9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 6,99 €
Eine gefährliche Jagd beginnt – aber wer ist der Jäger? Der Thriller-Sammelband »Liebesopfer« von Monika Detering jetzt als eBook bei dotbooks. Niemand ist sicher – jeder ist verdächtig: Eine grausame Verbrechensserie erschüttert die Stadt Bielefeld. Für Kommissar Weinbrenner beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, um weitere Morde zu verhindern. Schon bald führt die Spur ihn zu der undurchschaubaren Gruppe der »Herzfrauen« – und zu dem Einsiedler, der nur als »Puppenmann« bekannt ist. Ihre Schuld scheint offensichtlich, aber der Kommissar glaubt nicht an eine einfache Erklärung. Als die Grenzen zwischen Opfern und Täter zu verschwimmen scheinen, verwickelt Weinbrenner sich immer mehr in ein gefährliches Psycho-Spiel … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Spannungs-Sammelband »Liebesopfer« von Monika Detering mit den Thrillern »Herzfrauen«, »Puppenmann« und »Liebeskind« – die drei Fälle von Kommissar Weinbrenner zum ersten Mal in einem Band. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 838
Über dieses Buch:
Niemand ist sicher – jeder ist verdächtig: Eine grausame Verbrechensserie erschüttert die Stadt Bielefeld. Für Kommissar Weinbrenner beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, um weitere Morde zu verhindern. Schon bald führt die Spur ihn zu der undurchschaubaren Gruppe der »Herzfrauen« – und zu dem Einsiedler, der nur als »Puppenmann« bekannt ist. Ihre Schuld scheint offensichtlich, aber der Kommissar glaubt nicht an eine einfache Erklärung. Als die Grenzen zwischen Opfern und Täter zu verschwimmen scheinen, verwickelt Weinbrenner sich immer mehr in ein gefährliches Psycho-Spiel …
Über die Autorin:
Monika Detering wollte Schiffsjunge, Malerin oder Schriftstellerin werden. Die letzteren Wünsche waren den Eltern zu unseriös (vom ersten ahnte niemand etwas). Sie arbeitete viele Jahre als Puppenkünstlerin mit zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland (z. B. Washington, Philadelphia und New York). Durch weitere lange Aufenthalte an der Nordsee ist das Meer ihr Sehnsuchtsort geworden. Sie war als freie Journalistin tätig und entschied sich später ganz für das belletristische Schreiben. Die Autorin ist verheiratet und hat drei erwachsene Töchter. Monika Detering ist Mitglied bei den »42erAutoren«.
Monika Detering veröffentlichte bei dotbooks neben den drei Kommissar-Weinbrenner-Fällen, die in diesem Sammelband enthalten sind, auch ihre Romane »Bernd, der Sarg und ich« und »Venusbrüstchen«.
***
Sammelband-Originalausgabe Juli 2020
Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2020 dotbooks GmbH, München
Eine Übersicht über die Copyrights der einzelnen Bücher finden Sie am Ende dieses eBooks.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: © HildenDesign unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96655-315-5
***
Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
***
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weitere Bücher aus unserem Programm. Schicken Sie einfach eine eMail mit dem Stichwort »Liebesopfer« an: [email protected] (Wir nutzen Ihre an uns übermittelten Daten nur, um Ihre Anfrage beantworten zu können – danach werden sie ohne Auswertung, Weitergabe an Dritte oder zeitliche Verzögerung gelöscht.)
***
Besuchen Sie uns im Internet:
www.dotbooks.de
www.facebook.com/dotbooks
www.instagram.com/dotbooks
blog.dotbooks.de/
Monika Detering
Liebesopfer
Drei Thriller in einem eBook
dotbooks.
Weinbrenners erster Fall
Man liebt zuletzt seine Begierde,und nicht das Begehrte.(Nietzsche)
Der letzte Sommer, den die Familie miteinander verbracht hatte, war vorbei. Die Einladungen beim Bürgermeister und Pfarrer ebenfalls.
Als sie sich an ihrem fünfzehnten Geburtstag im Zimmer umschaute, aufstand und die Matratze des Bettes anhob, eine Decke wegschob, den offenen Kasten mit dem wertvollen Schmuck ihrer Mutter sah, schwor sie sich vieles. Sehr entschlossen und sehr zornig. Der Schmuck war so ziemlich das Einzige, was ihnen an Wert geblieben war.
Was konnte sie dafür, dass sie ihren Vater mitgenommen hatten. Nie würde sie das Bild vergessen, wie er hinten ins Polizeiauto steigen musste. »Kathi!«, hatte er hilflos gerufen. Als ob sie, die Tochter, etwas daran hätte ändern können. Er wirkte fehl in seinem dunkelblauen Anzug. Er hinterließ ein falsches Bild in ihr, mit dem schmaler gewordenen Gesicht, in dem der Mund mit einem Mal zu weich wirkte, und mit einem Blick, der drohend und grandios überheblich war. Er war doch mal ganz anders gewesen.
Dann folgte das Gerede. Die Nachbarn sagten, er habe Firmengelder unterschlagen, er sei ein Betrüger, schon immer ein Großmaul und die weiblichen Kurgäste habe er auch um ihr Geld erleichtert. In einem derart kleinen Ort, wie Bad Salzuflen, da kannte man sich.
Später sagte Kathis Mutter: »Du wirst deinem Vater immer ähnlicher. Dir geht es wie ihm nur um Geld und Macht. » Jahre später sagte sie auch: »Wie er. Du fängst an, die Leute zu manipulieren.«
***
Kathi glaubte nicht an Gott, aber sie glaubte an die Macht des Geldes. Sie hatte vergessen, die Hände zu falten. Das taten nur Kinder. In ihrer Ehe begegnete sie einem Ebenbürtigen, und der Mann war verrückt genug, sich auf sie einzulassen. So lange, bis sie überdurchschnittliches Wissen und Erfahrung im Umgang mit Menschen hatte, da war sie stärker, als er es jemals gewesen war.
Sie begann, auf ihre Geschlechtsgenossinnen zu setzen. Sie brauchte keine Freundinnen. Die Aussicht auf die Gefühle und das Geld der Frauen war erregend genug, ein Spiel, es war mehr als schön.
Irgendwie machte es heute keinen Spaß. Er hatte Hunger und er fror. Ein Tee oder besser ein Kuss von Sibylle, der spröden Blonden, wäre ihm lieber gewesen. »Frauen, wie soll ich die je verstehen«, fragte er und nickte mannhaft. So war es eben. »Nun lauf schon«, sagte er zu dem schwarzen Labrador, den er ausführen sollte, der im Zickzack rannte, immer wieder stehen blieb, begeistert schnupperte und zum zehnten Mal pinkelte. Mit zwei Fingern zog Bertram eine Zigarette aus der Brusttasche seiner Jacke, fischte nach dem Feuerzeug, beugte sich vor, und eine Böe blies das rote Flackern aus. Wieder klickte er, hielt die Hand davor, zog an der Zigarette. Nichts. Auf den würzigen Geruch hatte er sich seit Stunden gefreut.
Erbost blickte er in den Himmel und sah die verzahnten Gebäude der Bielefelder Universität leuchten. Sie ragten scheinbar aus dem Nichts hervor. Das Viertel wirkte geisterhaft, öde Verlassenheit hing über dem Gelände. Krähen kreisten als Scherenschnitte gegen die Novemberdämmerung. Einzelne Tiere kamen mit heiseren Rufen zurück, versammelten sich in Baumspitzen, zwischen den Ästen und schwiegen wie auf ein geheimes Kommando.
