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Das herzerwärmende Kinderbuchdebüt von Erfolgsautorin Julie Murphy (»Dumplin'«) mit einer ganz besonderen Heldin zum Liebhaben: selbstsicher, witzig und total unperfekt Olivia DiMarco hat es nicht leicht: Erst lassen sich ihre Eltern scheiden und ziehen in fast identische Häuser in derselben Straße, dann blamiert sie sich auf einer Geburtstagsfeier bis auf die Knochen, und jetzt soll sie auch noch die Post der stadtbekannten Ratgeberkolumnistin Miss Flora Mae verwalten. Als ihr dabei ausgerechnet ein Brief ihrer ehemals besten Freundin Kira in die Hände fällt, trifft sie eine Entscheidung, die alles auf den Kopf stellt. Denn die Sache mit der Freundschaft ist gar nicht so einfach …
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Seitenzahl: 302
Julie Murphy
Liebe Olivia, wie buchstabiert man Freundschaft?
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Köbele
FISCHER E-Books
Mit Vignetten von Constanze Guhr
Für Vivienne und Aurelia, meine ganz persönlichen zwei Süßen
»Sometimes, what you’re looking for is already there.«
Aretha Franklin
Ich habe meine Ersparnisse schon dreimal durchgezählt: all das Geld, das ich zum Geburtstag bekommen und zurückgelegt habe. Wenn das so weitergeht, werde ich es mir nie leisten können, mich klonen zu lassen. Da hilft es auch nicht gerade, dass sich das Klonen von Menschen noch nicht so recht durchgesetzt hat. Andernfalls hätte mich meine Mom wohl längst zum nächsten Labor geschleift und eine identische Kopie von mir anfertigen lassen. Eine für sie. Eine für Dad. Zack, bumm, Problem gelöst.
Weil es bis auf weiteres also nur eine Livi geben kann, haben meine Eltern sich für die nächstbeste Lösung entschieden, mit ihrer Scheidung umzugehen. Und deshalb haben wir jetzt zwei Häuser. Beide stehen in derselben Straße und sehen einander so ähnlich, wie es zwei verschiedene Häuser eben können. Gleiche Farbe, gleiche Teppiche und sogar die gleichen Möbel. Mom behält das Original, und Dad bekommt die Kopie, was nur logisch ist, weil das alte Haus früher Nana – Moms Mom – gehört hat, bevor sie gestorben ist.
Ich habe lange darüber nachgedacht, welche von meinen Sachen ich mit zu Dad nehmen soll, aber ich kann mir Dinge am besten vorstellen, wenn ich sie vor mir sehe. »Visuelles Lernen« nennt Mrs. Young das. Daher haben Oscar Rivera, mein bester (und einziger) Freund, und ich uns eine Rolle von Dads altem Klebeband geschnappt und mein Zimmer in zwei Hälften aufgeteilt. Der blaue Strich erinnert mich unangenehm an die Linie in der Mitte der Sporthalle, wo Coach Jeffers uns immer Völkerball spielen lässt, was, wenn ihr mich fragt, noch grausamer ist als das Seilklettern, mit dem er uns letzten Herbst gequält hat. Völkerball bedeutet: Erst gibt es einen gnadenlosen Beliebtheitswettbewerb, wer in wessen Team gewählt wird, und dann darf man sich bis zum Ende des Spiels mit Gummibällen bombardieren lassen. Hoffentlich wird mein Umzug nicht ganz so traumatisch.
»Was wohl deine Mom sagen wird, wenn sie nach Hause kommt und dein Zimmer so sieht?«, fragt Oscar. Er hat sein glänzendes schwarzes Haar zu einer perfekten Tolle hochgezwirbelt und dabei Unmengen von dem Zeug benutzt, das er neulich in der Drogerie entdeckt hat. Es nennt sich Pomade, wird in einem großen Glastiegel verkauft und klebt höllisch. Oscar schwört darauf.
Schulterzuckend nehme ich das Ergebnis unserer Arbeit in Augenschein. Mein Zimmer sieht aus, als wäre jemand mit einem riesigen Radiergummi reinspaziert und hätte eine Hälfte wegradiert, während in der anderen weiter das gewohnte geordnete Chaos herrscht: ungemachtes Bett, eine Sammlung nicht zueinander passender Socken darunter und stapelweise alte Arbeitsblätter und Zeitungsausschnitte auf dem Nachttisch. »Egal, was sie sagt, ich werde es nicht mitkriegen. Heute ist Dad-Abend.«
Da die Woche sieben Tage hat, wechseln meine Eltern sich damit ab, wer mich drei Tage bekommt und wer vier. Mom zufolge ist es »zwingend notwendig«, dass keiner von ihnen als der »dominante Elternteil« wahrgenommen wird. Wenn ihr mich fragt, muss man sich bloß angucken, wer von beiden die Regeln macht, um zu wissen, wer hier das Kommando hat. Falls ihr auf Mom getippt habt – ding, ding, ding! –, habt ihr richtig geraten.
Meine Bücher habe ich alphabethisch aufgeteilt. Moms Haus kriegt A bis M, der Rest wandert zu Dad. Bei all meinen anderen Besitztümern ging die Zuordnung sehr viel langsamer und war schnarchlangweilig. Währenddessen hat Oscar mich andauernd daran erinnert, dass es nicht schlimm ist, wenn ich was vergesse. Immerhin wohnt Dad nur zwei Häuser weiter, auf der anderen Seite von Miss Floras imposantem zweistöckigen Haus.
»Wenigstens hast du deine Bettwäsche nicht in zwei Hälften geschnitten«, sagt er seufzend und bückt sich nach einer Kiste mit der Aufschrift LIVIS SCHREIBTISCHKRAM auf der Seite.
