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Ramonas Entdeckung der unbegrenzten Liebe ist von absoluter Schönheit. "Ramona Blue ist Julie Murphys bisher bestes Buch. Ich wünschte, ich hätte dieses Buch während meiner eigenen Jugend gehabt." ROBIN TALLEY Ramona war erst fünf Jahre alt, als der Hurrikan Katrina ihr Leben für immer veränderte. Seitdem scheint es, als habe sich die Welt gegen sie und ihre Familie verschworen. Mit ihrer außergewöhnlichen Größe von 1,80 Metern und ihren unverwechselbaren blauen Haaren, sind für Ramona drei Dinge sicher: Sie mag Mädchen, sie ist der totale Familienmensch, und sie weiß, dass sie für etwas Größeres bestimmt ist als für ein Leben in dem Wohnwagen in Eulogy, Mississippi, den die Familie ihr zu Hause nennt. Ramona jongliert mit mehreren Jobs, ihrer exzentrischen, unzuverlässigen Mutter und ihrem gutmeinenden, aber überforderten Vater, und ist so gezwungen, die Erwachsene in der Familie zu sein. Jetzt, mit ihrer schwangeren Schwester Hattie, wiegt die Verantwortung schwerer als je zuvor. Die Rückkehr ihres Jugendfreunds Freddie ist somit eine willkommene Ablenkung. Ramonas Freundschaft mit dem ehemaligen Wettkampfschwimmer geht genau da weiter, wo sie damals aufhörte, und bald hat er sie überredet, mit ihm im Becken ihre Bahnen zu ziehen. Als Ramona ihre Leidenschaft fürs Schwimmen entdeckt, beginnen sich auch, ihre Gefühle für Freddie zu verändern, was sie so gar nicht erwartet hätte. Mit ihrer wachsenden Zuneigung für Freddie, die ihre sexuelle Identität in Frage stellt, beginnt Ramona sich zu fragen, ob sie vielleicht Mädchen und Jungs mag oder ob diese neue Anziehung womöglich gar nichts damit zu tun hat. Auf jeden Fall wird Ramona erkennen, dass sich das Leben und die Liebe meist ähnlich anfühlen wie das Wasser, durch das sie ihre Bahnen zieht – fließend und veränderlich.
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Seitenzahl: 485
Julie Murphy
Ramona Blue
Roman
Aus dem Amerikanischen von Kattrin Stier
FISCHER E-Books
Für meine persönliche Heilige Dreifaltigkeit: Bethany, Natalie und Tess – ohne euch drei gäbe es dieses Buch nicht, und ich hätte es nicht überlebt, es zu schreiben.
Well, I may be just a fool
But I know you’re just as cool
And cool kids, they belong together.
– Yeah, Yeah, Yeahs»Poor Song«
Diese Erinnerung möchte ich mir für immer bewahren: Wie Grace in einem viel zu großen T-Shirt ihres Vaters am Herd des kleinen Ferienhauses steht und eine Portion Dosenspaghetti für uns aufwärmt. Ihre Mom hat bereits den Kühlschrank und die Küchenschränke leer geräumt und alles weggeschmissen, was ein Verfallsdatum hat.
»Fast fertig«, sagt Grace, während sie die Nudeln mit einem Holzlöffel umrührt.
»Ich sollte dann bald mal gehen«, sage ich. Ich hasse lange Abschiede. Sie sind genau so schlimm, als wenn man sich langsam Haar für Haar ein Pflaster vom Arm zieht.
»Tu doch nicht so, als müsstest du jetzt irgendwo anders sein. Außerdem solltest du noch was essen, bevor du gehst.« In diesem Punkt ist Grace genau wie ihre Mutter. Ganz gleich, wann wir im Verlauf des letzten Monats das Haus verlassen haben, ständig hat ihre Mom versucht, uns noch irgendwelches Essen aufzudrängen. So als würden wir zu einer langen Reise aufbrechen und bräuchten Wegzehrung. »Du kannst mir doch diese Dosenspaghetti jetzt nicht ganz alleine überlassen.«
»Na gut«, lenke ich ein. »Das ist in der Tat eine ziemlich erbärmliche Vorstellung.«
Sie nimmt den Topf vom Herd, lässt einen Ofenhandschuh auf den Küchentisch fallen und stellt den Topf darauf. Dann rutscht sie ganz nah heran, schlingt ihre Beine zwischen meine und reicht mir einen Holzlöffel. Wir haben beide eine helle Hautfarbe, aber vom Leben am Meer sind meine Beine dauerhaft gebräunt (und dazu noch ein bisschen behaart, weil mich dieses ewige Rasieren echt nervt). Die eigentlich elfenbeinfarbene Haut von Grace ist dagegen durch die ungewohnte Sonneneinstrahlung fleckig und gerötet. Und dann sind da noch ihre Füße.
Ich grinse.
»Was ist?«, fragt sie und legt den Kopf schief. Dabei fallen ihr die rabenschwarzen Haare über die Schultern. Obwohl sie wie verrückt dahinter her ist, ihre Haare zu glätten, braucht man nur das Wort Luftfeuchtigkeit zu erwähnen, und schon kringeln sich ihre Haarspitzen wieder. »Du sollst nicht so auf meine Füße schauen.« Sie verpasst mir einen Tritt gegen das Schienbein. »Du schaust meine Füße an!«
Ich schlucke einen Löffel Nudeln hinunter. »Ich mag deine Füße.« Sie sind platt und breit und viel zu groß für ihren Körper. Und aus unerfindlichen Gründen finde ich das unglaublich liebenswert. »Sie sehen aus wie Hobbit-Füße.«
»Meine Füße sind aber nicht behaart«, betont sie.
Mir liegt schon eine flapsige Antwort auf den Lippen, doch dann gerät plötzlich die Uhr hinter ihr in mein Blickfeld, und da fällt es mir wieder ein.
Grace verlässt mich. Dass sie mich verlassen würde, war mir vom ersten Augenblick an klar, als wir uns am Strand begegnet sind, wo ich Flyer für die Happy Hour im Boucher’s verteilt habe. Sie lag in ihrem schwarzen Badeanzug mit den Seitenausschnitten in einem Liegestuhl und hatte sich ein Handtuch über die Füße gelegt. Und ich weiß noch genau, dass ich mir gewünscht habe, ich würde sie gut genug kennen, um zu wissen, warum sie ihre Füße versteckt.
Das hier ist unsere letzte gemeinsame Mahlzeit. In weniger als einer Stunde werden ihre Eltern und ihr Bruder aufstehen und die allerletzten Überreste des Sommers in Eulogy in den Kofferraum ihres Kombis packen. Und dann werden sie nach Hause fahren, zurück in ihr normales Leben, und werden dabei ein Loch in meinem hinterlassen.
»Ich werde ganz traurig sein ohne dich«, sagt Grace zwischen zwei Bissen. Wir sind beide viel zu realistisch, um Versprechungen zu machen, die wir dann doch nicht halten können. Oder vielleicht habe ich auch nur zu viel Angst, sie um ein Versprechen zu bitten. Sie zupft an meinem Pferdeschwanz. »Und ohne deine bekloppten blauen Haare.«
»Aber mir werden deine Hobbit-Füße noch viel mehr fehlen.«
Sie lächelt und schlürft eine Nudel vom Löffel.
Grace steht total auf dieses Zeug. Sie ist geradezu süchtig nach Junk Food, weil sie in einem Haushalt aufgewachsen ist, wo ihre Mutter sie mit selbstgekochtem Essen wie gefülltem Lachs und gedünstetem Spargel versorgt hat. Hattie und ich sind dagegen mit Dosenspaghetti und anderen Fertiggerichten groß geworden, deren Marketing speziell auf Kinder ausgerichtet ist. Dad musste arbeiten, und Mom war nicht mehr da, also aßen wir alles, was mikrowellentauglich war.
Ich glaube, ich bin in Grace verliebt. Allerdings ist es manchmal schwer zu unterscheiden, ob ich eigentlich in sie oder in ihr Leben verliebt bin. In ihr Leben mit dem liebenswerten kleinen Bruder Max, der so süß ist, weil er noch keine Ahnung hat, wie gut er später mal aussehen wird, und mit ihren Eltern, die immer nach uns geschaut und uns Essen hingestellt haben. Und mit diesem Haus. Es ist nur ein Ferienhaus, aber es fühlt sich trotzdem so dauerhaft an.
Grace streicht sich die schwarzen, halblangen Haare hinter die Ohren. »Hast du dir jemals die Liste mit den Colleges angeschaut, die ich für dich zusammengestellt habe?«
Ich zucke die Schultern. Das ist ein wunder Punkt – eine Sackgasse, aus der wir einfach nicht herauskommen. Grace ist der Meinung, dass alles, was mich nach der Highschool noch hier festhält, ich selber bin. Und das kann ich sogar irgendwie nachvollziehen, aber gleichzeitig gehört Grace zu den Mädchen, die nie einen Blick auf das Preisschild werfen oder der Kassiererin im Supermarkt sagen müssen, dass sie ein paar Sachen zurücklegen soll.
Wir sitzen hier ineinander verschlungen, während sich auf der Uhr an der Mikrowelle unweigerlich der Morgen ankündigt.