Schlurfend überquerte er den Platz des kleinen Einkaufszentrums. kam auf die Kreuzberger Straße und bog links ab. »Das Viertel siecht allmählich dahin«, stellte er fest, blieb vor einem Haus mit schwarzrotem Klinker stehen und pfiff nach dem Rüden. Neben dem Gebäude hatte man in den 60er Jahren eine hässliche Garagenreihe gebaut, grellgelbe Graffiti leuchteten auf den Toren. Vor sich hinschimpfend ging er hinter das Haus, suchte den Hund, schließlich war es nicht seiner, bis er auf einer Wiese mit Obstbäumen Halt machte. Im Herbst hatte er hier Birnen aufgelesen, sie hatten geduftet und geschmeckt wie in Kindertagen. Am Rande des Grundstücks wuchsen Tannen, dicht aneinander gedrängt.
»Mach hinne und pinkel nicht dauernd! » Ungeduldig betrachtete er die erleuchteten Fenster. Eine Jalousie im Parterre wurde heruntergelassen. Sein Blick glitt weiter nach oben, erster, zweiter und dritter Stock. Ein offenes Fenster klappte gegen den Rahmen. Vögel sausten hinein und wieder heraus.
Die Tannen waren zu einer schwarzgrünen Wand geworden. Hundepfoten raschelten im Laub. »Asko, hierher.« Es knackte. Plötzlich war ein lang gezogenes, ein kreischendes Ächzen in der Luft, Äste brachen vom Birnbaum, ganz in seiner Nähe. Zweige wurden von unsichtbarer Hand heruntergerissen. Der Rüde rannte aus seinem Versteck hervor und kläffte wie toll. »Saß da ein Vögelchen im Baum?«, sinnierte Bertram laut, um seinen Schrecken zu beruhigen. »Oder nur ein böser Geist?« Der Hund sah ihn an, wedelte hektisch mit dem Schwanz und lief dorthin.
»Komisch. Es stürmt doch nicht.« Bertram versuchte ein Lachen, was ziemlich misslang, er wünschte sich ins Warme, wünschte, den Hund wieder bei Maike abgeben zu können, die ihn in Pension genommen hatte. Er wagte sich zu der Stelle, an der die Äste wie von einem inneren Zittern nachbebten. Bertram bückte sich, ruckelte und versuchte, das Gestrüpp zur Seite zu schieben. Dabei trat er auf etwas Weiches, das unter seinem Fuß wegrutschte. Schnecken? So hatte es sich angefühlt.
Jetzt hörte er es. Zu spät. Denn wollte er nur eins, sofort ungesehen wegrennen. Doch erstarrt blieb er stehen, lauschte, und da ging ihm die Wahrheit auf. Wie ein großer, dunkler Vogel lag jemand vor ihm zwischen den Ästen, stöhnte und wimmerte. Die Stimme wurde leiser, als würde sie abgestellt. Dann war es still. Finger bogen sich, wollten nach ihm greifen. Vögel krächzten und schnarrten rau, flogen als tiefschwarze Wolke um die Bäume. Bertram kniete sich hin und zuckte wieder zurück. Ein Rabe, eine Krähe, die Tiere konnte er nie voneinander unterscheiden, hackte nach seinem Finger. Der Labrador schob die Schnauze unter einen Zweig und schnüffelte aufgeregt.
»Ist ja wie im Krimi, aber den sehe ich mir doch lieber zu Hause an. Ballauf kommt heute. Verdammt, ist das kalt.« Sein Herz schlug schneller als sonst, seine Neugier war erwacht. Als er sich entschieden hatte, tapfer zu sein, begann es zu regnen.
***
Während er aufprallte, die Knochen brachen, sein Gehirn noch die Schmerzen ausblendete, jagten seine Gedanken, zerfetzten sich, und inwendige Schreie implodierten. Seine Arme lagen auf dem Zweiggewirr ausgebreitet wie Schwingen, so, als hätte er sich ergeben. Licht bahnte sich Wege in das Innere seines Schädels, zerglühte, bis das Dunkel schneidend hell wurde und die Herrschaft übernahm. Bilder zeigten ihm seine Göttliche, seine Wunderbare, die Frau, die sein Denken und Fühlen besetzt hatte, die sein war für immer, ihm gehörte, auch über sein Leben hinaus. Alles verlor an Bedeutung und würde im Nichts versinken.
Er hatte gehandelt. Liebe muss strafen, wenn ihm auch die Bestrafung hart erschienen war. Die Sehnsucht nach ihr hatte ihn zerbrochen. Unsichtbare Stimmen hatten nach Vergeltung gebrüllt, sie gefordert mit allen Konsequenzen. Er ergab sich dem freien Fall. So musste es sein. Das war die Forderung und jetzt war die Stimme ruhig.
Er hatte keine Kraft, die Lider zu öffnen. Noch schlug das Herz regelmäßig. Das dunkle Lärmen der Rabenvögel drang in seinen Körper, sie saßen über ihm, im Baum, und übertönten seinen Schmerz.
***
»Bleiben Sie ruhig, bitteschön, bleiben Sie ruhig! Hallo, können Sie mich hören?« Bertram wusste nicht, was er hier eigentlich tun sollte. Mit erster Hilfe kenne ich mich nicht aus! Er griff nach der Hand des Verunglückten und drückte sie mitfühlend. Aber dieser Mensch schrie vor Schmerz. Ein Mann, dachte er und rannte, so schnell es seine ausgetretenen Schuhe erlaubten, zum Hauseingang. »Hilfe! Ein Unglück. Zu Hilfe!«, rief er laut und hämmerte gegen die Tür. Nach dem dritten stürmischen Schellen surrte ein Summer.
»Rufen Sie den Rettungsdienst! Einen Arzt! Die Feuerwehr. Es ist jemand aus dem Baum gefallen.«
Hallend kamen seine Worte zurück. Von oben hörte er: »Darf ich Sie bitten, nicht so zu brüllen.«
Eine dicke, kleine Frau, um die siebzig, patschte in fettgrünen Flauschpantoffeln die Stufen herunter und beugte sich über das Treppengeländer.
»Hunde dürfen nicht rein.« Sie keuchte.
»Schnell. Einen Notarzt.«
»Nehmen Sie erst mal Ihren Köter an die Leine, nicht dass er an die Wände pinkelt. Wurden erst im Herbst gestrichen.« Asko riss den Kopf hoch, sein Bellen gellte im Flur, er schien zum Wolf zu mutieren. Der Busen der Flauschgrünen, der sich wie ein Schwimmring um ihren Oberkörper verteilte, bebte empört. Hektisch nestelte sie an den Hirschhornknöpfen ihrer tannengrünen ausgeleierten Strickjacke.
»Schaffen Sie die Bestie raus!«
Die Tür links öffnete sich. Ein verschlafen wirkender
Mann mit vanilleblonden Haarspitzen fragte: »Hää?«
»Dieser Rentner hier kreischt nach dem Doktor.«
»Cool bleiben, ganz cool, Herta, old Sugarbaby. Was ist?«, wandte er sich zu Bertram.
»Da liegt einer unter den Ästen. Begraben. Vielleicht ist schon der ganze Baum auf ihn gestürzt. Gleich stirbt der Mann.«
Asko drängte zur Tür. Die Dicke wuselte vorbei, blickte mit zusammengezogener Steilfalte zwischen den Augenbrauen starr geradeaus und eilte nach draußen. Einen verrückten Moment lang kam Bertram das ganze Geschehen wie ein Traum vor. Ja, es konnte nur ein Traum sein. Aber ebenso schnell, wie die Frau in den Garten gerannt war, kam sie wieder zurück. »Jesses Maria«, schnaufte sie und bekreuzigte sich zweimal. »Ich mag nicht hingucken.«
Der Vanilleblonde rannte in seine Wohnung und rief endlich einen Krankenwagen und die Polizei.