»Aus den Knien heben!«, mahne ich. Das ruft Mr. McMullan seinen Angestellten bei Love’s Haushaltswaren immer zu.
»Ich bin nicht für körperliche Arbeit geschaffen«, mosert Oscar, während er die Kiste zur Tür trägt. »Hast du alles?«
»Jepp. Wir sehen uns drüben.«
Ich gehe in die Hocke und verschließe die Klappen des letzten Umzugskartons sorgfältig mit Klebeband. Beim Aufstehen gebe ich mir alle Mühe, den Karton aus den Knien zu heben, auch wenn ich keine Ahnung habe, was das eigentlich bedeuten soll. Warum habe ich das Ding bloß so vollgepackt?
Gerade, als ich mich aufrichte, kommt ein Knurren und Miauen aus der Box. Sie vibriert förmlich in meinen Händen.
»Heilige Makkaroni!«, entfährt es mir, und ich lasse die Kiste fallen. Darauf folgt ein weiteres, leiseres Miauen. »Oh, Cheese! Es tut mir so leid.« Ich reiße das Klebeband ab. »Cheese, bitte verzeih mir, Kumpel.«
Cheese ist mein Kater. Er ist orange getigert und wiegt locker sieben Kilo. Kein Wunder, dass der Karton so schwer war! Cheese springt aus der Kiste, in die ich das restliche Zeug von meinem Schreibtisch gestopft habe, und stolziert aus meinem Zimmer, wobei er mit dem Schwanz gegen den Türrahmen schlägt.
»Cheese!«, rufe ich ihm nach. »Ich hab nicht aufgepasst. Es tut mir leid.« Was soll ich sagen? Der Kater kann verdammt nachtragend sein. Das muss er von seinen Besitzern haben.
Ich tippe mir mit dem Zeigefinger an den Kopf, damit ich nachher daran denke, ihm zur Wiedergutmachung ein paar Extra-Leckerlis zu geben. Cheese war unser großes Familienweihnachtsgeschenk, als ich sechs war. Ich hatte die Ehre, mir einen Namen für ihn auszusuchen, und habe ihn kurzerhand Cheese getauft, weil er … wie Käse aussah? Keine Ahnung. Ich war sechs, okay? Rückblickend hätte ich ihn Havarti nennen sollen, nach meiner Lieblingskäsesorte.
Seufzend schnippe ich das Klebeband beiseite und klappe den Karton wieder zu. Dann sehe ich mich ein letztes Mal in meinem Zimmer um. Eine blütenweiße Zierleiste, pfirsichfarbene Tapete und jede Menge Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften, die ich hingepinnt habe, wo gerade Platz war: eine Auswahl von Miss Floras Ratgeberkolumne (Miss Flora weiß Rat), Bilder aus Dads National-Geographic-Magazinen, die Orte auf der Welt zeigen, von denen ich kaum glauben kann, dass es sie wirklich gibt, und ein paar Comics aus der Valentine Gazette. Ich kann mich noch erinnern, wie Mom, Dad und ich zusammen die Zierleiste gestrichen haben und Mom aufgeschrien hat, als Dad ihr mit einem nassen Pinsel über den Rücken gefahren ist.
Ich glaube, ich verstehe, was die Erwachsenen meinen, wenn sie sagen: »Wenn diese Wände sprechen könnten.« Aber mal im Ernst: Die Vorstellung, dass Wände auf einmal losplappern, ist ja wohl echt gruselig.
Ich trete rückwärts aus dem Haus. Die Fliegengittertür fällt knarrend hinter mir ins Schloss. »Auf Wiedersehen, Zuhause«, raune ich niedergeschlagen.
»Findest du das nicht ein bisschen zu melodramatisch?«, ruft Oscar.
Ich wirble herum.
»Ich wollte bloß nachsehen, ob du noch Hilfe brauchst.« Er steht auf dem Bürgersteig vor dem Haus. »Tut mir leid, wenn ich deinen großen Moment ruiniert habe.«
Mein dicker schwarzer Pony fliegt auf, als ich entrüstet schnaube. »Ich bin nicht melodramatisch.« Ich werfe einen letzten Blick auf unser kleines rotes Ziegelhaus mit seiner weißen Zierleiste und der knallblauen Tür (Moms Werk). Alles in allem unterscheidet es sich nicht sehr von den anderen Häusern in unserem Block, mit Ausnahme von Miss Floras. »Na ja, okay, vielleicht ein bisschen.«
»Und der diesjährige Oscar in der Kategorie ›Beste Hauptdarstellerin‹ geht an … Olivia DiMarco!«
Ich sehe an ihm vorbei in die Ferne. »Ich möchte all den kleinen Menschen danken – und mit kleinen Menschen meine ich ganz besonders meinen besten Freund Oscar. Zu sehen, wie ich diesen Preis gewinne, ist das Aufregendste, was er je erlebt hat. Lassen Sie uns eine Schweigeminute einlegen, um seines traurigen Lebens zu gedenken.«
»Ha, ha«, sagt er. »Du weißt, dass ich der Talentierte von uns beiden bin.«
Ich lache. »Wenn du das Talent hast, dann hab ich das Hirn.«
Er öffnet das Gartentor für mich. »Na los, jetzt leg mal einen Zahn zu. Ich bin am Verhungern. Und mir wurde Pizza im Austausch für meinen körperlichen Einsatz versprochen.«
»Jetzt tu nicht so, als hättest du es nicht auch für umsonst getan«, erwidere ich, während ich ihm durchs Tor folge. »Du magst mich. Ich bin deine beste Freundin.«
Er lacht trocken. »Du bist meine einzige Freundin.« Er zeigt auf Cheese, der es sich auf einer Fensterbank gemütlich gemacht hat. »Hast du das gehört, Cheese? Ich bin ihr bester Freund!«
Damit bringt er mich endgültig zum Lachen. Einmal, als Oscar bei mir übernachtet hat, ist Cheese auf seinem Gesicht eingeschlafen. Oscar ist aufgewacht, weil er gar nicht mehr aufhören konnte zu niesen. Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass das ein Zeichen von Zuneigung war, aber Oscar, der gegen so ziemlich alles allergisch ist, behauptete steif und fest, Cheese habe aus Eifersucht einen Rachefeldzug gegen ihn angezettelt.
