Liebe macht keinen Urlaub - Kate Galloway - E-Book

Liebe macht keinen Urlaub E-Book

Kate Galloway

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Beschreibung

Raus aus der Komfortzone, rein in den Urlaub! Die perfekte Romanbegleitung für den Sommer, Liebesglück inklusive ... Hals über Kopf bucht Felicity einen exklusiven Sommerurlaub: Wellnessabenteuer an einem geheimen Ort. Doch statt nach Bali geht es mit dem schlechtgelaunten Oliver und zwei anderen Frauen nach Schottland. Auf dem Programm: wandern bis die Füße abfallen, schlafen unter den Sternen, baden in eiskalten Lochs und zu sich selbst finden. Kurzum: Felicitys absoluter Horror. Doch je mehr Tage ins Land ziehen, desto attraktiver wird die schottische Wildnis. Oder liegt es womöglich an Oliver?

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Seitenzahl: 399

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Kate Galloway

Liebe macht keinen Urlaub

Roman

 

Aus dem Englischen von Heidi Lichtblau und Lene Kubis

 

Über dieses Buch

 

 

Felicity kann es nicht fassen: Der Wellnessabenteuer-Urlaub, den sie gebucht hat, um der Party zu ihrem 35. Geburtstag zu entgehen, entwickelt sich zum Albtraum. Klar, sie wusste vorher nicht, wo es hingehen soll, und wer noch in der Reisegruppe mitfährt. Aber muss es ausgerechnet Schottland sein? Ihre Mitreisenden sind auch nicht gerade Sonnenscheinchen – allen voran Oliver, der muffiger ist als die Luft im kalten Zelt. Warum zur Hölle lässt er ihr Herz trotzdem flattern? Was Felicity noch nicht weiß: Dieser Urlaub wird ihr Leben verändern. Sie muss es nur zulassen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Kate Galloway hat einen Abschluss in Psychologie und liebt es, ihre Figuren in Situationen zu bringen, aus denen sie völlig verändert hervorgehen. Eine wichtige Rolle spielt dabei natürlich die Liebe. Wenn sie nicht schreibt, arbeitet sie als Therapeutin. Sie lebt mit ihrer Tochter und ihrer Katze in der Nähe von Norwich auf dem Land, wo sie oft mit einem Tee, ein paar Macarons und einem Buch in der Hand angetroffen werden kann.

Inhalt

TAG EINS

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

TAG ZWEI

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

TAG DREI

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

TAG VIER

16. KAPITEL

17. KAPITEL

TAG FÜNF

18. KAPITEL

19. KAPITEL

20. KAPITEL

TAG SECHS

21. KAPITEL

22. KAPITEL

23. KAPITEL

24. KAPITEL

TAG SIEBEN

25. KAPITEL

26. KAPITEL

27. KAPITEL

TAG ACHT

28. KAPITEL

29. KAPITEL

TAG NEUN

30. KAPITEL

31. KAPITEL

32. KAPITEL

33. KAPITEL

TAG ZEHN

34. KAPITEL

35. KAPITEL

36. KAPITEL

37. KAPITEL

TAG ELF

38. KAPITEL

39. KAPITEL

40. KAPITEL

41. KAPITEL

42. KAPITEL

43. KAPITEL

TAG EINS

1. KAPITEL

»Hi, ich bin Fliss«, erkläre ich den drei Fremden, mit denen ich die nächsten zwei Wochen verbringen soll, mit einem breiten Grinsen.

Sie erwidern mein Lächeln höflich, und ich habe keine Ahnung, ob sie sich einander bereits vorgestellt haben. Also nehme ich schnell neben einer jungen Blondine in Activewear Platz, die sich schon wieder ganz auf ihr Smartphone konzentriert, das sie fest umklammert hält.

Über unseren Köpfen ertönt eine Durchsage. Aufmerksam lausche ich der nachhallenden Stimme, die die letzten Fluggäste zu Gate Elf bittet, und frage mich nicht zum ersten Mal am heutigen Tag, wo ich am Abend sein werde.

Fliss. Warum habe ich das nur gesagt? So wurde ich seit der Grundschule nicht mehr genannt. Mein Bruder Frank konnte meinen ganzen Namen, Felicity, nicht richtig aussprechen und begnügte sich deswegen mit der ersten Silbe.

Fliss? Scheinbar sehne ich mich nach Anonymität. Habe ich mir nicht deswegen die Wanderschuhe gekauft, und einen Rucksack, der beinahe so groß ist wie ich selbst – also ein ganz anderes Outfit als meine übliche Uniform aus Jeans, Streifentop und Rollkoffer? Das hier soll schließlich eine sogenannte Selfcare-Wanderung sein, da möchte ich einigermaßen vorbereitet wirken. Ein geheimes Urlaubsziel, das von dem Freund eines Freundes, dem das Unternehmen gehört, als »die Chance, mit der Natur und sich selbst in Verbindung zu treten« angepriesen wurde. Wenn auch mit dem Zusatz, dass der Trip nichts für »Zartbesaitete« sei.

Ob es wohl schon zu spät ist, die Reise ins Ungewisse gegen einen All-Inclusive-Trip nach Spanien mit Poolbar und braungebrannten Einheimischen einzutauschen?

Das würde den Zweck schließlich genauso gut erfüllen: Ich könnte das Land verlassen, um meinem nahenden Geburtstag und der Party zu entgehen, die meine Eltern unbedingt für mich organisieren wollen. Wer will schon seinen fünfunddreißigsten Geburtstag feiern? Ich sicher nicht.

Wenn ich mir meine Mitreisenden so ansehe – die sich wie angewiesen am Hidden Holidays-Aufsteller bei den Sitzen vor Marks & Spencer zusammengefunden haben – bin ich froh, dass ich nicht meinen alten pinkfarbenen Rollkoffer mitgebracht habe, den ich mir damals extra ausgesucht hatte, weil man ihn auf den Gepäckbändern der Flughäfen direkt erkennt. Vor den Leuten stehen riesige Rucksäcke, die sie so an ihre Knie gelehnt haben, dass sie die Person neben sich nicht berühren. Ob sie sich wohl auch den Kopf darüber zerbrochen haben, welchen Rucksack sie kaufen sollen – um den Eindruck zu erwecken, bereits sämtliche geheimen Weltwunder bereist zu haben und nicht nur gelegentlich mit dem Hund ihrer Freunde über die aufgewühlten Matschfelder von Kent gestapft zu sein?

In der E-Mail stand, dass wir zu viert sein würden. Und da sind wir also. Die furchtlosen Entdecker, die ihr Lebens- und Urlaubsziel in die Hand von Hidden Holidays gelegt haben, ein Unternehmen, das luxuriöse Ausflüge organisiert, bei denen sich die Kunden umgeben von magischer Natur von ihren fixen Ideen befreien können.

Es klang zu gut, um wahr zu sein. Urlaub hatte ich dringend nötig – auch wenn ich ihn nur gebucht habe, um meinen Eltern zu entkommen –, und mit mir selbst wieder in Verbindung zu treten, konnte auch nicht schaden. Die Reise kann ich mir nur leisten, weil ich für niemanden verantwortlich bin, meine Hypothek beinahe abbezahlt ist und ich keine ernsthaften Verpflichtungen habe, wenn man von meinem Job in der Investmentbank einmal absieht.

Wenn ich so drüber nachdenke, sind das vielleicht die wahren Gründe dafür, dass ich mich hinter einer Fassade namens Fliss verstecke.

