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Der Siedlertreck in den amerikanischen Westen endet für das junge Ehepaar Marty und Clem in der Katastrophe, als Clem bei einem Unfall stirbt und Marty schwanger und mittellos zurückbleibt. Erst mit dem Auftauchen des Farmers Clark Davis eröffnet sich für Marty eine neue Perspektive, denn der Witwer macht ihr ein ungewöhnliches Angebot: eine Ehe auf Zeit, damit Marty und sein kleines Mädchen Missie ein Zuhause haben. Marty nimmt das Angebot an, zuerst widerwillig und entschlossen, sich bei nächster Gelegenheit auf den Rückweg in die alte Heimat zu machen. Doch je länger sie in Clarks Nähe ist, desto mehr wird sie Teil seiner Welt. Wird Marty den Mut finden, ihr Herz zu öffnen und ein neues Leben an Clarks Seite zu beginnen? Teil 1 der beliebten Siedler-Serie von Janette Oke, die die Zeit der Besiedlung des amerikanischen Westens beschreibt.
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Seitenzahl: 282
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Janette Oke wurde 1935 auf einer Farm in Alberta, Kanada, geboren. Sie ist Mutter von vier erwachsenen Kindern. Mit ihrem Ehemann Edward wohnt sie in Alberta, nahe der Farm ihrer Eltern, die zu einem Museum umgerüstet wurde.
Janette Oke
Die Siedlerserie, Band 1Aus dem Amerikanischen von Beate Peter
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© der deutschen Ausgabe 1984 Gerth Medien
in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Berliner Ring 62, 35576 WetzlarErschienen im Februar 2025
ISBN 978-3-96122-708-2Umschlaggestaltung: Gert Wagner unter Verwendung bildgebender Generatoren
Erstellung E-Book: Uhl + Massopust, Aalenwww.gerth.de
Die beinahe grellen Strahlen der Morgensonne verhießen einen ungewöhnlich warmen Oktobertag. Mühsam wachte Marty nach einem unruhigen, von Albträumen gequälten Schlaf auf. Was war nur mit ihr los? Sie begrüßte doch sonst jeden neuen Tag voller Schwung und Abenteuerlust! Langsam kam ihr alles wieder zum Bewusstsein und sie ließ sich voller Schmerz auf ihr Lager zurückfallen. Ihr schmaler Körper wurde von Schluchzen geschüttelt.
Clem war nicht mehr bei ihr! Der starke, fröhliche, jungenhafte Clem, der ihr Herz so stürmisch erobert hatte. Es waren nicht einmal zwei Jahre her, dass sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. So selbstsicher war er aufgetreten, dass er beinahe großtuerisch gewirkt hatte. Vierzehn kurze Monate später war sie eine verheiratete Frau auf dem Weg nach Westen an der Seite des Mannes, den sie über alles liebte – bis gestern, als ihre ganze Welt zusammenbrach.
Gestern waren ein paar Männer zu ihr an den Planwagen gekommen und hatten ihr ohne große Umschweife berichtet, Clem sei tot. Sein Pferd war gestürzt. Er war gleich tot gewesen. Das Pferd hatten sie erschießen müssen. Ob sie mitkommen wollte?
Nein, sie würde hier bleiben.
Sollte einer von ihnen seine Frau zu ihr rüberschicken?
Nein, sie würde schon allein zurechtkommen.
Sie würden die Leiche versorgen. Die Frauen verstanden etwas davon. Die Nachbarn würden dann die Beerdigung vorbereiten. Zum Glück im Unglück war der Pastor gerade in der Gegend. Er hatte eigentlich heute weiterreisen wollen, aber bestimmt würde er einen Tag länger bleiben. Wollte sie wirklich nicht mitkommen?
Nein, nein, sie wollte lieber hier bleiben.
Aber sie war doch ganz allein.
Das war schon recht. Sie wollte allein sein.
Also gut, dann würden sie morgen wiederkommen. Sie sollte sich nicht sorgen. Es würde schon alles in Ordnung gehen.
Vielen Dank. –
Und dann waren sie losgeritten und hatten ihren Clem mitgenommen. Sie hatten ihn, in eine Decke gewickelt, auf dem Pferd eines Nachbarn festgebunden. Der Nachbar hatte das Pferd vorsichtig am Zaumzeug geführt.
Und jetzt war es Morgen, und die Sonne schien hell. Warum schien die Sonne bloß? Warum stimmte die ganze Natur nicht in die düstere Kälte ein, die ihr Herz frösteln ließ?
„O Clem! Clem!“, rief sie verzweifelt. „Was soll ich jetzt bloß anfangen?“
Es kam ihr nicht einmal in den Sinn, dass sie mitten im Herbst mutterseelenallein hier im rauen Westen war, dass es kein Zurück für sie gab, dass sie keinen Menschen kannte und dass sie Clems Baby unter ihrem Herzen trug. Ihr ganzes Denken und Fühlen war nur ein einziger dumpfer Schmerz.
Clem war so begeistert nach Westen losgezogen. „Dort im Westen gibt’s alles, was das Herz begehrt! Land kann sich jeder nehmen, so viel er will.“
„Ja, aber die wilden Tiere? Und die Indianer?“, hatte sie bange gefragt.