»Ich sollte jetzt gehen«, sage ich schließlich.
Sanft stupst sie ihre Stirn gegen meine.
Würden wir in einer Welt leben, in der nur meine Regeln gelten, würde ich sie jetzt küssen. Fest. Und dann gehen.
Stattdessen gehen wir Hand in Hand zur Veranda, wo mein Fahrrad steht, und dann folgen wir der gekiesten Auffahrt bis zum Briefkasten hinunter, der noch immer im Dunkeln liegt.
Ich lehne mein Rad gegen den Pfosten.
»Melde dich mal, wenn du kannst«, sage ich zu ihr.
»Klippfisch«, sagt sie. Ich liebe dich, lese ich von ihren Lippen. Das hat ihre Mutter ihr immer lautlos zugeflüstert, wenn sie Grace an der Schule abgesetzt hat, um sie nicht vor ihren Freundinnen zu blamieren.
»Ich liebe dich auch«, flüstere ich zurück, während ich meine Lippen bereits auf die ihren drücke. Sie schmeckt nach Dosenspaghetti und nach der Zigarre, die wir aus dem Reise-Humidor ihres Vaters geklaut haben. Ihre Lippen sind aufgesprungen und ihre Haare voller Salz von unserem mitternächtlichen Bad, das erst wenige Stunden her ist. Und doch fühlt es sich an, als würde sie schon jetzt zu einer Erinnerung verblassen.
Ich fahre los, vorbei am Trailerpark, wo unser Mobilheim steht, in dem mein Dad und Hattie jetzt noch schlafen. Bei mir fängt jeder Tag so an – vor allen anderen, wenn Eulogy nur vom Casino vorn am Strand erleuchtet wird. Heute bin ich noch früher dran als sonst, und so lasse ich mir Zeit und fahre ganz hinunter ans Wasser. Vorsichtig lege ich mein Rad auf den Gehweg und schüttele die Flipflops ab, bevor ich die wackeligen Holzstufen zum Strand hinuntergehe. Liebe auf den ersten Blick ist es bei unserem Strand hier in Mississippi nur ganz selten, eher eine innige, drängende Zuneigung. Und obwohl es hier nicht besonders idyllisch ist, gibt es viele, die, genau wie ich, diesen Ort mehr lieben, als er es verdient. Hierher kommen Leute, die billig Ferien machen wollen. Wegen der Sandbänke, die sich vor der Küste aufreihen, und durch die Nähe zur Mündung des Mississippi ist das Wasser bei uns braun und aufgewühlt. Kein Vergleich mit den blaugrünen Wellen von Florida. Aber eine Familie wie die von Grace kann hier eine Menge Urlaub für ihre Kohle kriegen, wenn man bereit ist, die Mängel zu übersehen.
Der Sand staubt um meine Knöchel, bis ich die Wasserlinie erreiche. Ich drücke die Zehen fest in den Sand und lasse das Wasser kurz darüberspülen, bevor ich sie zurückziehe. Der Mond hängt am Himmel, knapp über dem Horizont, während der erste Hauch der Sonne bereits das Ufer streift.
Wasser wirkt auf mich schon immer wie Sirenengesang. Ganz gleich welcher Art – ein Meer, ein See, ein Pool. Diese Schwerelosigkeit hat etwas an sich, das mich glauben lässt, alles sei möglich. Mein ganzer Körper atmet dann auf eine Weise aus, die mir an Land nicht möglich ist.
Die Helligkeit am Horizont erinnert mich daran, dass ich los muss. Ich schüttele den Sand von den Füßen und laufe zum Weg hinauf, wo ich wieder in meine Flipflops schlüpfe.
Die Tränen strömen unablässig über meine Wangen, während ich mein Rad um die Kurve und den Hügel hinab lenke, wo Charlie in seinem Laster wartet. Ich hasse es, zu weinen. Wahrscheinlich geht das fast jedem so. Aber es gibt auch Menschen wie Hattie, die sich besser fühlen, wenn sie sich ausgeheult haben. Wenn Hattie weint, ist das, als würde man einer Schlange beim Häuten zusehen. Die Tränen sind eine Form der Erneuerung für sie, während sie mich nur wütend machen, dass ich mich überhaupt so aufrege.
»Du bist zu spät«, ruft Charlie. Er trägt seine übliche Uniform, die aus einem kaffeefleckigen Unterhemd und zwanzig Jahre alten Jeans besteht. Mit seinen Zottelhaaren sieht er aus wie ein Typ, der entweder kleine Kinder in seinem Laster einsperrt oder Cannabis in seinem Garten anbaut. Glücklicherweise ist Letzteres der Fall.
Ich betätige die Handbremse und wische mir mit der anderen Hand die Tränen aus den Augen. »Hab verschlafen.«
Normalerweise komme ich nicht zu spät, deswegen lässt Charlie es mit einem Schulterzucken durchgehen. Kann schon sein, dass sich andere Jugendliche nicht darum reißen würden, um fünf Uhr früh aufzustehen, aber mir sind all meine kleinen Jobs wichtig. Ich trage Zeitungen aus, räume im Boucher’s die Tische ab und übernehme auch sonst allerlei kleine Nebenjobs, die ich kriegen kann. Ich schätze mal, dass sich die meisten als Kind fragen, in was für einem Beruf sie wohl arbeiten werden, wenn sie erwachsen sind. Aber mich hat nie interessiert, was das für ein Job sein würde, nur wann ich endlich damit anfangen konnte.
Charlie lädt die Zeitungen für die zweite Hälfte meiner Runde vorne in den Fahrradkorb, während ich meine Umhängetasche bestücke. Charlie gehört zu der Sorte Mann, die immer ein bisschen wie ein Junge aussehen werden, wobei das dünne Bärtchen auf seiner Oberlippe aktuell seinen Teil dazu beiträgt.
»Willst du’s mal mit einem Schnurrbart probieren?«, frage ich ihn.
Er streicht sich über die spärliche Gesichtsbehaarung. »Hatte Lust auf ein bisschen Abwechslung. Gefällt’s dir?«
»Abwechslung ist immer gut«, erwidere ich, schwinge mich aufs Rad und winke zum Abschied.
Auf meiner Runde fahre ich die Straßen hinauf und hinunter und lasse mich dabei von meinem Gedächtnis leiten, bis vor fast jedem Haus eine Zeitung im Garten liegt. Die Routinetätigkeit hält die Gedanken an Grace in Schach, zumindest für eine Weile.
An der Ecke von John Street und Mayfield Street, komme ich an der Eulogy Baptist Church vorüber, einem strahlend weißen Gebäude mit perfekt gepflegtem Rasen und Blumenkästen an jedem Fenster. Hinten aus dem Büro scheint gedämpftes Licht auf die Straße, und ich überlege, ob Reverend Don wohl gerade gekommen ist oder schon wieder geht.
Ich biege um die Ecke und fahre die Clayton Avenue hinunter. Während ich in die Pedale trete, lehne ich mich im Sattel zurück und tippe sacht auf die Bremse und kurve so den ganzen Hügel hinunter. In Augenblicken wie diesem habe ich immer das Gefühl zu fliegen. Doch unten angekommen lande ich wieder in der Realität.
Vor dem letzten Haus, das erst vor kurzem zu meiner Runde hinzugefügt wurde, steht eine schwarze Frau in einem Frotteebademantel, aus dessen geöffnetem Reißverschluss ein knallgelber Badeanzug hervorblitzt. Sie ist dabei, ihre Blumen zu gießen. Ich mag Morgenmenschen, sie haben so etwas Stabiles und Verlässliches an sich. Ganz im Gegensatz zu meiner Mom, die bis in den Nachmittag schläft, wenn sie keiner aufweckt. Auch Grace ist kein Morgenmensch. Das war ein kleines Detail, das mich irgendwie immer ein bisschen gestört hat.
Grace. Grace, die ich möglicherweise nie mehr wiedersehen werde. Erneut spüre ich bedrohlich die Tränen in mir aufsteigen.
»Morgen«, sagt die Frau, als die Zeitung auf ihren Rasen plumpst.
»Morgen«, erwidere ich im Vorbeifahren.
»Hey!«, ruft sie. Etwas trifft mich zwischen die Schulterblätter und nimmt mir den Atem.
»Was zum Teufel?«, murmele ich vor mich hin, während ich mich umdrehe und feststelle, dass es sich bei dem Wurfgeschoss um eine meiner eigenen Zeitungen handelt.
Ich will mich danach bücken, da höre ich die Stimme der Frau: »Ramona Blue! Komm sofort zurück!«
Die Stimme. Ich erkenne sie. Und den Namen. Ramona Blue – so hat mein Dad mich als kleines Mädchen genannt, weil ich einfach nicht aus dem Wasser zu kriegen war. Ein Name, den nur wenige Menschen kennen.
Die Frau kommt an die Straße vor, und nun kann ich auf einmal das Gesicht erkennen, das hinter den Falten von zehn Jahren steckt. Ich setze einen Fuß auf den Boden, damit mein Rad nicht noch weiter rollt, und langsam kommt mir die Erinnerung. »Agnes?«
»Beweg deinen Hintern hier rüber und lass dich umarmen!«
Auf der Stelle lasse ich mein Rad fallen und werfe mich in ihre Arme.
