Liebe trägt durch Freud und Leid - Janette Oke - E-Book
NEUHEIT

Liebe trägt durch Freud und Leid E-Book

Janette Oke

0,0

Beschreibung

Allmählich gerät das Leben in der Siedlung in geordnete Bahnen: Die kleine Familie von Clark und Marty wächst, denn zu den eigenen fünf Kindern kommen noch zwei Pflegekinder hinzu, und gemeinsam machen sie sich an den Aufbau des Gemeinwesens. In der rauen Wildnis entfaltet sich eine Geschichte geprägt von Hoffnung, Zusammenhalt und der Suche nach dem eigenen Weg. Teil 2 der beliebten Siedler-Serie von Janette Oke.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 288

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über die Autorin

Janette Oke wurde 1935 auf einer Farm in Alberta, Kanada, geboren. Sie ist Mutter von vier erwachsenen Kindern. Mit ihrem Ehemann Edward wohnt sie in Alberta, nahe der Farm ihrer Eltern, die zu einem Museum umgerüstet wurde.

Janette Oke

Liebe trägt durch Freud und Leid

Die Siedlerserie, Band 2Aus dem Amerikanischen von Beate Peter

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Bethany House Publishers unter dem Titel „Love’s Enduring Promise“ (© 1980 by Janette Oke)

© der deutschen Ausgabe 1984 Gerth Medien

in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Berliner Ring 62, 35576 WetzlarErschienen im April 2025

ISBN 978-3-96122-709-9Umschlaggestaltung: Gert Wagner unter Verwendung bildgebender Generatoren

Erstellung E-Book: Uhl + Massopust, Aalenwww.gerth.de

Ein neuer Tag beginnt

Marty wälzte sich unruhig in ihrem Bett. Ein furchtbarer Traum hielt sie gefangen und schüttelte sie. Nur allmählich kehrte sie in die Wirklichkeit zurück. Die Schreckensbilder vor ihren Augen verblassten. Es war ja alles gut. Sie war in Sicherheit, geborgen in ihrem warmen Bett. Dennoch ließ eine düstere Beklommenheit sie nicht los. Der Traum war so beängstigend gewesen, so real und erdrückend. Warum träumte sie noch immer davon? Warum nur, nach so langer Zeit?

Sie schloss die Augen. Plötzlich sah sie alles wieder vor sich: den Planwagen, das zerbrochene Rad, das Schneegestöber, die im peitschenden Wind flatternde Plane – und sich, Marty, allein im Wagen unter einer erbärmlich dünnen Decke, am ganzen Leib vor Kälte zitternd. Doch schlimmer noch als der eisige Sturm, der ihr Leben bedrohte, war das verzweifelte Gefühl des Alleinseins.

Das ist das Ende!, hatte sie gedacht. Mutterseelenallein muss ich jetzt sterben. Und dann war sie endlich aufgewacht und hatte die Wärme der Federdecke über sich gespürt und durch das Fenster die zahllosen Sterne am frühen Morgenhimmel glitzern gesehen. Ein letztes Schaudern durchfuhr ihre Glieder, als ein starker Arm sich plötzlich sanft um sie legte.

Sie hatte ihren Mann nicht wecken wollen. Seine Arbeit nahm ihn so sehr in Anspruch, dass er seinen Schlaf dringend brauchte. Als sie in dem fahlen Licht des Mondes sein Gesicht ausgemacht hatte, sah sie, dass er noch halb im Schlaf versunken war.

Wie lieb sie ihn doch hatte! Wann immer sie ihn brauchte, er war da und umgab sie mit seiner Liebe. Oft schon hatte er ihre Unruhe gespürt und sie an sich gezogen, ohne richtig wach zu sein.

Jetzt hatte er den Schlaf abgeschüttelt und küsste sie leicht aufs Haar. „Stimmt was nicht?“, murmelte er.

„Ist schon wieder gut“, antwortete sie. „Ich hab bloß wieder ’nen schlimmen Traum gehabt. Ich war ganz allein, und da …“

Sein Arm zog sie noch näher. „Aber du bist nicht allein.“

„Ja, ich weiß, und darüber bin ich so froh, Clark. So froh!“

In seinen Armen ließ ihr Zittern nach und der Traum verblich allmählich vor ihren Augen. Sie strich ihm zärtlich über das Gesicht.

„Ist schon wieder gut. Ehrlich! Komm, schlaf noch ’ne Mütze voll!“

Er fuhr ihr leicht durch das lange, offene Haar. Dann ruhte seine Hand auf ihrer Schulter. Kurze Zeit später hörte Marty ihn wieder tief und ruhig atmen. Jetzt konnte sie klarer denken. Der Traum war verflogen. Ihre Gedanken wandten sich dem Tag zu, der vor ihr lag.

Den ganzen Winter hindurch hatten die Männer der Umgebung jede freie Minute damit verbracht, Bäume im Wald zu fällen und die Stämme mit ihren Pferden auf ein unbebautes Feld zu ziehen. Es war längst an der Zeit, dass eine Schule für die Kinder am Ort gebaut wurde. Wenn ihre Kinder es je zu etwas bringen und etwas Ordentliches lernen sollten, dann war es an ihnen, eine Schule für sie ins Leben zu rufen. Ein Plan für ein einfaches Schulhaus mit einem großen Klassenzimmer war entworfen worden. Es sollte unten am Bach auf einem Grundstück gebaut werden, das Clark Davis zu diesem Zweck gestiftet hatte.