***
Alles war seltsam und alles war weit entfernt. Hell und sommerblau erschien ihm seine Geliebte, die sich in Bildern um ihn herumdrehte. Komisch sah sie aus, war auf den Kopf gestellt, und ihre Augen waren größer als sonst, schon veränderten sie sich, aus ihnen wuchsen Blumen in Farben, die er nicht kannte. Aus den Pupillen krochen schillernde Käfer. Er sah die Zellen im Körper seiner Geliebten, Zellen, sie leuchteten grün, blau und strahlend weiß. Er suchte ihre Gedanken, und sie kamen in den Farben des Spektrums, er saugte sie ein, schluckte sie, wollte sie fressen und kotzte sie wieder aus.
Ihm war sehr übel.
Eine Melodie ertönte, kam näher zu ihm, legte sich über sein Gesicht und die Töne wurden grell, immer greller, knallten laut in die Ohren. Er bewegte die Arme im Takt, um sie zu verscheuchen. Wie eine Schrift in einer unbekannten Sprache blinkte etwas über seinen Lidern. Ein Mond zerfloss vor seinem Gesicht und spuckte Buchstabenstaub, der sich mit blitzenden Lichtpunkten ausbreitete und in seinem Kopf ein Feuerwerk auslöste.
***
Die Dicke umkreiste mit Trippelschritten die Unglücksstelle und jammerte laut: »Jesses Maria!«
»Wahrscheinlich mehrere Brüche«, vermutete der Notarzt, umpolsterte den Arm des Verunglückten und sprach beruhigend auf ihn ein. Im Schein seiner Taschenlampe sah der Arzt fahle Blässe, den Schweiß auf der Stirn, Zittern und Frieren. Infusionen wurden angelegt, schnell wurde er in den Rettungswagen geschoben. »Wir fahren ins Krankenhaus Mitte«, rief der Arzt.
Ein Polizist wedelte mit raumgreifenden Handbewegungen Neugierige, die plötzlich von überall herzukommen schienen, hinter die rotweißen Bänder der Absperrung. Bertram verhaspelte sich fast vor Aufregung. »Ich bin der einzige Zeuge.« Die mit den fettgrünen Schlappen greinte. »Jesses auch. Das bei uns!« Unbedingt wollte sie für die Herren des Gesetzes abwechselnd Tee kochen oder ein Süppchen auftauen, ein Ansinnen, welches die Beamten genervt abwimmelten. »Schließlich war ich Internatsköchin, ich weiß, dass Jungens immer Hunger haben.«
»Wir sind schon über achtzehn«, sagte ein blonder, pickeliger Polizist. »Kommen Sie mit, Herr…?«
»Steiner«, antwortete Bertram. »Steiner vom Tegeler Weg. Ich habs gesehen.«
Wenige Meter von der Unglücksstelle entfernt lag die Endstation der Stadtbahn, Linie 4, Lohmannshof. Alle zehn Minuten kreischte sie in der letzten Kurve. Rechts von der Bahn entstand ein neues Wohngebiet, inzwischen wirkte es wie ein buntes Lego-Dorf. Hinter den Mietwohnungen, den Ein- und Zweifamilienhäusern waren Äcker, Wiesen und Brachland. Am Rande der Felder wachten Bäume, schwarz und gekrümmt.
Sibylle Gott war in der miefigen Wärme der Bahn eingenickt. Gähnend stieß sie mit dem Fuß die Haustür auf. Immer war sie angelehnt, da konnte jeder hereinkommen, nur weil es die anderen so wollten. Kurz dachte sie an die neckischen Bemerkungen über ihren Namen, die sicher gleich folgen würden. ›Gottesmutter, Gottchen, unsere Göttliche‹, standen gegen Weinbrenners, ›Wie gehts Gott denn heute?‹. Sie wusste, an das Haus mit den gelbrot gescheckten Klinkern und seine Bewohner musste sie sich immer noch gewöhnen. Aber sie hatte sich darauf eingelassen. Es war ein Experiment. ›Wahlfamilienhaus‹, stand links auf weißem Putz. Darunter: ›Das Wahlfamilienhaus ist eine Hausgemeinschaft für Jung und Alt, ein Wohnprojekt der Zukunft.‹
Schon hörte sie Bertrams Bass. Der Siebzigjährige sprach meist entsetzlich laut. Sie ging in den Gemeinschaftsraum mit der eingebauten Küche, sie sah Viktor Weinbrenner, der sich auf den Tresen stützte und gerade den Alten ermunterte. »Erzähl noch mal. Nun ein bisschen geordneter. So versteht dich niemand.« Er winkte Sibylle her und nickte Bertram energisch zu.
»Vor die Füße. Bah. Hab drauf getreten. Und ausgefragt haben sie mich, Weinbrenner. Deine Kollegen wollten alles wissen. Dabei warens nur eure Streifenhörnchen. Fragten, was ich da zu suchen hätte und wie lange ich da war, ob ich den Verletzten angefasst oder irgendwelche Dinge entfernt habe. Meinen die, ich hätte seine Brieftasche geklaut? Man darf ja wohl noch mit dem Hund spazieren gehen. Nie wieder geh ich mit der Töle.«
Sibylle nahm einen Stuhl, Weinbrenner setzte sich auf die Fensterbank, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Weinbrenner, als hätte ich den Kerl aus dem Baum geschüttelt. Als deine Kollegen ins Haus gingen, bin ich flott hinterher. Die Dicke hatte ja einen Ersatzschlüssel für die Wohnung. War schon irre, sogar das offene Fenster gehörte zur Wohnung. Natürlich. Und auf der Fensterbank, da saßen zwei Raben, riesig und düster wie die Hölle. Sie starrten nur mich ganz allein an. Ob das wohl Todesboten waren?«
»Mal wieder deine Schauergeschichten. Außerdem waren das höchstens Krähen. Raben sind riesig!« Weinbrenner grinste. »Und? Wie ging es weiter?«
Beleidigt presste Bertram seinen Mund zusammen, schlurfte zum Kühlschrank, nahm Käse heraus und biss davon ab.
»Jetzt kannst du ihn auch aufessen«, meinte Sibylle. »Ist ja eklig. Anbeißen und dezent wieder zurücklegen wollen.«
Kauend und ungerührt nahm Bertram einen Schluck Bier, betrachtete seine Zuhörer, machte eine bedeutungsschwere Pause, ehe er endlich weiter erzählte. »Als einer der Polizisten die Stehlampe anknipste, flatterten die Viecher auf und verschwanden durchs offene Fenster. Unheimlich, direkt unheimlich. Darüber erschrak der arme Hund derart, dass er einem Beamten zwischen die Beine rannte. Wütend wedelte der mich raus, mit einem Blick, als wäre ich senil.«
»Bist du auch bald. Weißt du eigentlich, wie der Verunglückte heißt«, fragte Weinbrenner. Genervt verdrehte Bertram die Augen. Er fühlte sich müde und erschöpft. Schließlich war Weinbrenner der Kommissar. Trotzdem ließ er die Frage geschmeichelt in sich einsickern.
»Matter, Malz, Malsch. Warte mal. Jetzt habe ichs. Der heißt Till Matthusch. So steht es auf dem Türschild.« Er wischte sich mit einem knuddeligen Taschentuch die Stirn ab und gickelte. »Endlich passiert mal was.«
Weinbrenner öffnete das Fenster. Im nassen Gras hockten Dohlen und gaben keinen Laut von sich.
Schuhe klackten. Im Türrahmen stand Maike, die auch hier wohnte. Das kurze Haar war strubbelig wie immer. Sie schnitt es sich alle acht Wochen mit einer Bastelschere. Maike schüttelte den Kopf, als Weinbrenner sagte, »komm rein.« Sie fragte, ob der Briefträger Post für sie abgegeben hätte und sie vielleicht bei den anderen in den Kasten geworfen hätte.
