DUMPLIN' - Julie Murphy - E-Book
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DUMPLIN' E-Book

Julie Murphy

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Beschreibung

Die #1 der "New York Times"-Bestsellerliste: Dick UND schön? Unsicher UND mutig? Dumplin' ist all das und noch viel mehr. Willowdean – "16, Dolly-Parton-Verehrerin und die Dicke vom Dienst" – wird von ihrer Mutter immer nur Dumplin' genannt. Bisher hat sie sich in ihrem Körper eigentlich immer wohl gefühlt. Sie ist eben dick – na und? Mit ihrer besten Freundin Ellen an ihrer Seite ist das sowieso total egal. Doch dann lernt sie den sportlichen und unfassbar attraktiven Bo kennen. Kein Wunder, dass sie sich hoffnungslos in ihn verknallt – dass er sie allerdings aus heiterem Himmel küsst, verunsichert sie völlig. Plötzlich macht es ihr doch etwas aus, nicht schlank zu sein. Um ihre Selbstzweifel in den Griff zu bekommen, beschließt Will, sich der furchteinflößendsten Herausforderung in ganz Clover City zu stellen: Sie will am "Miss Teen Blue Bonnet"-Schönheitswettbewerb teilnehmen und allen – vor allem sich selbst – beweisen, dass die Kleidergröße für das ganz große Glück überhaupt keine Rolle spielt. "Badeanzüge haben so etwas an sich, das einen denken lässt, man müsste sich erst das Recht verdienen, sie zu tragen. Aber eigentlich ist doch die entscheidende Frage: Hast du einen Körper? Dann zieh ihm einen Badeanzug an."

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Seitenzahl: 457

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Julie Murphy

DUMPLIN'

Go big or go home.

Aus dem amerikanischen Englisch von Kattrin Stier

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto]1234567891011[Zwischenblatt]1213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546474849505152535455565758596061Dank

Für all die Mädels mit den dicken Hintern

Find out who you are and do it on purpose.

 

DOLLY PARTON

1

Die besten Dinge in meinem Leben haben immer mit einem Song von Dolly Parton angefangen. Einschließlich meiner Freundschaft mit Ellen Dryver.

Der Song, mit dem alles begann, war »Dumb Blonde« von ihrem Debütalbum Hello, I’m Dolly aus dem Jahr 1967. Im Sommer vor der ersten Klasse hatten meine Tante Lucy und Mrs Dryver wegen ihrer gemeinsamen Begeisterung für Dolly zueinandergefunden. Während die beiden im Esszimmer saßen und süßen Tee tranken, hockten Ellen und ich auf dem Sofa, schauten Zeichentrickfilme und wussten nicht recht, was wir voneinander halten sollten. Doch dann ertönte eines Nachmittags dieser Song aus Mrs Dryvers Stereoanlage. Ellen wippte mit dem Fuß, während ich mitsummte, und noch bevor Dolly beim Refrain angelangt war, tanzten wir im Kreis herum und sangen aus Leibeskräften mit. Ich bin sehr glücklich darüber, dass unsere Liebe zu Dolly und zueinander weit über diesen einen Song hinausging.

 

Ich warte vor dem Jeep ihres Freundes auf Ellen, während meine Füße in der prallen Sonne immer tiefer in den Teer des Schulparkplatzes sinken. Ich gebe mir Mühe, keine Miene zu verziehen, während sie aus dem Schultor gehüpft kommt und sich zwischen dem Schulschlussverkehr hindurchschlängelt.

El ist alles, was ich nicht bin. Groß, blond und auf diese unmögliche Art schusselig und sexy, wie man es sonst nur aus romantischen Komödien kennt. Sie fühlt sich wohl in ihrer Haut, und das war schon immer so.

Ihren Freund Tim kann ich nirgends entdecken, aber ich bin sicher, dass er sich nur ein paar Schritte hinter ihr befindet, mit der Nase am Handy, während er alle Sportergebnisse nachliest, die er während des Unterrichts verpasst hat.

Das Erste, was mir an Tim auffiel, war, dass er mindestens acht Zentimeter kleiner ist als El. Aber ihr ist das egal. Als ich auf diese vertikale Differenz hinwies, lächelte sie, während sich eine zarte Röte von ihren Wangen bis zum Hals ausbreitete, und sagte: »Ist doch irgendwie süß, oder?«

El bleibt kurz vor mir stehen und keucht: »Du musst heute Abend arbeiten, oder?«

Ich räuspere mich. »Ja.«

»Es ist nie zu spät, um einen Ferienjob im Einkaufszentrum zu suchen, Will.« Sie lehnt sich gegen den Jeep und stupst mich mit der Schulter an. »Mit mir.«

Ich schüttele den Kopf. »Ich find’s gut bei Harpy’s.«

Ein riesiger aufgebockter Pick-up rast vor uns über den Parkplatz in Richtung Ausfahrt.

»Tim!«, ruft Ellen.

Er bleibt wie angewurzelt stehen und winkt uns zu, während der Pick-up, der ihn um ein Haar plattgefahren hätte, an ihm vorbeidonnert.

»Ich fasse es nicht!«, sagt El, gerade laut genug, dass ich es hören kann.

Ich glaube, die beiden sind füreinander geschaffen.

»Danke für die Warnung«, ruft er.

Wir könnten gerade von Aliens angegriffen werden, und Tims Kommentar dazu wäre bloß: »Cool.«

Nachdem er es heil über den Parkplatz geschafft hat, steckt er sein Handy in die Hosentasche und gibt ihr einen Kuss. Es ist kein ekliger Zungenkuss oder so, sondern eher ein Hallo-du-hast-mir-gefehlt-und-du-bist-immer-noch-so-hübsch-wie-bei-unserem-ersten-Date-Kuss.

Mir entschlüpft ein langgezogener Seufzer. Wenn ich für immer den Anblick aller sich küssenden Menschen vermeiden könnte, wäre mein Leben um mindestens zwei Prozent erfüllter.

Dabei bin ich weder eifersüchtig auf Ellen und Tim, noch hat Ellen mir Tim ausgespannt, und ich will ihn wirklich nicht für mich haben. Aber ich hätte gerne das, was die beiden haben. Ich hätte gerne einen Menschen, den ich küsse, wenn ich ihn begrüße.

Ich schaue an den beiden vorbei zu der Laufbahn, die um das Footballfeld verläuft. »Was machen die denn da hinten?« Eine kleine Gruppe von Mädchen in rosa Shorts und passenden Tanktops trabt über die Bahn.

»Trainingscamp für den Schönheitswettbewerb«, sagt Ellen. »Das läuft den ganzen Sommer. Eine von den Mädels von meinem Job macht da auch mit.«

Ich versuche nicht mal, mein Augenrollen zu unterdrücken. Clover City hat nicht gerade viel zu bieten. Alle paar Jahre ist unser Footballteam gut genug für die Play-offs, und von Zeit zu Zeit schafft es jemand hier rauszukommen und irgendetwas Bemerkenswertes zu vollbringen. Das Einzige, das unsere kleine Stadt interessant macht, ist der älteste Schönheitswettbewerb von ganz Texas. Seit den dreißiger Jahren gibt es den Miss Teen Blue Bonnet Schönheitswettbewerb, und im Laufe der Jahre ist er immer größer und lächerlicher geworden. Und ich muss es wissen – meine Mutter ist seit fünfzehn Jahren die Vorsitzende des Planungsausschusses.

Ellen angelt Tims Schlüssel aus der Vordertasche seiner Shorts, bevor sie mich von der Seite umarmt. »Ich wünsch dir viel Spaß bei der Arbeit. Auf dass dich das Fett nicht anspritzen möge.« Sie geht um das Auto herum, um die Fahrertür aufzuschließen, dann ruft sie Tim auf der anderen Seite zu: »Möchtest du Will nicht auch viel Spaß wünschen, Tim?«

Er hebt für einen kurzen Augenblick den Kopf, und ich sehe dieses Lächeln, das Ellen so sehr an ihm liebt. »Will.« Tim ist zwar meistens völlig in sein Handy versunken, aber wenn er etwas sagt – nun, dann macht er das eben so, dass ein Mädchen wie El bei ihm bleiben möchte. »Ich hoffe, du hast einen schönen Tag.« Er macht eine tiefe Verbeugung.

El verdreht die Augen, setzt sich hinters Lenkrad und steckt sich ein frisches Kaugummi in den Mund.

Ich winke und bin schon fast bei meinem Auto, als die beiden schnell an mir vorüberfahren, Ellen mir noch einmal ein »Bye« zuruft und dabei versucht, Dolly Parton zu übertönen, deren »Why’d You Come in Here Lookin’ Like That« aus den Lautsprechern dröhnt.