Die Smartphone-Frau, deren französische Zöpfe so straff geflochten sind, dass ihre Augenlider nach oben gezogen werden, verzieht das Gesicht mal spöttisch, mal amüsiert, während sie durch irgendeine Seite scrollt. Ich will ihr einen solidarischen Blick zuwerfen, aber aus meinem Blickwinkel wirkt das vielleicht so, als würde ich auf ihren Bildschirm linsen.

Der Check-in-Bereich des Flughafens ist erstaunlich leer, und ich hoffe, dass wir nicht gleich Opfer einer vorgetäuschten Entführung werden, so wie Louis Theroux in seiner Doku »Ein abgedrehtes Wochenende«.

Das wäre gar nicht gut für mein Wohlbefinden, egal, wie lustig es wäre. Immerhin befinden wir uns in Gatwick, ich hoffe also schwer auf einen Langstreckenflug mit genug Zeit, um mein Buch zu Ende zu lesen. Auf der Checkliste, die vor ein paar Wochen per Mail verschickt wurde, wurde warme, wasserfeste Kleidung genannt, aber auch Schwimmsachen und Thermounterwäsche. Ich dachte also an etwas wie Kryotherapie in Kroatien oder Thalassotherapie auf Sardinien. Wobei es im August in diesen Ländern ziemlich heiß sein dürfte, was nicht zur Thermounterwäsche passt. In England herrscht jedenfalls eine Bruthitze, so dass mein stylischer Topknot langsam zu einem normalen Dutt verwelkt.

Ein junger Mann eilt auf uns zu und bringt einen Schwall kalter Flughafenluft und die Energie eines Menschen mit, der das Abenteuer und die Aufregung liebt – vielleicht hat er aber auch einfach nur fünf Espressi nacheinander gekippt. Er ist süß. Ein richtiger Outdoortyp. Und so jung, als käme er direkt aus der Uni.

»Unerschrockene Entdecker«, sagt er mit einem vornehmen Akzent und klatscht in die Hände. »Willkommen in Gatwick zum ersten Teil eures Hidden-Holidays-Abenteuers. Ich bin James, euer Gruppenleiter, und werde euch während der gesamten Reise, die an sich schon verrückt genug sein wird, begleiten. Aber wenn ich euch in zwei Wochen wieder hier absetze, werdet ihr mir dankbar sein.«

Das sieht doch vielversprechend aus. Die Instagram-Scrollerin neben mir sieht von ihrem Bildschirm auf und richtet ihre volle Aufmerksamkeit auf James’ muskulöse Arme, neben denen selbst das Klemmbrett sexy wirkt, das er inzwischen hervorgezaubert hat. Sieht so aus, als stünden Informationen über unsere Route darauf. Ich versuche, einen Blick auf den Titel zu erhaschen, aber der Guide neigt das Klemmbrett mit einem Seitenblick auf mich so, dass ich nichts mehr lesen kann, und lächelt mich an.

»Dann wollen wir mal die Namensliste durchgehen«, sagt er.

»Brianna Kirby.« Die Scrollerin hebt die Hand.

»Maya Inkton.« Sie erinnert mich an diese Frauen auf Festivals, die selbst am letzten Tag noch gut aussehen; sie hat einen echten Profi-Rucksack dabei und trägt Wanderschuhe, die offensichtlich schon gut eingelaufen sind.

»Oliver Harris.« Er hat sich so gut hinter dem Aufsteller versteckt, dass ich ihn erst jetzt richtig bemerke. Seinem Blick nach zu urteilen, fühlt er sich ebenso unwohl wie ich.

»Und last, aber sicher nicht least: Felicity Taylor?«

»Jepp«, sage ich und zucke kurz zusammen, als ich meinen vollen Namen höre. »Aber nennt mich doch bitte Fliss.«

Ob er mir wohl ansieht, dass ich normalerweise mit einem pinken Rollkoffer unterwegs bin und grundsätzlich eine Schlafmaske, Ohrstöpsel und einen Luftbefeuchter mit beruhigendem Lavendelduft im Gepäck habe? Wenn es dafür in ein Safarizelt in Südafrika geht, kann ich aber durchaus auch mal darauf verzichten.

James klemmt sich das Brett unter den Arm und klatscht erneut fröhlich in die Hände.

»Okay, Leute«, sagt er und lehnt sich verschwörerisch nach vorn. Wir verstummen. Bestimmt rückt er jetzt mit dem Reiseziel heraus.

Die Schweiz. Himalaya. Machu Picchu.

»Dann wollen wir mal unser Gepäck einsammeln und uns auf den Weg machen. Wenn ihr mir alle zum Gate folgt, können wir einchecken und ins Flugzeug steigen. Zur Mittagszeit werden wir in Inverness sein!«

2. KAPITEL

»Schottland?«, stößt Brianna, die Instagram-Scrollerin, in einem walisischen Akzent hervor, der genauso hübsch ist wie sie. Ihr Telefon scheint vergessen zu sein, als sie ihren Rucksack hochhebt und über ihr bauchfreies Fenditop wirft, zu dem sie passende orangefarbene Leggings trägt. Ob sie den Rucksack wohl auf ihren zarten Schultern balancieren kann, zierlich, wie sie ist? Der Rest der Gruppe lacht verlegen, während sie hinter unserem Guide hertrotten.

Ich muss zugeben, dass Briana mir aus der Seele gesprochen hat.

Schottland?!

Ich habe doch nicht Unmengen für ein geheimes Urlaubsziel ausgegeben, ausgewählt von den Allerbesten für die Allerbedürftigsten, um dann ins verdammte Schottland verfrachtet zu werden! Nein. James muss sich mit uns einen Spaß erlauben. Lachend werfe ich den Rucksack über meine Schulter und habe Mühe, nicht zu stolpern, als sich mein Schwerpunkt wegen der Tonnen an schweren Klamotten verlagert, die ich extra für meine Lamawanderung in den Anden angeschafft habe. Nicht für Schottland.

Maya rauscht an mir vorbei, den Rucksack fest um die in einem weißen T-Shirt steckende Brust geschnallt, in dem sie so gebräunt wirkt, als wäre sie direkt von irgendeinem definitiv nicht schottischen Ort hierhergeflogen. Ihr lockiges, braunes Haar hat sie auf ihrem Kopf mit einem bunten Schal aufgetürmt, und die Socken sind so lässig über ihren Wanderschuhen hinuntergekrempelt, dass völlig klar ist, dass sie sie nicht eben erst gekauft hat. Mit entschlossen zusammengepressten Lippen schließt sie nach vorne zu Brianna auf, vermutlich, weil beide etwa gleich jung sind und ich aussehe, als wäre ich nur einen Tweedschal weit von einer Barbour-Werbung entfernt.

Oliver schlurft hinter uns her und stößt gelegentlich einen Seufzer aus, ich kann ihn mir also immer noch nicht unauffällig ansehen. Unser Guide marschiert vorneweg, und mein Rucksack ist tatsächlich so schwer, dass ich Mühe habe, mit seinen langen Beinen Schritt zu halten.

Mein Blick streift über die Anzeigetafeln bei den Check-In-Schaltern, und ich hoffe, dass James uns zu den berühmten blauweißen Logos von British Airways oder der roten Welle von Emirates führt, die immer noch Hoffnung auf exotische Reiseziele versprühen. Aber wir laufen weiter, vorbei an den Schlangen der Glückspilze an diesen Schaltern und auf unsere eigene orangefarbene Schlange zu. Inverness steht in flatternden Buchstaben über der Frau, die mit einem breiten Lächeln die Boardingpässe kontrolliert. Ich starre auf die Buchstaben und hoffe, dass sie bei James’ Eintreffen zu tanzen beginnen wie im Film und unser wahres Reiseziel enthüllen. Aber auch als wir am Ende der Schlange angekommen sind, rühren sie sich nicht von der Stelle.