Er hatte sie bloß ausgelacht und sie mit seinen starken Armen durch die Luft gewirbelt.
„Und ’n Haus haben wir auch nicht. Bis wir da sind, ist es doch fast Winter!“
„Dazu gibt’s doch Nachbarn. Ich hab gehört, da draußen hilft einer dem andern.“
Und das hätten sie auch getan. Sie hätten sogar notfalls ihre reife Ernte stehen und liegen gelassen, um einem Neuling tatkräftig zu helfen, weil sie nämlich die eisigen Winde und Schneestürme des strengen Winters am eigenen Leibe erfahren hatten.
„Es wird schon alles gut werden. Zerbrich dir nur nicht den Kopf!“, hatte Clem zuversichtlich gesagt.
Sie hatten an einem Farmhaus hier in der Nähe angehalten, um sich nach den örtlichen Bodenverhältnissen zu erkundigen. Bei einer dampfenden Tasse Kaffee hatte der freundliche Farmer ihnen erklärt, dass er das Land bis unten an den Fluss bewirtschaftete, aber dass das fruchtbare Land dahinter bis hin zu den Bergen noch niemandem gehörte. Clem hätte am liebsten einen Luftsprung gemacht. Der bloße Gedanke, seinem Traum so nahe zu sein, wollte seine Begeisterung schier übersprudeln lassen. Voller Aufregung trieb er die Pferde zur Eile an, doch der mehrmals geflickte Wagen konnte dem Tempo nicht standhalten. Kurz vor dem Ziel brach ein Rad, und es sah so aus, als sei der Wagen jetzt endgültig nicht mehr zu reparieren.
Sie hatten an Ort und Stelle ein Lager für die Nacht aufgeschlagen. Clem hatte Steine und Aststücke unter dem Wagen aufgeschichtet, um ihn halbwegs gerade zu halten. Zu allem Unglück mussten sie am nächsten Morgen entdecken, dass eins der beiden Pferde sich über Nacht losgerissen hatte und davongelaufen war. Sein durchgerissener Zügel hing lose an dem Baum, an dem Clem es angebunden hatte. Auf dem anderen Pferd war Clem dann losgeritten, um Hilfe zu holen, und jetzt würde er nie wiederkommen! Kein Stück Land würde je seinen Namen tragen. Er war nicht einmal dazu gekommen, sein eigenes Haus zu bauen.
Geräusche von draußen rissen sie aus ihren Gedanken. Mit tränenverschleierten Augen lugte sie unter der Plane hervor. Vier Männer mit ernsten Gesichtern schaufelten in der Erde unter der größten Fichte ein Loch. Erneut brach der Schmerz in ihr auf. Clems Grab! Was die Männer da aushoben, war Clems Grab! Sie hatte nicht geträumt. Es war alles wahr. Clem war tot. Sie war allein und jetzt sollte ihr Clem auf geborgtem Boden begraben werden.
„O Clem, was mach ich bloß?“
Sie weinte sich aus, bis keine Tränen mehr kamen. Die Männer schaufelten noch immer. Jedes Scharren versetzte ihrem Herzen einen neuen Hieb.
Auf einmal hörte sie mehr Stimmen. Das mussten die anderen Nachbarn sein. Wenn sie sich nur zusammenreißen konnte! Clem würde sich sonst für sie geschämt haben.
Sie stand von ihrem Lager auf, strich sich über das zerzauste Haar und zog ihr dunkelblaues Überkleid an. Das schien ihr das einzig angemessene Kleid zu sein. Ein besseres hatte sie nicht. Mit einem Handtuch und einem Kamm in der Hand kletterte sie vom Wagen und ging zum Brunnen hinüber, um sich das rot geweinte Gesicht zu kühlen und ihr wirres Haar in Ordnung zu bringen. Dann straffte sie die Schultern, hob den Kopf und ging ihren neuen Nachbarn entgegen.
Alle zeigten ihr stille Anteilnahme. Marty spürte es. Das war kein gespieltes Mitleid, sondern ein aufrichtiges Verstehen. So war es im Westen. Das Leben war nicht einfach hier. Fast jeder der Nachbarn hatte selbst einmal Schweres erlebt. Man ließ sich durch so etwas nicht unterkriegen; man durfte sich einfach nicht unterkriegen lassen. Das Leben ging weiter. Für Gefühlsduselei hatte hier niemand weder Zeit noch Kraft. Mit den schweren Zeiten musste man irgendwie fertig werden. Der Tod war etwas ganz Natürliches, und wenn es auch nicht leicht war, musste man sich aufraffen und weitergehen.
Der Reiseprediger hielt die Grabrede. Er sagte etwas von trauernden Hinterbliebenen, die in diesem Fall aus einer einsamen, schmalen Person und ihrem ungeborenen Kind bestanden.