Agnes war früher jeden Sommer da. Sie kam aus Baton Rouge, zusammen mit ihrem Mann und ihrem Enkel, Freddie, der bei ihnen aufwuchs. Sie war ein Teil meiner Kindheit wie meine eigene Großmutter, bis zu dem Sommer, in dem ich neun wurde und sie auf einmal nicht mehr kamen. Damals wurde mir zum ersten Mal klar, dass man zwar das Gefühl haben könnte, ein Sommer hier in Eulogy, Mississippi, würde ewig dauern, dass das aber nicht stimmt.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich oft ich in den Spiegel geschaut und eine Bestandsaufnahme gemacht hätte, inwieweit sich mein Körper verändert hat. Aber hier und jetzt, während Agnes mich fest an sich drückt und mir ihre Stirn gerade mal bis zur Brust reicht, da fühle ich mich wie eine Riesin mit einer Babypuppe im Arm.
Agnes schiebt mich an den Schultern von sich weg und mustert mich. Sie zieht an meinem langen, lockigen Pferdeschwanz und sagt: »Das überrascht mich natürlich gar nicht. Dein Daddy hat dir immer alles durchgehen lassen, wenn es nicht gerade ein Mord war.«
Mein Wangen brennen, und trotz des Schmerzes in meiner Brust, der schwer wiegt wie ein Anker, lächele ich. Die Rede ist von meinen Haaren. Ramona Blue mit den blauen Haaren.
Je nachdem, wann man mich gerade zu Gesicht bekommt, haben meine Haare einen Farbton, der von Königsblau bis hin zu Türkis reicht. Mit dreizehn habe ich mir die Haare zum ersten Mal mit einer Mischung aus Kool-Aid-Getränkepulver und ein bisschen Wasser gefärbt. Wenig überraschend wurde ich aus der Schule nach Hause geschickt, aber mein Dad hat mich gerettet, obwohl er alles andere als begeistert war, was ich mit den von meiner Mutter geerbten blonden Locken angestellt hatte. Er legte sich mit der Schuldirektorin an, bis die ganze unangenehme Geschichte mehr Zeit verschlungen hatte, als sie wert war. Und seitdem sind meine Haare blau, dank Hattie und ihren Amateur-Ambitionen als Kosmetikerin.
Heute müssten meine Haare allerdings dringend nachgefärbt werden. Sonne, Salzwasser und ganz einfach die Zeit haben meinen Haaren einen pudrigen Türkiston verliehen.
»Du bist ja gewachsen wie Unkraut«, bemerkt Agnes erstaunt, und ich frage mich, wie sie mich wohl in Erinnerung hatte. Sie deutet auf meine leere Umhängetasche. »Das letzte Haus auf deiner Runde?«
Ich nicke. »Ganz genau, Ma’am.«
»Bring morgen Hunger mit.« Sie tätschelt mir den Bauch. »Dann gönnen wir uns ein richtig leckeres Frühstück.«
»Das lässt sich einrichten«, sage ich. »Einverstanden.«
Agnes’ Lippen verziehen sich zu einem breiten, wissenden Grinsen. »Freddie wird Augen machen!«
Freddie. Alle meine Erinnerungen an ihn sind sonnengebleicht und laut, aber ich versuche, mich nicht von der Vergangenheit täuschen zu lassen. Man verändert sich, wenn man erwachsen wird.
Ich kam mir groß vor, als ich Agnes umarmt habe, aber nirgendwo fühle ich mich so ausladend wie in dem Trailer, den wir unser Zuhause nennen. Wie immer muss ich den Kopf einziehen, um durch die Tür zu passen, und gehe dann den schmalen Flur entlang, der zu Hatties und meinem Zimmer führt. Früher war da nur ein Zimmer, doch mit Hilfe unseres Onkels Dean hat Dad an Hatties zwölftem Geburtstag einen Teil der Flurwand entfernt, eine Tür eingesetzt und dann den Raum mit einer Sperrholz-Wand in zwei Hälften geteilt. Anschließend kaufte er ihr bei der Heilsarmee noch einen Kleiderschrank, und schon waren aus unserem gemeinsamen Zimmer zwei geworden.
Irgendwann im Laufe des Sommers vor der neunten Klasse bin ich dann zu sehr gewachsen. Ich war schon immer groß, aber nach diesem letzten Wachstumsschub war die Schwelle von groß zu zu groß überschritten. Unser Trailer ist nur etwas über zwei Meter hoch, was bedeutet, dass ich bei meiner Größe von gut eins neunzig ständig den Kopf einziehen muss, wenn ich durch eine Tür gehe. Und meinen Körper unter den Duschkopf im Badezimmer zu quetschen erfordert einiges an Gelenkigkeit.
In meinem Zimmer lehne ich das Fahrrad gegen die Kommode und will gerade das Licht anschalten, als ich einen Klumpen in meinem Bett bemerke.
»Rutsch rüber«, flüstere ich und schleiche auf Zehenspitzen über den Boden.
Hattie, meine zwei Jahre ältere Schwester, folgt meiner Aufforderung, wenngleich nur ein wenig. »Tyler ist der reinste Ofen«, nuschelt sie.
Ich schlüpfe hinter ihr ins Bett. Ich bleibe die kleine Schwester, bin aber trotzdem der größere Löffel.
Früher haben wir beide perfekt in dieses schmale Bett gepasst, weil die Leroux-Schwestern, wie Dad immer sagte, nur von Nord nach Süd und nicht von Ost nach West gewachsen sind. Aber inzwischen ist das nicht mehr der Fall. Hatties Bauch wächst von Tag zu Tag. Dass sie schwanger ist, habe ich fast zeitgleich mit ihr gewusst. Genau wie Dad. Mit Geheimniskrämerei wird bei uns keine Zeit verschwendet.
»Dann schick ihn nach Hause«, erkläre ich.
»Du hast so kalte Füße«, beklagt sie sich und drückt ihre Unterschenkel gegen meine Zehen. »Tommy wollte wissen, ob du früh zur Arbeit kommen kannst.«
»Grace ist abgereist.«
Sie dreht sich zu mir um, so dass ihr Bauch gegen meinen drückt. Er ist nicht dick. Noch nicht. Für alle Außenstehenden ist es noch nicht einmal zu sehen. Aber ich kenne jeden Zentimeter von ihr so gut, dass ich den Unterschied fühlen kann. Oder vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Sie legt einen Arm um mich, zieht mich an sich und flüstert: »Das tut mir so leid für dich, Ramona.«
Meine Lippen zittern.
»Ist ja gut«, sagt sie. »Ich weiß, dass du das jetzt noch nicht so sehen kannst, aber es wird andere Mädchen geben.«
Ich schüttele den Kopf, und Tränen fallen auf unser gemeinsames Kissen. »Sie ist ja nicht gestorben oder so«, sage ich. »Und wir werden weiter miteinander sprechen. Zumindest hat sie gesagt, dass sie das will.«
»Grace ist echt toll, ja? Ich will überhaupt nicht sagen, dass sie nicht toll ist …« Hattie ist nicht gerade ein Fan von Grace – Fremden gegenüber ist sie immer misstrauisch –, aber ich weiß es zu schätzen, dass sie zumindest so tut, als ob. »Aber wenn du mit der Schule fertig bist, kommst du hier raus und lernst massenweise Leute kennen und stellst dann vielleicht fest, dass es noch jede Menge tolle Mädchen gibt.«
Noch vor ein paar Monaten hätte ich ihr recht gegeben. Bis vor kurzem hatten wir beide geplant, nach dem Schulabschluss zusammen aus Eulogy wegzugehen. Das waren nicht unbedingt große College-Pläne, sondern ganz kleine Pläne, irgendwo zu kellnern oder vielleicht als Verkäuferin zu arbeiten und uns irgendwo in New Orleans oder vielleicht sogar Texas ein ganz neues, eigenes Leben aufzubauen. Weit weg von dem engen, kleinen Trailer, der uns schon allzu lange als Zuhause dient.
Doch dann musste Hattie schwanger werden, und auch wenn keiner von uns es bisher laut ausgesprochen hat, ist mir doch klar, dass sich unsere Pläne damit geändert haben.
Momentan gibt es da noch Tyler, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er mehr als eine vorübergehende Erscheinung ist. Meine Pläne waren ja ohnehin nicht so besonders, und jetzt, wo Hattie meine Nichte oder meinen Neffen ausbrütet, sind sie noch unwichtiger geworden. Hattie ist meine Schwester. Sie ist meine Schwester für immer und ewig.
»Und übrigens kann ich Tyler gar nicht rausschmeißen«, fügt sie hinzu.
Ich schüttele den Kopf. »Doch, kannst du schon. Sag ihm einfach, er soll nach Hause gehen.«
»Das hier ist jetzt sozusagen sein Zuhause.«
Ich stütze mich auf einen Ellenbogen und mache den Mund auf. Ich warte, dass die Worte herauskommen, aber der Schock ist zu groß. Ich bin entsetzt.
Sie streicht eine lose Haarsträhne hinter mein Ohr und tut, als wäre es kein großes Ding. »Dad meinte, er könnte hier einziehen«, flüstert sie.