»Ich hatte irgendwie auf einen anderen Teil der Erde gehofft«, flüstert Brianna mir zu, während sie in ihrer Handtasche kramt und ihren ledernen Reisegeldbeutel hervorzieht. Der Singsang ihres Akzents klingt wie aus einem walisischen Liederbuch. »Aber man kann ja nie wissen. Vielleicht fliegen wir weiter nach Island, wenn wir in Inverness sind. Die Geothermalquellen dort sollen richtig toll sein.«

Ich gebe die Hoffnung nicht auf, auch wenn die Buchstaben stur bei »Inverness« bleiben, als wir schließlich am Schalter ankommen.

»Ich bin übrigens Bri.« Brianna rollt das R in ihrem Mund wie eine Süßigkeit. Sie streckt mir ihre perfekt gepflegte, wahnsinnig weiche Hand entgegen, und ich schüttele sie.

»Fliss«, sage ich. »Ich habe gerade erst meinen Pass erneuert, es wäre also schön, wenn ich die achtzig Euro nicht umsonst ausgegeben hätte.«

»Welche Ziele, die man von hier aus nicht erreichen kann, kann man wohl noch von Inverness aus anfliegen?«, fragt Bri. Während sie versucht, alles wieder in ihre Handtasche zu stopfen, fällt die Hälfte auf den Boden.

Eigentlich wissen wir wohl beide, dass Gatwick und seine Hunderte von Schaltern, die von Timbuktu über Canberra in alle Ecken der Welt führen, sehr viel bessere Chancen auf ein verstecktes Reiseziel bietet als Inverness.

»Vielleicht fliegen wir von Schottland aus nicht weiter, sondern steigen in einen Zug oder auf ein Schiff«, sage ich hoffnungsvoll.

»Na ja, und vielleicht fliegen wir auch einfach nur nach Schottland.« Bri zuckt mit den Schultern.

Ich lächele unverbindlich, weil ich die Leute ja gerade erst kennenlerne und nicht direkt als Jammerlappen rüberkommen will. Das bin ich nämlich nicht. Man sollte sich mit den Dingen abfinden, denn was bringt Jammern schon? Aber mal ehrlich, Schottland?!

James bringt am Schalter gerade die Dame in Orange zum Lachen. Dann macht er den Platz frei für Maya, die hinter ihm wartet. Ich höre den sanften schottischen Einschlag in der Stimme der Frau, als sie Maya bittet, ihr Gepäck auf die Waage zu stellen. Hoffentlich habe ich es mit den Wollpullis nicht übertrieben! Ich glaube nicht, dass ich genug Bargeld bei mir habe, um die gigantische Gebühr für die Überschreitung des Maximalgewichts zu bezahlen, und mein Konto ist wegen des Kaufs eben dieser Pullis sowieso schon im Minus.

Mayas Tasche ist scheinbar mit Luft gefüllt, denn sie ist federleicht. Das gleicht Bris hundert Pfund teure Gebühr wieder aus.

»Na, na, na«, sagt James, aber sein Lächeln ist nett.

»Vielleicht willst du ein bisschen Gewicht loswerden, ehe der richtige Spaß beginnt«, meint er halb im Scherz. »Rückenschmerzen sind echt der Killer.«

»Gott sei Dank ist das hier noch nicht der richtige Spaß«, erwidert Bri ebenfalls halb im Scherz und zieht einen Schmollmund mit ihren pinken Lippen, während sie mit den Wimpern klimpert, die niemals echt sein können.

James zwinkert ihr kurz zu. Er weiß, wie man eine Situation entspannen kann. Bri lächelt schüchtern und tritt dann beiseite, damit ich mein Biest von Rucksack auf die Waage stellen kann.

»Hi«, singt die Frau am Schalter. »Wie geht es Ihnen?«

»Ich bin ziemlich aufgeregt, glaube ich«, erwidere ich, als sie mit zusammengezogenen Augenbrauen auf ihren Bildschirm starrt.

Der Drucker spuckt ein Etikett aus, und sie klebt es auf den Griff oben an meinem Rucksack.

»Ganz knapp unter dem Gewichtslimit«, erklärt sie lächelnd.

»Da hat ja doch jemand seine Hausaufgaben gemacht!« James schiebt mich sanft vom Schalter weg, damit auch Oliver einchecken kann.

Es gibt mir einen kleinen Kick, die Musterschülerin zu sein, obwohl ich in Wahrheit sogar vergessen habe, den Rucksack zu wiegen, und es reines Glück ist, dass ich nicht eine meiner Nieren verticken muss, um zu bezahlen. Bri bejubelt meine unerwartete Begabung und applaudiert sogar kurz, als ich an James vorbeigehe. Ich verneige mich knapp und frage mich, ob sie vielleicht Proficheerleaderin oder einfach nur so gekleidet ist, passend zu ihrem Enthusiasmus.

Nachdem wir alle eingecheckt haben, geht es ins Flughafenpub, und James gibt eine Runde aus. Ich entscheide mich für ein Radler, weil mir acht Uhr morgens zu früh für richtigen Alkohol erscheint, dabei könnte ich eigentlich welchen gebrauchen. Sieht ganz so aus, als wäre ich allein mit dieser Haltung. Mich zieht aber deswegen niemand auf, wahrscheinlich kennen wir uns dafür einfach noch nicht gut genug. Ob es in zwei Wochen so weit sein wird, ist noch völlig offen.

»Auf den Trip eures Lebens!« James hebt sein Pint.

»Cheers!«, sagen wir alle wie aus einem Munde und stoßen miteinander an.

Während wir trinken, wird es still am Tisch. Das Adrenalin, das noch vor wenigen Minuten durch meinen Körper strömte, ist der Müdigkeit gewichen, die mich bei dem Gedanken an das, was mir bevorsteht, erfüllt. Wenn ich mir die hängenden Schultern der anderen so ansehe, geht es ihnen wohl ähnlich. Ich kann nicht fassen, dass ich mit lauter Leuten, die ich nicht kenne, in den Urlaub aufbreche. Eigentlich kann ich mir nicht mal einen Tagesausflug mit einer Horde Fremder vorstellen, geschweige denn zwei Wochen an einem unbekannten Ort, um mich während eines Abenteuers selbst zu finden.

Als meine Eltern mich besuchten, um mir mitzuteilen, dass sie einen Saal angemietet hatten, und wissen wollten, welches Catering und welche Art von Unterhaltungsprogramm mir für meinen Geburtstag so vorschwebe, musste ich mir sofort irgendetwas einfallen lassen. Meinen Geburtstag hatte ich seit Jahren nicht mehr gefeiert, nicht, seit ich ein Teenager war. Wozu auch? Ich behauptete also, ich hätte schon einen Flug gebucht. Als sie mich fragten, ob sie sich anschließen dürften, musste ich mir die Sache mit den Kosten, der Geheimhaltung und der möglichen Wanderung ausdenken. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, als meiner Mutter bei dem Gedanken daran, dass sie meinen großen Tag erneut nicht mit mir verbringen würde, die Tränen in die Augen stiegen. Jahr für Jahr versuchen meine Eltern, mich dazu zu bewegen, meinen Geburtstag zu feiern – und scheitern. Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass sie zu meinem fünfunddreißigsten Geburtstag einfach ernst machen.