Der Prediger sprach Worte des Trostes und der Ermutigung. Die Nachbarn hörten in stillem Mitgefühl zu. Jeder von ihnen hatte irgendwann einmal ähnliche Worte gehört. Nach der kurzen Grabrede drehte sich Marty um und ging zum Wagen zurück, während die vier Männer mit den Schaufeln Erde auf den einfachen Holzsarg häuften. Mehrere Nachbarn hatten die halbe Nacht damit zugebracht, Clems Sarg zu tischlern. Als Marty gerade im Gehen begriffen war, trat eine der Frauen auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Ich bin Wanda Marshall“, sagte sie. „Wir haben zwar nur ein Zimmer, aber Sie können gern für ein paar Tage bei uns wohnen, damit Sie nicht so alleine sind.“
„Vielen Dank“, antwortete Marty kaum hörbar, „aber ich will Ihnen nicht zur Last fallen. Ich glaub, ich bleib einfach erst mal hier in dem Wagen. Außerdem brauch ich Zeit zum Nachdenken.“
„Ja, das kann ich gut verstehen“, sagte die Frau und ging weiter.
Marty hatte ihren Wagen noch nicht erreicht, als die weiche Hand einer älteren Frau sich ihr entgegenstreckte.
„Ist nicht einfach, so was! Hab ich selbst mal durchmachen müssen. Hab meinen ersten Mann vor Jahren auch unter die Erde bringen müssen.“
Sie hielt inne, bevor sie weitersprach.
„Sie haben sich bestimmt noch keine Gedanken gemacht, wie’s jetzt weitergehen soll, oder?“
Wortlos schüttelte Marty den Kopf.
„’ne Schlafstelle kann ich Ihnen nicht bieten; unser Haus ist voll bis unters Dach. Aber was zu essen, das können Sie bei uns kriegen. Wenn Sie Ihren Wagen neben unser Haus stellen wollen, helfen wir Ihnen gern mit Ihren Sachen, und mein Ben, Ben Graham heißt er, der bringt Sie dann in die Stadt, wenn Sie so weit sind.“
„Danke“, sagte Marty leise, „aber ich glaub, ich bleib fürs Erste hier.“
Wie hätte sie auch gestehen können, dass sie keinen blanken Heller in der Tasche hatte und dass sie sich ohne Geld in der Stadt keinen einzigen Tag halten konnte? Und wer würde schon eine junge, ungelernte Frau in ihren Umständen einstellen? Gab es überhaupt eine Zukunft für sie?
Ihre bleischweren Beine trugen sie zum Wagen. Sie hob die Plane und kletterte unter das Verdeck. Am liebsten hätte sie sich vor aller Welt verkrochen, um nur ja nie wieder einer Menschenseele begegnen zu müssen.
Es wurde Mittag. Die glühende Hitze legte sich wie eine schwere Decke auf sie. Alles drehte sich vor ihren Augen. Schließlich kletterte sie wieder aus dem Wagen und setzte sich ins Gras neben das zerborstene Rad. Die ganze Welt erschien ihr so trügerisch, unwirklich; dann schlug der dumpfe, lähmende Schmerz wieder wie eine Ozeanwelle über ihrem Kopf zusammen. Verzweifelt versuchte sie, Klarheit in ihre Gedanken zu bringen, als eine Stimme sie plötzlich aufschreckte.
„Ma’am.“
Sie sah auf. Vor ihr stand ein hochgewachsener Mann. Verlegen drehte er seinen Hut in seinen braun gebrannten Händen. Sie erkannte ihn als einen der Nachbarn, die das Grab ausgehoben hatten. Er war breitschultrig, und aus seinen Augen sprach eine Weisheit und Einsicht, die den jungen Gesichtszügen zu widersprechen schienen. Sie sah ihn einfach nur an, ohne seine Anrede zu erwidern.
„Ma’am, ich weiß, jetzt ist nicht die beste Zeit für so was, wo Ihr Mann kaum unter der Erde ist, aber ich kann’s mir nicht leisten, auf ’ne andere Gelegenheit zu warten.“
Er räusperte sich und sah ihr ins Gesicht.
„Übrigens, ich heiße Clark Davis“, beeilte er sich zu sagen, „und ich meine, Sie und ich könnten einander jetzt gut gebrauchen.“
Marty holte tief Luft, aber er hob die Hand und sprach schnell weiter.
„Einen Augenblick!“, sagte er bestimmt. „Das ist ganz natürlich. Sie haben Ihren Mann verloren und jetzt stehen Sie ganz allein da.“
Er warf einen Blick auf das zerborstene Wagenrad.
„Geld haben Sie sicher auch keins, um zu Ihren Eltern zurückzufahren – falls Sie überhaupt noch Eltern haben, heißt das. Und selbst dann geht bis zum Frühjahr kein Treck mehr in Richtung Osten. Und ich, ich bin auch nicht viel besser dran.“
Er hielt inne und schaute auf seinen Hut, den er zwischen den Händen drehte. Dann sah er sie wieder an und sprach weiter.