Während ich in meiner Tasche nach den Schlüsseln krame, bemerke ich Millie Michalchuk, die über den Gehweg und den Parkplatz watschelt.

Ich weiß es schon, bevor es passiert. Am Minivan ihrer Eltern lehnt Patrick Thomas, der vielleicht größte Idiot aller Zeiten. Er hat die unvergleichliche Eigenschaft, Leuten Spitznamen zu verpassen, die dann für immer hängenbleiben. Manchmal sind es coole Spitznamen, aber meistens ist es eher so was wie Haaaannah, ausgesprochen wie das Wiehern eines Pferdes, weil der Mund des Mädchens so aussieht, als hätte sie … na ja, eben ein Pferdegebiss. Sehr clever, ich weiß.

Ich gebe es nur ungern zu, aber Millie ist eines der Mädchen, die ich schon mein Leben lang beobachtet und dabei gedacht habe: Es könnte schlimmer sein. Ich bin dick, aber Millie ist so fett, dass sie Hosen mit Gummizug braucht, weil es in ihrer Größe keine Hosen mit Knöpfen und Reißverschlüssen mehr gibt. Ihre Augen stehen zu eng zusammen, und ihre Nasenspitze ragt in die Höhe. Sie trägt T-Shirts mit Welpen und Kätzchen darauf und meint das nicht ironisch.

Patrick versperrt den Weg zur Fahrertür, und er und seine ungehobelten Freunde grunzen wie Schweine. Millie kann erst seit ein paar Wochen Auto fahren, und sie saust mit ihrem Minivan herum, als wäre es ein Sportwagen.

Kurz bevor sie um die Ecke biegt und diese Idiotenversammlung neben ihrem Van bemerkt, rufe ich ihr zu: »Millie! Komm mal!«

Sie zieht die Träger ihres Rucksacks fest und ändert die Richtung. Sie kommt direkt auf mich zu, und ihr Lächeln schiebt dabei ihre rosigen Wangen so in die Höhe, dass sie fast ihre Augenbrauen berühren. »Hi, Will!«

Ich lächele. »Hey.« Ich hatte mir nicht wirklich überlegt, was ich zu ihr sagen wollte, wenn sie erst vor mir steht. »Herzlichen Glückwunsch zum Führerschein«, sage ich.

»Oh, danke.« Wieder lächelt sie. »Das ist echt lieb von dir.«

Ich beobachte über ihre Schulter hinweg, wie Patrick Thomas seine Nase mit dem Finger hochschiebt, bis sie wie ein Schweinerüssel aussieht.

Geduldig höre ich zu, während Millie mir erzählt, wie sie die Radioeinstellungen ihrer Mutter geändert und zum ersten Mal getankt hat. Patrick nimmt mich ins Visier. Er ist einer von den Leuten, deren Aufmerksamkeit man lieber nicht auf sich ziehen möchte, aber der Versuch, mich unsichtbar zu machen, ist ohnehin zwecklos. Ein Elefant lässt sich nicht so leicht verstecken.

Millie redet noch ein paar Minuten, bevor Patrick und seine Freunde aufgeben und abhauen. Sie deutet in Richtung des Vans hinter ihr. »Ich meine, in der Fahrschule lernt man nicht, wie man tankt und so, und das ist echt …«

»Sorry«, unterbreche ich sie. »Tut mir echt leid, aber ich komme zu spät zur Arbeit.«

Sie nickt.

»Aber noch mal herzlichen Glückwunsch.«

Ich sehe ihr hinterher, während sie zu ihrem Auto geht. Sie rückt erst alle Spiegel zurecht, bevor sie mitten auf dem fast leeren Parkplatz wie aus dem Lehrbuch rückwärts aus der Parklücke ausparkt.

 

Ich stelle den Wagen hinter Harpy’s Burgers & Dogs ab, gehe quer über den Drive-in und klingele am Lieferanteneingang. Als keiner reagiert, klingele ich noch einmal, während mir die texanische Sonne auf den Scheitel brennt.

Ich warte. Ein fies aussehender Mann mit einem Anglerhut und einem schmuddeligen Unterhemd rollt durch den Drive-in und rattert seine absurd genaue Bestellung herunter bis hin zu der exakten Gewürzgurkenanzahl auf dem Burger. Die Stimme im Lautsprecher nennt den Betrag, den er zu bezahlen hat. Der Mann beäugt mich, zieht seine orangegetönte Sonnenbrille ein Stück hinunter und sagt: »Hallo, Süße.«

Ich fahre herum und ziehe mein Kleid fest über die Oberschenkel, während ich weitere viermal auf die Klingel hämmere. Mein Magen krampft sich vor Unbehagen zusammen.

Ich muss kein Kleid zur Arbeit tragen. Es gibt auch Hosen. Aber der Gummibund der Polyesterhosen war nicht ganz dehnbar genug, um über meine Hüften zu passen. Meiner Meinung nach sind daran die Hosen schuld. Ich betrachte meine Hüften nicht gerne als Störfaktor, sondern eher als Pluspunkt. Ich meine, wenn wir uns beispielsweise im Jahr 1642 befänden, wäre mein gebärfreudiges Becken viele Kühe wert oder so.

Die Tür geht auf, und ich höre nur Bos Stimme: »Ich hab dich auch schon die ersten drei Male gehört.«

Mich durchfährt ein Kribbeln. Ich kann ihn nicht sehen, bevor er die Tür nicht weit genug öffnet, um mich hereinzulassen. Das Licht der Sonne streift sein Gesicht. Der Schatten von frischen Bartstoppeln hat sich über sein Kinn und seine Wangen ausgebreitet. Ein Zeichen von Freiheit. In Bos Schule – einer vornehmen katholischen Privatschule mit strenger Kleiderordnung – haben die Ferien schon diese Woche begonnen.

Der Motor des Autos hinter mir am Drive-in heult auf, und ich beeile mich hineinzukommen. Meine Augen brauchen einen Moment, um sich an das dämmrige Licht zu gewöhnen. »Tut mir leid, dass ich spät dran bin, Bo«, sage ich. Bo. Die Silbe hüpft in meiner Brust herum. Sie gefällt mir. Mir gefällt die Endgültigkeit eines so kurzen Namens. Es ist, als wollte der Name sagen: Ja, ich bin mir sicher.

Eine brennende Hitze steigt in mir auf bis zu meinen Wangen. Ich fahre mir mit den Fingern den Kiefer entlang, während meine Füße im Beton versinken wie in Treibsand.

Die Wahrheit: Ich bin auf eine total unangenehme Weise in Bo verknallt, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Sein ungestyltes, braunes Haar ist in perfekter Unordnung auf seinem Kopf verwuschelt. Und er sieht albern aus in seiner rotweißen Uniform. Wie ein Bär in einem Tutu. Seine Arme sind in Polyesterärmel gequetscht, und ich glaube, sein Bizeps und meine Hüften haben einiges gemeinsam. Mal abgesehen von der Fähigkeit, Gewichte zu stemmen. Eine dünne Silberkette lugt unter dem Halsausschnitt seines Unterhemdes hervor, und seine Lippen leuchten dank seines endlosen Vorrats an roten Lollis in einem künstlichen Rot.

Er streckt einen Arm in meine Richtung aus, als wollte er mich umarmen.

Ich hole tief Luft.

Und atme gleich wieder aus, als er an mir vorbeigreift, um den Riegel an der Lieferantentür umzulegen. »Ron hat sich krankgemeldet, das heißt, heute sind nur du und ich, Marcus und Lydia da. Ich glaube, sie hat heute eine Doppelschicht abgekriegt. Kleine Vorwarnung, nur dass du Bescheid weißt.«

»Danke. Du hast schon Ferien, oder?«

»Jap. Keine Kurse mehr«, sagt er.

»Klingt gut, wenn du nicht Schule sagst, sondern Kurse. Das hört sich an, als wärst du schon am College und würdest nur ein paar Kurse am Tag besuchen und ansonsten auf irgendwelchen Sofas schlafen oder …« – ich kann mich gerade noch zurückhalten – »ich bring schnell mein Zeug weg.«

Er kneift die Lippen zusammen und zieht sie nach innen, so dass man es fast als Lächeln interpretieren könnte. »Alles klar.«

Ich biege in den Pausenraum ab und stopfe meine Handtasche in den Spind.

Ich würde mich sonst auch nicht als besonders eloquent bezeichnen, aber was in Gegenwart von Bo Larson aus meinem Mund kommt, lässt sich nur noch als Logorrhoe bezeichnen. Es ist wie Wortdurchfall, also ziemlich eklig.

