ist in meinem Alter, an jeder Hand hält er ein Kleinkind. Zwillinge. Er muss über unseren Platz, wenn er zu seinem Zelt will.

»Wie schön, wir haben neue Nachbarn.« Er bleibt stehen. »Hi, ich hoffe, es stört nicht, dass wir immer an eurem Zelt vorbeimüssen.«

»Natürlich nicht. Das war uns klar, als wir den Platz ausgesucht haben. Ich bin Evi, das sind meine Tochter Helena und mein Vater. Er war so nett, uns herzubringen.«

»Ich bin Hendrik. Schaut mal, Hanna und Lukas, das sind Helena und Evi. Mögt ihr Hallo sagen?« Die Kleinen grinsen verlegen und suchen Unsichtbares am Boden. »Na, vielleicht nächstes Mal. Dann wünsche ich uns gute Nachbarschaft, was? Wie lange seid ihr hier?«

»Drei Wochen, und ihr?«

Er beugt sich zu seinen Kindern. »Gell, wir sind auch noch fast drei Wochen da.« Die beiden kichern verlegen. Sie sind putzig. Er richtet sich wieder auf und beäugt das zusammengekrachte Zelt. »Braucht ihr Hilfe?«

»Nein«, verkünde ich stolz, »wir haben YouTube.«

Er lacht, nickt uns zu und trottet mit den Kindern zu seinem Zelt.

»Dann weißt du jetzt, wen du fragen kannst, wenn du Hilfe brauchst. Netter Mann.« Mein Vater wittert sofort die männliche Unterstützung, die er mir die nächsten drei Wochen nicht mehr bieten kann.

»Mir scheint, mit zwei kleinen Kindern ist er derjenige, der Hilfe gebrauchen könnte.«

Dank YouTube steht unser Zelt innerhalb von zwanzig Minuten. Weitere zwanzig Minuten später haben wir die Heringe im Boden versenkt und die Leinen gespannt. Der nächste Sturm kommt bestimmt. Sie halten das Zelt am Boden, erklärte der professionelle Zeltaufbauer überzeugend, also haben wir sie in den Sand gehämmert, bis nichts mehr von ihnen zu sehen war. Dafür musste ich den netten Nachbarn doch um Hilfe bitten, einen Gummihammer haben wir nämlich nicht im Gepäck. Er freute sich, helfen zu können, und kramte den Hammer aus einer hochprofessionellen Alukiste in einem perfekt ausgerüsteten Hauszelt. »Ich zelte schon mein Leben lang«, sagte er entschuldigend, »da wird man mit der Zeit anspruchsvoll.«

Als das Zelt steht, drehen wir eine Runde durch unser neues Zuhause. Vielmehr stehen wir gebückt in dem kleinen Vorraum und betrachten stolz unser Werk. Mein Highlight des Tages? Helena und ich klatschen uns ab.

Nachdem alles erledigt ist, verabschieden wir meinen Vater. Er verbringt die Nacht in Stralsund und sieht sich morgen Vormittag die Stadt an. »Denk bitte an Saskia, die wird sonst wahnsinnig.«

»Schreib ihr, ich bin in der Nacht zurück und lege den Schlüssel unter den grünen Blumenkübel, dann kann sie ihn holen, ohne mich zu wecken.«

»Ich kann es auch anders organisieren …«

»Nein. Wenn Töchter etwas wollen, tut man gut daran, ihnen ihren Willen zu lassen.«

»Kannst du dir das bitte merken, Mum?«, fordert mich Helena prompt auf.

»Das gilt ausschließlich für erwachsene Töchter«, entgegne ich zuckersüß.

»Echt jetzt? Du drehst es dir immer so zurecht, wie’s dir passt.«

»Mädchen, rauft euch zusammen! Sonst kann ich nicht in Ruhe nach Hause fahren.«

»Ja, Opa. – Ja, Paps«, sagen wir gleichzeitig, und mein Vater nimmt uns fest in den Arm. Ich bitte ihn, über sein Marathontraining zu berichten, er gibt uns letzte Ermahnungen mit auf den Weg (er wird es tun, bis ich siebzig bin) und fährt davon. Helena und ich halten uns im Arm und winken ihm hinterher. Die Liebe zu meinem Vater schenkt uns einen Augenblick der Nähe.