„Ich hab ’n kleines Mädchen – fast noch ’n Baby –, und das braucht ’ne Mama. Also, ich dachte, wenn Sie mich heiraten“ – er beugte sich zu ihr herunter und sah ihr geradewegs in die Augen –, „dann wär uns beiden geholfen. Ich hätte Ihnen gern mehr Zeit gelassen, aber der Prediger reist morgen weiter. Kommt erst im April oder Mai wieder. Deshalb muss es heute sein!“
Martys Augen standen weit offen vor Entsetzen. „Ich weiß, ich weiß“, warf er ein, „’s kommt alles ’n bisschen schnell, aber was bleibt uns schon anderes übrig?“
Ja, allerdings!, dachte Marty mit ihrem schwindeligen Kopf, was bleibt schon anderes übrig? Lieber sterb ich! Lieber sterb ich, als dass ich Sie heirate! Ich will nie wieder ’nen Mann sehen. Machen Sie bloß, dass Sie wegkommen!
Aber er schien ihre Gedanken nicht zu erraten.
„Ich hab mich schwergetan, meiner Missie Mama und Pa zugleich zu sein, aber die viele Feldarbeit tut sich auch nicht von allein. Ich hab ’n ordentliches Stück Land und ’n Häuschen drauf, klein, aber gemütlich, und ich könnte Ihnen alles, was ’ne Frau so zum Leben braucht, bieten, wenn Sie sich dafür um meine Missie kümmern. Sie werden sie mögen. ’s ist ’n nettes kleines Ding.“
Er machte eine Pause und zog tief die Luft ein.
„Sie braucht ’ne Mutter, meine Missie. Mehr verlang ich gar nicht von Ihnen, Ma’am, als dass Sie Missies Mama sind. Weiter nichts. Sie und Missie können das Schlafzimmer haben. Ich zieh dann in den Anbau. Und …“ Er zögerte einen Moment lang. „Und außerdem versprech ich Ihnen das eine: Mit dem nächsten Treck können Sie wieder nach Osten fahren, wenn Sie sich bei mir nicht wohlfühlen. Ich bezahl Ihnen die Überlandkutsche zu Ihrer Familie. Nur eine Bedingung hab ich, und zwar, dass Sie Missie mitnehmen. Ist einfach nicht fair, dass so ’n armes kleines Ding keine Mama hat.“
Unvermittelt stand er auf.
„So, jetzt lass ich Sie allein, damit Sie sich’s in Ruhe überlegen können. Viel Zeit haben wir nicht mehr.“
Er drehte sich um und ging. An seinen gesenkten Schultern konnte sie sehen, wie viel Überwindung ihn seine Worte gekostet hatten. Trotzdem war sie fassungslos vor Zorn. Was für eine grobe Unverschämtheit, einer Frau, die gerade ihren Mann verloren hat, einen Heiratsantrag zu machen! Lieber würde sie sterben! Der Tod war besser als so etwas!
Aber Clems Baby? Nein, das Baby sollte nicht sterben. Das wollte sie nicht. Ach, sie wusste nicht mehr ein noch aus. Sie hatte nichts und niemanden hier in diesem gottverlassenen Westen. Ihre Eltern und alle ihre Freundinnen waren weit, weit weg. Sie war mutterseelenallein. Dieser Rohling von einem Mann hatte recht: Sie war auf ihn angewiesen und sie hasste ihn dafür.
„Dieser elende Westen! Wär ich doch bloß nie hierher gekommen! Und dieser Grobian! Wie ich ihn hasse!“
So sehr sie aber auch innerlich tobte, im Grunde wusste sie genau, dass sie keine andere Wahl hatte.
Schließlich wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und stand auf. Nie im Leben würde sie hier im grünen Gras darauf warten, dass er in seiner großzügigen Art wiederkam, um sich nach ihrer Entscheidung zu erkundigen. Trotzig kletterte sie auf den Wagen und machte sich daran, ihr spärliches Hab und Gut zusammenzupacken.
Schweigend saßen sie nebeneinander auf seinem Wagen. Der Prediger war nach der Beerdigung zu den Grahams zum Essen gegangen. Missie war auch dort, damit die älteren Mädchen auf sie aufpassen konnten, während ihr Pa bei der Beerdigung war. Gleich würden sie sich vom Pastor trauen lassen, Missie abholen und dann zum Gehöft fahren. Marty saß stumm und wie gelähmt da. Der leichte Fahrtwind blies ihr das wirre Haar in ihr heißes Gesicht. Clark Davis sah sie besorgt von der Seite an.
„Wir sind gleich da. Ist mächtig heiß heute. Sie könnten ’ne Sonnenhaube gebrauchen.“
Sie starrte wortlos vor sich hin. Die Sonne schien ihr also auf den Kopf. Na, wenn schon! Es gab ohnehin nichts Schlimmeres mehr auf der Welt, das ihr jetzt noch zustoßen könnte. Sie sah schnell zur Seite, damit er ihre aufsteigenden Tränen nicht bemerkte. Von diesem herzlosen Menschen, der da neben ihr saß, wollte sie kein Mitleid.
Die Pferde trotteten mühsam vorwärts. Marty taten alle Glieder weh von dem Rütteln und Schütteln des Wagens auf der staubigen, zerfurchten Straße.