Als er hier neu anfing und wir uns zum ersten Mal begegneten, habe ich ihm die Hand entgegengestreckt und mich vorgestellt. »Willowdean«, habe ich gesagt. »Kassiererin, Dolly-Parton-Verehrerin und die Dicke vom Dienst.« Dann habe ich auf seine Reaktion gewartet, aber er hat nichts gesagt. »Ich meine, ich bin auch noch alles Mögliche andere. Aber …«

»Bo.« Er klang ungerührt, doch um seine Lippen spielte ein Lächeln. »Ich heiße Bo.« Er nahm meine Hand, und sofort erschienen vor meinem inneren Auge Erinnerungen an Dinge, die ich nie erlebt hatte. Wie wir im Kino Händchen hielten. Oder während wir zusammen die Straße hinuntergingen. Oder im Auto saßen.

Dann ließ er los.

Als ich diese Szene später am Abend wieder und wieder im Kopf durchging, wurde mir klar, dass er nicht mal mit der Wimper gezuckt hatte, als ich mich selbst als dick bezeichnet hatte.

Und das gefiel mir.

Das Wort dick ist den meisten Leuten unangenehm. Aber wenn man mich sieht, bemerkt man zuerst meinen Körper. Und mein Körper ist nun mal dick. So wie mir bei anderen Mädchen auffällt, dass sie große Brüste haben oder glänzende Haare oder knubbelige Knie. Das darf man alles sagen. Aber bei dem Wort dick, das mich am besten beschreibt, werden die meisten Leute blass und verziehen das Gesicht.

Aber so bin ich nun mal. Ich bin dick. Das ist kein Schimpfwort. Keine Beleidigung. Jedenfalls nicht, wenn ich es sage. Und deswegen finde ich es immer am einfachsten, es direkt selbst zur Sprache zu bringen.

2

Ich schrubbe gerade die Theke, als zwei Jungs und ein Mädchen hereinkommen. Heute ist so wenig los, dass ich schon fast den Lack abgeschrubbt habe. »Was kann ich euch bringen?«, frage ich, ohne aufzuschauen.

»Bo! Den Spielmacher für die Holy Cross Bulldogs!«, ruft der Typ rechts im Tonfall eines Stadionsprechers. Die Hände hat er wie einen Trichter um den Mund gelegt.

Als Bo nicht gleich auftaucht, brüllen beide Jungs seinen Namen wieder und wieder. »Bo! Bo! Bo!«

Das Mädchen steht zwischen ihnen und verdreht nur die Augen.

»Bo!«, ruft Marcus. »Komm raus, damit deine Freunde hier endlich die Klappe halten.«

Bo kommt um die Ecke und stopft dabei seine Harpy’s-Kappe in die hintere Tasche seiner Jeans. Er reckt die Brust heraus und verschränkt die Arme. »Hallo, Collin.« Er nickt dem Mädchen zu. »Amber. Rory.« Er lehnt sich an die Arbeitsplatte hinter uns und schafft so mehr Abstand zwischen sich und seinen Freunden. »Was macht ihr denn hier?«

»Schulausflug«, sagt Collin.

Bo räuspert sich, sagt aber nichts. Die Spannung zwischen ihnen scheint zu vibrieren.

Der andere Typ, Rory, glaube ich, studiert die Speisekarte auf der Theke. »Hey«, sagt er zu mir. »Kann ich zwei Hotdogs haben? Nur mit Senf und Gurken.«

»Äh, klar.« Ich tippe seine Bestellung in den Computer und bemühe mich, nicht hochzuschauen.

»Lange nicht mehr gesehen«, bemerkt Amber.

Wie kann das sein? An der Holy Cross Highschool sind ungefähr dreißig Leute in einem Abschlussjahrgang.

Collin legt den Arm um Ambers Schulter. »Du hast uns beim Training gefehlt. Wo hast du gesteckt?«

»Hier und da«, sagt Bo.

»Willst du auch was trinken?«, frage ich.

»Ja«, sagt Rory und hält mir einen Fünfzigdollarschein vor die Nase.

»Ich darf höchstens Zwanziger wechseln.« Ich deute auf das kleine handgeschriebene Schild, das vorne an meiner Kasse klebt.

»Bo«, sagt Collin. »Ich kann sonst nur mit Karte zahlen. Würdest du Rory einen Gefallen tun und den Schein wechseln?«

Für einen Augenblick herrscht vollkommene Stille, die sich über alles legt. »Ich habe meinen Geldbeutel nicht dabei.«

Collin grinst.

Amber, die augenrollende Schönheit, greift in die Tasche und legt einen Zehner auf die Theke.

Ich gebe das Restgeld heraus und sage zu Rory: »Bestellung kommt gleich.«

Collin dreht den Kopf zu mir. »Wie heißt du?«

Ich mache den Mund auf, um zu antworten, aber …

»Willowdean. Sie heißt Willowdean«, sagt Bo. »Ich muss jetzt weiterarbeiten.« Ohne sich noch einmal umzudrehen, geht Bo in Richtung Küche, während seine Freunde rufen, er solle zurückkommen.

»Die Gesichtsbehaarung gefällt mir«, sagt Amber. »Steht dir gut.« Aber er ist schon verschwunden.

Dann starrt sie mich an, und mir bleibt nichts anderes übrig, als mit den Schultern zu zucken.

 

Als ich zu Hause ankomme, gehe ich hinten rum und betrete das Haus durch die Glasschiebetür. Die Haustür klemmt schon seit Jahren. Mom sagte immer, wir müssten mal jemanden kommen lassen, der das in Ordnung bringt, aber meine Tante Lucy erwiderte immer, es wäre die perfekte Ausrede, nicht zur Tür gehen zu müssen, wenn es klingelt. Und ich war mehr oder weniger ihrer Meinung.

Mom sitzt, noch in ihren Arbeitsklamotten, am Küchentisch und schaut auf ihrem tragbaren Fernseher die Nachrichten. Das blonde Haar ist auf ihrem Kopf hoch aufgetürmt. Solange ich denken kann, hat sie immer hier drin ferngesehen, weil Lucy fast immer auf dem Sofa im Wohnzimmer saß. Aber jetzt ist Lucys Beerdigung schon sechs Monate her, und trotzdem schaut sie immer noch in der Küche auf ihrem tragbaren Fernseher.

Mom schüttelt den Kopf über die Nachrichtensprecher und sagt gleichzeitig: »Hey, Dumplin’. Essen ist im Kühlschrank.«

Seit ich denken kann, ist das Moms Spitzname für mich. Sie nennt mich Dumplin’. Knödel.

Ich lege meine Handtasche auf den Tisch und hole mir den mit Folie abgedeckten Teller. Wenn die letzten Schultage vor den Ferien anbrechen, beginnt die Vorbereitungsphase für den Schönheitswettbewerb. Und das bedeutet, meine Mutter ist auf Diät. Und wenn meine Mom auf Diät ist, sind es alle anderen auch. Was wiederum bedeutet, dass es Salat mit gegrilltem Hähnchen zum Abendessen gibt.

Es könnte schlimmer sein. Und es war auch schon mal schlimmer.

Sie schnalzt mit der Zunge. »Du hast ein paar kleine Pickel auf der Stirn. Du isst doch nicht etwa dieses fettige Zeug, das du verkaufst, oder?«

»Du weißt doch, dass ich Burger und Hotdogs nicht besonders mag.« Ich seufze nicht. Ich würde zwar gern, aber meine Mom würde es hören. Egal, wie laut der Fernseher ist. Selbst in zwei Jahren, wenn ich zweihundert Meilen entfernt an einem College in einer anderen Stadt bin, würde meine Mom mich von zu Hause aus seufzen hören und mich anrufen, um mir zu sagen: »Hör mal, Dumplin’, du weißt doch, dass ich es nicht mag, wenn du seufzt. Nichts ist unattraktiver als eine unzufriedene junge Frau.«

Wenn man mich fragt, dann stimmt an dieser Einstellung einiges nicht.

Ich setze mich zum Essen hin und verteile großzügig Salatsauce auf meinem Teller, denn am achten Tag schuf Gott das Ranch Dressing.