Als Dad fragte, ob er die Website des Reiseunternehmens sehen könnte, damit sie immerhin im Geiste mit mir mitreisen konnten, öffnete ich Facebook und zeigte ihnen die Seite von Hidden Holidays.

Mir war eingefallen, dass ich die Werbung bei einem meiner abendlichen Socialmediaspaziergänge entdeckt hatte. Eigentlich wollte ich gar nichts buchen, sondern mich einfach nur vor der Welt verstecken. Dennoch bin ich jetzt hier. Sitze an einem klebrigen Tisch und trinke auf das Wohl dreier Leute, die ich in den kommenden zwei Wochen richtig gut kennenlernen werde, wenn die Broschüre ihr Versprechen hält. Na ja, eigentlich sogar vier Leute, wenn ich James mitzähle. Über die Kante meines Glases beobachte ich, wie er sich über den Tisch hinweg mit Oliver unterhält. Beide sehen zu mir, als hätten sie das Gewicht meines Blickes gespürt, und ich blicke rasch auf mein Radler hinab.

»Dieser Urlaub«, sagt James und dreht sich auf seinem Stuhl um, so dass er sich an den ganzen Tisch wenden kann, »ist die Chance, eure Komfortzone zu verlassen. Über euch selbst hinauszuwachsen. Es ist nicht unbedingt die Gelegenheit, all das zu tun, was ihr schon immer erleben wolltet. Es ist mehr als das. Und weniger.«

Ich kann nicht fassen, dass eine solch junge Person so sensationelle Sätze von sich gibt. James klingt, als hätte er einen Selbsthilferatgeber verschluckt.

»Ich denke«, sagt er und sieht mir direkt in die Augen, »dass es bei dieser Reise hauptsächlich darum geht, sich den eigenen Ängsten zu stellen.«

Stille senkt sich über den Tisch, als wir uns alle ansehen und nicht recht wissen, was wir sagen sollen. Ich schabe mit dem Daumennagel an der Kante des klebrigen Tischs, während Oliver immer wieder ein Bein über das andere schlägt, so dass seine Knie meine berühren.

»Sorry«, murmelt er leise, und ich will gerade sagen, dass es kein Problem ist, als James in schallendes Gelächter ausbricht.

»Leute, ihr müsst echt ein bisschen bessere Laune kriegen, wenn dieser Urlaub auch etwas Spaß machen soll«, sagt er immer noch lachend. »Der schlimmste Teil ist schon geschafft. Seht euch doch an, ihr seid hier, oder nicht?«

Wir nicken kollektiv, und als eine Durchsage ertönt, scheucht James uns alle weg von den Drinks und aus dem Pub hinaus. Ich spüre die Schmetterlinge in meinem Bauch flattern wie vor jedem Flug. Nervöse Aufregung. Ich denke an meinen Blutdruck und versuche, tief ein- und auszuatmen, als wir die Rampe hinaufgehen und das Flugzeug betreten. Da wir weder mit Emirates noch mit British Airways fliegen, haben wir freie Platzwahl. Und ich muss gestehen, dass ich froh bin, einen Sitz neben einer alten Dame zu bekommen, die sofort eine Zeitschrift hervorzieht, sobald sie ihren Gurt geschlossen hat. Pro Tag vertrage ich nur ein gewisses Pensum an neuen Leuten und Gesprächen. Und ich fürchte, ich habe mein Limit bereits erreicht.

3. KAPITEL

Als wir alle aus dem Flughafen herauskommen und James erwartungsvoll ansehen, fühlt es sich an, als würden wir unter eine kalte Dusche treten. Der starke Wind, von dem ich dachte, er würde das Flugzeug bei der Landung nach unten holen, pfeift mir um die Ohren, und ich schlage den Kragen meiner Jacke hoch.

Weit und breit ist nichts zu sehen. Ich dachte eigentlich, Schottland sei hügelig. Aber so weit das Auge reicht, ist da nichts als Grau. Es ist, als wären die Wolken vom Himmel gefallen und hingen jetzt direkt über der gesichtslosen Landschaft, um sie noch weniger einladend zu machen.

»Nun«, sagt James und klatscht enthusiastisch in die Hände, während vier nasse Wanderer ihm ziemlich dicht auf die Pelle rücken, um ihn trotz des heulenden Sturms zu verstehen. »Das ist selbst für Schottland mitten im August ungewöhnlich!«

Er lacht, aber dieses Mal schließt sich nicht einmal Bri an. Unser Unbehagen scheint James allerdings kaltzulassen, und dass muss ich ihm hoch anrechnen. Vielleicht ist an der Sache mit der frischen Luft und der täglichen Bewegung tatsächlich was dran. Ich hieve den Rucksack auf meinen Rücken und folge James, als er uns an einem großen grauen Flughafengebäude vorbei zu einem Parkplatz führt, auf dem nur LKWs und Vans zu stehen scheinen.

Der Regen hat sich von einem leichten Niesel zu einer richtigen Sintflut entwickelt, und die eisigen Tropfen laufen meinen Nacken hinab und rinnen von meiner Nase. Ich kann durch die dicken Socken hindurch meine Füße kaum spüren und weiß nicht genau, ob es an der Kälte liegt oder daran, dass ich die Schnürbänder meiner neuen, steifen Wanderschuhe zu fest zugezogen habe. Um sicherzugehen, dass sie noch da sind, wackele ich mit den Zehen. Es hat keinen Sinn, sich mit jemandem zu unterhalten, da die meisten von uns die Kapuzen übergestülpt und vor dem Gesicht zugezogen haben. Nur Maya scheint den Regen zu genießen. Ihre Haut strahlt geradezu, als sie sich den Schal um Mund und Nase wickelt.

»Ich hoffe, ihr wart alle noch mal auf dem Klo!«, sagt James, als er die seitliche Tür des Mercedes-Vans mit den abgedunkelten Scheiben öffnet. »Denn als Nächstes steht eine dreistündige Fahrt an.«

Missmutiges Murmeln ertönt, dem ich mich gern anschließe. Keine Ahnung, ob ich in meinem durchnässten Zustand drei Stunden in einem kalten, klammen Van kauern möchte. Bis jetzt hat die Reise jedenfalls noch nicht zu meinem Wohlbefinden beigetragen, sondern mich höchstens daran erinnert, wie gut ich es zu Hause habe.

Leise lache ich in mich hinein. Vielleicht ist genau das der Punkt.

Aber als ich in den Van steige, muss ich zugeben, dass mein Urteil vielleicht etwas voreilig war. James nimmt mir den Rucksack ab und bietet mir seinen Arm an, damit ich mich abstützen kann, und aus dem Van schlägt mir eine heimelige Wärme entgegen. Ich widerstehe dem Drang, James’ Armmuskeln zu drücken. Tja, es ist eine Weile her, seit mein Langzeitpartner beschlossen hat, nach Australien zu ziehen, um ein wenig Raum zu haben – als wäre das andere Ende Londons nicht weit genug weg –, aber egal, wie stramm James’ Oberarme auch sind, er ist nun mal eindeutig zu jung für mich.

Es gibt vier luxuriös aussehende Ledersitze. Maya sitzt hinten und sieht mich eindringlich an, als ich einsteige. Bri hat sich auf der anderen Seite des Gangs niedergelassen und kramt schon wieder in ihrer Tasche. Ich werfe meinen Rucksack zu den anderen nach hinten und nehme dann mit einem Seufzer der Erleichterung vor Bri Platz. Endlich kann ich die Beine ausstrecken! Nachdem ich den ganzen Flug über eingepfercht war, ist das eine echte Wohltat. Ist eben der Nachteil, wenn man lange Beine hat und gern reist.