Endlich tauchte das Gehöft der Grahams am Fuß einiger sanften Hügel auf. Sie fuhren in den Hof hinein. Der Mann sprang vom Wagen und reichte ihr die Hand. Sie war zu benommen, um seine Hilfe auszuschlagen. Wenn sie allein vom Wagen geklettert wäre, befürchtete sie, wäre sie flach auf der Erde gelandet. Er hob sie mühelos vom Wagen und stellte sie sicher auf ihre Füße, bevor er sie losließ. Dann machte er die Zügel fest und ließ sie vor sich ins Haus gehen.
Sie war viel zu betäubt, um wahrzunehmen, was um sie her geschah. Später konnte sie sich nur noch daran erinnern, wie eine überraschte Frau ihnen die Tür öffnete und verwundert von einem zum andern sah. Innen warteten mehrere Leute offensichtlich auf das Mittagessen. In einer Ecke sah sie den Prediger mit einem Mann sitzen. Der Mann war wohl Ben Graham. Das Haus schien voller Kinder zu sein. Sie versuchte nicht einmal, sie zu zählen. Clark Davis erklärte Mrs Graham, dem Pastor und Ben den Grund ihres Kommens.
„Wir haben uns gedacht –“
„Was heißt hier: wir?“, wollte sie aufbrausen. „Sie meinen wohl: ich! –“
„Wir haben uns gedacht, wir wollten schnell heiraten, bevor der Prediger weiterzieht. Mrs Claridge hier braucht ’n Dach über dem Kopf und Missie braucht ’ne Mama.“
Wie durch dichten Nebel hörte sie Mrs Graham sagen: „Das ist auch das einzig Vernünftige“, und der Prediger schloss sich an: „Ja, ja, natürlich.“
Tisch und Stühle wurden beiseitegeräumt, und bevor sie wusste, wie ihr geschah, hörte sie den Prediger seine kurze Traurede halten. Irgendwie musste sie das Jawort an der richtigen Stelle herausgebracht haben, denn anschließend erklärte der Prediger sie und Clark Davis als „Mann und Frau“.
Wieder wurde umgeräumt. Mrs Graham deckte den Tisch und lud Marty und Clark zum Essen ein. Und dann saßen alle am Tisch. Die kleineren Kinder hatten schon gegessen, während die Erwachsenen bei der Beerdigung waren. Dem Dankgebet, das der Prediger sprach, folgte eine lebhafte Unterhaltung. Marty musste wohl etwas gegessen haben, obwohl sie sich später nicht mehr erinnern konnte, was es war. Sie reagierte auf alles mechanisch wie eine Marionettenpuppe, die ungelenk an langen Fäden tanzt.
Und wieder geriet alles um sie herum in Bewegung. Der Prediger nahm sein Essenspaket für unterwegs in Empfang und verabschiedete sich. Einer von den älteren Jungen holte sein Pferd aus dem Stall. Bevor der Prediger sich auf den Weg machte, ging er auf Marty zu, nahm ihre Hand in die seine und wünschte ihr mit einfachen und aufrichtigen Worten den Segen und die Kraft Gottes für die kommenden Wochen und Monate. Ben und Clark begleiteten ihn zu seinem Pferd, und Mrs Graham winkte ihm zum Abschied vom Haus aus nach. Dann ritt er los und Mrs Graham ging ins Haus zurück. Die Männer traten an den Zaun, um Clarks Gespann loszumachen.
„Sally Anne, weck Missie und mach sie fertig! Laura und Nellie, ihr spült mir inzwischen das Geschirr!“
Daraufhin machte sie sich an ihrem Herd zu schaffen. Marty nahm das Treiben um sie her nur verschwommen wahr. Inmitten von allem Lärm und Trubel saß sie stumm und benommen da.
Nach einer Weile kam Sally Anne mit einem kleinen schlaftrunkenen Bündel wieder ins Zimmer. Marty sah nichts als tiefblaue Augen und ein verschlafenes, aber freundliches Lächeln in dem kleinen Gesicht. Das muss wohl Missie sein, dachte sie teilnahmslos. Sie hatte recht. Als Clark in dem Moment zur Tür hereinkam, jauchzte die Kleine vor Freude auf und streckte ihm die Ärmchen entgegen. Er hob sie auf und drückte sie an sich. Dann dankte er den Gastgebern und sagte zu Marty, es sei an der Zeit, nach Hause zu fahren.
Mrs Graham begleitete sie zu ihrem Wagen. Mit keinem Wort erwähnte sie die Hochzeit. Überhaupt hatte niemand ihr irgendwelche Glückwünsche ausgesprochen. Darüber war Marty erleichtert. Ein falsches Wort, auch wenn es noch so gut gemeint war, hätte sie um ihre Fassung gebracht, das wusste sie genau. Zum Glück war kein einziges Wort über die Trauung gefallen. Diese einfachen Leute hier im Westen waren einfühlsame Menschen.
Die beiden Frauen verabschiedeten sich schlicht und als neue Nachbarinnen voneinander, doch Mrs Grahams Worte kamen von Herzen, als sie sagte: „In ’n paar Tagen, wenn Sie sich ’n bisschen eingelebt haben, komm ich mal rüber. Bin ja froh, dass ich endlich jemanden zum Plaudern in der Nachbarschaft hab!“
Marty bedankte sich und das Gespann zog an. Vor ihnen lag wieder die heiße, staubige Straße.