»Jeden Tag fragst du. Er wird schon noch schreiben. Warten erzeugt eben einen ganz besonderen Geschmack«, sagte Weinbrenner tröstend. »Kannst du deinen Liebsten nicht ganz einfach besuchen oder anrufen?«
»Oder geh mal zu einem richtigen Friseur.« Bertram schaute auf ihr Haar.
Maike blickte ihn mit ihren auffallend dichtbewimperten Augen an und zog sich den Parka enger um die Schultern. Während sie sich zum Rausgehen umdrehte, hörte sie, wie Bertram rief: »Willst du nicht wissen, was ich heute am Wellensiek erlebt habe?« Sie schüttelte den Kopf und verschwand.
***
Weinbrenner ging zur Terrassentür und beobachtete die Vögel, die noch immer im nassen Gras saßen. Er dachte an seine ganz persönliche Situation: Ich habe nun mein lange gewünschtes Sabbatjahr vor mir und nutze es noch gar nicht richtig. Um diese Geschichte, falls es eine ist, können sich die Kollegen kümmern. Wenn ich mich da reinhänge, gibt es nachher nur Ärger. Wie mit der verpatzten Ermittlungssache Börner. Vielleicht ist in einem Jahr auch mein Job weg. Vielleicht bin ich dann zu alt oder habe zu viele Pickel oder sonst etwas. Mit über fünfzig kann das passieren. Ob der Mann vom Balkon gestoßen wurde? Ich muss im Klinikum nachfragen, bei meiner hochverehrten Bettina Beresa, der Rothaarigen mit den Nixenaugen. Schließlich ist sie dort Ärztin.
Spät, sehr spät, verließ er das Haus. Sibylle stand am Fenster und sah ihn. Viktor Weinbrenner mal wieder unterwegs. Privat, und nicht im Einsatz.
Der Himmel hing dunkelblauschwarz über den Häusern und über der Straße. Nur die unzähligen Fenster der Universität funkelten, als wären sie wie ein zwölfmonatiger Adventskalender in den Teutoburger Wald hineingeschnitten worden.
An der Kehre fuhr die Bahn langsam auf die Haltestelle zu. Es war 00.21 Uhr. Er stieg ein und blieb der einzige Fahrgast.
Er lief durch die ruhig gewordene Stadt. Straßen glänzten rot und grün, Spiegelungen der Neonreklamen. Seine Gedanken aber waren bei dem Verunglückten. Ein Suizidversuch? Dieser Matthusch scheint allein zu leben. Bertram hat von keiner anderen Person berichtet. Aber was weiß er schon? Welche Beweggründe könnte der Verunglückte haben? Krankheit? Liebeskummer? Schulden? Bertram hätte gesehen, wenn Matthusch heruntergestoßen worden wäre. Und die Dicke, die Bode, würde einen Streit mit ihrem Nachbarn gehört haben. Oder? Morgen spreche ich mit Morek darüber. Und mit Bettina Beresa. Oder war der Mann einfach nur betrunken gewesen?
Schluss jetzt, sagte er sich, ich muss ihn fragen. Schluss. Alles hat seine Zeit.
Im Weitergehen entwickelten neue Gedanken ihr eigenes Spiel. Maike. Die Töpferin. Seit Wochen wirkte sie verändert, fast bekümmert. Maria kam ihm in den Sinn. Sie hatten einmal zusammengehört. Selbst nach drei Jahren machte ihm die Trennung noch zu schaffen. Er wusste bis heute nicht, was sie eigentlich auseinander getrieben hatte. Glück und Alltag sind eben zu gegensätzlich. Die Kinder. Er vermisste Birte und Swantje. Damals schwärmten sie für nordische Namen, überhaupt für Schweden. Jeden Sommer war die Familie hingefahren. War. War. Alles war einmal.
Das Zeitungshaus, die Altstädter Kirche, das Waffengeschäft, ein neuer Coffeeshop, Alter Markt, der beleuchtete Renaissancegiebel des ›Crüwellhauses‹ . Weinbrenner sah die Häuser und wieder nicht. In der nächsten Straße waren endlich Kneipen. Zwei oder drei Bierchen wären nicht schlecht. Was jetzt? Stehbierkneipe oder gemütliches Eck? Gemütlich hatte schon geschlossen. Also, das andere. Tabakqualm machte Umrisse unscharf. Weinbrenner mochte das. »Ein Detmolder!«
Gegen drei verließ er die Gaststätte. Am Niederwall kam er an Taxis vorbei. Blaue Nachtbusse fuhren. Zischende Reifen auf feuchtem Asphalt. Geruch nach Benzin. Die Bänke am Taxistand wirkten seltsam verlassen.
Er setzte sich. Er war müde und wach, angenehme Gedämpftheit lag über ihm. Er fühlte sich frei, konnte bleiben, gehen, konnte sich Gedanken um Matthusch machen oder alles beiseite schieben. Einfach nur sitzen.
Eine Frau verabschiedete sich lachend von einer Gruppe anderer Frauen. Sie lief los, entdeckte Weinbrenner und winkte ihm zu. Er winkte zurück. Sie stutzte, kam näher und setzte sich neben ihn. »Na?« Sie lachte unbeschwert und betrachtete ihn. Er hielt den Blick aus, er gefiel ihm, das schmale Gesicht gefiel ihm und ihre Jugend. Stummes Frage- und Antwortspiel, Blicke in die Nacht, bis sie sich gemeinsam von der Bank erhoben. Ein zaghafter Wind tat sich auf. »Wollen wir noch etwas zusammen trinken?« Weinbrenner wartete keine Antwort ab, klopfte an das erste Taxi, der Schlafende drinnen schrak hoch, kurbelte ein Fenster herunter. »Wohin?«
Weinbrenner blickte sich zu der jungen Frau um. sie stand da in ihren spitzen Schuhe mit den hohen Absätzen
und wirkte sehr groß auf ihn. »Wohin?«
»Zur Arndtstraße.«
Idylle im Westen. Altbauten mit Balkonen, Vorgartengras und schmiedeeiserne Tore. Wohnung mit hohen Decken, in der Küche Stuck. Aber das will Weinbrenner nicht sehen, will nur dem Schweigen der Nacht entfliehen, will Worte, die es nicht gibt. Die Luft im Zimmer ist kühl.
»Wie heißt du?«
»Ana.«
»Wohnst du allein?«
Sie nickte.
Im Halbschlaf bewegten sie sich voneinander fort. Die Decke war nicht breit genug. Kälte wurde spürbar. Eine Straßenlaterne beleuchtete herumliegende Kleider. Weinbrenners Füße schauten am Bettende heraus. Alkoholdunst hing im Raum und die Fenster waren geschlossen. Zwischen Nacht und Tag hatte er nach Goldpapier getastet.
Er stand auf, leise und erfahren, betrachtete ihr Gesicht. Sie war sehr jung. Weinbrenner legte einen Zettel neben ihr Kopfkissen. ›Danke. Eine Stunde weniger einsam, eine Stunde Ahnung vom Glück. V.‹
Im Treppenhaus hörte er Schuhgeklapper, und die Kirchenuhr schlug sieben.
Unerbittlich juckte seine Nase. Er wollte den linken Arm heben, um sich ausgiebig zu kratzen. Es ging nicht, sein Arm war schwer, viel zu schwer, war wie ein Stein. Pochende Schmerzen rissen ihm die Augen auf. Till Matthusch blickte in ein fremdes Gesicht, das sich über ihn beugte.