Langsam, doch unaufhörlich war die Zahl der Baumstämme am Bachufer angewachsen. Die Männer wollten das Holz bis zur Schneeschmelze bereithaben, um gleich mit dem Bau anfangen zu können, bevor ein jeder wieder zum Frühjahrspflügen auf seine Felder musste.

Endlich waren nun genug Stämme vorhanden. Morgen sollte der große Tag sein. Die Männer hofften, die Wände aufstellen und vielleicht sogar die Dachbalken setzen zu können. Der Rest des Gebäudes würde dann im Laufe des Sommers fertiggestellt werden. Und bis zum Herbst würden die Kinder ihre eigene Schule haben!

Marty dachte einen Schritt weiter. Ein Lehrer fehlte noch immer. Lehrer waren nicht leicht zu finden. Würden sie etwa die ganze Schule bauen, um am Ende einsehen zu müssen, dass alles umsonst war? Nein. Nein, sie mussten alle dafür beten, dass sich rechtzeitig ein geeigneter Lehrer fand.

Missie würde im ersten Jahr der Schule noch nicht mit den anderen Kindern im Klassenzimmer sitzen. Im November wurde sie erst fünf Jahre alt. Marty war innerlich hin- und hergerissen. Sie wollte Missie gern noch eine Weile zu Hause behalten, doch andererseits wäre sie am liebsten auch unter den stolzen Eltern eines Erstklässlers gewesen. Aber nein – Clark und sie hatten gemeinsam entschieden, dass Missie noch ein Jahr warten sollte. Es war kein leichter Entschluss gewesen. Missie sprach Tag und Nacht von der neuen Schule.

Zuerst hatte die Verwirklichung des Plans in so weiter Ferne gelegen, doch jetzt war es fast so weit. Die Vorfreude auf diesen Tag nahm die letzte Müdigkeit von Marty, obwohl es zum Aufstehen noch viel zu früh war. Sie wollte den Rest ihrer Familie nicht unnötig wecken. So lag sie nur einfach da und suchte sich in Gedanken ein Rezept für den Eintopf aus, den sie morgen kochen würde, um so zu dem gemeinsamen Essen beizutragen. Sie überlegte, was sie jedem ihrer Kinder am besten anziehen würde, und dachte lächelnd an all die Nachbarsfrauen, die sie morgen wiedersehen würde.

Minute für Minute kroch die Zeit dahin. Schließlich stand Marty doch auf. Langsam und mühsam erhob sie sich, denn das Kind, das sie unter ihrem Herzen trug, machte jede Bewegung zu einer Anstrengung.

Nur noch einen Monat, seufzte sie im Stillen, dann wissen wir endlich, wen wir hier haben werden!

Missie wünschte sich eine kleine Schwester, während es Luke – sie nannten den kleinen Burschen jetzt bei seinem zweiten Namen – ziemlich gleichgültig war, ob er nun ein Schwesterchen oder ein Brüderchen bekam. Ein Baby war halt ein Baby. Mit Babys war nicht viel anzufangen, und er war immerhin schon groß genug, um seinen Pa auf Schritt und Tritt zu begleiten.

Marty streifte ein Paar warme Strümpfe über und schlüpfte in ihren Morgenrock. Das ganze Haus war noch recht kühl.

Zuerst warf sie einen Blick ins Kinderzimmer. Es war noch dunkel, doch in dem schwachen Licht von draußen konnte sie die beiden unter ihren Bettdecken erkennen. Sie schienen fest zu schlafen.

Dann ging sie in die Küche und zündete so leise, wie sie konnte, ein Feuer im Herd an. Mit ihrem Herd fühlte Marty sich auf eine unerklärlich tiefe Weise verbunden, beinahe wie ein Mann und sein Pferd, musste sie denken. Sie und ihr Herd waren für Wärme und Nahrung in diesem Haus verantwortlich. Es gab keinen anderen Gegenstand im ganzen Haus, der für Marty so wichtig war wie dieser Herd.

Bald knisterte das Feuer lebhaft und Marty setzte das Kaffeewasser auf. Es würde eine Weile dauern, bis das Wasser kochte und die Küche wärmer wurde. Marty zog den Morgenrock fester um ihre Schultern und nahm Clarks zerlesene Bibel aus dem Regal an der Wand. Sie wollte die ruhigen Minuten, die sie für sich allein hatte, zum Beten und Bibellesen nutzen.

Heute Morgen spürte sie die Nähe Gottes besonders deutlich. Der Traum hatte ihr wieder vor Augen geführt, wie viel Grund zur Dankbarkeit sie doch hatte, und der Gedanke an eine richtige Schule hier am Ort vertiefte noch ihre Freude. Gott allein verstand ihre tiefsten Empfindungen. Sie war von Herzen dankbar, dass sie ihm alles sagen konnte.