„Da ist es – da drüben!“
Marty schreckte aus ihren Gedanken auf. Ihre Augen folgten Clarks ausgestrecktem Arm.
Von Bäumen nach Norden hin geschützt und neben einer kleinen Bodenerhebung lag das Gehöft, das dem Mann an ihrer Seite gehörte. Ein Stück abseits von den Feldern stand ein kleines, aber wohnliches Haus mit einem Brunnen davor und einem Garten daneben. Ein paar Sträucher zierten den Pfad zur Haustür, und sogar aus der Entfernung konnte Marty die Farben der Herbstblumen erkennen.
Auf der einen Seite war ein wind- und wetterfester Stall für die Pferde und das Vieh. Dahinter, inmitten einer kleinen Baumgruppe, stand der Schweinestall. Zwischen all diesen Gebäuden verstreut standen ein Hühnerstall und mehrere andere kleine Holzschuppen. Sie würde sich wohl bald mit jedem einzelnen Gebäude vertraut machen müssen. Im Moment war sie jedoch viel zu erschöpft, um sich weiter dafür zu interessieren.
„Sieht ja richtig gut aus“, murmelte sie beinahe gegen ihren Willen. Irgendwie sah das Gehöft so sehr dem ähnlich, von dem sie und Clem geträumt hatten, dass sie plötzlich wieder ein Schluchzen abschütteln musste. Sie fiel in ihr Schweigen zurück und war froh, dass Missie in ihrer freudigen Aufregung beim Anblick ihres Zuhauses die ganze Aufmerksamkeit ihres Vaters in Anspruch nahm.
Als sie vor dem Häuschen anhielten, kam ihnen ein Hund entgegengelaufen und begrüßte Clark und Missie stürmisch.
Clark half Marty vom Wagen. „Am besten gehen Sie gleich schnurstracks ins Haus, damit Sie aus der heißen Sonne kommen“, sagte er besorgt. „Wenn Sie sich hinlegen wollen, das Schlafzimmer ist gleich hinter dem Wohnzimmer. Ich kümmer mich dann schon um Missie und alles andere. Fürs Feld ist es jetzt sowieso zu spät.“
Er hielt ihr die Tür offen und ließ sie in das fremde Haus eintreten, das von jetzt an ihr Zuhause sein sollte. Dann nahm er Missie bei der Hand und folgte ihr.
Sie sah sich nicht einmal im Hausinnern um, sondern ging geradewegs auf das Schlafzimmer zu. Sie spürte, dass sie sich nicht mehr lange auf den Beinen halten konnte. Vor dem sauber gemachten Bett zog sie nur ihre Schuhe aus, bevor sie sich darauffallen ließ. Im Haus war es kühler als draußen. Die Müdigkeit übermannte sie. Sie weinte noch ein paar Minuten; dann sank sie in einen tiefen, aber unruhigen Schlaf.
Marty schreckte aus ihrem Schlaf. Draußen war es ja schon fast dunkel! Der Duft von Kaffee und gebratenem Speck hing in der Luft. Jetzt erst spürte sie, wie hungrig sie war. Missies fröhliches Plappern drang von der Küche her ins Schlafzimmer, und plötzlich wusste sie wieder, wo sie war. Schnell stieg sie aus dem Bett, schlüpfte in ihre Schuhe und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Sie sah bestimmt furchtbar zerzaust aus, aber wen kümmerte das schon! Neben der Kommode fand sie zu ihrer Überraschung ihre Truhe vor. Alles, was sie besaß, befand sich in dieser Truhe.
Sie öffnete den Deckel, zog eine Haarbürste hervor und strich sich damit durch ihr Haar. Dann band sie es mit einer Schleife auf dem Hinterkopf zusammen. So sah sie schon etwas manierlicher aus, hoffte sie. Sie strich sich das zerknitterte Kleid glatt und machte sich daran, den köstlichen Küchendüften nachzugehen.
Clark warf ihr einen fragenden Blick zu, als sie die Küche betrat, und deutete dann auf einen Stuhl am Tisch.
„Mit meinen Kochkünsten ist’s nicht weit her“, erklärte er, „aber zum Sattwerden wird’s wohl langen.“
Marty setzte sich und Clark stellte einen Teller mit Pfannkuchen vor sie auf den Tisch. Dann ging er an den Herd zurück, um die dampfende Kaffeekanne zu holen. Eigentlich wäre das ja jetzt ihre Aufgabe gewesen, dachte sie betreten. Von jetzt an würde sie ihre Arbeit pflichtgemäß erledigen.