Nachdem Oliver Platz genommen hat, ist der Minibus auch schon voll. Maya dreht sich zu ihm um, um Hi zu sagen, aber während er es sich bequem macht, meidet er jeden Augenkontakt. Sein Kiefer ist so angespannt, dass sein Profil wie auf einem Superman-Poster aussieht, zumal sich seine Locken wie bei Henry Cavill um seine Ohren kräuseln. Er sieht gut aus, auf eine eher konventionelle Art. Um ihn besser mustern zu können, lege ich den Kopf schief. Mein Puls beschleunigt sich, mein Bauch zieht sich zusammen. Okay, er sieht sogar sehr gut aus. James schiebt die Tür zu. Mir fällt wieder ein, weshalb ich hier bin, und ich höre auf zu starren.

Da wären wir also wieder, wir vier. Auf dem Bildschirm hinter dem Fahrersitz läuft ein Sender, der aussieht wie MTV, falls es das überhaupt noch gibt. Und sobald die Tür ins Schloss gefallen ist, wird die Tönung in den Scheiben schwächer. Dieser Bus ist moderner als das Flugzeug!

»Immer noch Schottland?«, frage ich und drehe mich lächelnd zu Bri um.

»Sieht ganz so aus.« Zwischen ein paar Fotos vom Minibus und Selfies mit Peace-Zeichen und herausgestreckter Zunge erwidert sie mein Lächeln.

Als James auf den Fahrersitz klettert und seine Tür schließt, wird es im Bus leiser. Er beugt sich über seine Lehne zu uns.

»Alles klar, liebe Gang«, meint er. »Ich hoffe, ihr habt es bequem in unserer Luxuskarre. Wie gesagt, unser erstes Ziel ist drei Stunden entfernt. Mehr wird noch nicht verraten! Ich verspreche euch auch, dass es keine schlimmen Kennenlernspielchen auf dieser Reise geben wird. Aber in diesen drei Stunden können wir dennoch ein bisschen mehr übereinander erfahren, nicht wahr?«

»Wenn das mal nicht auf ein Kennenlernspiel hinausläuft!«, kichert Bri.

»Solange ich das Wort Kennenlernspielchen nicht verwende, ist es auch keins«, erwidert James lachend. »Ich hätte einfach gern eine kleine Vorstellung von jedem von euch, um die Zeit rumzukriegen. Noch mal die Namen, woher ihr kommt, irgendetwas, das ihr gern über euch erzählen würdet. Aber ich würde euch bitten, nicht zu sehr ins Detail zu gehen, was euren Alltag betrifft, eure Vergangenheit, eure Geheimnisse, diese Dinge eben. Noch nicht. Auf dieser Reise wollen wir uns aufs Hier und Jetzt konzentrieren, und ich möchte gern dafür plädieren, keine vorgefassten Meinungen mitzubringen. Es ist also euch überlassen, wie viel ihr von euch preisgeben wollt. Das hier ist die Chance, mit euch selbst und den anderen in Kontakt zu treten – ohne den Ballast, den ihr ansonsten mit euch herumschleppt. Wenn die Reise etwas weiter fortgeschritten ist und wir einander als Menschen kennen und nicht als Ansammlung von Fakten, dann können wir uns mehr öffnen.«

Im Bus ist es jetzt so still, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Aber innerlich jubele ich, denn wenn mich niemand danach fragen darf, sind meine Geheimnisse sicher. Niemand muss wissen, weshalb ich wirklich vor meinem Geburtstag fliehe.

»Alles klar«, sagte James, der unsere Beklommenheit entweder nicht bemerkt hat oder ignoriert. »Dann wollen wir mal. Oh, und das mit dem Klo war natürlich nur ein Gag. Wenn jemand von euch mal für kleine Kegelrobben muss, dann gebt bitte einfach Bescheid. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber nach dem ganzen Kaffee fühlt mein Verdauungstrakt sich an wie eine Beatbox.«

Er dreht sich wieder nach vorn und startet den Motor mit einem Knopfdruck.

»Ich habe mich schon gefragt, woher James diese krasse Energie hat«, sagt Bri über das Rumpeln des Dieselmotors hinweg und streckt ihren Kopf durch die Lücke zwischen meinem Sitz und dem Fenster. »Ich dachte eigentlich, bei so einem Wellnesstrip müsste man auf Koffein verzichten und nur organische Yakmilch und irgendwelches Grünzeug zu sich nehmen. Allerdings würde ich auch nichts ablehnen, was James mir anbietet. Wollte ich nur gesagt haben.«

»Wäre ich fünf Jahre jünger, würde ich dir voll und ganz zustimmen«, erwidere ich lachend. Bri mustert mein Gesicht gründlich und nickt langsam. »Außerdem geht es mir in diesen zwei Wochen nicht ums Flirten. Nein, ich brauche nur ein bisschen wohlverdiente Me-Time in Schottlands berauschender Kulisse.«

»Ganz genau.« Bri grinst noch mehr, so dass ihre milchweißen Wangen sich leicht röten, während wir beide die nicht vorhandene Aussicht genießen.

Als die Fahrt fortschreitet, verschwinden die Gebäude um uns herum langsam, und wir sind umgeben von Gestrüpp und violett blühendem Heidekraut. Von Hügeln oder Bergen noch immer keine Spur. Ich entdecke ein Schild, das die schottischen Highlands anpreist, und ich stupse Bri am Knie an.

»Jepp?«, sagt Bri und schiebt ihre Unterlippe nach vorn. »Das ist zweifellos immer noch Schottland.«

Wenn es draußen nicht so grau wäre und der unablässige Regen nicht den Großteil der Scheiben mit einem feinen Spray bedecken würde, wäre es eigentlich ganz hübsch. Auf eine mies gelaunte, irgendwie poetische Art, zu der Enya gut als Hintergrundmusik passen würde.

»Also«, ruft James uns zu. »Wer will anfangen?«

Tödliche Stille schlägt ihm entgegen.

»Oliver«, sagt er. »Du warst bisher so ruhig. Hast du Lust, von dir zu erzählen?«

Ich werfe erneut einen Blick auf den Mann, der auf der anderen Seite des Gangs sitzt. In meiner Brust steigt Hitze auf, so dass ich auf dem Sitz hin und her zu rutschen beginne. Oliver starrt aus dem Fenster; sein Haar sieht aus, als wäre der letzte Friseurbesuch schon ein Weilchen her, was nicht zu seiner neu aussehenden Kleidung und den Schuhen passt. Vielleicht verrät seine Urlaubsgarderobe genauso viel über ihn wie meine über mich. Er wendet den Blick von der Aussicht ab und erwidert den von James im Rückspiegel. Sein Kiefer ist jetzt so angespannt, dass ich fast erstaunt bin, dass ich sein Malmen über das Rumpeln der Reifen auf dem Asphalt hinweg nicht hören kann.

»Nein danke«, sagt er grimmig und schaut wieder aus dem Fenster. Wow, war das unhöflich. Gut aussehend hin oder her, muss er sich so danebenbenehmen?

»Ich fange an«, meldet Bri sich hinter mir zu Wort, zieht sich an meiner Kopfstütze nach oben und winkt James zu.