Marty nippte an ihrer Kaffeetasse. Nach und nach durchwärmte sie die heiße Flüssigkeit. Wie schon so oft, schlug sie die Bibel bei ihrem Lieblingsvers auf: „Seid getrost und unverzagt, fürchtet euch nicht und lasst euch nicht vor ihnen grauen; denn der Herr, dein Gott, wird selber mit dir ziehen und wird die Hand nicht abtun und dich nicht verlassen.“

Eine große Verheißung lag in diesen Worten. Nach ihrem beklemmenden Traum fühlte Marty sich jetzt gestärkt. Allein – welch ein quälender Gedanke! Wie gut hatte sie es doch, nicht allein sein zu müssen! Sie pries ihren himmlischen Vater, der sie in seiner unermesslichen Weisheit so bald nach Clems Tod zu Clark geführt hatte. Sie hatte erkannt, dass Clark von Anfang an für sie dagewesen war, selbst als sie ihm in ihrem Kummer ausgewichen war. Sie hatte ihn sogar gehasst. Warum hatte sie sich nur so erbittert gegen Gottes weise Führung gesträubt? Ma Graham hatte gesagt, dass es seine Zeit braucht, um einen großen Kummer zu verwinden, und Marty wusste jetzt, dass sie recht behalten hatte. Mit der Zeit hatte sie wieder zu lieben gelernt.

Lieben und geliebt zu werden, für immer zu jemandem zu gehören – wie wunderbar der Schöpfer das doch geplant hatte!

Hatte sie Clark je wirklich sagen können, was sie für ihn empfand? Sie hatte es oft in Worte fassen wollen, wie sehr sie ihn liebte, doch Worte waren so unzulänglich. Stattdessen suchte sie es mit ihren Augen, mit ihrem ganzen Wesen und Tun auszudrücken. Plötzlich regte sich das junge Leben unter ihrem Herzen.

„Und du“, flüsterte Marty, „du bist auch ein Teil unserer Liebe. Nicht bloß, dass es dich überhaupt gibt – auch zum Gebären und Aufziehen gehört Liebe. Wir haben dich jetzt schon richtig lieb, und dabei kennen wir dich noch gar nicht. Du gehörst zu uns. Ein Geschenk Gottes bist du. Möge Gott dich segnen, mein Kleines, dass du stark an Leib, Seele und Geist wirst! Dein Pa soll mal mächtig stolz auf dich sein. Die Hauptsache ist, dass du innerlich stark wirst, selbst wenn dein Körper schwach ist. Werd nur stark im Glauben, darauf kommt’s an. Ich kenn deinen Pa doch. Das allein zählt bei ihm. Und bei deiner Ma auch.“

Leise Geräusche vom Schlafzimmer her unterbrachen Martys geflüsterte Unterhaltung mit ihrem ungeborenen Kind. Kurz darauf trat Clark in die Küche.

„Du bist aber früh auf“, sagte Marty und begrüßte ihn mit einem Lächeln. „Konntest du auch nicht mehr schlafen?“

„Na, bei dem köstlichen Kaffeeduft hält’s auch die größte Schlafmütze nicht mehr im Bett!“, lachte er. „Ich könnte mir denken, dass die Damen, die auf Männersuche sind, schlagartig mehr Erfolg hätten, wenn sie anstatt nach ihren Pariser Wässerchen nach frischem Kaffee röchen!“

Marty lächelte und wollte aufstehen.

„Bleib nur sitzen!“ Clark legte eine Hand auf ihre Schulter. „Ich kann mir selbst ’ne Tasse holen. Hab schließlich selten das Vergnügen, vor der Stallarbeit ’ne Tasse Kaffee zu kriegen. Vielleicht solltest du das von jetzt an immer so einrichten!“

Er goss sich eine Tasse ein und setzte sich zu Marty an den Tisch. Forschend schaute er sie an. Marty konnte ihm seine fürsorgliche Liebe an den Augen ablesen.

„Alles in Ordnung?“

„Bestens.“

„Und Junior?“

Marty lachte leise. „Ich hab mich gerade nett mit ihr unterhalten.“

„Mit ihr hast du gesagt?“

„Laut Missie gibt’s gar keine Frage: Es ist ein Mädchen.“

„Hast heute Nacht nicht gut geschlafen, was?“

„War nur ’n dummer Traum, nichts weiter.“

„Willst du mir davon erzählen?“

„Ach, viel gibt’s da gar nicht zu sagen. Ich war allein, furchtbar allein. Weißt du, Clark, ich weiß gar nicht, wie ich’s ausdrücken soll, aber ich bin so froh, dass ich nie ganz allein zu sein brauchte, besonders nach Clems Tod. Ich hatte ja gleich dich und Missie – obwohl ich zuerst am liebsten nichts mit euch zu tun gehabt hätte. Und Missie, die hat mich von Anfang an so beschäftigt gehalten, dass mir zum Jammern und Klagen nicht viel Zeit blieb. Ich bin so froh, Clark. So dankbar, dass Gott mir erst gar keine Wahl gegeben hat, sondern alles für mich so wunderbar eingefädelt hat.“

Clark langte über den Tisch und strich ihr über die Wangen. „Da bin ich auch mächtig froh, Mrs Davis!“ Es klang neckend, doch in seinen Augen stand aufrichtige Liebe zu lesen. „Hab noch nie ’ne Frau getroffen, die besseren Kaffee kochen kann!“

„Ach, du!“, lachte Marty halb entrüstet.

Clarks Augen wurden ernst. „Du hattest es mir längst angetan, bevor du die erste Kanne Kaffee hier gekocht hast. Werde nie vergessen, wie verloren und allein du da auf deinen kaputten Planwagen zugingst. Wie tapfer du deinen Kopf aufrecht hieltest, obwohl du innerlich am liebsten auch gestorben wärst. Ich hätte mit dir weinen können. Ich glaube nicht, dass überhaupt jemand dabei war, der dich besser verstanden hätte als ich. Und ich wollte dir so gern helfen!“

Marty wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Das hast du mir noch nie gesagt. Ich hab immer gedacht, du hättest mich bloß wegen Missie ins Haus geholt.“

„Ja, so war’s auch zuerst und mehr solltest du auch gar nicht denken. Die ersten paar Monate hab ich’s mir ja selbst einreden wollen, bis ich mir schließlich doch eingestehen musste, dass mehr dahintersteckte.“

Marty drückte seine Hand fest.