Da ist so vieles, was ich ihr in diesem Augenblick sagen möchte. Unser Haus ist zu klein. Tyler ist nur eine vorübergehende Erscheinung. Wenn das Baby erst mal da ist, wird es noch enger. Ich brauche nicht noch einen Typen in diesem Haus, um zu merken, dass es zu klein ist und wir alle herausgewachsen sind. Und doch kommt es mir vor, als wäre ich die Einzige, die das merkt. Ich bin die Einzige, die sich fragt, wie es weitergehen soll.
Aber während ich so die Beine am Fußende meines schmalen Bettes herabbaumeln lasse, drängt sich mir das Gefühl auf, dass ich das Problem bin. Und dass ich hier irgendwie nicht mehr willkommen bin.
Innerlich könnte ich schreien, aber äußerlich sind die Tränen, die sich in meinen Augenwinkeln sammeln, das einzige Lebenszeichen. »Ich bin echt traurig, dass die Olympischen Spiele schon wieder vorbei sind, ist das nicht albern?«
Sie lacht. »Kommt drauf an. Heulst du deswegen?«
»Nein … vielleicht ein bisschen.«
Hattie nimmt mich in die Arme und zieht mich an sich, so wie es Mrs Pearlmans alte Tigerkatze mit ihren Kätzchen macht, wenn die mit Trinken fertig sind. Eine flüchtige Erinnerung daran, dass ich hier eigentlich die kleine Schwester bin. »Ich wette, du wärst gut genug für die Olympischen Spiele gewesen, wenn du es nur mal versucht hättest.«
»Halt die Klappe«, sage ich, weil klar ist, dass sie nur deswegen so nett zu mir ist, weil ich gerade ein jämmerliches Häufchen Elend bin. Ich fand die Olympischen Spiele schon immer toll. Die meisten anderen Kinder waren ganz wild auf SpongeBob oder Transformers oder One Direction, aber auf mich hatte die amerikanische Mannschaft und insbesondere das Schwimmteam immer eine besondere Anziehungskraft. Es kam mir vor, als wäre jeder Einzelne in diesem Team der Hauptdarsteller in seinem eigenen Aschenputtel-Märchen, und das ganze Land fieberte mit, dass sie wirklich ihren Prinz – oder ihre Prinzessin – bekamen. Auf meiner Kommode steht sogar eine alte Cornflakes-Packung mit Michael Phelps drauf. Allerdings hab ich das Gesicht von Missy Franklin über seins geklebt. Sie ist die Beste!
»Ich kenne keine bessere Schwimmerin als dich, Ramona Blue.«
Ich verdrehe die Augen, aber meine Lider fühlen sich auf einmal so schwer an. »Du kennst doch überhaupt keine Schwimmerinnen. Du bist auch die beste Hobby-Friseurin, die ich kenne, und trotzdem glaube ich nicht, dass du in naher Zukunft irgendwelche Reichen und Berühmten frisieren wirst.«
»Ich mein ja bloß.« Sie gähnt. »Du hast keinen Minimenschen in dir drin. Du kannst noch immer alles sein, was du willst.«
Wieder verdrehe ich die Augen und gähne zurück. Ich wünschte, es wäre so einfach. »Ich muss jetzt vor unserer Schicht noch ein bisschen schlafen.«
Ich mache die Augen zu und warte, bis ihr Atem langsamer geht. Ich liebe Hattie für ihren unerschütterlichen Glauben an mich, aber mir war schon von klein auf klar, was für Zeit und Aufwand es bedeutet, wenn man Schwimmerin oder Turnerin oder so eine bekloppte Geherin werden will. (Ja, genau, Gehen ist sehr wohl eine olympische Sportart.) Mein Sport – die besondere Fähigkeit, die ich im Laufe meines Lebens erworben habe – ist das Überleben, und da bleibt nicht viel Raum, um irgendwelchen Prinzessinnenträumen nachzuhängen.
Die Austern im Boucher’s sind der beste Grund, nach Eulogy zu kommen. Der zweitbeste ist das Ambiente im Boucher’s.
Nein, echt. So steht es in allen Bewertungen auf diesen Reise-seiten im Netz. Das ganze Jahr über ist das Lokal geschmückt wie für Weihnachten. Mit bunten Lichterketten an der Decke und künstlichen Tannenbäumen in jeder Ecke. Wenn es draußen nicht gerade in Strömen gießt oder unerträglich heiß ist, wird das Tor zur Terrasse hochgerollt, wie man das sonst von Autowerkstätten kennt. Es ist so ein Lokal, in das nicht nur Touristen, sondern auch die Einheimischen gehen, weil das Essen einfach kein Geheimtipp bleiben kann.
Ich lasse mich vor Saul auf einen Barhocker fallen. Der schwingt sich das Geschirrtuch über die Schulter und schmunzelt: »Du bist zu jung, ich darf dir nichts servieren, Süße.«
Stöhnend lasse ich den Kopf auf den Tisch fallen. Hattie und ich haben ein paar Stunden geschlafen, bevor wir ein wenig zu früh für die zweite Schicht hierhergekommen sind.
»Hey, Saul«, sagt Hattie, die hinter mir hereinkommt. Wir arbeiten beide hier, was vor allem damit zu tun hat, dass wir das Lokal fußläufig von zu Hause aus erreichen können und unsere Transportmöglichkeiten sich auf unsere Füße, mein Fahrrad und gelegentliche Mitfahrgelegenheiten bei Saul oder Hatties jeweiligem Lover beschränken.
»Was hat sie denn?«, fragt er meine Schwester.
Sie hüpft auf den Hocker neben mir. »Grace und ihre Familie sind heute Morgen abgereist.«
»Und Tyler zieht bei uns ein«, flüstere ich. Um dann noch lautlos hinzuzufügen. Hilf mir.
Er verdreht die Augen – nicht in meine Richtung, sondern in die meiner Schwester – und wuschelt mir mit der Hand durch die Haare. »Ich hab dir doch gesagt, dass du dich nicht verlieben sollst, oder? Wir sind jung. In unserem Alter hat man mit irgendwelchen dahergelaufenen Leuten Sex und dröhnt sich in öffentlichen Parks zu oder so.«
Ich hebe den Kopf, um ihn anzusehen. Und schon bringt mich sein lächerlicher gezwirbelter Schnurrbart wieder zum Lächeln. Im Gegensatz zu dem von Charlie ist Sauls Schnurrbart dick und perfekt gestylt. In Kombination mit seiner abgeschnittenen Jeans und dem Budweiser-Tanktop gibt ihm das so einen schmierigen 70er-Jahre-Pornostar-Look, mit dem jeder andere wie ein Pädophiler aussehen würde, aber Saul nicht. Vielleicht wirkt er durch diesen Look etwas älter, aber Saul ist gerade mal neunzehn und eben erst mit der Schule fertig. Shorts, Bärtchen und Tanktop sind Bestandteile seiner sogenannten Beach-Trash-Ästhetik. Für Saul sind die Klamotten so eine Art Verkleidung – oder vielmehr eine Rüstung.
»In fünf Minuten ist Belegschaftsversammlung!«, ruft Tommy aus der Küche, unser Restaurantleiter und Sohn des Eigentümers.
Saul schenkt mir ein Glas Cola Light ein und fügt, nachdem er sich vergewissert hat, dass keiner zusieht, noch einen Schuss Whiskey hinzu. Er schiebt das Glas zur mir rüber und beugt sich über den Tresen. »Sugar«, sagt er, »du hast dich nicht an meine Regeln gehalten.«
Saul ist der King des Sommerflirts, und seine Regeln sind Gesetz. Ich habe sie alle beide gebrochen: 1. Fang nie was mit Touristen an. 2. Heimliche Affären kannst du haben, so viele du willst, aber keine heimliche Beziehung.
Grace und ich haben viel darüber gesprochen, dass sie sich nicht offen zu ihrer Sexualität bekennen wollte, aber ich habe nie versucht, sie allzu sehr zu drängen. Das kam mir irgendwie übergriffig vor. Und ehrlich gesagt fand ich es furchtbar, mir den Kontrast zwischen ihrem Leben hier mit mir und dem Leben, das sie zu Hause führte, vorzustellen. Ich wusste, dass es da einen Jungen gab, ihre Mutter erwähnte ihn ständig, aber Grace redete nie über ihn, außer dass sie am Ende des Sommers mit ihm Schluss machen wollte. Es kommt einem jetzt vielleicht albern vor, aber wenn ich mit ihr zusammen war, konnte ich mir leicht vormachen, er würde gar nicht existieren oder wäre zumindest keine Bedrohung.
»Bestimmt freuen sich deine Freunde schon wieder auf dich«, hatte ich ein paar Tage vor ihrer Abreise gesagt, als wir zusammen auf einer Bank am Strand saßen, hinter uns der Highway 90. Grace gehört zu der seltenen Sorte von Leuten, die sich mit all den verschiedenen Grüppchen an ihrer Schule gut versteht – ganz im Gegensatz zu mir. Sie freute sich sogar auf den ersten Schultag.