Der Volvo biegt um die Ecke und Helena löst sich aus der Umarmung. »Ich muss aufs Klo.«

»Ich komme mit und schaue mir das Waschhaus an.«

Sie nickt, zieht ihr Smartphone aus der Tasche und setzt ihre Kopfhörer auf. So ist das. Sie ist da und ist es nicht. Es ist pathologisch für ihre Generation. Sie nehmen oft nur das wahr, was sie wahrnehmen wollen. Manchmal würde ich mir ein wenig mehr Grundhöflichkeit wünschen, aber ich bin eben nur die Mutter.

Wir schlendern wortlos den Weg entlang. Der Campingplatz ist voll belegt, in dem Wäldchen, das den Dünen vorgelagert ist, stehen die Zelte, auf der anderen Seite des Weges die Wohnwagen und Wohnmobile. Es riecht nach Essen, Töpfe klappern, Kinder spielen, leise Unterhaltungen gesellen sich zu diesem besonderen Klang. Es sind die Gerüche und Töne des Alltags, die sonst hinter verschlossenen Türen bleiben. Unter freiem Himmel vermischen sie sich mit den Gerüchen und Geräuschen der Natur und denen des Campingplatzes. Dazu gehören das Ritschratsch der Reißverschlüsse, das Klicken eines Gaskochers, das charakteristische Klappern der Wohnwagentüren. Es hat etwas Geruhsames und Gemächliches. Ich sauge alles auf, genieße die abendlichen Sonnenstrahlen, den Duft der Kiefern und freue mich, hier zu sein. Es hat was, dieses Camping, das gebe ich gerne zu.

Mein Telefon klingelt. »Hey, Isa.«

»Na, was macht die Erbvollstreckung? Habt ihr das Zelt schon aufgebaut? Ist Paps noch da, oder habt ihr ihn schon zu seinem Ausflug geschickt? Hat er sehr genervt mit seinen klugen Ratschlägen? Wie ist es auf dem Zeltplatz? Hast du vielleicht einen netten geschiedenen Mann als Nachbarn? Das würde dir ja mal guttun, so ’ne kleine Romanze. Los, erzähl.«

Ich lache so laut auf, dass Helena die Knöpfe aus dem Ohr reißt und mich bitterböse anguckt. »Geht’s ’n bisschen leiser? Is ja wohl voll peinlich!«

Ich schicke einen bösen Blick zurück, dann widme ich mich meiner Schwester: »Isa, wie soll ich die Fragen denn alle beantworten? Ich habe ja bei der letzten die erste schon wieder vergessen.«

»Schieß einfach los.«

Ich schildere ihr, was mir in den Sinn kommt.

»Das hört sich doch prima an. Aber jetzt sag, männliches Material in Sicht?«

Ich erzähle ihr NICHT von dem hilfsbereiten, offenbar alleinerziehenden Nachbarn. Er wäre ein gefundenes Fressen für Isa. Sie hat nämlich schon vor längerer Zeit beschlossen, dass ich dringend wieder in die Arena gehöre. Mit ihr am Ohr bin ich beim Waschhaus angekommen. Es entpuppt sich als halboffener und knallrot gestrichener Pavillon. An der Außenseite finden sich die Spülgelegenheiten. Ein Platz ist von einem älteren Paar belegt. Während ich weiter mit Isa telefoniere, beobachte ich die beiden unauffällig. Der Mann spült akribisch jedes Löffelchen, die Frau textet ihn zu, hält ein Trockentuch und ein Glas in Händen und poliert munter immer dieselbe Stelle. Helena ist bereits im Innern unseres neuen Badezimmers verschwunden, und ich werde langsam hibbelig. Telefonate mit meiner Schwester dauern lange. Ich entschließe mich für die harte Tour.