Super, dass sie einspringt und so eine unangenehme Situation verhindert. Ich drehe mich zu ihr, während sie sich in den Gang lehnt, um den Bus besser im Blick zu haben.

»Also, ich bin Brianna, nennt mich gern Bri, wie den Käse. Ich komme aus Tenby bei Wales und bin Influencerin«, sagt sie und sieht mich an. »Für euch Millenials, die dafür vielleicht etwas zu alt sind: Das bedeutet, dass ich jede Menge Gratisprodukte bekomme, über die ich dann Stories auf Instagram poste, für die ich wiederum bezahlt werde.«

James lacht, und ich ziehe eine Augenbraue nach oben. Dann lehne ich den Kopf an die Scheibe, damit ich die anderen besser sehen kann.

»Also«, fährt Bri fort, »müsst ihr entschuldigen, wenn ich während des Trips dauernd Fotos schieße – meine Follower lechzen nach Abenteuern. Allerdings, Hashtag, wer möchte das wohl sehen?«

Sie deutet aus dem Fenster auf den Nieselregen, und wir müssen alle lachen.

»Du hast also für den Urlaub nicht bezahlt?«, schnaubt Maya leise.

»Doch, ich wollte mich damit für eine große Leistung belohnen«, sagt Bri achselzuckend. »Aber normalerweise vermeide ich es, Geld für Dinge auszugeben, wenn es irgendwie geht. Essen, Alkohol, Klamotten, Kosmetikprodukte. Jemand hat mir mal eine Hundehütte geschickt, dabei habe ich nicht mal einen Hund.«

»Ich wünschte, ich würde auch Gratisprodukte bekommen«, sage ich und ziehe ein Bein unter mich. »Ich gebe ein Vermögen für meinen Moisturizer aus, damit ich aussehe wie in meinen Zwanzigern.«

Bri mustert mich eingehend.

»Ich würde mir da keine Mühe geben«, sagt sie, ohne unfreundlich zu klingen. Meint sie damit, dass ich es nicht brauche oder dass es sowieso schon zu spät ist? »Ich mache mal ein Foto von diesem schicken Minibus, wenn niemand was dagegen hat. Sobald wir aussteigen, musst du aber auch mal auf einem Foto auftauchen, James. Irgendwie muss ich die Sache ja verkaufen.«

»Danke für das Kompliment, Bri«, sagt James und zwinkert ihr im Rückspiegel zu. »Wenn es eins war.«

Ihr kleiner Flirt hebt die Stimmung im Bus. Irgendwie nehmen wir indirekt am Leben dieser attraktiven Menschen teil, deren putzmuntere Hormone durch die Luft schweben wie Sauerstoff.

James räuspert sich.

»Also, wer ist als Nächstes dran?«, sagt er, woraufhin ich mich sofort versteife.

»Okay, okay«, gebe ich dann doch nach. »Ich bin Fliss und stamme ursprünglich aus Kent, wohne jetzt aber in Camberwell. Ich bin hier, um mich vor meinem großen Geburtstag diese Woche zu drücken.«

»Vierzig?«, fragt Bri, und ich greife hinter mich, um ihrem Bein einen Klaps zu verpassen. Sie lacht.

»Halt die Klappe«, sage ich. »Ich werde fünfunddreißig.«

»Umarme deinen Geburtstag, Fliss«, sagt James. »Jedes neue Lebensjahr steckt voll toller Erfahrungen.«

Beinahe hätte ich die Augen verdreht.

»Jetzt sag nicht, dass du nicht auch eine Heidenangst hättest, wenn du fünfunddreißig würdest und das Gefühl hättest, dass das Leben an dir vorbeizieht. Und bis zur Vierzig ist es dann nur noch eine einzige Schlitterpartie«, sage ich zu James’ Spiegelbild.

»Gib mir noch zehn Jahre, dann kann ich dir die Frage beantworten«, meint er mit einem Augenzwinkern.

Ich bin heilfroh, dass ich das Wort an Maya übergeben kann, die schon ihre Hand hebt. So muss ich nicht darüber nachdenken, warum ich diese Wanderung zu meinem Geburtstag allein mache, anstatt ihn mit meinen Liebsten auf einer Riesenparty zu Hause zu verbringen. Es sind nur zwei Wochen. Wenn ich mir einen Tag nach dem anderen vornehme, dann schaffe ich das.

4. KAPITEL

»Maya«, sagt James, den Blick wieder auf die Straße gerichtet. »Du bist dran. Wer bist du, und warum hast du dich für diese Reise entschieden?«

»Nein, ich bin nicht an der Reihe«, sagt Maya und schüttelt den Kopf. »Aber ich muss furchtbar dringend aufs Klo. Können wir kurz anhalten?«

James lacht, und mit einem Blick auf mein Telefon stelle ich überrascht fest, dass wir schon über eine Stunde im Auto sitzen. Bei dem an die Scheiben trommelnden Regen und dem Gespräch, das trotz Olivers unbeholfenen Einstiegs so angenehm vor sich hinplätschert, habe ich gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergeht. James kann so etwas offenbar gut. Ich sehe hinaus und stelle fest, dass die Landschaft jetzt etwas hügeliger ist als zu Beginn unserer Fahrt. Es gibt sogar ein paar richtige Berge. An der Straße stehen Nadelbäume Spalier, als würden sie uns wie Wachleute auf dem rissigen Asphalt beschützen. Ich spüre eine Aufregung im Bauch, die eigentlich in dem Moment verschwunden war, in dem wir erfahren haben, dass die Reise nach Schottland geht. Aber hier ist es wirklich richtig schön, trotz Nieselregen.

»Okay«, sagt James. »Du hast zwei Möglichkeiten. Ich kann rechts ranfahren, und wir anderen genießen die Aussicht auf der anderen Seite des Busses. In circa einer halben Stunde gäbe es aber auch eine Raststätte.«

»Bitte hier«, sagt Maya, die schon an der Kante ihres Sitzes hängt. »Meine Mooncup drückt auf meine Blase, und ich kann nicht mehr warten, glaube ich.«

Sie lacht und klingt dabei wie eine Kettenraucherin, dabei sieht man ihrer faltenfreien Haut und ihrem schönen Glow an, dass sie bestimmt keine Zigaretten anrührt.

»Na ja, ich glaube, das erzählt schon einiges über mich. Ich bin hier, um ein Abenteuer zu erleben, und außerdem ziemlich offen.«

»Alles klar«, erwidert James, den Mayas Offenheit in Sachen Pinkelpausen und Hygieneartikel nicht aus der Ruhe bringt.

Bri allerdings quietscht hinter mir auf. »Eine Mooncup? Ach du Scheiße!«

Ich weiß nicht genau, ob Bri damit die Mooncup meint oder die Tatsache, dass Maya gerade einem Van voller Fremder ein intimes Detail anvertraut hat. Mir wird klar, wie nah wir uns in diesen zwei Wochen kommen werden, ob es uns gefällt oder nicht. Ich kriege es kaum hin, mit meinen besten Freundinnen über meine Periode zu sprechen, und auf die Toilette kann ich nur zu Hause gehen … allein.

Die fröhliche Aufregung verschwindet, und ich denke nur noch: Mist, was habe ich mir da eingebrockt?!

Maya springt aus dem Bus und flitzt hinter einen Baum. Noch ehe sie den Stamm umrundet hat, hat sie ihre Unterhose schon heruntergezogen. Ich sehe schnell in die andere Richtung, um ihre Privatsphäre nicht zu stören, wobei mein Blick auf Olivers trifft. Als er seinen Blick resolut auf das Tal richtet, das vor uns liegt, lässt sich an seinem Gesicht nicht die geringste Regung ablesen. Seine Ohrspitzen sind gerötet. Gut, dass ich nicht die Einzige bin, die sich von Körperfunktionen aus der Fassung bringen lässt.