Sie lehnte den Kopf gegen meine Schulter, und ich spürte ihre sommerheiße Wange. Ich hoffte, dass es einen Teil von ihr gab, der nur mir gehörte. Ein Lachen oder ein Lächeln oder auch nur ein Blick – irgendein kleines Eckchen von Grace, das nur ich kannte. Wenn ich nicht schlafen konnte, fragte ich mich manchmal, ob sie mich wohl ebenso liebte wie ich sie oder ob sie vielleicht nur in den Menschen verliebt war, der sie, wie ihr zunehmend klarwurde, immer schon gewesen war.
»Deine Eltern lieben dich«, sagte ich und küsste die Rundung ihrer Schulter ganz bis zum Halsansatz hinauf, bevor unsere Lippen aufeinandertrafen. »Du solltest es ihnen sagen.«
Sie verschränkte die Arme vor dem Bauch. »Würde ich ja gerne. Und das werde ich auch. Vielleicht wenn ich mit der Schule fertig bin. Aber zuerst will ich lauter gute Erinnerungen sammeln, weil … was wäre, wenn sich dadurch etwas verändert? Und sei es nur ein winziges bisschen?«
»Wärst du nicht immer gerne dieser Mensch?«, fragte ich, bemüht, sie nicht zu sehr zu drängen. »Wir könnten zusammen ausgehen. Oder uns vielleicht für irgendwelchen Shit besuchen, so was wie Homecoming oder zum Schulball.«
So wie ich die Eltern von Grace einschätzte, würden sie vermutlich Mitglied in einem Club für Eltern homosexueller Kinder werden und bei Gay-Pride-Parades mitmarschieren. Und falls es eine solche Parade in Picayune, Mississippi, noch nicht geben sollte, würden sie bestimmt eine organisieren.
Grace wandte sich zu mir. »Du kapierst das nicht.« Sie klang schon fast genervt. »Du hast keine Ahnung von meinem Leben zu Hause. Ich kann nicht einfach am ersten Schultag auftauchen und verkünden, dass ich lesbisch bin oder bi. Das ist nicht wie eine neue Frisur, die man sich den Sommer über zugelegt hat.« Sie kniff die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, und ich merkte, wie sie nach den richtigen Worten suchte. »Irgendwie gehen alle davon aus, dass man die Schule ätzend findet, aber ich mag mein Leben. Sehr sogar. Ich mag meine Freunde und meine Kurse, und das will ich nicht ausgerechnet im letzten Jahr kaputtmachen.«
Ich holte tief Luft und konzentrierte mich ganz auf den Klang meiner Stimme. »Das verstehe ich. Wirklich. Aber wertet es diese ganze Erfahrung nicht irgendwie ab, wenn du dich hinter der Person versteckst, für die dich alle anderen halten?«
Da wandte sie den Blick ab, zog die Knie an die Brust und zupfte an dem abblätternden Lack auf ihren Zehennägeln herum. »Ich habe viel zu verlieren. Und viele Menschen, denen ich weh tun könnte.«
Oder einen einzelnen Menschen, dachte ich bitter. Andrew. Ihr Freund. In diesen Augenblicken fragte ich mich schon, ob nicht ich nur eine vorübergehende Erscheinung in ihrem Leben war.
Ich schüttele den Kopf, um diese Gedanken an Grace loszuwerden. Saul hatte recht, was eine Beziehung im Verborgenen angeht, und das habe ich nun davon, dass ich geglaubt habe, ich könnte irgendwie eine Ausnahme sein.
Ruth, Sauls kleine Schwester, greift an meiner Schulter vorbei nach meinem Glas und kippt den gesamten Rest mit einem Schluck hinunter. Sofort verzieht sie das Gesicht und hustet in die Ellenbeuge. »Äh, das war aber eindeutig nicht nur Cola.«
»Ruthie! Das war meins«, erkläre ich. »Dieses kleine Schlückchen Whiskey habe ich mir verdient.«
Sie setzt sich neben mich, während sie sich gleichzeitig die kurze Kellnerinnenschürze um die Taille bindet »Und wie kommt’s?«, fragt sie trocken.
Das Selbstverständnis von Ruth ist wirklich beneidenswert. Für sie ist ihr Leben hier in Eulogy nur vorübergehend. Eine Art Boxenstopp unterwegs zu größeren und besseren Dingen. Und sie geht ganz offen damit um.
»Ich habe mit einem gebrochenen Herzen dafür bezahlt«, erkläre ich mit einem Blick auf das nun leere Glas.
»Hey, vielleicht kommt sie ja nächsten Sommer wieder«, versucht Ruth mich zu trösten. »Aber wohl eher nicht.«
Saul verpasst ihr einen Klaps mit seinem Handtuch. Die Liste dessen, was Saul und Ruth verbindet, ist kurz. Abgesehen davon, dass sie Geschwister sind, stehen sie beide auf ihr eigenes Geschlecht, sind beide weiß und Cajuns. Ihre Familien gehören zur alteingesessenen französischsprachigen Bevölkerungsgruppe hier in Louisiana. Mehr nicht.
Sie zuckt die Schultern. »Ich versuche doch nur, realistisch zu sein.«
Und Ruth ist realistisch, das steht fest.
Fast muss ich lächeln. Ruth und ich kennen uns beinahe schon unser ganzes Leben, weil Eulogy nun mal nicht so groß ist, aber befreundet sind wir erst seit dem Ende des ersten Highschool-Jahres. Saul hatte sich gerade gegenüber seiner Familie geoutet, und die hatte es nicht besonders gut aufgenommen. Und dann folgte auch Ruth mit ihrem Comingout. Ich weiß noch, dass beide eine Weile in der Schule gefehlt haben, so als hätten sie irgendeine ansteckende Krankheit. Inzwischen weiß ich, dass sie für ein paar Wochen zu den Großeltern nach Florida geschickt wurden, um dort an einer Evangelisationsveranstaltung ihrer Kirche teilzunehmen.
So war es bei mir nicht. Mein Comingout war kurz und schmerzlos. Wie so eine Meldung, die unten über den Fernsehschirm huscht, um dann schnell wieder vergessen zu werden. Hattie zuckte nur die Schultern und meinte: »Tja, das erklärt eine ganze Menge.« Und Dad dachte ein paar Minuten nach, bevor er hinzufügte: »Spricht ja nichts dagegen.« Nur meine Mom glaubt immer noch, es wäre nur eine Phase.
Eulogy besteht nicht nur aus Schlaglöchern und Trailerparks. Es gibt hier auch Viertel, wo die Leute im Vorüberfahren denken: Hier könnte man eigentlich wohnen, wie nett und beschaulich muss doch so ein Kleinstadtleben sein. In diesem Teil der Stadt sind Saul und Ruth zu Hause, aber da es in Eulogy nur eine Highschool gibt, sind da keine Mauern, die sie von anderen Jugendlichen wie mir trennen, auch wenn ihre Mom das gerne hätte. Nachdem Saul und Ruth aus Florida zurück waren, hat Hattie den Kontakt zu ihnen gesucht. Als Kind war ich nie zu Geburtstagspartys eingeladen und hatte keine beste Freundin, nur Hattie oder Freddie. Meine Sozialkontakte ergaben sich größtenteils daraus, dass ich als kleine Schwester überallhin mitgeschleift wurde. Und dass Ruth und Saul nun Teil meines Lebens sind, habe ich nur Hattie verdanken. Wenn ich sie mal wieder so rücksichtslos finde, rufe ich mir in Erinnerung, wie oft sie mir schon einen Platz in ihrem Leben eingeräumt hat.
Tommy steckt den Kopf zur Küchentür hinaus. Er ist klein und schwarz mit einer glänzenden, kahlrasierten Glatze. »Auf geht’s!«
Saul zwinkert mir zu, und ich folge ihm nach hinten.
Nach der Belegschaftsversammlung gehen wir alle den Nachmittag über und bis in den Abend hinein unserer jeweiligen Arbeit nach. Ruthie und Hattie kümmern sich um ihre Tische, während Saul an der Bar bedient, was nicht ganz legal ist, da er noch keine einundzwanzig ist, aber das scheint noch nie einen gestört zu haben.
Ich räume den ganzen Abend das Geschirr von den Tischen ab. Ich mag die Gleichförmigkeit der Arbeit und wünschte nur, sie würde auch mein Hirn stärker beschäftigen. Nach jedem Gang in die Küche ertappe ich mich dabei, wie ich auf mein Handy schaue und auf eine Nachricht von Grace hoffe. Nachdem ich heute früh neben Hattie eingeschlafen war, fand ich beim Aufwachen ein Bild vor, das sie mir geschickt hatte. Es war ein dunkles, verschwommenes Foto von dem Schild am Ortsausgang: NOWLEAVINGEULOGY! DON’T BE A STRANGER! Ich hatte ihr mit einem stirnrunzelnden Emoji geantwortet, war mir aber nicht sicher, was ich sonst hätte sagen sollen. Ich wollte nicht so rüberkommen, als ob ich es extrem nötig hätte, auch wenn ich es ausgesprochen nötig hatte.
Sie lebt nur anderthalb Stunden von hier entfernt, aber es sind eben anderthalb unmögliche Stunden für zwei Schülerinnen ohne Autos.