Wenn man Cheese außen vor lässt, hat Oscar aber vollkommen recht: Er ist mein bester Freund, und ich bin seine beste Freundin. Seit meine Eltern ihre Scheidung – oder, wie meine Mom es nennt, ihre »einvernehmliche Trennung« – bekannt gegeben haben, ist er mir praktisch nicht mehr von der Seite gewichen. Irgendwie hat uns das noch enger zusammengeschweißt.
Schweigend laufen wir an Miss Floras Haus vorbei. Sie sitzt auf ihrer mit Fliegengitter umzäunten Veranda an der Schreibmaschine und sieht uns über den goldenen Rand ihrer Lesebrille hinweg nach. Sie hat ihr langes silbernes Haar auf dem Kopf zu einem Knoten gebunden, und ihre weiße Haut ist weich und runzlig. Als ich noch klein war, wollte ich ihre Fältchen immer mit dem Finger nachfahren.
Miss Flora wohnt im einzigen zweistöckigen Haus im ganzen Block. Früher einmal war es strahlend weiß mit schwarzen Fensterläden, doch mittlerweile hat die Farbe einen deutlichen Graustich bekommen und blättert hier und da bereits ab. Die breite Veranda, die ums ganze Haus herumführt, und der Balkon im ersten Stock geben trotzdem noch einen beeindruckenden Anblick ab. Allerdings sind die Leute inzwischen wohl dahintergekommen, dass die Wissenschaftler nicht gelogen haben, als sie sagten, heiße Luft steige nach oben. Unsere Stadt, das kleine Örtchen Valentine in Texas, sieht aus, als habe jemand sie einfach mitten in die Wüste gesetzt. Hier kommt niemand auf die Idee, hohe Gebäude zu errichten, es sei denn, es lässt sich nicht vermeiden. Daher besitzt Miss Flora eines der wenigen zweistöckigen Gebäude in diesem Teil der Stadt, der größtenteils in den letzten fünfzig oder sechzig Jahren erbaut worden ist.
Oscar wendet schnell den Blick ab, um nur ja keinen Augenkontakt mit meiner Nachbarin herzustellen.
»Sie wird dich schon nicht verhexen«, versichere ich.
Er schüttelt den Kopf. »Die Frau kennt den gesamten Klatsch und Tratsch der Stadt. Sie ist wie deine Mom, nur dass die die Geheimnisse anderer Leute nicht weitererzählen darf. Das gehört zu ihrem Job. Bei Miss Flora dagegen laden die Leute all ihren Mist ab, und den verwurstet sie dann in ihrer Kolumne. Ich wette, sie kennt von jedem hier ein dunkles Geheimnis.«
Er hat recht. Mom ist gezwungen, alles für sich zu behalten, Miss Flora nicht. »Ärztliche Schweigepflicht« nennt Mom das. Selbst wenn jemand sie im Supermarkt grüßt und ich bloß herauszufinden versuche, ob der- oder diejenige bei ihr in Behandlung ist, zwinkert sie nur und sagt, die Leute würden sie ganz einfach deswegen ansprechen, weil hier jeder jeden kennt.
»Gut, aber du hast Miss Flora nie geschrieben«, entgegne ich, »also musst du dir auch keine Sorgen machen. Es sei denn, es gibt da etwas, was du mir verschwiegen hast …«
Er verdreht die Augen. »Glaub mir. So verzweifelt bin ich nun auch wieder nicht.«
Ich verstumme. Ich habe Miss Flora schon dreimal geschrieben, aber sie hat nie geantwortet. Das gehört zu den Dingen, die ich am liebsten in der hintersten Ecke meines Gehirns vergraben würde, dort, wo sich all meine anderen unbeantworteten Fragen sammeln.
Zuvorkommend öffnet Oscar das Gartentor zu dem Haus auf der anderen Seite von Miss Floras Haus und ich stapfe die Stufen zur Eingangstür hinauf. Dad steht bereits auf der Schwelle.
Nachdem die Cordovas weggezogen sind, stand das Haus gerade mal zwei Wochen leer, bevor Mom die geniale Idee hatte, Dad könne doch in derselben Straße wie wir wohnen. Davor hat er vier Monate lang im El Cosmico Hotel gelebt, in einem Zimmer mit zwei Betten, damit ich ab und zu bei ihm übernachten konnte. Tagsüber ist das El Cosmico ein ziemlich heruntergekommener Schuppen, aber nachts, wenn es dunkel genug war, dass man den Staub und die toten Silberfische auf dem Fensterbrett nicht sehen konnte, fand ich es beinahe schön dort. Ich mochte es, mit Dad im Licht der Neonreklame mit ihren blinkenden pinken Buchstaben und dem grellgrünen Kaktus am Pool zu sitzen. Aber ich weiß auch, wie sehr Dad die lange Zeit im Motel zugesetzt hat. Ich meine, er hatte ja nicht mal eine Küche, in der er sich etwas hätte kochen können.