Meine Mom schlägt die Beine übereinander, streckt die Zehen aus und begutachtet ihren abgeplatzten Nagellack. »Wie war’s bei der Arbeit?«

»Alles gut. Da war so ein alter Typ, der mich vom Drive-in aus angemacht hat. Er hat mich Süße genannt.«

»Oooh«, sagt sie. »Wenn man es sich genau überlegt, ist das doch ein tolles Kompliment.«

»Mom! Das ist eklig.«

Sie dreht den Schalter an ihrem Fernseher und stellt ihn aus. »Glaub mir, Baby, wenn ich dir sage, dass sich das Männerangebot rapide verringert, je älter man wird. Ganz egal, wie gut man sich gehalten hat.«

Diese Unterhaltung will ich wirklich nicht führen. »Ron ist krank und war nicht da.«

»Der Arme.« Sie lacht. »Weißt du, dass er in der Highschool total in mich verknallt war?«

Seit ich diesen Job habe, erwähnt sie das mindestens einmal pro Woche. Als ich mich während der Thanksgiving-Ferien bei Harpy’s beworben habe, hatte Lucy mir allerdings gesagt, sie hätte immer den Eindruck gehabt, es wäre andersherum gewesen. Aber so, wie meine Mom es darstellt, war jedes männliche Wesen in dieser Stadt mal in sie verknallt. »Alle wollten was von Clover Citys Miss Teen Blue Bonnet«, lallte sie eines Abends nach ein paar Gläsern Wein.

Der Schönheitswettbewerb ist DIE große Leistung meiner Mutter. Sie passt noch immer in ihr Kleid von damals – und sie sorgt dafür, dass das niemals in Vergessenheit gerät, weswegen sie es sich als Vorsitzende des Wettbewerbsausschusses und damit offizielle Gastgeberin nicht nehmen lässt, sich jedes Jahr wieder in dieses Kleid zu quetschen, als kleine Zugabe für ihre treuen Fans.

Ich spüre das Gewicht von Lucys Kater Riot, der sich auf meinen Füßen niederlässt. Ich wackele mit den Zehen, und er schnurrt. »Ich habe heute nach der Schule eine Gruppe von Mädchen gesehen, die bei einem Trainingscamp für den Schönheitswettbewerb mitmachen.«

Sie grinst. »Ich sag dir eins: Der Wettbewerb wird von Jahr zu Jahr anspruchsvoller.«

»Und wie geht’s dir so? Wir war’s im Heim?«

»Ach, du weißt schon, mal wieder einer von diesen Tagen.« Sie massiert sich die Schläfen. »Wir haben heute Eunice verloren.«

»O nein«, sage ich. »Das tut mir wirklich leid, Mom.«

Einmal im Jahr, wie bei Aschenputtel, ist das Leben meiner Mutter glamourös. Das ist das Leben, das sie eigentlich leben wollte. Aber den Rest des Jahres arbeitet sie als Altenpflegerin im Buena Vista Ranch Altersheim, wo sie so exotischen Tätigkeiten nachgeht wie Medikamente verteilen, alte Menschen füttern und ihnen den Hintern abwischen. Eunice gehörte zu Moms Lieblingen. Sie hat Mom immer mit einer ihrer Schwestern verwechselt und ihr irgendwelche Kindheitsgeheimnisse ins Ohr geflüstert, wenn meine Mom sich heruntergebeugt hat, um ihr aufzuhelfen.

»Sie hat ihren Wackelpudding gegessen und dann einfach die Augen zugemacht.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich hab sie einen Augenblick so sitzen lassen, weil ich dachte, sie würde nur ein kleines Nickerchen machen.« Sie steht auf und küsst mich auf den Kopf. »Ich geh ins Bett, Dumplin’.«

»Gute Nacht.«

Ich warte, bis sich ihre Zimmertür geschlossen hat, bevor ich mein Essen im Müll unter einem kostenlosen Werbeblättchen begrabe. Ich schnappe mir eine Handvoll Salzbrezeln und eine Limo und gehe nach oben. Als ich an der Tür von Lucys Zimmer vorbeigehe, halte ich einen Augenblick inne und streiche mit den Fingerspitzen ganz leicht über den Türknauf.

3

»Ich glaube, in den Sommerferien schlafe ich mit Tim«, sagt Ellen, während sie einen Käsewürfel von ihrem Pausenbrot pflückt und sich in den Mund steckt. El »überlegt« seit einem Jahr jeden Freitag, ob sie mit Tim schlafen soll. Im Ernst, vor jedem Wochenende diskutieren wir immer wieder die Pro- und Contraargumente, ob Ellen und Tim es endlich tun sollten.

»Das ist komisch.« Ich blicke nicht von meinen Schulheften auf. Ich bin keine schlechte Freundin, aber wir haben diese Unterhaltung schon so oft geführt. Außerdem ist heute der letzte Schultag, und ich habe noch eine Prüfung vor mir. Ich versuche, auf die Schnelle noch etwas zu lernen, und El muss das nicht, weil sie schon mit allen Prüfungen fertig ist.

Den Mund voller kandierter Pecannüsse fragt sie: »Warum ist das komisch?«

»Frag mich mal ab.« Ich schiebe mir ein paar Trauben in den Mund und halte ihr einen Zettel hin, auf dem die verschiedenen Institutionen der Regierung in einem Diagramm erklärt werden. »Es ist doch keine Hochzeit. Nach dem Motto: ›Oh, ich mag sommerliche Farben. Ich schlafe im Sommer mit ihm, dann kann ich meine Unterwäsche passend zu meiner Lieblingsjahreszeit kaufen.‹ Der einzige Grund, aus dem du es tust, sollte sein, dass du es wirklich willst.«

Sie verdreht die Augen. »Aber der Sommer ist sozusagen eine Zeit des Übergangs. Ich könnte als Frau in die Schule zurückkehren«, sagt sie theatralisch.

Nun verdrehe ich die Augen. Ich hasse es, wenn man nur redet, um zu reden. Wenn El es wirklich durchziehen wollte, wäre ich über den Tisch gekrochen, um mit ihr ganz im Vertrauen jedes Detail durchzugehen. Aber sie zieht es sowieso nicht durch. Ich kapier nicht, wieso sie überhaupt ständig über die Möglichkeit, Sex zu haben, reden muss.

Als sie merkt, dass ich nicht angebissen habe, senkt sie den Blick auf mein Blatt. »Die drei Bestandteile der Regierung.«

»Exekutive, Legislative und Judikative.« Ich beschließe, ihr wenigstens ein bisschen entgegenzukommen. »Außerdem wirst du nicht dadurch zur Frau, dass du Sex hast. Das ist doch ein wahnsinniges Klischee. Wenn du Sex haben willst, dann tu es, aber mach nicht so ein Riesending daraus. Dann kannst du am Ende nur enttäuscht werden.«

Sie lässt die Schultern sinken und zieht die Augenbrauen zusammen. »Wie viele Senatoren und Abgeordnete gibt es im Kongress?«

»435 und 100.«

»Nein, aber stimmt schon. Du hast es nur falsch rum gesagt.«

»Okay.« Ich wiederhole die Zahlen im Stillen. »Und es ist ganz egal, welche Jahreszeit dabei ist, Hauptsache, es fühlt sich richtig an. Kapiert? Ich meine, im Winter wäre es auch cool, weil du dann sagen kannst: ›O mein Gott, es ist so kalt. Ich brauche Körperwärme.‹«

Sie lacht. »Ja, ja. Du hast ja recht.«

Ich will nicht recht haben, aber ich will auch nicht, dass El vor mir Sex hat. Vielleicht ist das egoistisch, aber ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, wenn sie etwas tut, was ich noch nicht getan habe. Ich glaube, ich habe Angst, dass es dann nicht mehr so leicht ist, ihre Freundin zu sein. Ich meine, Sex ist eine ernste Sache, und wie kann ich sie bei etwas beraten, von dem ich keine Ahnung habe?

Ich würde ihr am liebsten sagen, dass sie warten soll. Aber sie und Tim sind jetzt schon fast anderthalb Jahre zusammen, und sie wird immer noch rot, wenn sie über ihn spricht. Ich weiß nicht, wie sich Liebe messen lässt, aber das scheint ein ganz gutes Zeichen zu sein. Und mir fällt außer mir selbst kein Grund ein, warum sie warten sollte.

Während ich die Nase wieder in meine Unterlagen stecke, geht Millie mit einem Tablett voller Essen zwischen unseren Tischen entlang. Dicht gefolgt von ihrer besten Freundin Amanda Lumbard. Millie und Amanda sind zusammengenommen eine einzige große Zielscheibe mit der Aufschrift MACHTEUCHÜBERUNSLUSTIG.