Clark setzte sich zu ihr an den Tisch. Sie wollte sich gerade einen Pfannkuchen auf den Teller nehmen, als Clarks Stimme sie unterbrach: „Himmlischer Vater, wir danken dir für diese guten Sachen, die du uns geschenkt hast. Sei doch mit dieser jungen Frau hier und gib ihr deinen Trost. Segne dieses Haus und alle, die darin wohnen. Amen.“
Marty starrte ihn an, wie er mit geschlossenen Augen zu einem Gott betete, den sie weder sehen noch hören konnte – und dabei war er nicht einmal Prediger! Klar, sie hatte schon öfters von Leuten gehört, die einen Gott außerhalb der Kirche hatten, eine Religion, die über Hochzeiten und Beerdigungen hinausreichte, aber sie hatte noch nie so jemanden mit eigenen Augen gesehen. Eigentlich war es ihr auch lieber gewesen. Nun, er hatte also einen Gott. Hatte der ihm vielleicht viel genützt? Er hatte immerhin noch jemand anders für seine Missie gebraucht, oder? Da schien ihm sein Gott keine große Hilfe gewesen zu sein. Na, ihr sollte es jedenfalls gleich sein. Wenn sie sich nicht irrte, hielten die Leute, die so einen Gott hatten, nichts vom Trinken und waren gut zu ihren Frauen. Mit etwas Glück würden ihr solche Sorgen schon einmal erspart bleiben. Plötzlich stieg eine neue Woge der Verzweiflung in ihr auf. Sie wusste absolut nichts über diesen Mann, der ihr da am Tisch gegenübersaß. Wer wusste, was er für ein Mensch war? Vielleicht würde sie eines Tages heilfroh darüber sein, dass er so religiös war. Das konnte ihr noch manchen Kummer ersparen.
„Haben Sie denn keinen Hunger?“
Seine Worte ließen sie zusammenfahren. Sie hatte in Gedanken versunken dagesessen.
„Doch, sicher“, stotterte sie und nahm den Teller, den er ihr reichte.
Missie aß mit einem für so eine kleine Person überraschenden Appetit, während sie fröhlich mit ihrem Pa plauderte. Hier und da schien Marty ein Wort in ihrem Plappern zu erkennen, aber sie gab sich keine besondere Mühe zu verstehen, was das Kind sagte.
Nach dem Essen erbot sich Marty, das Geschirr zu spülen. Clark nickte und sagte, er würde dann Missie zu Bett bringen. Er zeigte ihr, wo die Geschirrtücher waren, und begann, Missie auszuziehen und zum Schlafengehen fertig zu machen.
Marty machte sich an die Arbeit. Als sie die Türen und Schubladen einer fremden, verstorbenen Frau öffnete, beschlich sie ein ungekanntes Schaudern. Sie musste sich einfach dazu zwingen, dieses Gefühl abzuschütteln. Schließlich hatte sie von jetzt an in dieser Küche als ihrer eigenen zu wirtschaften. Trotzdem konnte sie sich ihres Schauderns nicht ganz erwehren.
Sie schüttete das Spülwasser draußen bei einem Rosenbusch aus. Als sie wieder in die Küche kam, setzte Clark sich gerade an den Tisch.
„Sie schläft schon fest“, sagte er.
Marty hängte das Geschirrtuch zum Trocknen an den Haken. „Was mach ich nun?“, fragte sie sich, aber da sorgte er schon für den nächsten Schritt.
„Die Schubladen in der Kommode sind alle leer. Ich hab meine Sachen in den Anbau rübergeschafft. Sie können Ihre Sachen gleich einräumen, damit’s ’n bisschen gemütlicher für Sie wird. Fühlen Sie sich nur zu Hause hier. Wenn Sie irgendwas brauchen, machen Sie mir ’ne Liste. Samstags fahr ich nämlich meistens in die Stadt, um einzukaufen. Da kann ich Ihre Bestellung gleich mitbringen. Wenn Sie sich erst mal ’n bisschen eingelebt haben, vielleicht hätten Sie Lust, mal mitzukommen, damit Sie sich alles selbst aussuchen können.
So, jetzt ist’s aber Zeit zum Schlafengehen. War’n langer Tag heute. Ich weiß, das Leben ist im Moment nicht einfach für Sie. Missie und ich wollen’s Ihnen nicht schwerer machen, als es schon ist.“
Er machte eine kurze Pause, bevor er sie eindringlich ansah und dann weitersprach.
„Ich hab Sie nur geheiratet, damit Missie wieder ’ne Mama hat. Ich tät mich freuen, wenn sie Sie auch so nennen dürfte.“
Das klang beinahe wie ein Befehl. Marty spürte das deutlich und ihr Blick hielt dem seinen trotzig stand. Sie schwieg. Nun wusste sie also, was von ihr erwartet wurde. Er bot ihr ein Dach über dem Kopf und als Gegenleistung dafür hatte sie sein Kind zu versorgen. Sie wollte keine Almosen. Sie würde sich ihr Brot schon redlich verdienen. Jetzt war sie also Missies neue Mama. Ohne ein Wort drehte sie sich um und ging zum Schlafzimmer. Dort machte sie die Tür hinter sich zu und lehnte sich daran. Als sie innerlich ruhiger geworden war, trat sie an das Kinderbettchen. Die Petroleumlampe verbreitete ein sanftes Licht.