»Heute ist ein großer Tag«, verkündet Dad. »Die erste Nacht im neuen Zuhause.« Er breitet die Arme aus und deutet mit einer ausholenden Geste hinter sich. »Nicht schlecht, was, Livi? Ich hab auch schon eine Hühnchen-Curry-Pastete im Ofen.« Dad fährt sich mit den Fingern durchs Haar. Mom zufolge ist das einer seiner Ticks: Wenn er nervös ist, zupft er immer irgendwie an seinen Haaren rum. Meine Eltern sind weiß, aber Dad hat einen deutlich dunkleren Hautton und dichtes, drahtiges schwarzes Haar. Beides hat er an mich weitervererbt. Und wie es aussieht, habe ich seine buschigen Augenbrauen gratis dazubekommen.
Ich blicke mich auf der winzigen Veranda um, bemüht, dem Haus zumindest eine Chance zu geben. Das Einzige, wodurch es sich hier fast mehr wie zu Hause anfühlt als drüben bei Mom, ist Dads alter, klappriger Firmenwagen, der draußen an der Bordsteinkante parkt – ein schwarzer Pick-up-Truck, dessen Ladefläche voller Gerüstteile und Malerbedarf ist. »Selbe Straße. Neues Haus.«
»Ich hab sogar die Tür passend gestrichen«, erklärt Dad. Welche Überraschung. »Ich dachte, wir könnten uns vielleicht noch so eine Verandaschaukel besorgen wie …«
»Drüben bei Mom«, ergänze ich matt. Ich schüttele den Kopf und zeige auf die Tür. »Das ist das falsche Blau.« Ich drehe mich zu Oscar um. »Gehen wir«, sage ich im Kommandoton, auch wenn ich mich irgendwie mies dabei fühle.
Manchmal sagt Oscar zur falschen Zeit die falschen Dinge. Diesmal nicht. Schweigend folgt er mir in mein Zimmer in meinem neuen zweiten Zuhause. Und weil er ein wahrer bester Freund ist, knallt er sogar die Tür für mich zu, weil ich beide Hände voll habe.
»Livi?«, fragt mein Dad, als er am nächsten Morgen an meine Zimmertür klopft. »Das erste Frühstück im neuen Haus! Wie möchtest du deinen Speck?«
»Du kannst reinkommen«, erwidere ich mit der Bettdecke vor dem Gesicht. Seit einiger Zeit verhält Dad sich mir gegenüber immer seltsamer. Er achtet darauf, mir genügend Vorwarnzeit zu geben, bevor er mein Zimmer betritt, und als ich mich an Ostern mal wieder schick machen musste, meinte er allen Ernstes, mein Kleid sei wirklich schmeichelhaft. Schmeichelhaft! Was ist denn das bitte für ein Wort?
Angefangen hat das Ganze vor zwei Jahren, als er die Wäsche aus dem Trockner geholt und dabei meinen ersten BH in die Finger bekommen hat. Er hielt ihn hoch und meinte lachend, da sei ihm wohl versehentlich einer von Moms Sport-BHs eingelaufen. Dann sah er mein Gesicht und verstummte abrupt. Ich riss ihm das Teil aus der Hand, marschierte in mein Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu. (Ich schätze, das ist wohl so eine Angewohnheit von mir.) Es war nicht seine Schuld. Er wusste es ja nicht. Aber der ganze Plötzlich-einen-BH-tragen-müssen-Kram ist auch so schon ätzend genug, ohne dass Dad über alles Bescheid weiß.
Mir entfährt ein gedämpftes Stöhnen. Ohne Cheese hier zu schlafen, fühlt sich einfach total falsch an. Nachdem Oscar und ich uns eine Pizza mit Dad geteilt hatten, habe ich versucht, Cheese rüberzuholen, doch er hat unablässig an der Fliegengittertür gekratzt. Dabei hat Mom extra genau das gleiche Katzenklo besorgt, das er auch bei uns zu Hause hat. Um ihm die Eingewöhnung zu erleichtern, hat sie sogar ein paar Klümpchen aus seinem gewohnten Klo gefischt und unter die frische Katzenstreu gemischt, damit sie gleich nach ihm riecht. Das nenne ich wahre Hingabe. Allerdings scheint Cheese seinen ganz persönlichen Ein-Kater-Aufstand zu proben, denn er ist der Einzige, der bei diesem ganzen Spiegelhäuser-Blödsinn nicht mitmacht.
»Den Speck extraknusprig«, erkläre ich Dad. »Und das Rührei mit Käse.«
»Käserührei und extratoter Speck. Wird erledigt!«
Ich warte, bis die Tür hinter ihm zugeht, bevor ich unter meiner Decke hervorkomme und aus dem Bett krieche.
Die letzte Nacht war meine erste Nacht allein mit Dad in seinem neuen Haus. Und jetzt folgt das erste Frühstück allein mit Dad. Bei den meisten Familien ist es wahrscheinlich üblich, gemeinsam zu Abend zu essen. Aber weil Mom oft zu den seltsamsten Uhrzeiten noch arbeiten muss, war unsere Familienmahlzeit immer das Frühstück. Zu wissen, dass jetzt nur Dad am Küchentisch auf mich wartet, macht das frühe Aufstehen umso schlimmer. Irgendwie fühlt sich der Montag dadurch gleich noch mal so montagig an.