Amandas Beine sind unterschiedlich lang, deswegen trägt sie Schuhe mit dicken Korrektursohlen, in denen sie aussieht wie Frankenstein. (Zumindest findet Patrick Thomas das.) Als wir noch klein waren, hatte Amanda diese Schuhe noch nicht und hat einfach nur gehumpelt. Ihre Hüfte schwankte bei jedem Schritt rauf und runter. Ihr schien es nichts auszumachen, aber die Leute haben sie trotzdem angestarrt. Der Spitzname ist ziemlich lahm, wenn man näher darüber nachdenkt. Frankenstein war der Doktor, nicht das Monster.

Millie winkt, und ich hebe rasch die Hand, als sie an uns vorübergeht. El grinst. »Deine neue Freundin?«

Ich zucke die Schultern. »Sie tut mir nur manchmal leid.«

»Auf mich wirkt sie eigentlich immer ganz happy.« El fragt mich noch ein bisschen weiter ab, während wir fertig essen. »Welches System soll verhindern, dass ein Teil der Regierung zu viel Macht erhält?«

»Gewaltenteilung.«

»Ach ja, und wie war’s eigentlich bei der Arbeit gestern? Wie geht’s unserem Privatschul-Boy?«

Ich drehe das Drahtende am Rücken meines Spiralblocks um den Finger. »Es war gut.« Ich senke den Blick auf mein Mensa-essen. »Ihm geht’s gut.«

Ich würde ihr gerne von seinen ätzenden Freunden und seinem neuen Dreitagebart erzählen, aber ich weiß nicht recht, wie ich es ansprechen soll, ohne dass es so wirkt, als wäre ich eine völlig Verrückte, die seine abgeschnittenen Fingernägel in einem Einmachglas unter ihrem Bett sammelt. Gestern Abend musste ich meine Kassenabrechnung dreimal von vorne anfangen, nur weil er vorbeiging.

»Mir gefällt’s ja eigentlich gut bei Sweet 16, aber irgendwie beneide ich dich darum, dass du auch mit Jungs zusammen arbeitest.« Sie steckt eine angebissene Karotte in ihre Plastiktüte zurück und zieht den Zippverschluss zu. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass wir nicht zusammen arbeiten.«

El muss mich bei jeder Gelegenheit unbedingt daran erinnern, dass ich mit der Stelle bei Harpy’s unsere gemeinsamen Nachmittags-Job-Pläne kaputtgemacht habe. Aber wenn sie nicht selbst merkt, wie unangenehm es für mich wäre, in einem Laden zu arbeiten, wo ich nicht in die Klamotten passe, dann habe ich auch keine Lust, es ihr zu erklären. »Warum interessiert es dich, mit anderen Jungs zusammen zu arbeiten? Du hast mir doch gerade erklärt, dass du mit Tim schlafen willst.«

Sie zuckt nur mit den Schultern. »Ich fänd’s einfach nur witzig.«

Wir beenden unser Essen, und ich gehe in meine Sozialkunde-prüfung. Und das war’s. Die Zehnte ist abgehakt. Der Parkplatz besteht nur noch aus Geschrei und quietschenden Reifen. Aber ich fühle mich nicht so, als wäre ich weitergekommen. Es kommt mir so vor, als säße ich fest und würde darauf warten, dass mein eigenes Leben anfängt.

4

Der Wagen meiner Mutter steht in der Einfahrt, als ich an diesem letzten Schultag nach Hause komme. Nachdem ich mein Auto abgestellt und die Handbremse betätigt habe, lehne ich den Kopf gegen die Kopfstütze. Ich liebe mein Auto. Es heißt Jolene und ist ein kirschroter Pontiac Grand Prix. Lucy hat ihn mir geschenkt.

Drinnen folge ich dem rumpelnden Geräusch nach oben in Lucys Zimmer, wo der petrolfarbene Hintern meiner Mutter in der Luft herumwackelt. Petrolfarben deswegen, weil sie einen Designer-Jogginganzug trägt, den sie vor sechs Jahren von ihrem Exfreund geschenkt bekommen hat. Sie bezeichnet das Ding als »Loungewear«, und es ist gleich nach ihrem Miss Teen Blue Bonnet-Krönchen ihr wertvollster Besitz.

»Ich bin wieder da«, sage ich, während sich Panik in meiner Stimme ausbreitet. »Was machst du hier drin?«

Sie richtet sich auf und atmet aus, bevor sie sich die Haare aus der Stirn schiebt. Ihr Gesicht ist erhitzt und gerötet, und die blonden Strähnen um ihre Stirn haben sich zu Ringellöckchen geformt. »Das Beerdigungsinstitut hat endlich die Urne bekommen, die wir bestellt haben, deswegen habe ich mir einen halben Tag freigenommen. Ich dachte, ich könnte hier schon mal anfangen.«

Ich lasse meinen Rucksack im Flur fallen und gehe ein paar Schritte in das Zimmer hinein. »Womit anfangen?«

Mom setzt sich auf das Bett neben einen Stapel von Hauskleidern, die alle ordentlich gestärkt auf Lucys mit Garn umwickelten Kleiderbügeln hängen. »Ach, du weißt schon. Lucys Zeug aussortieren. Mein Gott, sie hat wirklich alles aufgehoben. Man kriegt die Schubladen kaum auf. Und weißt du was? Ich hab den Brautschleier von deiner Großmutter gefunden. Nach dem habe ich schon seit einer Ewigkeit gesucht.«

Meine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. »Ach ja?«

Als meine Großmutter kurz vor ihrem Tod im Pflegeheim war, hat meine Mutter ihre Ansprüche auf das Hochzeitskleid angemeldet. Es hätte Lucy sowieso nicht gepasst, also gab es auch keine weiteren Auseinandersetzungen deswegen. Mit Ausnahme des Schleiers. Der Schleier konnte jedem passen. Sie haben monatelang darum gestritten, bis Lucy schließlich entnervt aufgegeben hat. Und dann war das Teil vor ein paar Jahren einfach verschwunden.

Eigentlich hat meine Mom immer auf Lucy rumgehackt, aber jetzt fühlt es sich fast so an, als hätte Lucy diesmal das letzte Wort gehabt.

Es war nicht immer so. Die beiden haben sich nicht ständig gestritten, aber trotzdem sind mir diese Augenblicke mehr im Gedächtnis geblieben als die Freitagabende, wenn ich nach Hause kam und die beiden kichernd auf dem Sofa saßen und ihre alten Lieblingsfilme geschaut haben.

»Und was hast du mit dem ganzen Zeug vor?«, frage ich.

»Tja, ich denke mal, wir werden das irgendwo spenden. Du weißt ja, wie schwer es für kräftigere Frauen ist, etwas zum Anziehen zu finden. Bestimmt wird sich jemand darüber freuen.«

»Und was ist, wenn ich etwas davon haben will? Nicht, um es zu tragen. Sondern als Erinnerung.«

»Ach, Dumplin’, was willst du denn mit diesen ollen Hauskleidern? Und die Kommoden sind voller Unterwäsche, Unterröcke und Zeitungsausschnitte.«

Ich weiß, langsam sollte ich darüber hinwegkommen, dass Lucy nicht mehr da ist. Es ist schon sechs Monate her. Und doch erwarte ich noch immer, sie mit Riot auf dem Schoß auf dem Sofa zu sehen oder dabei, wie sie in der Küche ihre Kreuzworträtsel macht. Aber das tut sie nicht mehr. Sie ist nicht mehr da. Und wir haben noch nicht einmal Fotos von ihr. Sie mochte es nicht, sich durch ein Foto vor Augen führen zu lassen, wie ihr Körper wirklich aussah.

Es macht mir Angst. Ich habe das Gefühl, sie zu vergessen, wenn ich sie weder hören noch sehen kann.

Lucy war 36, als sie starb, und sie wog 225 Kilo. Sie war alleine, als sie einen Herzinfarkt hatte. Sie saß auf dem Sofa und hat sich eine ihrer Fernsehsendungen angeschaut. Keiner hat gesehen, wie sie gestorben ist. Aber eigentlich hat sie auch nie jemand außerhalb dieses Hauses gesehen, als sie gelebt hat. Und jetzt gibt es niemanden, der sich an sie erinnern kann. Jedenfalls nicht so, wie sie in Erinnerung bleiben wollte. Denn wenn meine Mom jetzt an Lucy denkt, denkt sie immer nur daran, wie sie gestorben ist.

Und wenn meine Mom nun ihr Zimmer auseinandernimmt wie eine Wanderausstellung, dann trifft sie damit den langsam verhallenden Schmerz, und er fühlt sich wieder frisch und neu an.

Mom zieht die Schubladen des Nachttischs auf und fängt an, Papiere in drei Stapeln zu sortieren. Ich kann dabei förmlich sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitet. Behalten, Wegschmeißen, Vielleicht. Manchmal frage ich mich, auf welchen Stapel sie mich gern legen würde.