„Also gut, Missie“, flüsterte sie, „komm, wir schließen ’nen Friedensvertrag: Du wirst ’n artiges Mädchen, und ich tu mein Bestes, um dir ’ne gute Mama zu sein.“
Die Kleine sah so winzig und hilflos in ihrem Bettchen aus. Marty musste im Stillen denken, dass dieses kleine Wesen mit ihren nicht einmal zwei Jahren schon ein schweres Schicksal hatte hinnehmen müssen. Was hatte sie nur getan, dass sie ihre Mutter so früh verlieren musste? Marty spürte, wie ihr eigenes Kind sich in ihr regte. Sie legte eine Hand auf die Stelle, die langsam, fast unmerklich, von Tag zu Tag wuchs und bald der ganzen Welt zu wissen geben würde, dass sie eine werdende Mutter war. Was, wenn sie ihr eigenes Kind einmal mutterlos zurücklassen müsste? Der Gedanke versetzte sie in helles Entsetzen. Nochmals sah sie auf die schlafende Kleine mit den braunen Locken und dem Feengesichtchen hinunter. Etwas rührte sich in ihrem Herzen. Liebe war es nicht, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung.
Am nächsten Morgen stand Marty auf, sobald sie Clark die Haustür hinter sich schließen hörte. Er ging nach draußen, um seine erste Stallrunde zu machen. Sie zog sich leise an, um Missie nicht zu wecken, und ging in die Küche. Sie war fest entschlossen, ihren Teil des Ehevertrags pflichtgemäß zu erfüllen. Sie würde sich das Dach über dem Kopf und das tägliche Brot schon redlich verdienen. Sie wollte keinem Mann etwas schuldig sein, und schon gar nicht diesem kaltherzigen Rohling, dessen Namen sie jetzt trug. Sie weigerte sich, ihn als ihren Ehemann anzuerkennen. Und was den Namen betraf, dachte sie, würde sie sich immer wieder bewusst daran erinnern müssen, dass sie jetzt nicht mehr Martha Claridge hieß, sondern Martha Davis. Ob es das Gesetz wohl erlaubte, dass sie ihren alten Namen einfach beibehielt? Bestimmt konnte niemand etwas dagegen einwenden, wenn sie sich Martha Lucinda Claridge Davis nannte. Plötzlich fiel ihr ein, dass ihr ungeborenes Kind automatisch Davis heißen würde.
„Oh nein!“, rief sie verzweifelt und verbarg das Gesicht in den Händen. „Nein, das will ich nicht! Mein Kind soll doch Clems Namen tragen!“
So sehr sie sich aber auch dagegen auflehnte, wusste sie im Grunde doch, dass sie sich auch hier geschlagen geben musste. Sie war mit diesem Mann verheiratet; daran war nichts mehr zu rütteln, und das Kind, das in diese Ehe hineingeboren werden würde, würde seinen Namen bekommen, auch wenn es hundertmal Clems Sohn war. Oh, wie sie diesen Mann hasste!
„Trotzdem kann mich keiner daran hindern, mein Baby mit Vornamen Claridge zu nennen“, sagte sie sich mit vor Zorn bebender Stimme. Sie wischte sich die Tränen mit dem Ärmel aus dem Gesicht, hob ihr Kinn trotzig in die Luft und machte sich an die Arbeit.
Das Feuer brannte schon in dem schwarzen Herd. Marty war froh, dass sie sich nicht auch noch damit plagen musste. Mit ihren anderen Aufgaben hatte sie schon mehr als genug zu kämpfen. Sie öffnete nacheinander alle Küchenschränke, bis sie unter den fest verschlossenen Konserven den Kaffee gefunden hatte. Wo die Kaffeekanne war, wusste sie zum Glück. Die hatte sie doch gestern Abend selbst gespült und weggestellt. Auf einem Schemel neben der Tür stand ein Eimer mit frischem Wasser, und es dauerte nicht lange, bis sie den Kaffee aufgesetzt hatte.
„Das hätten wir schon mal erledigt“, murmelte sie. „Und was nun?“
Nach einigem Suchen hatte sie die Zutaten für ein paar Pfannkuchen beisammen. Pfannkuchen konnte sie aus dem Stegreif backen. Clem und sie hatten sich unterwegs praktisch von Pfannkuchen ernährt; andere Lebensmittel hatten sie kaum zur Verfügung gehabt. Es würde nicht einfach für sie sein, vollständige Mahlzeiten zuzubereiten. Sie würde es halt lernen müssen. Zum Lernen war sie schließlich nicht zu dumm, oder? Zuerst musste sie herausfinden, wo in dieser verflixten Küche alles aufbewahrt wurde. Marty gehörte nicht zu denen, die gern fluchten, wenn sie auch mit ihren jungen Jahren schon allerhand Schimpfwörter zu hören bekommen hatte. Jetzt hätte sie aber am liebsten eine ganze Kanonade losgelassen. Stattdessen bediente sie sich eines der weniger kräftigen Ausdrücke, die sie bei ihrem Vater oft gehört hatte.
„Verflixt!“, rief sie ein ums andere Mal. „Was soll ich denn bloß machen?“
Mit Pfannkuchen und Kaffee würde Clark sich bestimmt nicht zufriedengeben, aber wo sollte sie etwas anderes hernehmen? Die Schränke standen voller Dosen und Gläser, aber zum Frühstück eignete sich Eingemachtes nur schlecht.