»Herr Matthusch, ich bin Schwester Elke. Sie sind im Krankenhaus. Halten Sie den Arm ruhig, er ist in Gips. Sie haben ein paar multiple Frakturen. Außerdem eine Rissquetschwunde im Gesicht. Aber das alles wird schon wieder.«
Kühle Finger glitten über seine Hand. Die Schwester hantierte am Infusionsständer, er drehte den Kopf, und seine Augen streiften durch das Zimmer, sahen wieder die Schwester. Dabei dachte er, ein schönes Gesicht, schloss die Augen und sah die Frau, die da hantierte, umso deutlicher vor sich. Er wollte sie spüren, er atmete schneller, und schon verschwand sie in einem Farbwirbel, der unerträglich schön war.
Dann aber kam die Angst. Er schrie und riss an den Schläuchen, mit denen er verbunden war. Schwester Elke sprach behutsam und bestimmt auf ihn ein, ihre Worte begriff er nicht, aber der Ton ihrer Worte war wie eine ruhige Welle.
In seine Venen tropften Flüssigkeiten, langsam und regelmäßig. Er hatte etwas fragen wollen und es schon wieder vergessen.
***
Obwohl Bettina Beresa eigentlich Stationsärztin auf der Inneren war, hatte sie sich am Nachmittag den Neuzugang auf der Chirurgie angesehen. Sie war von den Kollegen darum gebeten worden. Sparmaßnahmen. Und alle waren erschöpft und die Assistenzärzte übermüdet. Wenn es möglich war, nahm sie sich mehr Zeit als üblich für ihre Patienten. Aber diese Möglichkeiten waren inzwischen mehr und mehr eingeschränkt. Es gab ironische Kommentare wie Mutter Theresa der AOK oder einfach nur Streberin.
Eine ausführliche Krankengeschichte von der Neuaufnahme lag noch nicht vor. In der vorläufig noch dünnen Akte stand, dass bei der Einlieferung der Puls beschleunigt gewesen, der Blutdruck über das normale Maß angestiegen war, der Mann unter optischen und akustischen Sinnestäuschungen, unter Zittern und Krämpfen litt. Sie las weiter, dass er offensichtlich, laut einem Zeugen, vom Balkon gestürzt war.
Nachdenklich betrachtete sie ihn und entdeckte erstaunt Geschwüre an zwei Fingern seiner rechten Hand. Sie schüttelte den Kopf. »Die sind ja fast brandig. Sieht wie ein Diabetes aus! Aber die Blutwerte sind doch normal.« Sie verließ das Zimmer und ordnete eine Wiederholung der Tests an.
Später stand sie im Toilettenvorraum, der dem Stationspersonal vorbehalten war. Der harte Arbeitstag zeigte sich in Augenringen und blasser Haut. Mit einer Bürste fuhr sie durch ihr rostrotes, halblanges Haar. Der Pony verdeckte zwei Querlinien auf der Stirn. Sie reckte sich vor dem Spiegel.
Wenn ich fünf Zentimeter größer wäre, wäre ich klasse, am besten könnten meine Beine eine Verlängerung vertragen und meine über zweitausend Gramm an den Hüften wären verschwunden. So sehe ich jedenfalls aus wie ein Haflinger. Na ja. Ich sollte lieber an die Patienten denken als an meine Stampferchen.
Sie streckte ihrem Gesicht im Spiegel die Zunge heraus. Vertrödele nicht deine Zeit auf dem Klo, sonst wirst du auch noch eingespart. Bettina schob ihre lächerlichen Eingebungen fort, fragte sich wieder, was mit dieser Neuaufnahme war, dachte an andere Patienten, an ihren übervollen Schreibtisch, den Papierkram, an die nächste Besprechung beim Chef, an dessen sarkastische Kommentare. Und ihre Gedanken erlaubten sich schnell einen Schlenker, ehe sie dieser Stätte entfloh. Sie wünschte sich, von einem großen, gesunden Mann umarmt zu werden. Und sie wusste auch, von wem.
***
Am frühen Abend erwachte Matthusch erneut. Das Zimmer hielt seinen Blicken stand und seine Wahrnehmungen flossen nicht mehr auseinander. Der Mann, der einen Meter entfernt im Bett lag, las in einer Zeitung und raschelte beruhigend. Das dritte Bett war nicht belegt.
Trauer und Enttäuschung überfluteten ihn. Er hatte nach der Erfüllung all seiner Möglichkeiten gesucht, auch nach der letzten. Er verfluchte, dass er zusammengeflickt in einem Klinikbett lag, verkabelt mit Schläuchen der verschiedensten Art. Genau dies hatte er nie gewollt. Ihm schien, als wäre er nach einer unwirklichen Reise am falschen Ort angekommen. Das muss die Hölle sein. Und nichts, gar nichts würde er diesen berufsoptimistischen Ärzten erzählen. Warum auch? Niemand könnte ihn verstehen. Müde entfloh er der Sinnlosigkeit der Realität und schlief wieder ein.
***
Weinbrenner war auf dem Weg zur Unglücksstelle. Maikes Pflegehund hatte er mitgenommen. Schließlich musste der Rüde mal raus. Ergab sich Ungewöhnliches, würde er mit Morek sprechen. Björn Morek, sein Freund und Kollege. Weinbrenner wusste, dass ihn manche Kollegen für einen Eigenbrötler hielten. Schon allein deshalb, weil er sich bei Vernehmungen häufig auf intensives Zuhören verließ. Damit hatte er schon manchen Verdächtigen besänftigen können. Er konnte sehr gleichmütig erscheinen, es war bald so, als erzähle man einander belanglose Geschichten. Und dabei passierte es: Viele verschwatzten vertrauensvoll ihre Freiheit.
Er spazierte weiter, der Hund lief neben ihm her, Weinbrenner dachte erneut daran, ob der Verunglückte sich hatte umbringen wollen. Eine umständliche Methode, aber man wusste nie, auf was für Ideen die Leute kamen. Nur Enttäuschung oder Kränkung alleine reichten erfahrungsgemäß nicht aus, einen Selbstmord zu begehen. Wer sich selbst töten wollte, hatte meist keine freie Wahl. Er hätte aber auch dann keine freie Wahl gehabt, wenn ihn jemand gezwungen hätte, vom Balkon zu springen. Ganz sicher nicht. »Erklär es mir, Till Matthusch! Du wirst es doch wissen«, sagte er laut. »Du machst mich neugierig.«
Solange der Winter dauerte, geriet er schnell in eine melancholische Stimmung, aus der er nur schlecht wieder herauskam. Dieser regenverhangene, graue Himmel am Teutoburger Wald weckte in ihm merkwürdige Sehnsüchte, die er sich nicht erfüllen konnte. Oder nicht wollte. Je nachdem, aus welchem Blickwinkel er alles betrachtete. Ständig mit den Freunden im Haus zusammen zu sein, schien ihm auch nicht richtig. Für ihn hatte die Suche nach einem Gespräch oft den Geschmack der Flucht. Er konnte nicht loslassen und war zerrissen zwischen Pflicht und dem Hunger nach Freiheit. Die Kollegen glaubten, ihm sei der Biss verloren gegangen. Aber so war das nicht. Er wollte nur nicht mehr mit zu viel Arbeit zugepackt werden. »Himmel, was will ich bloß«, grübelte er laut und starrte auf die zerfledderte Wiese. Hier also hatte Matthusch gelegen. Heruntergestürzt. Im freien Fall wie ein Vogel. Er betrachtete die Balkone, die wie Nester am Haus klebten.
Er wollte ein Gefühl für diesen Ort bekommen. Ein Gefühl, das ihm oft weitergeholfen hatte, etwas zu verstehen. Warum ein Mensch tötete oder, ach, verdammt, der war ja nicht tot. Er schob die Hände in die Taschen seiner dicken Lederjacke. Eine gestreifte Katze lief miauend durch den Garten und Asko rannte aufgeregt und bellend hinter ihr her.