»Muss das wirklich sein?«, frage ich. »Das ist ihr Zimmer.«

Meine Mom sieht mich fassungslos an. »Dumplin’, das ist ein ganzes Zimmer, das wir verstauben lassen. Und jetzt steht wieder der Schönheitswettbewerb an. Ich werde den ganzen Sommer unglaublich viel zu tun haben. Da wäre es schön, einen Raum zu haben, wo ich Kostüme nähen und die Bühnendeko entwerfen kann, ohne damit das ganze Haus zu belegen.«

»Ein Bastelzimmer?« Das Wort schmeckt bitter auf meiner Zunge. »Du willst aus Lucys Zimmer ein Bastelzimmer machen?«

Sie macht den Mund auf, aber ich bin schon draußen, bevor sie antworten kann.

 

Bei Harpy’s arbeitet Bo am Grill und hat Kopfhörer auf den Ohren. Im Vorbeigehen hebe ich die Hand und winke ihm zu. »Happy summer, Willowdean«, sagt er ein bisschen zu laut. Seine Lippen sind klebrig und rot, und ich würde sie nur allzu gerne probieren.

Bo küssen. Der Gedanke ist mir peinlich. Am liebsten würde ich zu einer kleinen Pfütze zusammenschmelzen und im Küchenabfluss versickern.

Vorne an der Theke steht Marcus schon an seiner Kasse.

»Du bist ja früh dran heute«, sage ich.

»Tiff hat mich früher abgesetzt, weil sie zum Training musste.«

Marcus und ich waren sozusagen schon immer Nebendarsteller im Leben des anderen. Er ist ein Jahr älter als ich, und wir sind als Kinder auf dieselbe Schule gegangen. Ich kenne ihn so, wie man den Cousin seiner besten Freundin kennen würde: Man weiß, wie er aussieht und wie er heißt. Als ich bei Harpy’s anfing, war es schön, mit jemandem zusammenzuarbeiten, den ich zumindest ein bisschen kannte, und jetzt sind wir wohl so etwas wie Freunde. Er und Tiffanie, Kapitänin der Softballmannschaft, sind seit Anfang des Jahres ein Paar, und innerhalb weniger Wochen haben sich ihre Leben miteinander verbunden wie zwei Saugnäpfe.

»Wie liefen deine Prüfungen?«, fragt Marcus.

Ich zucke die Schultern und werfe einen Blick nach hinten, wo Bo hinter den Wärmelampen steht und uns beobachtet. Er wendet den Blick nicht ab. Mir krampft sich der Magen zusammen. »Ich war da«, sage ich. »Das ist immerhin etwas. Und bei dir?«

»Gut. Hab mit Tiff gelernt. Sie schaut sich in diesem Sommer Colleges an.«

Mir ist klar, dass ich mich auch mit dem Leben nach der High-school beschäftigen sollte, aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, irgendwann aufs College zu gehen. Und ich weiß nicht, wie ich etwas planen soll, das ich mir nicht vorstellen kann. »Und was ist mit dir? Guckst du dir auch Colleges an?«

Er dreht seine Kappe zur Seite und nickt nachdenklich. »Glaub schon.« Die Glocke über der Eingangstür läutet, als ein paar Typen von der Schule hereinkommen. Während wir warten, bis sie das Menü studiert haben, lässt Marcus den Blick über sie hinweg zum Fenster hinaus schweifen und sagt: »My girl’s gettin’ out of this town and all I know is I’m going with her.«

Clover City ist eine dieser Städte, die man verlässt. Dabei ist es die Liebe, die einen entweder hier festhält oder wegstößt. Letztlich kommen aber nur wenige hier weg und bleiben auch weg. Wir anderen trinken, pflanzen uns fort und gehen sonntags in die Kirche. Das reicht scheinbar aus, damit wir zufrieden sind.

 

Da wir freitags und samstags immer erst spät zumachen, schläft meine Mutter schon, als ich nach Hause komme. Nachdem ich alle Lichter ausgemacht und die Hintertür abgeschlossen habe, schleiche ich auf Zehenspitzen den Flur im Obergeschoss entlang und kontrolliere, ob sie auch wirklich schläft. Ich höre ihr leises Schnarchen durch die Tür, während ich mich in Lucys Zimmer vortaste und versuche, nicht auf die knarrenden Dielenbretter zu treten. Dann fange ich an, die Stapel meiner Mutter durchzugehen.

Es ist eine Menge Kram, stapelweise Zeitungsausschnitte über Leute und Orte, die ich nie begreifen werde. Es ist furchtbar, wie viele Dinge hier liegen – auch ganz triviale Dinge – wozu brauchte sie einen Zeitungsausschnitt über eine Kochbuchautorin, die in der Bücherei zu Gast war? –, nach denen ich Lucy nie gefragt habe, weil ich nichts davon wusste.

Ihre Beerdigung war schrecklich. Und nicht nur aus den ganz offensichtlichen Gründen. Die halbe Stadt war da, denn was gibt es hier sonst schon zu tun? Ich schätze, alle hatten erwartet, sie in einen Sarg gequetscht zu sehen, als abschreckendes Beispiel. Aber die traurige Wahrheit ist, dass wir uns den teureren extrabreiten Sarg nicht leisten konnten. Und so wurde Lucy eingeäschert, auch wenn es meine Mutter völlig fertigmachte, dass sie nicht in der Lage war, ihrer großen Schwester eine »anständige Beerdigung« zu bieten.

Ich denke nicht gerne an die Trauerfeier. Ich denke lieber an andere Dinge, zum Beispiel daran, wie sie mich zu meiner ersten Ballettstunde begleitet hat, als ich in der dritten Klasse war. Der Gymnastikanzug passte nur knapp über mein dickes Bäuchlein, und meine Oberschenkel berührten sich, ganz gleich wie sehr ich sie anflehte, es nicht zu tun. Ich war zu dick. Ich war zu groß. Ich sah anders aus als all die anderen Mädchen, die vor der Halle warteten.

Da ich mich weigerte, aus dem Auto auszusteigen, setzte sich Lucy zu mir nach hinten auf den Rücksitz. »Will.« Ihre Stimme war sanft wie warmer Honig. Sie strich mir eine lose Strähne hinters Ohr und reichte mir ein Taschentuch aus der Vordertasche ihrer Kittelschürze. »Ich habe viele Jahre meines Lebens vergeudet. Ich habe zu viel darüber nachgedacht, was andere Leute sagen oder denken. Manchmal ging es nur um alberne Kleinigkeiten, Einkaufen oder zur Post gehen. Aber es gab auch Situationen, wo ich mich tatsächlich selbst davon abhielt, etwas ganz Besonderes zu tun. Und das nur, weil ich Angst hatte, es könnte mich jemand ansehen und beschließen, ich sei nicht gut genug. Aber um diesen ganzen Mist brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich habe so viel Zeit damit verschwendet, damit du es nicht mehr tun musst. Wenn du da reingehst und beschließt, dass es nicht dein Ding ist, dann musst du nie wieder hin. Aber du bist es dir selbst schuldig, es auszuprobieren, kapiert?«

Ich bin letztlich nur diesen einen Herbst dabeigeblieben, aber darum ging es wohl gar nicht.

In Lucys Sockenschublade finde ich ein Kästchen mit Kassetten – allesamt Dolly Parton. Ich wähle zufällig eine aus und lege sie in die Anlage auf dem Nachttisch. Dann strecke ich mich auf ihrem Bett aus und höre zu, wobei ich die Lautstärke so heruntergedreht habe, dass es sich nur noch wie ein leises Murmeln anhört. Lucy mochte Dolly vermutlich lieber als alles andere. Und ich schätze, Ellen und mir geht es genauso.

Mrs Dryver ist wahrscheinlich die bekannteste Dolly-Parton-Imitatorin in dieser Ecke von Texas. Sie ist zierlich und hat die richtige Stimme. Da Lucy bis vor ein paar Jahren stellvertretende Vorsitzende eines lokalen Dolly-Parton-Fanclubs war, sind sie sich ständig über den Weg gelaufen. Ich bin davon überzeugt, dass die Freundschaft zwischen Ellen und mir schon lange vor unserer Geburt vorherbestimmt war, als Dolly noch eine arme Unbekannte aus Tennessee war. So als wäre El eine Art Geschenk, das Lucy schon immer für mich geplant hatte.

Dabei zog uns nicht nur Dollys Aussehen an, sondern vor allem ihre Einstellung: Dass sie sich absolut im Klaren darüber war, wie lächerlich sie in den Augen mancher Leute wirkte, und trotzdem nie etwas anders machte, weil sie sich gut fühlte, wie sie war. Für uns ist sie … unbesiegbar.