»Isa, ich stehe jetzt vor dem Waschhaus und muss dringend pinkeln.«

»Nimm mich einfach mit«, sagt sie und kichert, »mir ist das egal.«

»Mir aber nicht, außerdem bin ich dort nicht alleine.« Ich dresche ein paar Abschiedsphrasen und lege auf. Jetzt schnell! Im Waschhaus gibt es Kabinen auf drei Seiten. Erste Seite: Duschen. Zweite Seite: Waschbecken. Natürlich finde ich die Klos erst auf der dritten Seite. Hektisch schließe ich die Tür, rupfe die Hose vom Hintern und setze mich. Puh, das war knapp. Die Wände nach außen sind oben offen, und ich höre das spülende Ehepaar. Hallo? Wie soll man denn entspannt aufs Klo gehen, wenn jedes Geräusch und jeder Geruch direkt in die Spülecke zieht? Ich beschließe, spezielle Angelegenheiten lieber nachts zu erledigen. Während ich über meine künftigen Klositzungen sinniere, betritt jemand das Waschhaus. Es klimpert, als betrete B.A. vom A-Team den Raum. Wie viel Schmuck muss man tragen, um sich so anzuhören? Fasziniert lausche ich dem Klimperstakkato und würde zu gerne die Person dazu sehen, doch als ich aus der Kabine komme, ist sie bereits verschwunden. Dafür treffe ich vor dem Waschhaus wieder auf Helena, die offenbar ähnliche Gedanken umtreiben.

»Wie soll ich denn hier in Ruhe aufs Klo gehen?«, fragt sie muffelig.

»Immerhin kannst du den Leuten beim Spülen lauschen, das ist doch auch was.«

»Du übertreibst es immer mit dem Schönreden«, muffelt sie weiter.

»Hast ja recht, ich habe auch beschlossen, lieber nachts zu gehen. Aber wenigstens ist es sauber.«

Ein Traktor tuckert vorbei, und wir müssen zur Seite hopsen, damit er uns nicht über die Füße fährt. Ein struppig aussehender Mann im Blaumann sitzt oben drauf. Ist das etwa der Typ, der bei der schrägen Trulla von der Rezeption die schlechte Laune verursacht hat?

Zurück am Zelt räumen wir es ein. Keine fünf Minuten später rauscht mit voller Wucht die erste Krise heran.

Helena packt die Luftmatratze aus und schaut sich suchend um. »Wo ist denn die zweite Matratze?«

»Wir haben nur die eine, die ist breit genug. Du warst doch dabei, als wir sie gekauft haben.«

»Ich habe nicht mitgekriegt, dass du nur eine eingepackt hast, ich dachte, es gibt zwei. Was machen wir jetzt?«

»Du hättest vielleicht nicht die ganze Zeit auf dem Handy rumdaddeln sollen, sondern lieber deiner dusseligen Mutter auf die Finger geschaut. Jetzt ist es eben so. Wie gesagt, sie ist breit genug.«

»Ich will aber nicht mit dir in einem Bett schlafen.«

»Es geht nicht anders.«

»Papa hätte sofort eine zweite gekauft.«

Die Papa-Ohrfeige. Immer dann, wenn Helena etwas nicht passt, schlägt sie sie mir um die Ohren. Papa macht dies, Papa macht das. Claas kauft sich gerne frei. Mir liegt eine spitze Erwiderung auf der Zunge, aber ich verkneife sie mir. Helena soll nicht zwischen die Fronten geraten, auch wenn sie es manchmal geradezu herausfordert. Außerdem verstehe ich sie. Sie ist vierzehn. Sie braucht Privatsphäre. Aber ich habe keine zweite Matratze. Ich bin nicht perfekt. Ich bin als Mutter alles andere als das.

»Wir besorgen eine zweite Matratze, okay?«

»Na gut, und dann ziehen wir auch diese Trennwand rein, damit ich meine eigene Kammer habe.« Sie macht eine kurze Denkpause. »Wobei … atmen höre ich dich ja trotzdem.«

Soll ich lachen oder weinen? »Ich versuche, ganz leise zu atmen, versprochen«, erwidere ich bissig.

Das Problem scheint aus dem Weg geräumt, doch das nächste Drama folgt auf dem Fuße. Helena hält die elektrische Pumpe in der Hand, die sie aus einer der Plastikkisten gekramt hat. »Ooookay, ich pumpe die jetzt auf. Wo ist der Strom?«

»Ähm, Strom?« Ich drehe mich einmal um die Achse, sichte jedoch keine Steckdose weit und breit. Das ist der Augenblick, in dem meine Tochter zum Derwisch mutiert.

»Du erzählst mir jetzt nicht, dass wir keinen Strom haben«, kiekst sie hysterisch.

»Ähm. Sieht leider so aus.«

»Und wie soll ich mein Handy aufladen?«

Gleich ist es so weit. Sie steigt in den nächsten Bus. Oder sie ertränkt sich in der Ostsee. Oder sie ertränkt mich in der Ostsee. Dabei quält mich der fehlende Strom genauso. Wie soll ich denn arbeiten? Aber ich habe eine Idee, ha!