»Was suchen Sie hier? Was macht diese Töle schon wieder auf unserem Grundstück?«
Er drehte sich um. Hinter ihm stand eine dicke Frau im wadenlangen Lodenmantel. Ihr Gesicht sprühte vor Empörung. Er blickte in fleischgepolsterte, braune Augen, sah eine altmodisch ondulierte Frisur, gegen die sich keins der Haare sträubte.
»Es geht um den Unfall Ihres Nachbarn. Kripo Bielefeld. Viktor Weinbrenner.« Er zog seinen Ausweis hervor und wedelte damit vor den Augen der Frau. »Sie wohnen hier?«, fragte er in autoritärem Ton. Das wirkte meist. Die Frau rieb sich frierend die Arme.
»Was geht Sie der Unfall an?«
»Sehen Sie, als Ermittler interessiert mich einiges. Wie zum Beispiel der Herr Matthusch.«
»Aber es sind schon andere Kommissare da gewesen.«
»Das waren Streifenbeamte. Das war auch richtig. Jetzt bin ich hier und habe noch weitere Fragen. Zum Beispiel: Wie gut kennen Sie den Verunglückten?«
Sie presste die Lippen aufeinander und strich mit dem kleinen, abgespreizten Finger über ihren Mund. Sie nickte nachdenklich. »Jesses. Ein besonders Höflicher. Nun. Wohl ein Frauenversteher. Immer eine andere. Nur in der letzten Zeit nicht. Ich kann es nun mal hören, wenn jemand bei ihm schellt. Und überhaupt. Da gucke ich durch den Türspion. Schließlich sollte man wissen, wer ins Haus kommt. Da passe ich auf!«
»So etwas ist selten.«
Geschmeichelt nickte sie. »Hertha Bode. Früher wollte ich Lehrerin werden. Nun. Die Zeiten. Mein Seliger war Oberamtmann. Das hier«, sie streckte den Arm aus und betastete die Baumrinde, »ist der Unglücksbaum. Meine Wohnung geht zur selben Seite raus wie seine. Ich hätte auch runterstürzen können.«
In Frau Bodes Wohnung war es braun. Braun die Türen, die Schränke, Tisch, Stühle, braun gemusterte Kissen auf braunem Velourssofa und ein Mann mit Goldhelm blickte aus tiefbraunem Rahmen. Das einzig Helle waren beige Gardinen mit kaffeebraunen, gedrehten Fäden. In den Regalen standen vor wenigen Büchern eine Armee Miniaturteddybären. Zu Hunderten starrten sie den Besucher an. Das Wohnzimmer ging zur Wiese hinaus, davor klebte ein Balkon.
Hoffentlich redet die von allein. Die absolut richtige Frage zu stellen, schien Weinbrenner immer heikel.
»Wenn Sie denn mal hier schauen wollen, Herr Oberkommissar. Ist das so etwas wie Oberpostamtmann?«
O nein. Bleib ruhig, dachte er.
Frau Bode öffnete die Balkontür. »Daneben, sehen Sie, wohnt unser Herr Matthusch. Er hat seinen Balkon hier um die Ecke. Unser Haus ist grässlich verbaut.«
Weinbrenner beugte sich vor. Einige Bäume wuchsen bis über das Balkongeländer. Der besagte Birnbaum breitete seine Äste zum Greifen nah aus. Die Krone war mit einem großen Sprung vom Balkon erreichbar. Wenn jemand in gerader Haltung hinunter spränge, würde er direkt auf den Boden stürzen.
»Huhu, Weinbrenner, was machst du da?«, dröhnte es herauf. Unten stand Bertram und reckte sich den Hals lang. »Wusste ich doch. Du schnüffelst.«
»Kennen Sie den Zausel? Recht aufdringlich. Er hat unseren lieben Nachbarn gefunden.«
»In welcher Wohnung steckst du? Ich komme auch.«
Frau Bode rief mit streng gespitzten Lippen: »Bleiben Sie, wo Sie sind. Der Oberkommissar hat Wichtiges mit mir zu bereden.«
Weinbrenner beobachtete, wie Bertram eine Zigarette anzündete und anscheinend nicht vorhatte, das Grundstück zu verlassen. Er hätte ihn jetzt nicht gebrauchen können, die Erkundung über den Verunglückten wäre dann beendet gewesen, wahrscheinlich würde die Bode nur noch lamentieren und sich mit Bertram zanken. Er sah, wie sie die Tür zumachte und Empörung ausschnaufte. Sie kam nah und näher, bis er ihren Zwiebelatem roch.
»Herr Matthusch liebt Pflanzen. Wo hat man das noch? Auf dem Balkon zieht er seine Kräuter. Manchmal hat er mir auch Pfefferminze und Weihrauch rübergebracht.«
Schade, dass sie die jetzt nicht kaut oder lutscht, dachte er.
»Was hat er denn noch an Kräutern? Schaun wir mal.«
»Die letzte Zeit ist er öfter als sonst in seiner Wohnung gewesen, manchmal sogar den ganzen Tag. Ich habs gemerkt. Vielleicht hatte er Urlaub. Oder fühlte sich nicht gut. Kann doch sein. Ich weiß, wie so was ist.«
Sie hielt inne und sah Weinbrenner prüfend an. »Mein Mann hatte Krebs und ging in seiner Not zu einem Heilerkreis. Hier sollte er lernen, den Heilstrom eines Verstorbenen aufzunehmen. Ich war immer dagegen. Ich habe gesagt, ›Unfug, Karl, lass die Finger davon, wie kann ein Toter dir heilende Kräfte senden?‹ Später hat er den Leuten einen Teil seiner Rente überschrieben.« Frau Bode tupfte sich die Tränen weg.
»Bitte, erzählen Sie weiter«, bat Weinbrenner und hoffte, sie würde nicht allzu lange vom Thema abweichen.
»Heilstrom hieß das. Heilstrom war höchstens das Geld meines Mannes. Es hieß zwar, es sei alles kostenlos, aber um Spenden wurde recht nachdrücklich gebeten.«
»Ging es Ihrem Mann durch die Behandlung besser?«
»Erst war er euphorisch, fühlte sich wirklich viel kräftiger und weigerte sich, seine Medikamente einzunehmen. Aber kurze Zeit später ging es rapide bergab. Die Heilerfreunde haben ihm die Schuld gegeben. Und sie hackten auf ihn ein, sagten, er solle sich von mir trennen, ich hätte schlechte Energien. Er starb innerhalb kürzester Zeit.«
»Wissen Sie noch, wie dieser Kreis hieß? Es könnte eine Sekte gewesen sein!«
»Ich müsste in Karls Papieren nachsehen.«
»Tun Sie das und sagen Sie es mir, wenn wir uns noch mal sprechen müssen. Wegen dem Till Matthusch. Haben Sie gestern Ungewöhnliches gehört oder gesehen? Gab es in den vergangenen Tagen etwas Auffälliges?«
»Jesses Maria, der Mann ist absolut leise!«
»Wenn Ihnen dazu etwas einfällt, rufen Sie an. Hier ist meine Karte.«
***
Während Sibylle beschloss, an der angefangenen Reportage über Bielefeld weiterzuarbeiten, stieg ihr Fauliges in die Nase. Sie schnupperte, sie roch an den Händen, Geruch nach Kohl, der zu ihr hochzog. Sie hielt den Atem an, rannte aus der Wohnung, erreichte die Gemeinschaftsküche, und hier schien ein Chaos ausgebrochen zu sein.