»Ramona!«, ruft Tommy aus der Küche. »Ich brauch dich beim Straßenverkauf!«
Ich stelle meine Wanne mit schmutzigem Geschirr in das Einweichbecken und eile an die Straßenverkaufstheke.
Ein schwarzer Junge, dessen relativ helle Haut über und über mit Sommersprossen bedeckt ist, sitzt auf einem Barhocker unter dem Take-away-Schild. Diese Sommersprossen würde ich überall wiedererkennen. »Freddie.«
Er ist derart auf sein Handy fokussiert, dass er mich nicht einmal hört.
»Freddie!« Ich stupse ihn leicht gegen die Schulter.
Schließlich dreht er sich auf den Zehenspitzen um und reißt die dunkelbraunen Augen auf, sobald er mich erkennt. Ohne auch nur einmal Luft zu holen, zieht er mich in seine Arme. »Ramona Blue!«
Mir schnürt sich ein wenig die Brust zusammen, ohne dass ich so recht weiß, warum. Heute Morgen bei Agnes habe ich mich wie eine Riesin gefühlt, doch jetzt ist es umgekehrt. Freddie, der schon immer ein bisschen kleiner war als ich, ist auch jetzt noch ein paar Zentimeter kürzer, aber dennoch fühle ich mich in seiner Umarmung geborgen. Seine Arme und Beine sind zwar schlaksig, aber er hat durchaus dünne, sehnige Muskeln. Er erinnert mich fast ein wenig an diese Plastikpuppen mit den langgezogenen Gliedmaßen, die man mehrfach verknoten kann. Seine Wangen sind rau von Bartstoppeln und vernarbter Akne. Die dunkelbraunen Augen wirken ein wenig trauriger, als ich sie in Erinnerung habe.
»Seid ihr für ein paar Wochen hier?«, frage ich.
Er schüttelt den Kopf. »Für immer.«
Mein Herz macht einen Satz, und ich boxe ihn ein bisschen zu fest. »Ernsthaft?«
»Gran ist in Rente, deswegen haben sie und Bart sich hier ein Haus gekauft. Das wollte sie immer schon.«
»Bart?«, frage ich.
Er verzieht den Mund. »Grandpa ist vor ein paar Jahren gestorben. Sie und Bart haben letztes Jahr im Februar geheiratet.« Er zuckt die Schultern. »Netter Kerl.«
»Verdammt«, murmele ich. »Das mit deinem Grandpa tut mir leid.«
Eigentlich möchte ich noch viel mehr sagen, aber die vielen Jahre, in denen wir uns nicht gesehen haben, bilden eine unsichtbare Grenze zwischen uns.
Er nickt. »Ich glaube, meine Gran hat eine Bestellung aufgegeben.«
»Okay. Ich schau mal, wo die steckt.« Ich laufe auf die andere Seite der Theke und packe eine Extraportion Hot Sauce, Ketchup und Plastikbesteck in eine Tüte. »Braucht ihr auch Teller?«
»Klar. Weniger Abwasch für mich nach dem Essen.«
»Ramona!«, blafft Hattie von der Bedienungstheke her. »Ich brauche Tisch acht abgeräumt!«
Ich reiche Freddie rasch das Essen und sein Rückgeld. »Hey, ich hab Agnes heute früh schon getroffen, und sie hat mich zum Frühstück eingeladen. Sehen wir uns also morgen früh? Dann haben wir vielleicht ein bisschen mehr Zeit zum Erzählen.«
Er grinst, und mir fällt auf, dass er noch immer diese kleine Lücke zwischen den Vorderzähnen hat. »Na klar.«
Wir verabschieden uns, und ich schaue ihm hinterher, wie er in einen strahlend weißen Cadillac steigt, der im Schein der untergehenden Sonne orange leuchtet.
Hattie und ich liegen gemütlich auf dem Sofa. Sie hat mich mitten in der Nacht aufgeweckt und mich gebeten, aufzustehen und mit ihr fernzusehen, weil ihr das Flusskrebsragout, das wir uns zum Abendessen geteilt haben, gar nicht bekommen ist. Ich dachte immer, dass Schwangere überhaupt keinen Fisch essen sollten, oder gilt das vielleicht nur für Sushi? Aber Hattie meinte, das sei wie mit dem Wein, eine kleine Menge wäre okay.
Hattie schläft in letzter Zeit häufiger schlecht. Als die Olympischen Spiele noch liefen, hat es mich weniger gestört, mit ihr aufzubleiben, aber jetzt ist die Programmauswahl bei unseren nächtlichen Fernsehsessions recht beschränkt. Und ich ahne bereits, wie nervig es wird, meinen Körper wieder an den Schuljahresrhythmus zu gewöhnen.
Ich schaue auf meine Armbanduhr – ein Erbstück von meinem Dad mit einem schwarzen Zifferblatt und einem olivgrünen Stoffarmband. Mir bleiben nur noch anderthalb Stunden, bis ich für meine Zeitungsrunde aufstehen muss, und mein Körper wehrt sich jetzt schon gegen die Vorstellung, es wäre Morgen. Es ist gar nicht so einfach, ein Morgenmensch zu sein, wenn man so gut wie keinen Schlaf mehr bekommt.
Aber Hattie schläft tief und fest mit dem Kopf auf meinem Schoß – mein Bett kann ich vergessen!
Ich scrolle durch meine Kontakte, bis ich bei der Nummer von Grace lande. Jetzt, mitten in der Nacht, kommt es mir irgendwie weniger gewagt vor, ihr zu schreiben. Vielleicht sind wir bei Mondschein einfach mutiger? Oder unvernünftiger? Ich bin mir nicht sicher. Ich denk an dich, tippe ich. Du fehlst mir.
Ich drücke auf Senden und bereue es sofort. Sie könnte denken, dass ich klammere oder abhängig bin, wenn ich ihr so mitten in der Nacht schreibe.
Doch schon wenige Augenblicke später brummt mein Handy.
GRACE: Hätte nicht gedacht, dass es so schwer wird.
Ich grinse übers ganze Gesicht. Sie hat Sehnsucht nach mir. Und dann lädt auch noch der Anhang – ein verschwommenes, wässriges Bild von ihrer Straße inmitten eines Wolkenbruchs, anscheinend aus ihrem Zimmerfenster aufgenommen. Die Straße dampft fast vor Feuchtigkeit.
Ich drücke das Handy an meine Brust und stelle mir vor, ich würde dasselbe sehen wie sie und anstelle meiner Schwester läge Grace hier in meinem Schoß. Ich male mir verschiedene Varianten eines Lebens mit ihr aus. Ein Leben, das ich kaum wiedererkenne.
»Ramona, Ramona.« Eine raue Hand packt meinen Unterarm. »Wach auf, meine kleine Bebette«, sagt mein Dad und verwendet den alten Cajun-Ausdruck, der noch von meiner Grandma Cookie stammt. Bebette, sein kleines Monster. »Du kommst zu spät zu deiner Runde.«
Ich schlage die Augen auf und sehe das Gesicht meines Vaters, das dicht über meinem Kopf schwebt. Der Fernseher ist abgestellt. »Ich geh jetzt wieder ins Bett, bevor ich nachher ins Hotel muss«, sagt er.
Dad sieht erschöpft aus, aber das ist nichts Neues. In den letzten Jahren haben sich die kleinen Knitterfalten in seinem Gesicht in tiefe Furchen verwandelt, die all seine Sorgen sichtbar machen. Wann immer ich mit meiner Körpergröße hadere, mache ich mir klar, dass sie ein Geschenk meines Vaters ist. Eine ständige Erinnerung, dass ich seine Tochter bin. Genau wie mein kantiges Kinn. Das geht ebenfalls auf sein Konto.
Er küsst mich auf die Stirn, bevor er Richtung Bett davonschlurft. »Nimm dir eine Banane mit.«
Beim Aufstehen hebe ich vorsichtig Hatties Kopf hoch und schiebe ein Kissen darunter.
»Vergiss nicht Tylers Geburtstag morgen«, sagt sie mit verschlafener Stimme. »Du hast versprochen, dass du einen Kuchen bestellst, ja?«
Mist. Hattie wollte einen Kuchen von Stella’s Bakery, und ich habe gestern vollkommen vergessen, einen zu bestellen. Stella hat eine Bestellfrist von 48 Stunden, von der sie unter keinen Umständen abweicht. Die besten Chancen habe ich noch, wenn ich nach meiner Zeitungsrunde persönlich bei ihr zu Kreuze krieche.
»Alles geritzt«, lüge ich.
Rasch laufe ich in mein Zimmer, wo ich eine zerschlissene Jeansshorts und die schwarzen Springerstiefel hervorkrame, die Grace für mich bei der Heilsarmee ausgesucht hat. Um ihr zu zeigen, wie gut sie mir gefielen, habe ich sie gleich am nächsten Abend getragen und sie mit einem kurzen Sommerkleid kombiniert. Grace meinte, es sähe voll nach Nineties-Grunge-Look aus.
Letztlich hatte ich das Kleid nicht besonders lange an. Obwohl ich versuche, diese Erinnerung zu verdrängen, kriege ich eine Gänsehaut an den Beinen.