Ich gehe zum Schrank und hole meine persönliche Uniform heraus: kurze Jeans, knöchelhohe schwarze Sneakers und ein schwarz-weiß gestreiftes T-Shirt. Dad trägt zur Arbeit auch immer denselben Overall. Als ich klein war, habe ich ihn mal gefragt, warum er nie etwas anderes anzieht, und er meinte, Genies trügen jeden Tag dasselbe, um sich ihren Hirnschmalz für die wirklich wichtigen Entscheidungen aufzuheben. Keine Ahnung, ob ich ein Genie bin, aber mir gefällt die Vorstellung, Hirnschmalz zu sparen. Deswegen greife ich seitdem meistens zu einem dunklen Unterteil (Shorts, lange Hosen oder auch mal ein Rock) und einem schwarz-weiß gestreiften Oberteil. Wenn mir danach ist, peppe ich das Ganze mit einem Haarreif auf. Miss Flora behauptet, ich würde dadurch aussehen, als hätte ich gerade eine Bank überfallen. Sie sagt aber, sie wisse meine Beständigkeit zu schätzen – was auch immer das heißen soll. Meine Garderobe mag ein bisschen langweilig sein. Dafür fällt es mir so jedenfalls weniger schwer zu akzeptieren, dass die Klamottenauswahl für eine Dreizehnjährige, die fast aus allen Kindergrößen rausgewachsen ist, generell eher beschränkt ist.
Nachdem ich mich angezogen und mein Outfit mit einem gelben Haarreif abgerundet habe, trete ich aus meinem neuen Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Ich bleibe einen Moment im dunklen Flur stehen. Am Ende des Ganges ist die Tür zu Dads Zimmer sperrangelweit offen. Doch gleich neben meinem Zimmer befindet sich etwas, was es in Moms Haus nicht gibt: ein weiteres Schlafzimmer. Dad hat vermutlich bloß seinen alten Krempel darin verstaut. Trotzdem hält mich irgendetwas davon ab, einfach die Tür aufzumachen und hineinzuschauen.
Die meisten Häuser in unserer Straße haben nur zwei Schlafzimmer. Sie sind alle mehr oder weniger im gleichen Stil gebaut – bis auf das von Miss Flora natürlich, das seinen ganz eigenen Stil hat. Moms Haus ist Livi-Hauptquartier 1.0. Bis ich in den Kindergarten gekommen bin, haben wir in einer Wohnung in der Innenstadt gewohnt, direkt über Moms Praxis. Doch dann ist Nana gestorben und hat uns ihr Haus vermacht, und seitdem ist das mein Zuhause. Dads Haus – Livi-Hauptquartier 2.0 – ist fast baugleich, nur größer: Es gibt ein drittes Schlafzimmer, und die Garage ist breiter.
Dad hat versucht, die gleichen Möbel zu kaufen, die in LHQ1.0 stehen, aber Nanas Küchentisch lässt sich nicht so leicht kopieren, was nicht zuletzt an den Kratzspuren an den Tischbeinen liegt, die Cheese dort hinterlassen hat, als er klein war. Das ganze Haus erinnert mich irgendwie an mein Halloweenkostüm von letztem Jahr. Von weitem sah ich haargenau wie die Zombie-Ballkönigin aus, die ich sein wollte, doch je länger man hinschaute, desto weniger überzeugend wurde es. Das Furchteinflößendste daran war noch das eingenähte Etikett mit der Aufschrift: VON OFFENEM FEUER FERNHALTEN! LEICHT ENTZÜNDLICHES MATERIAL!
Dad werkelt in der Küche vor sich hin. Seine Beine stecken bereits in seinem gewohnten grauen Overall, während das Oberteil noch lose um seine Hüfte hängt und den Blick auf sein frisches Unterhemd freigibt. Mom war immer dagegen, dass Dad seinen Overall im Haus trägt, aber ich schätze, jetzt kann Dad selbst entscheiden, was er tun und lassen will.
Mein Dad ist Maler. Also, keiner von diesen Kunstmalern, sondern jemand, der Häuser, Gebäudefassaden, Zimmerwände und was sonst noch so anfällt, streicht. Allerdings melden sich hin und wieder mal Geschäfte und bitten ihn, ihnen was Schönes ins Schaufenster zu malen, wenn gerade irgendein Feiertag oder Sonderschlussverkauf ansteht. Und auch wenn er es nie so gesagt hat, frage ich mich manchmal, ob er diese Sonderaufträge insgeheim am liebsten mag.
»Wie ist der Speck?«, erkundigt er sich mit dem Mund voller Maisbrötchen.
Mehr aus Gewohnheit taste ich das Tischbein mit den Zehen nach Cheeses Kratzspuren ab. »Mausetot«, antworte ich.
Dad küsst seine Fingerspitzen, als wäre er ein begnadeter Chefkoch. »Wie wär’s, wenn wir heute Abend überbackene Käsenudeln machen?«, fragt er. »Und dann gucken wir zusammen Jeopardy!?«
»Ich glaube, die Montage gehören Mom«, erinnere ich ihn. Gestern, als ich eingezogen bin, war Sonntag, und laut Plan bekommt Dad mich am Freitag, Samstag und Sonntag, während ich Montag, Dienstag und Mittwoch bei Mom bin. An den Donnerstagen wechseln sie sich ab. Falls ihr das verwirrend findet: Willkommen im Club! Als Dad noch im El Cosmico gewohnt hat, gab es keinen festen Zeitplan, aber nun, da er sein eigenes Haus besitzt, gehört das vermutlich irgendwie dazu.
Er nickt. »Ach ja, richtig.«
Der Gedanke, dass er hier ganz alleine beim Abendessen sitzt und Jeopardy! guckt, während Mom und ich zwei Häuser weiter zusammen sind, versetzt mir einen fiesen Stich. Ja, ich habe jetzt zwei nahezu identische Zimmer, und meine Eltern wohnen nur ein paar Schritte voneinander entfernt, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie geschieden sind. G-E-S-C-H-I-E-D-E-N. Da können sie sich noch so sehr bemühen, das Ganze friedlich und normal erscheinen zu lassen.