Zwischen Töpfen und Pfannen, in Schwaden und Dünsten stand Bertram. Um seinen Kopf hatte er sich ein weißes Tuch gebunden. Er beugte sich über ein Kunststoffbrettchen, viertelte mit Tränenspuren auf den fleischigen Wangen eine Zwiebel.
»Tach, Göttliche. Das müsste wohl reichen. Weinbrenner meint. da müssten mehr rein.«
Schwungvoll schmiss er Zwiebelschalen auf den Küchenboden. »Wo bleibt der Schnaps, Weinbrenner?«
»Ich hab auch noch einen Vornamen!«
»Mach zu, der Koch braucht Brennstoff!«
Vorsichtig tappte Weinbrenner durch den Raum.
»Musst du denn alles hinwerfen?«
Auf den grau gesprenkelten Fliesen lagen Zwiebel- und Kartoffelschalenstücke, mischten sich mit Straßenschmutz und Krümeln.
»Sicher. Damit die Frauen was zu tun haben, wenn ich schon koche«, brummte Bertram. Sein Ton war grob und seine Anweisungen ließen manchmal jeden Takt vermissen. Aus dem Kühlschrank holte Weinbrenner eine Flasche Genever. »Ist ja kaum noch was drin!«
»Hol Gläser, ich habe keine Zeit, sonst brennt der Grünkohl an.«
Bertram zog die buschigen Augenbrauen zusammen, wirkte, als erzeuge ihm jeder Einwand Übelkeit. Er nahm ein Wasserglas, hielt die klare Flüssigkeit gegen das Licht und nahm einen kräftigen Schluck Hochprozentiges.
»Schnaps macht blöd«, rief Sibylle, die an der Tür stand.
»Bah. Ich bin Senior«, sagte Bertram, »ich bin über siebzig, ich darf das.« Auf den Brillengläsern verhinderten Fettspuren die Sicht. Bertram zog ein Stofftaschentuch hervor, putzte zweimal Dioptrien-3 und las laut vor:
»Gänseschmalz in einem großen Topf erhitzen, Schinkenwürfel und grob gehackte Zwiebeln dazugeben. Alles gut anbraten. Den gefrorenen Grünkohl hinzufügen und mit kochendem Wasser auffüllen. Ab und zu umrühren. Wenn der Grünkohl aufgetaut ist, circa 25 Minuten köcheln lassen. Mettwürstchen hinzufügen und weitere 25 Minuten kochen lassen. Haferflocken unterrühren, mit Pfeffer und Salz würzen und 5 Minuten kochen lassen. Vom Herd nehmen und den Senf unterrühren. Dazu Bratkartoffeln aus rohen Kartoffeln mit Zwiebeln. So. Haben wir alles. Die Brötkers sind gleich fertig. Stell einer mal die Getränke kalt. Sibylle, kannst den Tisch decken.«
»In diesem Mief esse ich nichts. Mach die Fenster und die Terrassentüren auf.« Sibylle guckte angewidert.
»Geh, göttliche Bewahrerin überflüssiger Worte, hast sowieso keine Ahnung von ostwestfälischer Küche!«
***
Der intensive Geruch nach Kohl, Bratkartoffeln, nach westfälischer Behaglichkeit war Sibylle hinterhergekrochen. Entsetzt riss sie in ihrer Wohnung die Fenster auf.
Im Schein der Straßenlampen sah sie rotgoldene Blätter, die sich wie stille Tänzer drehten an diesem milden Herbstabend. Sibylle liebte diese Jahreszeit, es war die ihre, die der glühenden Farben, der Stille, der Unruhe und des Wartens.
Und sie dachte an Marlene Garber, eine flüchtige Bekanntschaft. Eine Frau, die bei ihr nun zum dritten Mal über die fantastische Möglichkeit gesprochen hatte, schnell viel Geld zu kriegen. »Komm mit«, hatte sie gedrängt, »wir Frauen müssen zusammenhalten. Frauen zeigen der Welt, dass genügend Geld für alle da ist. Geld schenken heißt loslassen, dann werden neue Energien entfacht. Geld und Energien kommen um ein Vielfaches zu dir zurück. Du brauchst nur 5.000 Euro geben, und schon erhältst du bald, sehr bald, bis zu 40.000 Euro geschenkt. Ich sage, geschenkt! Ist es nicht herrlich?«
Wer sollte ihr etwas schenken, und dann noch Geld? Sibylle zweifelte an dieser Verheißung. »Willst du mich veralbern?« Marlene hatte nicht locker gelassen und sie strahlenden Blickes festgehalten. »Ich weiß, es klingt ungewöhnlich. Aber es ist so. Meinst du, wenn ich dabei nichts zurückbekäme, würde ich mitmachen? Ich, eine Marlene Garber?« Sibylle dachte noch, wie albern und dramatisch, und schon hatte Marlene weiter geredet: »Alle Schwingungen der Frauen treffen eben in dieser Form aufeinander. Wenn alle den gleichen Wunsch haben, verstärkt er sich und wird erfüllt. Ich kenne einige, die mehrmals die Höchstsumme erhalten haben!«
»Schwingungen?« Sibylle hatte laut gelacht.
***
»Ob ein Hund eine Seele hat?«, sinnierte Maike Theeden. Vor inzwischen leeren Tellern saßen neben ihr Bertram und Weinbrenner. »Eine Seele?« Bertram schüttelte den Kopf. »Nä. Hat ein Schwein ja auch nicht. Ein Herz hat er.« Er rülpste. »War lecker. Mal wieder richtig was Deftiges. Nicht dieser Schlabberkram, den du so liebst, all dies körnige Zeugs. Reißt einem nur die Plomben raus. Und nächstes Mal backst du Pickert!«
»Es gibt auch noch andere Gerichte«, sagte Sibylle und reichte ihm ein Blatt Papier. »Wie wäre statt dieser deftigen Sachen ein Carpaccio von Kohlrabi mit Lachsschinken und Radieschen? Hört mal zu: 360 Gramm Kohlrabi, 240 Gramm Lachsschinken, 120 Gramm Feldsalat, 120 Gramm Radieschen, Kresse, 3 Esslöffel kalt gepresstes Rapsöl, 2 Esslöffel Rotweinessig, 2 Esslöffel Weißwein oder Apfelsaft, 2 Teelöffel scharfer Senf, 2 Esslöffel Honig, dazu Laugenbrötchen, Salz und Pfeffer.«
»Ich schlage vor, du servierst uns deinen Kohlrabi am Wochenende. Hört sich lecker an. Wird denn ein Mann davon satt?«, fragte Weinbrenner.
»Ist eine Vorspeise. Und du machst im zweiten Gang Pizza mit ganz dünnem Boden. Ist alles ziemlich einfach. »
»Erst gibts trotzdem Pickert«, sagte Bertram und schaute listig in die Runde. »Wer räumt eigentlich auf?« Niemand reagierte. Maike sah aus, als wollte sie etwas sagen, blickte Weinbrenner flehentlich an und sagte doch nichts. Bierschaum tropfte ihm auf die Hände. »Schön, einmal ohne Dienst. Obwohl ich mich an meine Auszeit gewöhnen muss. Ich hätte nie geglaubt, dass es mir derart schwer fällt, loszulassen. Du machst jahrelang alles, hasst deinen Schreibtisch, die Routine, ermittelst, überführst manchmal auch einen Mörder …«
Maike stieß ihn an. Sie fragte: »Was ist eigentlich mit dem Unfallopfer?«
»Meinst du Till Matthusch?« Weinbrenner setzte sein Glas ab. »Ich weiß nicht mehr als gestern.«
Bei der Nennung des Namens zuckte Maike zusammen. Bertram sagte: »Der wird wieder. Schließlich habe ich ihn gefunden. Wenn er länger dort gelegen hätte, Leute, niemand hätte ihn bemerkt. Dann wäre er tot. Jetzt bin ich doch ein Lebensretter?« Begeistert trommelte er wie ein Gorilla gegen die Brust. »Wer räumt auf?«
Sibylle bot sich an, obwohl sie nichts versifft hatte. Sie kannte den tieferen Grund. Gemeinsames Essen am Küchentisch, herumstehende Töpfe und Schüsseln und die Gespräche erinnerten an früher, an die Kindheit mit den Eltern und Geschwistern. Auf den Fensterbänken blühten damals Alpenveilchen. Und in der Küche hatte sie ihre Schulbücher neu eingebunden. Die bedächtige Art ihrer Mutter hatte immer Beruhigendes ausgestrahlt. Bei Taschengeldmangel spülte sie freiwillig. Man musste sich schließlich zu helfen wissen. Und ihr Bruder gab ihr den Namen: Hüterin der Küchenschaben.