Als sie zurück zum Auto stapft, zieht Maya ihren Rock zurecht, so dass ich ihre wohlgeformten, gebräunten Beine und ihr Seidenhöschen sehen kann – genau wie der Rest der Gang. Oliver macht ein finsteres Gesicht, als Maya ihm einen Luftkuss zupustet und über meine Beine zurück auf ihren Sitz klettert.

»Danke, Leute!«, sagt sie und öffnet ihren Dutt, so dass sich ihre glänzenden, braunen Haare in sanften Locken über ihren Rücken ergießen. »Weiter geht’s!«

James lenkt den Minibus zurück auf die leere Straße, und wir plaudern leise weiter.

»Was denkst du, wo wir schlafen werden?«, frage ich Bri. »Auf der Website stand ja was von wegen Abenteuer und Schlafen unter freiem Himmel. Aber bei dem Wetter da draußen bin ich mir nicht sicher.«

»Oh, Zelte, ganz bestimmt Zelte«, erwidert sie und zieht eine Packung Malteser hervor, die sie vorher in ihrer Sitztasche deponiert haben muss. Sie bietet mir die aufgerissene Tüte an, und ich greife dankbar zu. »Ich hoffe aber schwer, dass es wenigstens Tipis oder Jurten sind, weißt du? Glamping statt Camping. Ist doch gerade total in, Camping für Weicheier sozusagen. In Sachen Outdoor bin ich definitiv eins. Ein Typ wollte mir mal eine Gratisnacht in seinem Airbnb-Wohnwagen andrehen. Aber ich habe abgelehnt, weil es ein alter, heruntergekommener Wohnwagen in seinem Hinterhof war und das Bad sich in seinem Haus befand. Ich wollte echt nicht mitten in der Nacht rüberschleichen und dann rausfinden, dass er ein Axtmörder oder Kidnapper mit einem Fetisch für Gummi und Schläuche ist.«

»Na, hätte doch eine lustige Nacht werden können«, meldet Maya sich laut von der anderen Seite des Ganges zu Wort.

Sie hat die Schuhe ausgezogen und sitzt jetzt im Schneidersitz da, so dass sich der Stoff ihres Rocks über ihre Beine breitet. Bri lehnt sich zu ihr, um ihr ebenfalls Schokokugeln anzubieten.

»Stimmt«, sagt Bri. »Ist eine Weile her, dass es bei mir zur Sache ging, da wäre das genau das Richtige gewesen.«

»Mein Ex war megaspießig«, sagt Maya in scharfem Tonfall. »S&M konnte man mit ihm komplett vergessen, schon als ich ihm mal einen Dreier vorgeschlagen habe, hat er mich angeschaut, als hätte ich einen Exorzismus an einer Ziege durchführen wollen.«

Bri stimmt in ihr Gelächter mit ein.

»Ist er deswegen jetzt dein Ex?« Sie prusten noch lauter.

Mir aber geht es wie Mayas ehemaligem Partner: Die Vorstellung eines Dreier erfüllte mich schon mit Angst und Schrecken, als ich noch in der Blüte meiner Zwanziger war. Warum sollte ich noch einen weiteren Körper hinzufügen wollen, wenn es mir schon vollkommen genügt, dass ein anderer Mensch mich nackt sieht? Außerdem würde es mich ziemlich eifersüchtig machen, zu sehen, wie mein Freund Spaß mit einer anderen nackten Frau hat. Nee. Wirklich nicht. Nicht mit mir.

Ich sage kein Wort und richte meinen Blick fest auf Olivers rote Ohrspitzen, bis das Gespräch wieder abflaut und die Stille nur vom Knacken der Malteser oder Bris Kichern unterbrochen wird, die durch ihr Smartphone scrollt.

Die Hügel rücken jetzt dichter an die Straße heran, immer noch bedeckt von Moos und Gestrüpp. Links taucht ein Gewässer auf, das groß genug ist, um ein waschechter Loch, also ein See zu sein. Ich blicke auf das Wasser, dunkel und flach, von kleinen weißen Schaumkronen bedeckt, die sich weiß an der Oberfläche kräuseln.

»Das, liebe Freunde«, meldet sich James vom Fahrersitz, »ist der Atlantische Ozean. Und das bedeutet, dass wir nur noch eine halbe Stunde von unserem ersten Ziel entfernt sind.«

Aufgeregt verrenken wir uns die Hälse. Wir müssen einmal quer durchs Land gefahren sein. Und ich vermute mal, meinem Geographieabschluss sei Dank, dass wir uns an der Westküste der Schottischen Highlands befinden.

Die Küste wird zerklüfteter; wo die Straße etwas weiter von ihr zurückweicht, durchsetzen weiße Steine den Sand. Zwischendurch frage ich mich, ob wir noch im Wasser landen werden, wenn das Meer beinahe über den Asphalt schwappt und die Scheiben mit leichtem Spray überzieht. Aber mein Vertrauen in James als Tourguide hält mich davon ab, auf der sicheren Seite des Vans auf Olivers Schoß zu springen.

Das Meer macht mir Angst. Von seiner Kraft und Unvorhersehbarkeit kriege ich jedes Mal Gänsehaut, wenn ich in seiner Nähe bin.

Was, wenn irgendeine durchgeknallte Welle mich mitreißt? Wenn ich in die kabbelige See getrieben werde und nicht zurück ans Ufer komme? Wenn ich hinab in die dunkle, trübe Tiefe des Meeres gezogen werde? Was wenn? Was wenn?

Das ist nicht gerade das Gefühl von Freude, das ich gern mit dem warmen, türkisfarbenen Mittelmeer oder der salzigen Ägäis verbinden würde. Aber der Ozean zu meiner Linken ist genau das, was ich mir vorstelle, wenn ich von den Wellen erfasst werde und versinke.

Als die wohlvertraute Panik in mir aufsteigt, konzentriere ich mich auf meine Hände; auf die bis zum Nagelbett abgekauten Nägel, das feine Haar auf der Rückseite meiner Handgelenke, die blauen Venen, die auf meine Finger zulaufen und sie mit Leben und Bewegung füllen. Leise zähle ich meine Atemzüge mit. Ein und aus, ein und aus, fülle ich meine Lungen mit Luft statt mit Wasser. Die Gespräche um mich herum verschmelzen zu widerhallenden Stimmen, die mich nicht erreichen. Doch schließlich legt sich das beklemmende Gefühl zum Glück. Wieder einmal retten mich die eingeübten Techniken.

Normalerweise lasse ich mich vom Meer nicht so aus der Ruhe bringen, es flößt mir eher Respekt ein als Angst. Da bekommt doch ein Selfcare-Trip, bei dem man Badekleidung braucht, eine ganz neue Bedeutung. Keine Spa-Behandlungen und Whirlpools, sondern große, offene Gewässer und der Atlantik.

»Ladies und Gentlemen«, reißt James’ Stimme mich aus meinen Gedanken. »Endlich kann ich euch so richtig zu eurem Hidden Holiday willkommen heißen.«

Er biegt von der Autobahn auf die gekieste Einfahrt eines großen, stattlichen Gebäudes ab, das aus dunklem Granit besteht. Es ist riesig. Und ein Schild, das beinahe so groß wie mein Grinsen ist, stellt das Gebäude als Glasmakirk Hotel und Spa vor.