5

Sommerferien haben nicht mehr dieselbe Wirkung auf mich wie früher. Als El und ich noch auf die Elementary School gingen, fuhr Lucy immer mit uns zur Eisdiele. Dann saßen wir im abgedunkelten Wohnzimmer, in dem der Deckenventilator auf Hochtouren lief, und der Sirup rann uns über die Hände, während Lucy durch die Fernsehkanäle zappte, bis sie eine der albernen Talkshows gefunden hatte, die meine Mutter uns nie erlaubt hätte.

Aber nun vergeht das erste Ferienwochenende, als wäre es nichts Besonderes. Am Montagmorgen wache ich auf und sehe mein Handy blinken.

ELLEN: Schwimmen. Jetzt. Sommer. So. Heiss.

ELLEN: Jetzt.

ELLEN: Jetzt.

Ich muss lächeln, als ich ihre Nachricht lese. Ellen wohnt in einer nicht wirklich vornehmen Siedlung, in der es einen schlecht gepflegten Pool für die Anwohner gibt. Aber im Sommer ist es eine Oase.

Ich weiß, dass alle erwarten, dass dicke Mädchen eigentlich allergisch auf Schwimmbäder reagieren, aber ich gehe gerne schwimmen. Ich meine, ich bin nicht blöd. Klar, die Leute glotzen, aber sie können mir nicht vorwerfen, dass ich eine Abkühlung brauche. Und wieso interessiert das überhaupt jemanden? Warum soll ich mich dafür entschuldigen, dass ich unförmige, dellige Oberschenkel habe?

Als ich in Els Einfahrt einbiege, sitzt sie schon im Bikini mit einem Handtuch um die Hüften auf der Veranda.

Unsere Flipflops klatschen auf den Gehweg, während wir die drei Blocks bis zum Pool gehen. Und obwohl es erst zehn Uhr morgens ist, sind wir bereits nassgeschwitzt (oder wie meine Mutter sagen würde: wir glitzern).

»O Gott«, sagt El, als wir in der Schlange stehen. »Es sind ja schon hunderttausend Leute da.« Sie verschränkt die Arme vor ihrem Bauch.

Ich hake mich bei ihr unter. »Komm schon.«

Weil es so voll ist, können wir nur noch einen Liegestuhl ergattern. El wickelt sich das Tuch von den Hüften und eilt in Richtung Becken. Ich ziehe mir das Kleid über den Kopf, schüttele meine Schuhe ab und renne ihr auf Zehenspitzen hinterher.

El taucht bis zu den Schultern ein, während das Wasser um meine Taille schwappt und ich, erleichtert über die kühle Erfrischung, die Augen verdrehe. Ahhh, der Sommer ist da.

Wir lassen uns auf dem Rücken treiben wie Seesterne, und ich erinnere mich daran, wie wir als Kinder mit unseren Taucherbrillen untertauchten und uns gegenseitig Geheimnisse zuriefen. Wobei wir eigentlich keine Geheimnisse voreinander hatten, und deswegen waren es meist Sachen, die wir sowieso schon wussten. »CHASEANDERSONISTSO SüSS!«, rief El dann. »ICHHAB10 DOLLARAUSDEMGELDBEUTELVONMEINERMOMGEKLAUT!«, schrie ich.

Ich treibe so vor mich hin, bis meine Schulter den Rand des Beckens streift und ich spüre, wie ein Schatten sich über mich schiebt. Ich öffne die Augen einen Spaltbreit und sehe einen kleinen Jungen, der am Beckenrand hockt. Seine Lippen formen Worte.

Ich stelle mich hin, und der Lärm überschwemmt meine Ohren und lässt mein Hirn beinahe erstarren. Ich kneife kurz die Augen zusammen. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er in Folie eingeschweißt. »Was?«

Die rote Badehose des Jungen ist tropfnass und hinterlässt eine Pfütze unter ihm. »Ich dachte, du wärst tot«, sagt er. »Und du bist ganz rot.« Er steht auf und geht einfach so davon.

Ich berühre meine Wangen, und das Wasser tropft von meinen Fingern wie Regentropfen auf ausgetrocknete, aufgesprungene Erde. Keine Ahnung, wie lange ich mich habe treiben lassen. Ich sehe mich nach El um und finde sie bei unserem Liegestuhl. Sie redet mit einem Mädchen und einem Jungen. Ich lasse mir Zeit, mich ans flache Ende zu bewegen, in der Hoffnung, dass die beiden gehen, aber nach ein paar Minuten haben sie sich noch immer nicht von der Stelle gerührt.

Ich nehme meinen Mut zusammen und renne aus dem Becken. El sitzt am Fußende unseres Liegestuhls, während das mir unbekannte Mädchen am anderen Ende hockt und der Junge hinter ihr, so als würden sie auf einem Motorrad fahren und sie würde lenken.

»Hey«, sage ich.

Es ist nur der Bruchteil einer Sekunde, in dem El nichts sagt und dieses andere Mädchen mich mit dieser Kann-ich-dir-irgendwie-helfen-brauchst-du-was-du-kannst-jetzt-verschwinden-Miene ansieht.

»Leute, das ist meine beste Freundin, Will.« El wendet sich mir zu. »Das hier ist Callie. Und ihr Freund …«, sie lässt die Stimme ein wenig sinken und schnippt mit den Fingern.

»Bryce«, sagt Callie. Bryce nickt mir hinter ihr zu. Er trägt eine komplett bescheuerte Brille wie sie sonst nur Sportlehrer tragen, Stil: Raumschiff Enterprise. Er hat die Hände auf Callies Schultern gelegt, und ich merke gleich, dass sie eins von diesen Paaren sind, die einander ständig anfassen.

»Nett, euch kennenzulernen«, nuschele ich.

El wirft mir einen strengen Blick zu.

Es ist ja nicht etwa so, dass ich grundsätzlich keine neuen Leute mag. Aber in den meisten Fällen mag ich neue Leute einfach nicht. Das ist wahrscheinlich die Eigenschaft, die El am wenigsten an mir mag. Solange ich denken kann, hat sie immer wieder versucht, eine Dritte in unsere perfekte kleine Kombi zu bringen. Vielleicht bin ich eine totale Spielverderberin, aber ich brauche wirklich nicht noch eine beste Freundin. Und schon gar nicht dieses Mädchen hier, das nicht aufhört, mich anzustarren, als wäre ich ein Auto mit Totalschaden oder so.

El rutscht ein wenig beiseite, damit ich mich neben sie setzen kann, aber ich bleibe, wo ich bin. »Also, Callie will am Schönheitswettbewerb teilnehmen.«

Bryce drückt Callies Schultern, und sie gibt ein schrilles Kichern von sich. »Genau«, sagt sie. »Meine Schwester ist vor ein paar Jahren Zweite geworden. Man könnte also sagen, es liegt einfach in meinen Genen.«

»Wie schön für dich.« Meine Stimme klingt belegt und bitter, auch wenn ich das gar nicht beabsichtigt habe.

El ringt sich ein Lächeln ab. »Callie macht übrigens auch bei dem Trainingscamp für den Schönheitswettbewerb mit.«

Ich weiß nicht recht, was für eine Antwort sie von mir erwartet. Diese ganze Unterhaltung ist wie ein blinkendes Verkehrsschild mit der Aufschrift SACKGASSE.

»Äh, Callie«, sagt Ellen. »Weißt du, dass Wills Mom den Schönheitswettbewerb leitet?«

Footballspieler sind hier im Süden so was wie Götter. Und Cheerleader sind auch ganz gut angesehen, aber die weiblichen Wesen, die hier bei uns über allem thronen, sind die Schönheitsköniginnen. Allerdings bringt mir die Tatsache, dass ich die pummelige Tochter der hochgeschätzten Beauty-Queen von Clover City bin, leider nicht besonders viel Respekt ein.

Callie hält die Hand hoch, um ihre Augen vor der Sonne zu schützen, und schaut zu mir hoch. »Moment mal, das ist deine Mom?«

»Genau.« Wenn ich nur eine Sache an meiner Mutter ändern könnte, dann wäre es dieser Schönheitswettbewerb. Ich glaube, dass in meinem Leben alle Puzzleteile plötzlich perfekt zusammenpassen würden, wenn ich dieses eine jährliche Ereignis aus meiner Existenz löschen könnte.

Callie lacht. »Aber du nimmst nicht teil, oder?«

Ich warte eine Sekunde. Zwei. Drei. Vier. Ellen sagt nichts.