„Du bist mir vielleicht einer!“, sagte sie warm.

„Und dann hast du für regelrechte Seelenqualen gesorgt. Ich wusste nicht, ob du je meine Gefühle erwidern würdest, oder ob du kurzerhand deine Koffer packen und wieder nach Osten abreisen würdest. Damals hab ich ’ne handfeste Lektion im Beten und in Geduld üben gelernt und im Abwarten.“

„Ach, Clark, das hab ich nicht gewusst!“ Sie nahm seine Hand in ihre und küsste sie. „Da muss ich halt versuchen, alles wiedergutzumachen.“

Er stand auf, beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Weißt du, da komm ich ganz gern drauf zurück. Wie wär’s, wenn du mir gleich heute Abend meine Lieblingssuppe kochtest, mit richtig viel Fleisch drin?“

Marty rümpfte die Nase.

„Typisch Mann!“, sagte sie verächtlich. „Bei denen muss Liebe immer durch den Magen gehen!“

Clark zerzauste ihr loses Haar.

„Jetzt wird’s aber höchste Eisenbahn für meine Stallarbeit!“, sagte er. „Die Kühe meinen sonst am Ende, ich hätte sie ganz und gar vergessen.“

Er küsste sie auf die Nasenspitze und ging nach draußen.

Besinnliche Morgenstunde

Am nächsten Morgen ging die Sonne über der spätwinterlichen Landschaft auf, um das bläuliche Weiß in ein strahlendes Rotgold zu tauchen. Der Tag sah vielversprechend aus. Auf dem Weg in die Küche sprach Marty ein kurzes Dankgebet. Sie hatte schon befürchtet, dass ein Frühjahrssturm den Bau des neuen Schulhauses in letzter Minute vereiteln würde, doch heute schien ein rechter Bilderbuchtag werden zu wollen. Beschämt bat sie Gott um Vergebung für ihre Zweifel an seiner allwissenden Güte.

Clark war schon im Stall, um die Tiere zu versorgen. Das Feuer, das er im Herd gemacht hatte, verbreitete nach und nach eine wohlige Wärme im ganzen Haus. Marty beeilte sich mit ihren Frühstücksvorbereitungen.

Als sie gerade den Haferbrei auf der Herdplatte anrührte, erschien ein verschlafener Luke in der Küchentür. Sein Hemd hing ihm lose über den Hosenbund und die Hosenträger waren hoffnungslos verdreht. Er hatte einen Schuh ungeschnürt am Fuß, den anderen trug er unter dem Arm.

„Wo’s Pa?“, wollte er gleich wissen.

Marty lächelte ihren kleinen Wuschelkopf an.

„Im Stall“, antwortete sie. „Ich glaub fast, dass er bald fertig ist. Musst dich beeilen, wenn du ihm noch helfen willst. Komm, ich richte dir schnell dein Hemd!“

Sie steckte ihm die Hemdzipfel in den Hosenbund und knöpfte die Hosenträger an die richtigen Knöpfe. Dann setzte sie ihn vor sich auf einen Stuhl, um ihm die Schuhe zu schnüren.

„Geht’s heute los?“

„Jawohl, kleiner Mann, heute geht’s los. Bis heute Abend haben wir eine eigene Schule!“

Der Kleine dachte nach. Eigentlich war es ihm egal, ob es eine Schule hier in der Nähe gab. Weil sich aber alle so doll darauf zu freuen schienen, musste es wohl etwas Gutes sein. So lächelte er nur unbestimmt.

„Ich geh schnell raus“, sagte er und rutschte von seinem Stuhl. „Ich muss Pa doch noch helfen!“

Marty lächelte. Klar musst du deinem Pa helfen, dachte sie im Stillen. Ohne deine „Hilfe“ würde der seine Arbeit ja nie schaffen! Was tät er auch ohne dein ständiges Plappern und deine kleinen Schritte, die ihn so aufhalten! Kopfschüttelnd lachte sie in sich hinein. Und was tät er ohne deine grenzenlose Bewunderung, die in deinem kleinen Augenpaar zum Ausdruck kommt!

Sie zog dem Bürschchen seine warme Winterjacke an, streifte ihm ein Paar Fausthandschuhe über und ließ ihn zur Tür hinaus. Mit Feuereifer machte er sich auf die Suche nach seinem Pa.

Marty wandte sich wieder ihren Frühstücksvorbereitungen zu. Bald würde sie Missie wecken müssen. Die Kleine war eine echte Langschläferin und begrüßte den Morgen selten so hellwach und unternehmungslustig wie der kleine Luke. Sie freute sich ihres Lebens, doch zog sie es vor, wenn der Tag für sie etwas später anfing. Marty hatte sie von Herzen lieb. Missie war ihr schon eine gute Hilfe und konnte es kaum erwarten, ihr „Schwesterchen“ bald mitzuversorgen. Um ihretwillen hoffte Marty, dass ihr ungeborenes Kind tatsächlich ein Mädchen war.