Ich finde immer noch, sie hätten sich zusammenreißen und um ihre Ehe kämpfen sollen. Es muss doch einen besseren Weg geben als das hier.
Dad schlägt die Zeitung auf und räuspert sich. »Liebe Miss Flora, mein Sohn wird bald heiraten, aber seine Zukünftige kommt aus der Großstadt und hält sich für was Besseres. Sie ist Anwältin in Dallas und felsenfest davon überzeugt, dass niemand zu ihrer Hochzeit kommen wird, wenn sie hier draußen in Valentine feiern. Wie kann ich den beiden klarmachen, dass die Landschaft von West Texas eine viel schönere Umgebung für ihre Traumhochzeit ist als der Betondschungel in Dallas? Mit freundlichen Grüßen, eine engagierte Mom.«
Ich kneife die Augen zusammen und wippe auf meinem Stuhl herum, während ich mich konzentriere. Von all unseren Familientraditionen mag ich diese am liebsten. Dad hat uns beim Frühstück immer Miss Floras Ratgeberspalte vorgelesen, und Mom und ich waren abwechselnd an der Reihe, uns eine gute Antwort auf die jeweilige Frage auszudenken. Mal lagen wir mit Miss Flora komplett auf einer Wellenlänge, mal waren wir genauso ratlos wie die Person, die sich an sie gewandt hatte. Moms Ratschläge waren immer ein bisschen zu perfekt: Dinge, die in der Theorie gut klingen, in der Praxis aber nur schwer umzusetzen sind. Meine Ansätze waren da ein bisschen bodenständiger. Niemand ist perfekt. Wozu also so tun, als wäre man es?
»Klingt, als wäre diese Verlobte eine ziemliche Brautzilla«, meint Dad.
»Eine was?« Vor meinem inneren Auge taucht eine Gestalt in einem üppig verzierten weißen Hochzeitskleid mit funkelndem Schleier auf. Sie ist halb Mensch, halb Echse und schlängelt sich mit einem Blumenstrauß in den Klauen auf den Altar zu, während ihr schuppiger Schwanz hinter ihr über den Boden schleift.
Dad schmunzelt. »Ein Brautungeheuer«, erklärt er. »Eine, die sich nichts sagen lässt und immer alles besser weiß.«
»Oooder die Mom könnte der Verlobten ihres Sohnes einfach erlauben, die Hochzeit zu planen, die sie sich wünscht?«
»Liebe engagierte Mom«, verkündet Dad förmlich, »ist es für Eltern nicht das höchste Ziel, ihr Kind glücklich zu sehen? In diesem Fall sollten Sie den Wunsch Ihrer zukünftigen Schwiegertochter respektieren, ihre Hochzeit im Betondschungel zu feiern. Lassen Sie sich diese Safari nicht entgehen.«
»Clever«, nuschle ich, den Mund voller Rührei mit Käse.
Ich vertilge mein restliches Frühstück und fülle meine Wasserflasche auf, dann schnappe ich mir meinen Rucksack und mein Lunchpaket. Nachdem ich Dad zum Abschied kurz umarmt habe, sprinte ich zur Bushaltestelle am Ende der Straße und erwische den Schulbus gerade noch rechtzeitig. Oscar hat mir einen Platz in der zweiten Reihe freigehalten.
Er gähnt so herzhaft, dass ich seine Mandeln sehen kann. »Wie war die erste Nacht?«
Ich überlege, ihm zu erzählen, dass ich jedes Mal zusammengezuckt bin, als hätte ich Schluckauf am ganzen Körper, wenn das Haus mitten in der Nacht geächzt und geknarrt hat. Oder wie seltsam es sich angefühlt hat, Dads Familienfotos gestapelt in einem Karton zu sehen statt an der Wand. Oder dass ich die Seife nicht finden konnte, als ich aufs Klo gegangen bin.
Stattdessen zucke ich bloß mit den Schultern. »War okay.« Ich schüttele den Kopf. Zum Kuckuck, wem mache ich was vor? »Es war total schräg«, platzt es aus mir heraus. »Kennst du das Gefühl, wenn man aus einem Traum aufwacht und dann feststellt, dass man immer noch träumt? So ungefähr. Ich meine, es war mein Zimmer und irgendwie auch nicht. Alles war anders, aber immer nur ein winziges bisschen.«
»Ich verstehe nicht, warum deine Eltern es nicht einfach so machen wie meine Tia und mein Tio. Tia Lisa hat das Haus behalten, und Tio Rudy hat sich ein kleines Ein-Zimmer-Apartment am Stadtrand genommen. Dann hat er über die Kleinanzeigen in der Zeitung eine neue Freundin gefunden und ist mit ihr nach Odessa gezogen.«
Oscar kommt aus einer großen mexikanischen Familie. Zuzuhören, wie seine Mom mit einer ihrer Schwestern telefoniert, ist spannender als jede Fernsehsendung. Seine Tia Lisa und sein Tio Rudy waren die Ersten in der Familie, die sich haben scheiden lassen, was sie bis heute bei sämtlichen Verwandten zum Tratschthema Nummer eins macht. »Sind die Kleinanzeigen nicht eigentlich für, keine Ahnung, gebrauchte Möbel und Stellenangebote?«
Oscar zuckt nicht nur mit den Schultern, sondern gleich mit dem ganzen Körper. »Vielleicht bieten manche Menschen dort ja ihren festen Freund zum Tausch gegen einen Lesesessel an?«
»Ein Lesesessel ist ein viel besseres Angebot als ein fester Freund.« Ich gebe mir größte Mühe, mir nicht anmerken zu lassen, wie ich allein von dem Gedanken an einen festen Freund schon einen ganz trockenen Mund kriege. »Außerdem will ich nicht, dass mein Dad von hier wegzieht. Das würde er doch niemals tun, oder? Aber deswegen muss er ja nicht gleich nebenan wohnen und sich exakt so einrichten wie in Moms Haus. Warum macht er nicht was ganz anderes daraus, etwas, was ihm gefällt?«
Oscar schüttelt den Kopf. »Ihr Weißen seid echt seltsam.«
Vor vier Wochen ist Rochelle Cordova weggezogen, und seitdem ist nichts mehr, wie es war. Sie war ganz nett, aber wir waren nicht wirklich befreundet. Trotzdem hatte sie einen überraschend großen Einfluss auf mein Leben. Erstens hat ihre Familie in dem Haus gewohnt, das mein Dad jetzt mietet, und ihr Umzug hat dieses abstruse Doppeltes-Lottchen-Experiment meiner Eltern überhaupt erst ermöglicht. Zweitens, und das ist noch viel wichtiger, war sie die Eiscreme in Kiera Bryants und meinem Eiscremesandwich, sprich: Sie saß in der Schule hinter Kiera und vor mir. Gott segne alle, deren Nachname mit einem C beginnt, denn wenn wir nicht bald einen neuen Mitschüler mit einem C-Nachnamen bekommen – oder eine von uns beiden spontan tot umfällt –, sitzen Kiera und ich buchstäblich bis zur allerletzten Stunde dieses Schuljahrs hintereinander fest.