»Wieso sollte ich nicht?« Natürlich würde ich nie an diesem bescheuerten Wettbewerb teilnehmen, bei dem es nur darum geht, wie beliebt man ist. Aber trotzdem. Was für ein Arschloch muss man sein, um solche bescheuerten Schlussfolgerungen zu ziehen?

»Ich dachte nur, dass du nicht der Typ dafür bist. Das ist nicht negativ gemeint oder so.«

Mir wird plötzlich bewusst, wie klein mein Badeanzug ist. Die Beinausschnitte schneiden Löcher in meine Hüften, und die Träger graben sich tief in meine Schultern. Unsicherheit breitet sich in mir aus wie eine wuchernde Rankpflanze.

»Aber«, sagt Callie. »Bekah Cotter ist eine echt harte Konkurrentin. Das Mädel ist einfach das typische All-American-Girl.«

Der Fluchtinstinkt zerrt an meinen Füßen.

Und natürlich benutzt Callie mein Kleid als Strandtuch, damit ihre kostbare Haut nicht den heißen Plastiksitz berührt.

Ich drehe mich zu Ellen. »Ich gehe zurück zu dir nach Hause, ich muss mal.« Ich schlüpfe in meine Flipflops und schnappe mir das erste Handtuch, das ich sehe, bevor ich so schnell wie möglich abhaue.

»Ist alles okay?«, höre ich Callie fragen mit einem Unterton, der so viel bedeutet wie: Was hat die denn für ein Problem?

»Aber hier gibt’s doch auch Klos!«, ruft El mir über die Leute hinweg zu.

Das Handtuch passt nur ganz knapp um meine Hüften. Egal. Ich gehe weiter.

Ein Auto voller Jungs überholt mich und hupt.

»Ach, fuck off!«, brüllt El hinter mir.

Ich drehe mich um. In ihrem Badeanzug rennt sie auf dem Gehweg hinter mir her, mein Kleid und meine Tasche unter dem Arm.

»Ich habe versucht, dich einzuholen«, sagt sie.

Ich mache den Mund auf, um etwas zu sagen, als mir einfällt, dass ich ja sauer auf sie bin. Ich gehe weiter. Wir streiten uns nicht. Ich weiß, dass beste Freundinnen sich normalerweise auch mal streiten, aber El und ich lassen es nie so weit kommen. Klar haben wir mal Meinungsverschiedenheiten über Kleinigkeiten wie Fernsehsendungen oder welcher von Dollys Looks am besten aussieht, aber es ist nie etwas Ernstes. Trotzdem bin ich jetzt so wütend auf sie, weil sie mich mit dieser Callie im Stich gelassen hat. Sie hat nichts gesagt.

Vielleicht blase ich das größer auf, als es ist. Vielleicht ist es so etwas, was nur mir auffällt. Wie wenn man einen Pickel hat und glaubt, dass alle anderen nur noch den Pickel sehen, wenn sie einen anschauen.

Aber die Art, wie Callie mich von oben bis unten gemustert hat. Als wäre ich irgendwie eklig. Wenn ich ehrlich bin, bin ich schon alleine deswegen wütend, weil ich mich überhaupt so unwohl gefühlt habe. Warum eigentlich? Warum soll ich mich unwohl fühlen, wenn ich ins Schwimmbad gehe oder in meinem Badeanzug herumstehe? Warum soll ich das Gefühl haben, dass ich schnell wieder ins Wasser rennen muss, um keinem den grässlichen Anblick meiner Oberschenkel zuzumuten?

»Will! Verdammt, warte doch mal!«

Ich denke nicht daran, stehen zu bleiben, und sage: »Ich muss nach Hause.«

»Kannst du mir mal sagen, was da gerade passiert ist? Du bist plötzlich ausgetickt. Was war da los?«

Ich bleibe stehen, weil ich inzwischen vor Els Haus angekommen bin, und da meine Füße jetzt kein spezielles Ziel mehr haben, kann ich meinen Mund irgendwie nicht mehr vom Reden abhalten. »Was los war?«, brülle ich zurück. »Es war los, dass du mich ganz alleine im Becken zurückgelassen hast. Du hast mich im Stich gelassen. Wer zum Teufel war diese dürre Zicke?« Ich bereue meine Worte, sobald sie mir über die Lippen gegangen sind. Ich habe schon mein ganzes Leben lang einen Körper, der zu allen möglichen Kommentaren einlädt, und wenn ich irgendwas davon gelernt habe, in meiner Haut zu stecken, dann ist es das hier: Wenn es nicht dein eigener Körper ist, dann hast du ihn auch nicht zu kommentieren. Dick. Dünn. Klein. Groß. Völlig egal.

Aber El sagt nur: »Du sahst so entspannt aus! Wieso bin ich plötzlich eine schlechte Freundin, nur weil ich dich alleine im Becken gelassen habe? Du bist sechzehn Jahre alt und sauer, weil ich dich im Becken alleine gelassen habe?«

Ich habe oft genug miterlebt, wie El und Tim sich gestritten haben, um zu wissen, dass das hier ihre Spezialität ist. Sie stellt die Situation so vereinfacht dar, bis sich ihr Gegenüber vollkommen albern vorkommt. Sie ist ein Mensch, dessen Argumente man unbedingt auf seiner Seite haben sollte. Nicht gegen sich.

Ich schüttele den Kopf, weil ich es nicht laut aussprechen will. Ich will nicht zugeben, dass ich sauer bin, weil ich ohne sie und damit ohne meinen Schutzschild war. Und weil sie in der Situation zu mir hätte halten sollen.

»Die ›dürre Zicke‹«, sagt sie, »ist meine Kollegin. Du musst dich ja nicht unbedingt mit ihr anfreunden, aber du könntest zumindest nett zu ihr sein.«

Ich schlage die Hände über dem Kopf zusammen. »Egal. Es ist ja vorbei. Ich will mich nicht streiten.«

Sie lässt meine Tasche und mein Kleid auf den Kofferraum meines Autos fallen. »Gut.«

Ich ziehe mir das Kleid über den Kopf und reiche ihr das Handtuch, das ich um die Hüften hatte, bevor ich die Autoschlüssel aus meiner Handtasche krame. »Ich melde mich später.« Damit gehe ich zur Fahrertür, aber sie steht noch immer da.

»Warte«, sagt sie. »Komm mit rein.«

Ich seufze.

»Ach, hör doch auf zu seufzen. Ich brauche deine Hilfe.«

 

In Ellens Zimmer setze ich mich im Schneidersitz auf den Boden. »Kann ich Jake halten?«

Sie schließt die Zimmertür ab und geht direkt zu ihrem Schrank. »Das nächste Mal. Er häutet sich gerade.«

Wie jeder vernünftige Mensch hatte ich immer eine gesunde Angst vor Schlangen, aber als wir elf waren, haben sich Els Eltern für eine Weile getrennt, was El komplett aus der Bahn geworfen hat. Um sie ein bisschen zu beruhigen, hat Mr Dryver ihr ein Haustier versprochen. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass seine Tochter ausgerechnet eine Schlange haben wollte.

Als sie dann Jake bekam, eine Albino-Kornnatter, war er nicht länger als ein Bleistift, aber ich weigerte mich dennoch, sie zu besuchen. Ich konnte nicht einmal den Gedanken ertragen, mit Jake unter einem Dach zu sein. Doch dann feierte El ihren zwölften Geburtstag, und den wollte ich nicht verpassen. Lucy ist mit mir in die Zoohandlung gefahren, damit ich mir dort die Schlangen ansehen konnte, und sie hat sogar organisiert, dass ich eine anfassen durfte. Als ich mich das nicht traute, hat sie die Schlange stattdessen in die Hand genommen. Ich sah zwar, dass ihre Hände zitterten, aber es hat mich dennoch beruhigt.

Jetzt kann ich stundenlang dasitzen, wenn wir Filme schauen, während sich Jake durch unsere Hände schlängelt, so als wollte er uns zusammenweben.

Ellen zerrt eine Sweet-16-Einkaufstasche aus den Tiefen ihres Kleiderschranks. »Ich brauche deine Hilfe beim Aussuchen.«

Ich knie mich hin, während sie Spitzen-BHs und passende Höschen auf ihr Bett kippt.

»Für Tim.« Sie lässt sich auf die Bettkante fallen. »Ich will gut aussehen.«

Ich halte ein glänzendes Set in Lila mit dem kleinen Finger in die Höhe. »Hast du das ganze Zeug bei der Arbeit gekauft?«

»Callie hat mir beim Aussuchen geholfen, aber du musst es weiter eingrenzen, damit ich den Rest zurückgeben kann.«