Während sie den Frühstückstisch deckte, musste sie an all die Nachbarsfrauen denken, die ebenfalls voller Vorfreude auf den Bau der Schule ihre morgendliche Arbeit verrichten würden. Keines ihrer Kinder brauchte nun ohne Schulbildung durchs Leben zu gehen. Jetzt hatten sie endlich die Möglichkeit, etwas Handfestes zu lernen und zu fähigen, geachteten Bürgern heranzuwachsen.

Martys Gedanken wanderten zu den beiden Larson-Mädchen. Ihr Vater hatte gemeint, die Schule sei überflüssig. „Kompletter Blödsinn!“, hatte er das Vorhaben genannt. „Ein Mädchen muss kochen und putzen können, weiter nichts!“ Doch in Mrs Larsons Augen hatte das stumme Flehen gestanden, dass ihren Töchtern die unschätzbar wertvolle Schulbildung nicht verwehrt würde. Sie waren inzwischen dreizehn und elf Jahre alt, und wenn sie je die Schule besuchen sollten, dann galt es, keine Zeit mehr zu verlieren. Marty hielt in ihrer Arbeit inne und sandte ein Gebet zum Himmel, dass Jedd Larson doch ein Einsehen haben und seine Töchter zur Schule schicken möge.

Sie warf einen Blick zum Küchenfenster hinaus und sah ihre beiden „Männer“ aus dem Stall kommen. Clarks sonst so forscher Schritt passte sich den kurzen Beinen des kleinen Jungen an seiner Seite an. Luke hielt den Griff des Melkeimers fest umklammert in dem Glauben, seinem Pa die schwere Last zu erleichtern. Dabei plauderte und plapperte er unentwegt. Bob, der Hofhund, tollte den beiden voraus.

Marty musste schlucken. Manchmal tat Liebe ein bisschen weh – aber, oh, welch ein süßer Schmerz!

Ein lang gehegter Traum wird Wirklichkeit

Clark Davis und seine Familie waren die Ersten, die das Gelände für die geplante Schule erreichten. Da Clark das Grundstück von seinem Landbesitz dafür gestiftet hatte, war ihre Anfahrt die kürzeste gewesen. Clark spannte die Pferde los und begann, den Boden abzuschreiten und die Baustelle mit Pfählen einzugrenzen.

Luke folgte ihm stolpernd auf Schritt und Tritt; weder Hammer, Lot noch Nagelkiste waren vor ihm sicher.

Auf ihrem Schlitten hatten sie einen alten Herd an die Baustelle transportiert. Marty schichtete Holzscheite darin auf und setzte einen großen Wasserkessel auf die Herdplatte. Dieser Ofen war bei Weitem nicht das, was sie von ihrem neuen Küchenofen gewohnt war, doch er würde den Frauen beim Zubereiten des gemeinsamen Essens gute Dienste leisten.

Missie zog sich ihre Haube vom Kopf und ließ sich den braunen Lockenkopf von den ersten Sonnenstrahlen wärmen. Dann führte sie die beiden Pferde zu einer Baumgruppe in der Nähe, wo sie sie festband und ihnen Heu und Hafer zum Frühstück gab.

Bald rollten andere Gespanne heran und eine fröhliche Stimmung breitete sich aus. Kinder spielten lachend Fangen und Verstecken: Selbst Luke ließ sich von dem bunten Treiben aus dem Schatten seines Pas hervorlocken.

Geschäftige Frauen begrüßten einander und begannen munter plaudernd mit den Essensvorbereitungen.

Die Männer machten sich ohne lange Umschweife an die Arbeit. Zuerst sortierten sie die Baumstämme nach ihrer Tragfähigkeit und Länge. Dann gingen sie mit der Axt zu Werk. Starke Arme hieben sicher zielend auf das Holz ein und spalteten es sauber in Bohlen und Blöcke. Muskulöse Schultern beugten und hoben sich, um die schweren Stämme zu Wänden aufzurichten.

Es war ein hartes Stück Arbeit, doch ein gewaltiger Ansporn lag in dem gemeinsamen Schaffen und der Aussicht auf eine bessere Zukunft.

Die Frühlingssonne schien warm auf die Männer herab. Einer nach dem anderen warf die gefütterte Überjacke ab. Von dem alten Ofen aus verbreiteten sich bald die herzhaften Düfte von schwarzem Kaffee, Eintopf und Bohnen mit Speck.

Es war ein lebendiges Bild: Ein Kind hielt im Spiel inne, um den schier unwiderstehlichen Duft genüsslich aufzusaugen; ein Mann dachte mitten in der Arbeit hungrig an das vielversprechende Mittagessen; eine Frau, die mit einem großen Kochlöffel in der Hand am Ofen stand, sah in Gedanken ihren Sohn vor sich, wie er das große Einmaleins an die Tafel schrieb.

Der Tag war ausgefüllt mit Sonnenschein, Lachen und erwartungsvoller Vorfreude auf eine bessere Zukunft. Alle machten sich müde, aber glücklich auf den Heimweg. Sie hatten gemeinsam etwas Bedeutendes geleistet und waren ihrem Traum ein großes Stück näher gekommen. Sie hatten einen Teil von sich selbst gegeben und mancher junge Mensch würde es ihnen eines Tages danken.