Beim Hinauslaufen werfe ich noch einen Blick aufs Handy und schiebe mein Rad neben mir her. Es gab mal eine Zeit, da waren die Straßen in unserer Siedlung noch geteert, aber mittlerweile sind davon nur noch kurze Abschnitte von Asphalt übrig, die von tiefen Kratern durchzogen sind. Ob daran nun das Wetter, die miesen Fahrer oder die beschissene Betreibergesellschaft schuld sind – egal –, man kann jedenfalls unmöglich mit dem Fahrrad fahren, und auch mit dem Auto muss man sich ganz vorsichtig zwischen all den Schlaglöchern und Rissen hindurchschlängeln. Die meisten Leute parken inzwischen auf der Straße.
Früher, als ich noch klein war, hatten wir ein Haus. Da war auch meine Mom noch bei uns. Hattie kann sich besser daran erinnern als ich. Aber beim Hurrikan Katrina wurde das Haus überschwemmt und war nicht mehr zu retten. Wir haben auch alles andere verloren, was unterhalb der Wasserlinie war, so wie den Food-Truck von meinem Dad.
Es erging uns genau wie allen anderen. Jeder hatte irgendetwas oder irgendjemanden verloren oder beides. Ein paar Monate lang haben wir drei bei Freunden auf dem Sofa übernachtet oder uns in Motels einquartiert und von der staatlichen Notfallhilfe gelebt, während wir auf das Geld von der Versicherung warteten. Meine Mom ist solange zu ihrer Schwester nach Arkansas gezogen. Weil sie nicht zurückkam, habe ich meinen Dad jeden Abend gefragt, wann sie wieder bei uns sein würde, bis ich irgendwann aufgehört habe zu fragen.
Als endlich der Scheck von der Versicherung kam, konnten wir mit dem Geld bei weitem nicht alles ersetzen, was wir verloren hatten. Also kaufte Dad den Trailer, den man uns als Notquartier zugewiesen hatte und in dem wir nun schon seit einigen Monaten wohnten. Und er nahm eine Stelle als Koch und Hausmeister im Le Manoir an, dem ältesten Hotel von Eulogy und einem der wenigen nicht zerstörten Häuser.
Mom kam nicht zurück. Vielleicht lag es an dem Trailer. Vielleicht an uns. Manches, das von einer Katastrophe entzweigerissen wird, lässt sich hinterher nie wieder zusammenfügen, selbst wenn noch alle Einzelteile vorhanden sind.
Als ich neun oder zehn war, tauschten wir unseren Trailer gegen einen etwas größeren, so dass Dad nicht länger auf dem Sofa schlafen musste, aber der neue ist auch nicht stabiler als der alte. Die Fußböden knarzen und fallen an manchen Stellen ganz auseinander. Und das Ding schimmelt eindeutig, aber was wir nicht sehen können, lässt sich leicht ignorieren. Das Dach hat einen Wasserschaden und sackt in sich zusammen, durch die Feuchtigkeit blättert die Wandfarbe ab, und es wäre gelogen zu behaupten, wir hätten nicht schon mehr als einmal ein Problem mit Kakerlaken gehabt. Es wäre für uns alle Zeit für den nächsten Schritt, aber keiner von uns hat eine Ahnung, in welche Richtung wir ihn gehen könnten. Oder wie. Und trotz alledem hat es auch etwas Geborgenes hier.
Unterwegs auf meiner Runde denke ich über Mittel und Wege nach, wie ich Stella doch noch überreden könnte, diesen Kuchen zu backen. Ich denke mir alle möglichen Geschichten aus, aber Stella hat so viel Mitgefühl wie ein Krokodil.
Wenn Grace noch hier wäre, würde ich sie bitten, den Kuchen zu backen. Auch wenn sie ansonsten auf Dosenspaghetti oder Pizzataschen steht, hat Grace doch ein besonderes Faible fürs Backen. Einmal sind wir lange aufgeblieben und haben Donuts gemacht und sie allesamt aufgegessen, bevor ihre Familie am Morgen aufgewacht ist. Dabei haben wir irgendwelche Übertragungen der Olympischen Spiele angeschaut, was eben nachts so gesendet wird, Handball oder Trampolin.
Ich frage mich, was sie wohl heute macht und ob sie auch außerhalb der Ferien für so was wie nächtliche Donut-Back-Aktionen zu haben ist? Dabei fällt mir auf, dass ich eigentlich sehr wenig über ihren Alltag zu Hause weiß, außer dass sie letztes Jahr mit Fußball aufgehört hat und ihre beste Freundin, Veronica, gerade nach Texas gezogen ist.
Am Ende meiner Runde sehe ich Freddie, der auf dem Rasen neben einem Müllsack voller Unkraut hockt. Er hat mich nicht bemerkt und gähnt gerade herzhaft, als ihm ein dicker Regentropfen direkt auf die Nasenspitze fällt.
»Ich wusste gar nicht, dass du auf Gartenarbeit stehst.«
Er dreht den Kopf zu mir. »Mann, ist das früh. Ich war gerade so erschöpft, dass ich nicht mal mehr sagen konnte, ob ich jetzt wach bin oder schlafe.«
»Oh, jetzt ist genau meine Zeit«, verkünde ich stolz. »Am frühen Morgen hab ich immer das Gefühl, als würde dieser ganze verdammte Planet nur mir gehören.«
»Bitte, du kannst ihn gerne haben«, sagt er.
Am Himmel ertönt Donnergrollen, und es fängt plötzlich an zu schütten.
»Kommt sofort rein, ihr zwei!«, ruft Agnes von der vorderen Veranda. Sie trägt Gummisandalen, wie sie im Ein-Dollar-Store verkauft werden, und einen weißen Frotteebademantel mit Reißverschluss.
Freddie packt den Lenker meines Fahrrads und wirft sich den Müllsack mit Unkraut über die Schulter.
»Lasst das am besten beides hier draußen auf der Veranda«, sagt Agnes und winkt uns nach drinnen.
Dort brauchen meine Augen eine Weile, bis sie sich an die Zimmerbeleuchtung gewöhnt haben, doch dann erkenne ich, dass sich an den Wänden die Umzugskartons stapeln, und der Holzfußboden glänzt so, dass ich meine Stiefel ausziehe, noch bevor ich dazu aufgefordert werde. In schöneren Häusern, so wie diesem, komme ich mir immer ein bisschen fehl am Platze vor, so als würde allein meine bloße Gegenwart ihren Wert senken.
Draußen strömt das Regenwasser bereits die Straße hinunter und sammelt sich unten am Fuß des Hügels. Dabei sollte es heute nicht einmal regnen. Soweit ich weiß. Aber so ist das nun mal mit dem Wetter bei uns hier im Süden. Als wäre der Lebensrhythmus hier derart verlangsamt, dass die Natur uns antreiben und daran erinnern will, dass wir noch andere Dinge zu tun haben, als in der Sonne zu liegen.
Ein älterer, aber rüstiger weißer Mann mit grauem Militärhaarschnitt kommt aus dem Flur und küsst Agnes auf die Wange.
Sie schiebt ihn beiseite und sagt: »Und das hier ist Bart, mein Mann.«
Bart wackelt mit den Augenbrauen. Er trägt kurze Jeans mit braunen Hosenträgern, ein weißes Unterhemd ist in die Hose gesteckt. Seine Kleidung ist zweckmäßig, sonst nichts. Ich merke gleich, dass er ganz anders ist als Freddies Grandpa. Der war ein eher kleingewachsener, schwarzer Mann, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit Fliege und passendem Einstecktuch gekleidet war. Aber Bart ist mir sofort sympathisch.
»Ramona«, stelle ich mich selbst vor. »Die Zeitungsausträgerin.«
»Und eine alte Freundin der Familie«, ergänzt Agnes.
Bart nickt einmal zum Zeichen, dass er diese Information in dem Karteikasten in seinem Kopf archiviert hat. »Willst du nicht mal ein paar Eier in die Pfanne hauen, Freddie?«, sagt er. »Nichts Besonderes, einfach nur Spiegelei mit Toast.«
Freddie schlüpft aus seinen Flipflops. »Du lässt dir was entgehen, Bart. Es gibt noch so viele Frühstücksvarianten auf der Welt.«
Agnes seufzt, ihr weicher Körper schmiegt sich an ihren neuen Ehemann. Meinen Dad habe ich nie so zärtlich mit jemand anderem erlebt, und deswegen starre ich die beiden ganz gegen meinen Willen an.
»Ich glaube, ich schau mal, ob Freddie Hilfe braucht«, sage ich schließlich und will ihm folgen.
»Aber pass auf!«, sagt Bart. »Der Kerl ist sehr eigen, was seine Küche anbetrifft.«
Als ich um die Ecke biege, steht Freddie da und bindet sich gerade eine Schürze um. »Was kann ich tun?«, frage ich.
Zum ersten Mal wirkt er nervös. »Äh, also eigentlich hab ich da mein eigenes System.«
»Na dann.«
Ich setze mich auf einen Hocker und sehe Freddie zu, der am Herd herumwirbelt, Eier aufschlägt und verquirlt und Toastbrot perfekt knusprig brät. Es ist, als würde man einem Magier zusehen, der sich auf die Kunst der Zaubertränke versteht und seine perfekten Mischungen zusammenstellt.