Kiera. Meine ehemals beste Freundin. Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn es den einen großen Vorfall gegeben hätte, auf den sich das Ende unserer Freundschaft schieben ließe. Tatsächlich war es eher ein langsamer, schleichender Prozess, bis schließlich alles vorbei war. Kiera fing irgendwann an, mit einigen Mädchen aus der Stufe über uns abzuhängen – Mädchen, neben denen sich selbst die Lehrer plötzlich wieder klein und uncool fühlen. Anfangs lud sie mich noch ein, mitzukommen, aber uns wurde schnell klar, dass ihre neuen Freundinnen in einer ganz anderen Liga spielten als ich. Je weniger Zeit wir miteinander verbrachten, desto mehr Dinge fand ich, die mich an ihr störten. Ab und zu gab es noch Tage, an denen sie bei mir übernachtete oder wir unsere Dads zu einem ihrer Turniere ins Bowlingcenter begleiteten. An solchen Tagen, wenn nur wir zwei etwas zusammen unternahmen, fiel mir auf einmal wieder ein, warum wir Freundinnen waren. Kiera konnte nämlich wirklich lustig sein, solange die Witze nicht ständig auf meine Kosten gingen. Doch in den Sommerferien nach der vierten Klasse wurde der Abstand zwischen uns endgültig zu groß. Als im August die Schule wieder losging, reichten ein paar verletzte Gefühle aus, um eine tiefe, unüberbrückbare Kluft entstehen zu lassen. Mom sagt immer, dass es sich lohnt, für etwas, das einem am Herzen liegt, zu kämpfen. Aber was, wenn man sich kaum noch erinnern kann, warum einem etwas früher einmal so wichtig war?
Es ist so ähnlich wie mit meinem Lieblingsessen: Hühnchen mit Knödeln. Früher konnte ich davon nicht genug kriegen, doch dann kam der Tag, an dem mein Hühnchen nicht ganz durchgegart war und ich mich um ein Haar mitten in Honey’s Diner übergeben hätte. Das Ganze war so widerlich, dass mir seitdem allein beim Gedanken daran schon schlecht wird, egal wie gut es auch riechen mag. Örgs. Dad meint, es hätte einen bitteren Nachgeschmack bei mir hinterlassen.
Dementsprechend war ich nicht allzu begeistert, als ich an dem Montag, nachdem Rochelle und ihre Familie nach San Antonio zurückgezogen waren, zur Schule kam und feststellen musste, dass Mrs. Young klammheimlich Rochelles Tisch weggeräumt hatte. Jetzt starre ich tagein, tagaus auf Kiera Bryants Hinterkopf mit den zu einem losen Pferdeschwanz zusammengefassten Rastazöpfen. Obwohl ich ihr Gesicht nicht sehen kann, weiß ich, dass alles, was ich tue, sie fürchterlich nervt. Das erkenne ich an der Art, wie sie die Schulterblätter zusammenzieht, sobald ich den Mund aufmache. Und da praktisch nie jemand Neues nach Valentine kommt, ist die Gefahr groß, dass wir unser Sitzordnungsdilemma bis ins nächste Schuljahr mitschleppen.
Ich bin eigentlich nicht besonders still oder schüchtern. Ich bin auch nicht übermäßig laut – höchstens einen Tick melodramatisch, wie Oscar behauptet –, aber irgendetwas an Kiera sorgt dafür, dass ich am liebsten keinen Pieps mehr von mir geben würde. Ich wage es nicht mal mehr, in ihre Richtung zu atmen, um sie nur ja nicht auf mich aufmerksam zu machen. Was, wenn sie sich umdreht, um mich daran zu erinnern, dass ich für sie nichts als ihre abgelegte ehemals beste Freundin bin?
»In Ordnung, Leute, ich teile gleich das Übungsblatt für den Biotest aus«, verkündet Mrs. Young. Sie trägt eine knallgelbe Hose und ein dunkelblaues T-Shirt, das ringsum mit Sternbildern bestickt ist.