Ma Graham drückte es am treffendsten aus, als sie sich noch einmal zu der Baustelle umschaute: „Da kommt man sich gleich ’n paar Zentimeter größer vor, nicht wahr?“

Der kleine Arnie

Marty biss die Zähne zusammen, als sie das Abendessen auf den Tisch brachte. Clark würde bald vom Feld heimkommen und die Stallarbeit würde ihn nicht lange aufhalten.

Im Wohnzimmer kommandierte Missie ihren kleinen Bruder Luke herum.

„Nicht so, du Dummkopf!“, hörte Marty sie entrüstet ausrufen. „Das musst du doch ganz anders machen. Hier, ich zeig’s dir!“

„So will ich’s aber nicht haben“, gab der kleine Kerl zurück, und Marty war sich völlig sicher, dass er seinen Willen auch durchsetzen würde. Er hatte ein gerütteltes Maß an Eigensinn – genau wie sie selbst, seufzte sie.

Sie rührte in dem Gemüsetopf, um zu verhindern, dass die Kartoffeln ansetzten, und ging dann mühsam auf die Anrichte zu, wo sie das Brot in Scheiben schnitt. Sie fühlte sich heute ganz und gar nicht wohl in ihrer Haut, und den Grund kannte sie nur zu gut.

Nervös warf sie einen Blick auf die Uhr und atmete tief ein, bevor eine neue Wehe ihren Leib durchfuhr. Lange würde sie sich nicht mehr auf den Beinen halten können. Sie hoffte aus ganzem Herzen, dass Clark sich beeilte, nach Hause zu kommen.

Als die Wehe nachgelassen hatte, atmete Marty noch einmal kräftig durch und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Bald danach hörte sie erleichtert, wie Bob das heimkehrende Gespann mit seinem Gebell begrüßte.

Innerhalb von Sekunden kam Luke in die Küche gelaufen. Endlich konnte er Missies gestrenger Aufsicht für eine Weile entfliehen, um an der Seite seines Pas „richtige Männerarbeit“ zu leisten. Im Hinausgehen griff er seine Jacke vom Haken und streifte sie hastig über. Dass er dabei den falschen Ärmel erwischt hatte, würde er erst draußen bemerken, dachte Marty kopfschüttelnd, als sie ihm nachschaute.

Wenig später trug Clark mit Lukes Hilfe einen Eimer voll schäumender Milch ins Haus. Marty stellte die letzte Schüssel auf den Tisch, während ihre „Männer“ sich draußen vor dem Haus die Hände wuschen. Dann sank sie erleichtert auf ihren Stuhl am Tisch.

Clark sprach das Dankgebet und begann, seinen und Lukes Teller zu füllen. Plötzlich hielt er inne und sah Marty an.

„Was ist denn heut mit dir los?“, fragte er besorgt. Mühsam lächelte sie. „Ich glaub, es ist bald so weit.“

„Es ist bald so weit?“ Polternd landete die Kartoffelschüssel wieder auf dem Tisch. „Warum hast du das denn nicht gleich gesagt? Ich fahr sofort los und hol den Doktor!“

„Setz dich und iss erst mal!“, wollte Marty ihm zureden, doch vergeblich.

„Du legst dich am besten sofort ins Bett. Missie, dass du mir gut auf Luke aufpasst!“ Er sah das kleine Mädchen eindringlich an. „Weißt du, das neue Geschwisterchen kommt jetzt ganz bald. Mama muss sich ins Bett legen. Du gibst Luke sein Abendessen und dann räumst du den Tisch ab. Ich fahr los, um den Doktor zu holen. Es wird nicht lange dauern, aber während ich unterwegs bin, musst du mir hier für alles sorgen. Hast du verstanden?“

Missie nickte ernst.

„Und jetzt zu dir, Madame“, sagte Clark dann zu seiner hochschwangeren Frau und half ihr vom Stuhl. „Ins Bett mit dir und keine Widerrede!“

Fügsam ließ Marty sich ins Schlafzimmer führen. Wie sehr sie sich nach ihrem Bett sehnte! Jetzt fehlte ihr nur noch eins zu ihrem Trost, musste sie plötzlich denken: Ma Graham an ihrer Seite.

„Clark“, wagte sie vorsichtig, „muss es unbedingt der Doktor sein?“

„’türlich“, gab er verwundert zurück. „Was meinst du wohl, wozu wir den überhaupt haben?“

„Aber ich hätte viel lieber Ma bei mir, Clark. Wirklich! Sie hat ihre Sache so gut gemacht, als Luke ankam; sie kann doch bestimmt …“

„Der Doktor weiß sich zu helfen, falls irgendwas schiefgehen sollte“ , antwortete Clark bestimmt. „Sicher, Ma hat schon manchem Baby ans Licht der Welt geholfen, und meistens ist auch alles gut abgelaufen, aber du kannst dich nie ganz darauf verlassen, dass auch diesmal nichts passiert. Der Doktor weiß, was zu tun ist, und er hat die nötigen Instrumente bei sich.“

Eine ungebetene Träne rutschte über Martys Wange. Sie hatte nichts gegen den Doktor, aber sie sehnte sich in dieser schweren Stunde so sehr nach Ma.

„Komm schon, sei nicht albern!“, schalt sie sich selbst, doch mit der nächsten Wehe wurde ihre Sehnsucht nach Ma noch übermächtiger.

Clark reichte ihr ein weiches Flanellnachthemd von dem Haken hinter der Tür und legte ihr die Bettdecke zurecht.