Gleichzeitig ist mir ein wenig unbehaglich, hier so zu sitzen. Ich weiß nicht recht, worüber ich mit ihm reden oder was ich sagen soll, wenn wir nicht mehr wie früher am Strand Fangen spielen oder Hattie und ich ihn zwingen, mit uns Saure-Gurken-Restaurant zu spielen. Die Erinnerung daran lässt mich schmunzeln. Wir wollten immer Restaurant spielen, aber Agnes erlaubte uns nicht, wirklich zu kochen, sondern gab uns stattdessen ein Glas sauer eingelegtes Gemüse, das wir als Essen benutzen konnten. Einmal hat Freddie so viel davon vertilgt, dass er alles auf die Einfahrt gekotzt hat, wo wir später am Nachmittag mit unseren Fahrrädern herumkurvten. Es hat Jahre gedauert, bis mir nicht mehr schon beim leisesten Geruch von sauren Gurken übel wurde.
»Also dann«, sagt Freddie. »Drei Portionen Eggs Benedict und einmal die unbesondere Sonderportion für Bart.«
Agnes kommt genüsslich schnüffelnd in die Küche und klatscht vor Begeisterung in die Hände. Sie fummelt an dem kleinen Radio auf dem Fensterbrett herum, bis sie einen Sender mit Oldies gefunden hat.
Ich warte, dass alle sich setzen, da ich nicht weiß, wessen Stammplatz wo ist. Aber es scheint keine besondere Sitzordnung an dem runden Tisch zu geben. Ich lasse mich auf den leeren Stuhl gegenüber Freddie gleiten, während Bart es sich bereits schmecken lässt und Agnes noch im Stillen für sich ein Gebet spricht.
Es gefällt mir, wie sie mich ohne viel Aufhebens in ihrer Runde aufnehmen. Dadurch fühle ich mich gleich wie zu Hause, und es erinnert mich an die Zeiten, als Agnes Hattie und mich mit in ihr Ferienhaus genommen hat, wenn mein Dad bei der Arbeit war, damit wir uns nicht bei meiner Großmutter im Wintergarten langweilen und ihren Wollvorrat entwirren mussten. Damals machte Agnes uns Sandwiches mit Eiersalat und einem Spritzer Hot Sauce, die sie zu Dreiecken schnitt. Und anschließend haben wir drei die Küche aufgeräumt, während sie ihre Lieblingsshows im Fernsehen sah.
Im Ferienhaus von Grace hat ihre Mutter immer den kleinen Bruder von seinem Stuhl verscheucht, um mir den besseren Platz anbieten zu können. Und sobald ich das Haus betrat, hat sie Grace aufgefordert, mir ein Wasser oder eine Limo anzubieten. Ich war immer in der Rolle des GASTES in Großbuchstaben. Ein Gast, der möglicherweise eine LESBE (ebenfalls in Großbuchstaben) aus ihrer Tochter gemacht hat.
Agnes fragt Freddie über die Anmeldung an der Highschool aus, während Bart eher von dem wackelnden Küchentisch abgelenkt ist. Er verspeist seine Eier und den Toast, als würde dabei eine Stoppuhr laufen, und mir drängt sich der Gedanke auf, dass er früher beim Militär war. »Ich brauche meinen Kreuzschlitzschraubenzieher«, murmelt er.
Keiner drängt mich zum Reden, was gut ist, weil ich noch nie ein derart gutes Frühstück gegessen habe. Bei mir besteht eine ausgewogene erste Mahlzeit des Tages eher aus zwei Pop-Tarts und einem Schluck Dr-Pepper-Light. Anfänglich misstraute ich der hellgelben Sauce, mit der Freddie alles übergossen hatte, aber für diese Kombination aus Eiern, Sauce, Frühstücksspeck und Toastbrötchen gilt dasselbe wie für das traditionelle Essen zu Thanksgiving – man muss alles zusammen essen, um den ganz besonderen Geschmack zu erreichen. »Wie nennt sich das noch mal?«, frage ich mit vollem Mund.
»Eggs Benedict«, gibt Freddie lächelnd zur Antwort.
Als wir fertig sind, stapelt Agnes die Teller zusammen und betrachtet meinen. »So gut wie blank geleckt, was?«
Mein Hals fühlt sich an, als stünde er in Flammen, und ich weiß, dass er knallrot ist. So ist es immer bei mir, wenn ich erröte. »Ja, Ma’am.« Dann sage ich zu Freddie. »Das war so lecker. Wo hast du so gut kochen gelernt?«
Er zuckt die Schultern, und wie bei jedem normalen Menschen erröten seine Wangen und nicht sein Hals.
»Bestimmt nicht von mir«, bemerkt Agnes. »Aber wir haben den Morgen zu einer Kunst erhoben, stimmt’s Freddie? All diese frühen Trainingsstunden und Wettkämpfe.«
Ich warte auf weitere Erklärungen von einem der beiden, doch Freddie beißt sich nur auf die Unterlippe und nimmt Agnes den Stapel mit Tellern ab.
Ich mag nicht gehen, doch der Uhrzeiger schreitet nur in einer Richtung voran, und falls Stella noch einen kleinen Rest guten Willens haben sollte, wird der von Minute zu Minute kleiner. »Ich denke, ich sollte dann mal nach Hause. Danke fürs Frühstück.«
»Du willst doch nicht etwa bei diesem Wetter mit dem Rad nach Hause fahren?«, sagt Agnes.
Ich schaue nach draußen. Der Regen hat nicht nachgelassen, kein bisschen. Bis zu Stella’s Bakery ist es viel weiter als nach Hause, aber ich habe keine Wahl. Hattie wird mich bis zur Geburt ihres Kindes mit Schweigen strafen, wenn es mir nicht gelingt, einen Geburtstagskuchen für Tyler zu organisieren. »Das geht schon.«
»Nimm mein Auto, Freddie, und fahr sie nach Hause. Mein Wassergymnastik-Kurs ist erst um zehn.«
»Ja, Ma’am«, sagt er.
Agnes sagt, ich soll auf der Veranda warten, während Freddie mein Rad in den Kofferraum des Cadillacs lädt. Nachdem er das Auto angelassen und es die Einfahrt hinunter zum Gehweg vor dem Haus gefahren hat, bedanke ich mich noch einmal bei Agnes.
Sie verabschiedet mich mit einem sanften Kuss auf die Wange, bei dem sich ein Gefühl von Wärme in meiner Brust ausbreitet, das mich an die vielen Sommermonate erinnert, in denen sie mir in so vieler Hinsicht eine bessere Mutter war, als es meine Mom jemals gewesen ist.
Ich flitze durch den strömenden Regen zur Beifahrertür.
Das Innere von Agnes’ Wagen ist beige und makellos mit Sitzbezügen aus hölzernen Perlen. Ich bemühe mich, meine Füße auf der Matte zu halten, während Freddie in der Einfahrt wendet. Die Scheibenwischer sind im Dauereinsatz und kämpfen gegen die unablässig herabströmenden Wassermassen an.
»Wohin genau?«
Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigt 9.00 Uhr. Die Bäckerei ist schon seit Stunden geöffnet. Ich komme mir ein bisschen komisch vor mit meiner Bitte, aber das würde mir so viel Zeit sparen. »Also eigentlich sollte ich für Hattie noch bei der Bäckerei vorbeigehen. Würde es dir etwas ausmachen, mich dort abzusetzen?«
Er zuckt die Schultern. »Sag mir, wohin.«
»Es macht dir nichts aus?«
Er schüttelt den Kopf. »Hier zu Hause warten sowieso nur Umzugskisten auf mich.«
Das Haus von Stella’s Bakery ist ein kleiner gelber Ziegelbau, den Stellas Enkel jeden Sommer frisch für sie streichen. Es sieht aus wie ein Zitronenbonbon – zumindest wenn es sichtbar ist. Im Augenblick ist es eher ein gelber Fleck hinter einem grauen Tuch.
»Ich fasse es nicht, dass es die immer noch gibt«, sagt Freddie, während wir durch den Regen laufen.
Ich packe den Türgriff. »Das Einzige, was sich hier jemals verändert, sind die Leute auf der Durchreise.«
Drinnen sitzt Stella selbst auf einem knarrenden Hocker aus Holz und hat die Nase tief in einem nostalgischen Liebesroman vergraben. Auf den ersten Blick sieht Stella vielleicht aus wie jede andere reizende ältere Dame hier in der Stadt, aber sie ist alles andere als reizend. Draußen an dem kleinen Tresen vor dem Schaufenster ist wie immer eine Gruppe von alten Männern versammelt, die hier ihren Kaffee trinken und dazu ein Beignet essen. Es seufzt, grunzt und pfeift, wenn sie sich unterhalten.
Der Fußboden ist klebrig vom Puderzucker, und jeder Atemzug ist von süßem Teig erfüllt. Die gläsernen Auslagen sind voller Gebäck, von Beignets bis hin zum schlichten Bagel. Keiner davon ist perfekt, weil Stella der Meinung ist, dass Essen schmecken soll und nicht gut aussehen.