»Wir können die Handys beim Duschen im Waschhaus aufladen.«

»Super Idee.« Teenieskes Augenrollen. »Total entspannt. Echt toller Urlaub. Ich wäre doch besser mit Papa nach Italien gefahren.«

Wie viele Ohrfeigen muss ich ertragen? »Dann fahr eben mit Papa, auch von hier aus fahren Busse und Züge.« Effektvoll pfeffere ich die Pumpe auf den Boden, suche das Weite und … stolpere fast in unseren Nachbarn.

»Hoppla, wohin so eilig? Ihr zeltet, da gibt es keinen Stress.«

»Sag das mal meiner Tochter«, brumme ich, laufe weiter, den Pfad zum Hauptweg entlang und von dort bis zum Ende des Campingplatzes. Hinter den Zirkuswagen biegt der Weg ab und wird zu einem Waldpfad. Die Büsche und Sträucher führen jedoch so nah am Weg entlang … Nee, bei meinem Glück fange ich mir nur Zecken ein. Ich drehe also um, komme wieder an den Zirkuswagen vorbei und schaue sie mir genauer an. Sie sind wirklich besonders. Jeder Wagen hat eine andere Farbe, die Sprossenfenster sind bunt bemalt, und schon von außen wirken sie so behaglich, dass ich zu gerne einen Blick hineinwerfen würde. Die derzeitigen Bewohner scheinen nicht sonderlich ordnungsliebend zu sein. Tische und Stühle stehen kreuz und quer, überall steht benutztes Geschirr, Kleidung liegt auf jedem freien Platz und dazwischen fliegen Yogamatten herum. Wüst.

Hinter dem Rondell biege ich ab zur Rezeption. Die Frau, bei der wir eingecheckt haben, fläzt sich auf einem Stuhl in der Abendsonne.

»Entschuldigung, könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich an unserem Platz den Strom finde?«

Sie lässt ihre coole Sonnenbrille ein Stück nach unten rutschen und blinzelt mich über den Rand hinweg an. »Wenn ihr Strom braucht, hättet ihr das sagen müssen, haben nicht alle Plätze. Könnt euch ja noch einen mit Strom aussuchen, die sind aber weiter hinten.«

Na, besten Dank. Das hätte sie uns in ihrer tollen Einführung ja auch mal sagen können. »Jetzt haben wir gerade alles aufgebaut. Wo können wir denn unsere Handys aufladen?«

»Das Waschhaus ist beliebt.« Sie sieht meinen aussagekräftigen Gesichtsausdruck. »Jetzt macht euch mal locker. Handys sollen auch mal weg, und deine Tochter wird’s verkraften. Andererseits treffen sich da abends gerne die Teenies zum Aufladen und Quatschen. Wird sie schnell merken.« Sie schiebt ihre Brille wieder auf die Nase, und das Gespräch ist beendet. Seltsame Person.

Ravioli

Samstag, Sonne und Wolken im Wechsel, leichter Wind aus Südost, 20 Grad Celsius

Als ich zurückkehre, ist Helena verschwunden. Ich bin nicht undankbar, räume in Ruhe das Zelt ein und bringe Ordnung in das Chaos. Einer der Profitipps stellt sich als Geschenk heraus. Nicht Koffer oder Taschen beherbergen unser Hab und Gut, sondern wasserdichte, durchsichtige und stapelbare Plastikkisten. Zuletzt klappe ich den Tisch auf. Eigentlich fehlt nur noch die Luftmatratze, aber darum kümmere ich mich später. Jetzt lasse ich mich erst mal mit einem Seufzer in einen der Stühle plumpsen, genieße ein paar Augenblicke die Ostsee und schnappe mir dann das Handy, um Arbeitsmails zu checken und zu beantworten.

Eine halbe Stunde später wandere ich mit unter den Arm geklemmter Matratze und elektrischer Luftpumpe Richtung Waschhaus. Auf dem Pfad begegnet mir der Nachbar. Den Jungen trägt er auf der Schulter, das Mädchen tapst brabbelnd hinterher.

»Das Stromproblem, was?«, sagt er mit Blick auf mein Gepäck und einem wissenden Lächeln auf den Lippen.

»Genau. Jetzt muss ich damit zum Waschhaus.«

»Und dann steckst du deine Pumpe mit dem Stecker fürs Auto in eine normale Steckdose?«