Als sie ins Bett geschlüpft war, deckte er sie fest zu, gab ihr einen Kuss und versprach, so schnell wie möglich wiederzukommen. Sein bleiches Gesicht und seine fahrigen Hände konnte er jedoch kaum verbergen. Wenig später hörte sie auch schon die galoppierenden Hufschläge vom Hof donnern.

Von der Küche her drangen die hellen Stimmen der Kinder zu ihr. Missie führte noch immer das Kommando. Gerade befahl sie Luke, sich mit dem Essen zu beeilen und nur ja schön still zu sein, weil Mama sich ausruhen musste, damit das Schwesterchen bald ankommen konnte.

Marty war erschöpft, doch an Schlaf war nicht zu denken. Schließlich räumte Missie reichlich geräuschvoll den Tisch ab. Marty spürte, wie sehr die Kleine sich bemühte, nicht so laut mit dem Geschirr zu klappern. Anschließend machte sie sich daran, Luke zu Bett zu bringen. Der protestierte entrüstet; schließlich war es noch lange nicht Schlafenszeit, aber Missie schenkte ihm kein Gehör und ließ sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Kurz darauf lag der Kleine in seinem Bett.

Unendlich langsam kroch die Zeit dahin. Die Wehen kamen jetzt in kürzeren Abständen und waren von Mal zu Mal schwerer zu ertragen.

Wieder bellte der Hund draußen im Hof. Marty war überrascht; so bald hatte sie den Doktor nicht erwartet, aber da beugte sich Ma Graham auch schon über ihr Bett.

„Du bist doch gekommen?“, flüsterte Marty ungläubig und dankbar zugleich. Jetzt strömten ihr die Tränen über das Gesicht. „Woher wusstest du … ?“

„Clark ist bei uns vorbeigekommen“, antwortete Ma sanft. „Sagte, du brauchst mich.“

„Aber er wollte doch den Doktor holen.“

„Das tut er auch. Der Doktor macht die Entbindung. Clark meinte, du brauchst mich nur so, zum Trost.“ Ma strich ihr das wirre Haar aus dem Gesicht. „Wie fühlst du dich denn?“

Marty rang sich ein Lächeln ab.

„Schon viel besser – jetzt, wo du da bist! Ich glaub, diesmal wird’s nicht so lange dauern wie bei Luke.“

„Magst recht haben“, sagte Ma und drückte ihr den Arm. „Ich seh mal nach den Kindern und setz dem Doktor heißes Wasser auf. Ruf mich nur, wenn du was brauchst.“

Marty nickte. „Danke“, flüsterte sie. „Danke, dass du gekommen bist! Es geht schon viel besser.“

Und wieder hieß es, geduldig zu warten. Hin und wieder tauchte Mas liebevolles Gesicht über Marty auf. Dann nahm sie wie durch dichten Nebel Stimmen von der Küche her wahr. Der Doktor und Ma tauschten ein paar Bemerkungen aus und plötzlich war auch Clark wieder bei ihr und flüsterte ihr tröstende Worte zu.

Danach verschwamm alles vor ihren Augen, bis ein hoher, kräftiger Schrei in ihr Bewusstsein drang. Plötzlich war sie hellwach.

„Da ist sie ja endlich!“, sagte sie ruhig, doch der Doktor dröhnte freudestrahlend zurück: „Er, meinen Sie wohl. Ein richtiger Prachtjunge!“

„Oh, da wird Missie aber enttäuscht sein“, murmelte Marty.

„Das eine kann ich Ihnen versprechen“, gab der Doktor zurück, „bei diesem feinen Kerlchen bleibt niemand lange enttäuscht!“

Wenig später hielt Marty ihren neugeborenen Sohn in den Armen. Im warmen Schein der Lampe konnte sie sich selbst davon überzeugen, dass sie in der Tat einem strammen, gesunden Jungen das Leben geschenkt hatte. Eine tiefe Liebe zu diesem winzigen, hilflosen Wesen neben ihr stieg in ihr auf.

Clark strahlte seinen Sohn an und hauchte einen Kuss auf Martys Haar.

„Unser zweiter Prachtkerl!“, sagte er stolz. Marty nickte erschöpft.

Clark verließ das Schlafzimmer, um wenige Augenblicke darauf mit einem verschlafenen Kind an jeder Hand zurückzukehren.

„Seht mal, euer Brüderchen!“, sagte er. „Jetzt schläft es gerade. Ist es nicht ’n feiner Junge?“

Luke starrte das kleine Bündel nur sprachlos an.

„’n Junge?“, fragte Missie ungläubig. „Aber … aber es sollte doch ’n Mädchen werden. Ich hab doch für ’n Mädchen gebetet!“

„Weißt du, Missie“, begann Clark, „manchmal weiß Gott besser als wir, was gut für uns ist. Manchmal beten wir um Sachen, die uns gar nicht zustehen, und dann schickt Gott uns stattdessen etwas anderes, das viel besser für uns ist. Dieser kleine Junge muss etwas ganz Besonderes sein, dass Gott ihn uns geschickt hat.“

Missie hatte aufmerksam zugehört. Dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, als das winzige Neugeborene sich im Schlaf reckte und herzhaft gähnte.

Der kleine Junge wurde Arnold Joseph getauft, doch alle nannten ihn von Anfang an Arnie.