Ich mag Mrs. Young. Für eine Lehrerin ist sie echt toll. Sie ist rundlich und erinnert mich in vielerlei Hinsicht an mich – oder jedenfalls eine coolere Version von mir, die weiß, was sie mit ihren Haaren anstellen soll. Außerdem benutzt sie Lippenstift in den abgefahrensten Farben wie Lavendel, Blau oder Orange.
»Vergesst nicht, nachher in der Pause einen Blick aufs Schwarze Brett zu werfen. Dort findet ihr Tipps und Tricks für euer Referat.«
Ich stöhne laut auf. Uff … das Referat. Ich habe immer noch keine Ahnung, über wen ich es halten soll.
Sie räuspert sich und fährt fort. »Ich habe auch noch ein paar Infos für die Sommerferien hingehängt, unter anderem zum Theatercamp.«
»Kommt Tabitha auch?«, fragt Samantha aus der ersten Reihe.
Tabitha ist Mrs. Youngs Ehefrau. Sie ist Feuerwehrfrau und gibt in ihrer Freizeit Improvisationskurse am Valentine Community Theater. Mrs. Young und sie haben zwei Haustiere: eine Eidechse namens Persephone und eine graue Katze namens Edith. Ich bin Tabitha erst einmal begegnet, aber Katzenbesitzern vertraue ich schon aus Prinzip.
Mrs. Young beantwortet Samanthas Frage mit einem Lächeln. »So oft es ihr Arbeitsplan erlaubt!« Sie fasst ihre langen dunkelbraunen Locken zusammen und steckt sie lose mit einem Clip hoch, wie sie es jeden Morgen macht, wenn es ernst wird. »Nehmt ein Blatt vom Stapel und reicht den Rest weiter. Und hört mir jetzt gut zu: Ich sage nicht, dass der Test genauso aussehen wird, aber das Übungsblatt und der echte Test könnten durchaus als zweieiige Zwillinge durchgehen.« Dazu zwinkert sie übertrieben, damit es auch ja alle mitbekommen.
Auf der anderen Seite der Klasse schießt die Hand von Dusty Sanders, einem kurz geratenen weißen Jungen mit schiefem Schneidezahn und stoppeligem rotem Haar, in die Höhe. Er wartet gar nicht erst, bis er aufgerufen wird. »Wieso heißt das eigentlich zweieiige Zwillinge, Mrs. Young? Menschen schlüpfen doch nicht aus Eiern.«
Mrs. Young schenkt ihm ein nachsichtiges Lächeln. Mom sagt, »nachsichtig« ist ein freundliches Wort für Du bist zwar nicht der Hellste, aber der gute Wille zählt. »Leute, wer von euch kann erklären, warum es zweieiige Zwillinge heißt?«
Kiera, deren Beine so lang sind, dass ihre Knie gegen die Rückenlehne des Stuhls vor ihr stoßen, hebt grazil die Hand. Mit der anderen löst sie ihren Pferdeschwanz und schüttelt ihre langen Zöpfe aus. Manchmal wirkt sie so umwerfend und perfekt, dass es mir vorkommt, als sähe ich einen Film.
»Ja, Kiera«, ruft Mrs. Young sie auf.
»Zweieiige Zwillinge sind Zwillinge, die aus zwei Eizellen entstanden sind. Daher sehen sie einander nicht so ähnlich wie eineiige Zwillinge und können sogar Junge und Mädchen sein.«
Mrs. Young schnippt mit den Fingern. »Heureka!«
»Oooh.« Dusty reckt den Daumen hoch und nickt in Kieras Richtung. »Danke.«
»Kein Problem«, erwidert sie fröhlich.
Ich stoße einen Seufzer aus, der jedoch eher zu einer Art leisem Schnauben mutiert. Das Schlimmste an Kiera ist, dass sie so nett ist – nur eben nicht zu mir. Das zwischen uns ist also nicht bloß ein »Zickenkrieg«, wie meine Mom es nennt. Denn auch wenn ich es nicht gerne zugebe, Kiera ist wirklich keine Zicke. Erst letzte Woche hat sie einem Fünftklässler, der kein Guthaben mehr auf seiner Cafeteriakarte hatte, das Mittagessen bezahlt.
Kiera schüttelt sich und dreht sich um. »Könntest du vielleicht aufhören, mir in den Nacken zu pusten?« Sie zeigt auf mein Gesicht. »Übrigens, du hast da was an der Nase. Eklig.«
Glühender Zorn trübt meine Sicht. Ich fühle mich an den Tag zurückversetzt, als ich das erste Mal zusammen mit Kieras neuen Freundinnen Sarah Beth, Claire und Kassidy bei Kiera übernachtet habe. Meine Nase war verstopft, weshalb ich so laut geschnarcht habe, dass ich selbst davon wach geworden bin. Ich tat trotzdem so, als würde ich noch schlafen, weil Kiera und die anderen zusammensaßen und sich über mich schlapp lachten, während sie mein Schnarchen und Sabbern nachäfften.
Ich antworte nicht. Ich habe schon öfter den Fehler begangen, sofort zu reagieren, wenn irgendwer etwas Gemeines zu mir gesagt hat, und bis jetzt ist dabei nie etwas Schlagfertiges rausgekommen, sondern immer nur so Sachen wie: Halt die Klappe, Kiera. Was nicht annähernd so lässig wirkte, wie ich es erhofft hatte. Dabei bin ich superschlagfertig … nur halt zehn Minuten zu spät. Das ist meine größte Stärke und gleichzeitig meine größte Schwäche.
Sobald ich sicher bin, dass mich niemand beobachtet, streiche ich mir mit dem Finger über die Nasenlöcher, sorgfältig darauf bedacht, dass es auf keinen Fall aussieht, als würde ich in der Nase bohren. Glaubt mir. Keiner will