5. KAPITEL

Das Glasmakirk Hotel und Spa sieht aus, als wäre es Downton Abbey entsprungen. Es hat unzählige Türmchen. Die grauen Granitblöcke passen zusammen wie bei einem Minecraft-Schloss, mit Flügeln, die vom Hauptgebäude ausgehen und von denen zipfelmützenartige, fahnenbestückte Spitzen aufragen, die Motorradfahrer und andere zahlende Gäste willkommen heißen.

Wir taumeln aus dem Minibus, froh, uns die Beine vertreten zu können, und der Regen scheint niemanden mehr zu stören. Ich zumindest spüre ihn gar nicht mehr, obwohl es noch ein paar Grad kälter geworden ist. Zum Glück trage ich mein Extra-Fleece. James berührt kurz meine Schulter, als er an mir vorbeigeht, und marschiert auf die Tür zu, die von einem verzierten Steinbogen verborgen wird. Als er klopft, erwarte ich ein lautes »Bumm« und bin ein wenig enttäuscht, als die Tür dank moderner Technik einfach aufgleitet.

»Hier entlang, Leute!«, ruft er.

Bri holt mich ein und wippt in ihren Turnschuhen auf und ab.

»Ist das nicht toll?«, staunt sie atemlos. »Das ist schon eher mein Geschmack!«

»Es sieht nicht schlecht aus«, stimme ich ihr zu, weil ich ihr nichts von meinem leisen Unbehagen sagen will.

Es ist ja wirklich nicht schlecht. Es ist sogar der schönste Ort, den ich je gesehen habe, mit Ausblick auf den Atlantik auf der einen und auf einen mit violett blühendem Heidekraut bedeckten Hügel auf der anderen Seite. Es ist ein richtiges Schloss. Würde mich nicht überraschen, wenn Rapunzel ihren Kopf aus dem höchsten Türmchen strecken würde. Der schicken Uniform des Personals nach zu urteilen, das uns, umwabert von leichtem Entspannungsduft, in der geöffneten Tür begrüßt, ist dieser Ort definitiv luxuriös und das Geld wert, das ich für Hidden Holidays ausgegeben habe. Wie sollte ich besser mit Hilfe der Natur mit mir selbst in Verbindung treten als in einem Schloss mit Spa-Bereich? Vielleicht wickeln sie uns in Seegras, das sie im Garten aufgesammelt haben, und lassen die hiesigen Seeadler die trockenen Hautstückchen zwischen unseren Zehen wegpicken. Ob es sich wohl um eine Art Gesundheits-Retreat handelt, in dem wir keine feste Nahrung zu uns nehmen dürfen? Zum Glück habe ich auf der langen Fahrt noch eine Handvoll Malteser gegessen!

James steht an der Rezeption und lehnt sich über den großen Holztresen, der glatt als Kirchenaltar durchgehen könnte. Auf beiden Seiten führen Steintreppen bogenförmig nach oben und treffen wahrscheinlich da aufeinander, wo sich die Zimmer befinden. Ein kleines, unauffälliges Schild weist den Weg in den Spa-Bereich, dessen Eingangstür hinter einem großen Feigenblatt verborgen ist. Wenn ich auf der Suche nach einem Entspannungsurlaub gewesen wäre, bei dem ich zwei Wochen relaxen kann und verwöhnt werde, dann würde dieser Ort all meine Erwartungen erfüllen. Aber irgendetwas fühlt sich nicht richtig an.

Mir wird ein Schlüssel mit einem großen Lederanhänger überreicht. Zimmer dreiunddreißig. Auf einen Wink des Rezeptionisten hin gehen wir alle so leichtfüßig in den ersten Stock hinauf, wie es uns in unseren Thermoklamotten möglich ist. Sprich: Wir poltern die Stufen hinauf und rutschen auf den dünn gewebten Teppichen herum, die oben ausgelegt sind. Maya hat sich von der Gruppe gelöst und dreht sich immer wieder zu uns um, um zu sehen, ob wir noch da sind. Bri hüpft den dunklen Flur entlang, und ich mache ein paar schnelle kleine Schritte, um Oliver einzuholen. Von nahem ist er größer, als ich dachte, und auch breiter gebaut. Seine Haltung wiederum verrät, dass er gern weniger Raum einnehmen würde.

»Welches Zimmer hast du?«, frage ich ihn, weil mein Interesse an ihm wächst und ich gern noch ein Wort mit ihm wechseln will, ehe wir in unseren Zimmern verschwinden.

Oliver dreht sich zu mir und linst aus seinen grüblerischen dunkelbraunen Augen hinüber zu den zwei anderen Frauen.

»Vierunddreißig«, sagt er.

»Uuuh, wir sind Nachbarn«, versuche ich, die Stimmung aufzulockern. Ich scheitere. Oliver nickt mit versteinertem Gesicht und sucht dann das Weite.

Super unhöflich!

Überall ist so viel dunkles Holz, dass die zahlreichen Kronleuchter in den Korridoren eingeschaltet sind, obwohl es noch Tag ist. Wahrscheinlich, damit wir nicht über eine Ritterrüstung stolpern oder die Blicke versäumen, die die ausgestopften Hirsche uns aus ihren Knopfaugen zuwerfen. James eilt an uns vorbei, und wir folgen ihm durch eine weitere dicke Holztür in den nächsten Flur.

»So, das hier ist unser Flügel«, sagt James und bleibt an der ersten Tür stehen, an der eine eiserne Dreißig befestigt ist. »Das hier ist meins, eure Zimmer befinden sich auch alle auf diesem Flur. Also, sucht einfach das Zimmer, das zu eurem Schlüssel passt. Komisch, warum sage ich das, ihr seid ja alle erwachsen und könnt zählen, nicht wahr? Egal. Also, rein mit euch, macht euch frisch. Zwei Zimmer teilen sich je ein Bad, aber keine Sorge, ihr könnt drin beide Türen absperren. Es gibt nachts also keine seltsamen Begegnungen.«

Er zwinkert Bri zu, die in sich hineinkichert. Oliver schüttelt den Kopf und marschiert den Flur hinunter.

»Schaut euch gern überall um. Im Erdgeschoss gibt es irgendwo einen Pool und eine Bibliothek. Das Gespenst von Glasmakirk zeigt sich bestimmt nur, wenn es dunkel ist, ihr seid also erst mal in Sicherheit. Lasst uns bitte um zwanzig Uhr im Restaurant treffen, da habe ich einen Tisch für uns reserviert. Schafsmagen mit Haggis steht natürlich auch auf der Speisekarte.« Mit diesen Worten verschwindet er in sein Zimmer.

Bris Raum liegt daneben, und das Lächeln, mit dem sie durch die Tür geht, ist richtig ansteckend. Das tut gut, denn neben mir stehen Maya und Oliver, die nicht gerade sonnig wirken – weder Olivers eisiges Schweigen noch Mayas Seitenblicke. Aber vielleicht sind wir auch alle etwas müde und verunsichert.

In meinem Zimmer werfe ich den Rucksack auf das Himmelbett und trete ans Fenster, um mir die Aussicht anzusehen. Der graue Atlantik erstreckt sich vor mir und geht scheinbar nahtlos in den grau verhangenen Himmel über. Das Zimmer sieht aus wie erwartet: Dunkles Holz, Verzierungen, aufwendige Gestaltung, aber es ist dennoch bequem und gemütlich. Auf dem Bett liegt eine schwere rote