Luke wusste zuerst nicht viel mit seinem Brüderchen anzufangen und fand es ziemlich langweilig, obwohl er es andererseits bis aufs Blut verteidigt hätte. Missie bemutterte es betulich tagein, tagaus und konnte gar nicht verstehen, weshalb sie sich je ein Schwesterchen gewünscht hatte.

Das Leben nahm wieder seinen gewohnten Lauf. Die Äcker wurden bestellt und der Gemüsegarten bepflanzt. Das Neugeborene trug seinen Teil zur Hausarbeit bei und Marty hatte von früh bis spät alle Hände voll zu tun. Dennoch wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, sich zu beklagen. Sie war rundherum ausgefüllt und glücklich.

Gute Nachrichten für Wanda

Das Frühjahr räumte dem Sommer das Feld und dann hielt auch schon der Herbst Einzug. Der kleine Arnie wuchs und gedieh von Tag zu Tag. Niemand mehr konnte sich das Leben ohne ihn vorstellen.

Das Getreide wurde geerntet und gedroschen. Clark stellte erfreut fest, dass der diesjährige Ertrag den der Vorjahre bei Weitem übertroffen hatte.

Marty hatte Berge von Obst und Gemüse einzukellern. Missie war ihr eine große Hilfe, indem sie Arnie nach besten Kräften versorgte.

Nur eine große Enttäuschung brachte der Herbst mit sich: Das neue Schulhaus stand noch immer leer. Den ganzen Sommer über hatten die Männer sich manche Stunde abgerungen, um das Dach fachmännisch zu decken, die Fenster einzusetzen und den Fußboden zu legen. Ein gusseiserner Ofen war angeschafft und aufgestellt worden, und einfache Holzbänke waren getischlert worden. Die Farmer der Umgebung hatten gemeinsam einen stattlichen Vorrat an Brennholz gestiftet. Für die Pferde hatten die Männer einen wetterfesten Unterstand errichtet. Sogar eine große Wandtafel hing an der Stirnwand des Klassenzimmers – doch anstatt heller Kinderstimmen erfüllte gähnende Stille das Schulgebäude. Trotz all der vereinten Bemühungen der Nachbarn hatte sich noch kein Lehrer gefunden.

Marty hatte deshalb manche Träne lautlos in ihr Kopfkissen geweint. Es tat so weh, ihren langjährigen Traum und die viele harte Arbeit fruchtlos bleiben zu sehen. Jetzt war das kommende Jahr im Gespräch, aber das Warten auf den nächsten Herbst würde ihr so lange werden.

Bei den Hufschlägen eines einfahrenden Gespanns schob Marty ihre Gemüseschüssel beiseite und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab.

Besuch kam zu Martys großem Bedauern selten, besonders während der Ernte- und Einmachzeit. Sie warf einen Blick durch das Fenster und sah, wie Wanda von ihrem Wagen stieg und Clark die Zügel reichte. Die beiden tauschten eine kurze Begrüßung aus, bevor Wanda auf die Haustür zuging. Marty sah an ihrer fleckenübersäten Schürze hinunter und band sie schnell ab, um sich eine frische aus der Schublade zu holen. Auf dem Weg zur Tür strich sie sie zurecht, während schon ein Lächeln auf ihrem Gesicht strahlte.

Sie öffnete Wanda die Tür und begrüßte sie mit einer herzlichen Umarmung.

„Da freu ich mich aber, dass du gekommen bist! Meine unordentliche Küche musst du entschuldigen. Einkochzeit, weißt du.“

„Lass mal, das macht doch nichts! Ich hätte nicht einfach bei dir hereinplatzen sollen, bei der vielen Arbeit, die du hast – aber ich musste einfach kommen, Marty!“

„Ach, Wanda, viel zu tun gibt’s doch immerzu. Da kriegt man richtige Sehnsucht nach Besuch!“

An Wandas Gesicht konnte sie ablesen, dass es große Neuigkeiten gab.

„Nun, was gibt’s denn? Man sieht dir deine Freude ja meilenweit an!“

Wanda kicherte beinahe kleinmädchenhaft. So übersprudelnd hatte Marty ihre Freundin noch nie erlebt.

„Oh, Marty!“, rief sie. „Du hast recht, ich kann’s wirklich nicht für mich behalten: Ich bekomme ein Baby! Ich war gerade heute früh beim Doktor.“

Jubelnd fiel Marty ihr um den Hals.

„Dr. Watkins hat gemeint, es gäbe keinen Grund, weshalb ich dieses nicht durchbringen könnte“, fuhr Wanda fort. „Er hat gesagt, diesmal bleibt es bestimmt am Leben. Cam freut sich auch so. Er meint, unser Sohn wird einmal der kräftigste, ansehnlichste und tüchtigste Bursche im ganzen Westen.“

Wieder kicherte Wanda. „Und als ich ihn gefragt habe: ,Und wenn’s nun aber ein Mädchen wird?‘, da hat er gesagt, dann würde es halt das hübscheste, rosigste und zierlichste Mädchen im ganzen Westen. Ach, Marty, ich bin so glücklich, dass ich vor Freude weinen könnte!“ Und das tat sie auch.

Zusammen weinten sie, ohne sich ihrer Freudentränen zu schämen.

„Wie ich mich für euch freue, Wanda!“, sagte Marty. „Und jetzt, wo wir einen Doktor am Ort haben, da wird schon alles glatt ablaufen. Ach, endlich bekommst du das Baby, das du dir so lange herbeigesehnt hast! Wann soll’s denn ankommen?“