Bis auf Weinbrenner verdrückten sich die anderen und sagten, sie hätten es eilig. Er blickte Sibylle von der Seite an und sah die feine helle Haut. Gern würde er fühlen wollen, ob sie so samtig war, wie sie wirkte. »Wir könnten was zusammen machen. Ein Wochenende ohne Bielefeld, wie wäre das denn?«
»Ja, immer. Aber ich muss sehen, ob ich Zeit freischaufeln kann.«
Weinbrenners einmeterneunzig schrumpften. Er griff sich in die melangegrauen, kurzen Haare. War das eine Abfuhr? Seine topasfarbenen, großen Augen blickten fragend. Auch sonst schaute er auf alles und jedes mit gezügelter Neugier, warmherzig und mit tief verstecktem Lächeln.
Um seine Verlegenheit zu überdecken, kratzte er an seiner schiefen Nase, die nach einem Unfall nicht mehr richtig zusammengewachsen war. Er stapelte alles Geschirr in die Spülmaschine, putzte den Tisch ab, er legte eine Decke auf, die Sibylle sofort wieder wegriss.
»Grässlich. Rosa. Wer hat denn dieses Tischtuch gespendet? Erinnert mich absolut an die rosa Schlüpfer meiner Tante Änne!«
Weinbrenner lachte. »Wenn du meinst. Vielleicht trägst du apfelgrüne? Auf jeden Fall steht zur Klärung dieser Frage in meinem Kühlschrank ein fruchtiger Weißwein. Den muss ich doch nicht allein trinken?«
Ärgerlich schmiss Sibylle die tiefgefrorene Butter auf die Fliesen. Das Messer war abgerutscht, ihr Finger blutete, das Brot war trocken und die Lust auf ein Frühstück vergangen. Sie stampfte auf und brüllte: »Verdammter Mist!«
Das nachfolgende Zuknallen ihrer Tür hatte sicher das ganze Haus erschüttert. Egal. Man durfte ja mal wütend sein.
Auch wenn sie in Bielefeld geboren war, fühlte sie sich nicht als Eingeborene. Zu lange war sie von Ort zu Ort gezogen. Sie wusste, was man über Bielefelder sagte. Stur und zurückhaltend. Sie waren bodenständige Leute und lechzten nach dem Eigenheim. Sie wusste auch, wie die Leute über alberne Bielefeld-Sätze im Fernsehen kicherten. Als wäre die Stadt das Ende der Welt. Merkwürdig, dass man nur ›Bielefeld‹ zu sagen brauchte und schon sanken andere Leute kreischend gen Boden.
Nun. Die Reaktion fand sie arg übertrieben. Denn längst nicht jede Stadt besaß eine derart interessante Kunsthalle, und nicht jede Stadt hatte eine Burg vorzuweisen. Die Kunsthalle gehörte schließlich zu den bedeutendsten Museumsbauten der Nachkriegszeit. Das Wahrzeichen, die Sparrenburg, um 1240 erbaut, oft belagert, nie gestürmt, war absolutes Muss für Ausflüge. Von hier aus bot sich jedem ein großartiges Panorama auf Stadt und Umland. jedes Jahr der mittelalterliche Markt mit Gauklern, Händlern, Spielleuten, Komödianten. Und in den unterirdischen Gängen war Sibylle als Elfjährige zum ersten Mal ziemlich aufregend geküsst worden. Dabei hatte sie selbst manches in der Stadt auf dem Kieker. Sie dachte an diejenigen, die bei gutem Wetter auf der Obernstraße und dem Alten Markt flanierten, sie fand, dass diese Leute meistens ihr Lächeln in teuren Täschchen versteckten. Bei schönem Wetter saßen sie vor der Brasserie, aßen Häppchen, tranken Latte macchiato und hatten Zeit. Erst in der Niedernstraße vermischten sich die Gruppen, und manchmal war hier sogar ungeniertes Lachen zu hören. Diese Einkaufsmeile mündete in den hässlichsten aller Plätze im ganzen Land, dem Jahnplatz. Sein Mittelpunkt war eine Uhr im Stahlspitzendeckendesign. Eine weithin sichtbare Bratwurstbude glänzte wie ein Wahrzeichen und gab dem Platz sein besonderes Ambiente. Klotzige Geschäfts- und Bankbauten kreisten ihn ein. Es gab keine Blumen, Bänke, weder Brunnen noch ein Fluss zum Verweilen. Aber am Rande des Jahnplatzes war der Alte Friedhof, Oase der Stille mit historischen Grabsteinen, beschützenden Bäumen, und in der Mitte ein Feld für anonym Bestattete. Dass Bielefeld kein größeres, fließendes Gewässer hatte, nun, dafür konnte die Stadt nichts. Für den Rest schon. Schmuddelige Busstationen hatten jede Heiterkeit gefressen. Dennoch, es gab viel Grün, Parks und Ausflugsmöglichkeiten. In ihrem Artikel über Bielefeld hatte Sibylle die positiven Seiten der Stadt beschrieben. Neben den anderen. Und da würde es sicher empörte Leserbriefe von Alteingesessenen geben.
Sie grinste. Ihr war nach einem leckeren Frühstück.
Maike und Rolf Piefke, ein weiterer Hausbewohner, saßen in den neu angeschafften Korbsesseln im Gemeinschaftsraum. Vor ihnen dampfte Tee in Steingutbechern, sie aßen dunkle Rundlinge mit Butter und Bio-Hagebutten-Marmelade.
»Gibts hier keinen Kaffee?«, fragte Sibylle.
Rolf betrachtete sie einen Moment anerkennend und schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»Gottliebchen, erst einmal einen wunderschönen guten Tag. Kaffee ist einfach nicht günstig für den sauren Basenhaushalt.«
»Was für'n Ding?« ›Gottliebchen‹ überhörte sie. Es war zu früh, um zu streiten.
»Rolf meint, dass Kaffee das Säure-Basen-Gleichgewicht im Körper durcheinander bringt. Deshalb trinken wir auch grünen Tee.« Maike hing krumm über ihrem Teller. »Ich habe eine neue Sorte Roggenbrötchen aus dem Teeladen am Lohmannshof mitgebracht. Die backt die Besitzerin selbst. Kundenservice. Echt lecker!«
»Mir ist nicht nach gesund.«
Es folgte eine der ausladenden Handbewegungen, mit denen Rolf gewöhnlich ankündigte, dass er dozieren wollte. Über Gesundheit, über Bio, über das Leben. Seine Vorträge dauerten. Sibylle hantierte an der Kaffeemaschine, fand Zwieback und Pflaumenmus vom Aldi. Den Mann musste man stoppen.
»Ich weiß, was du mir sagen willst, aber nicht jetzt! Ich habe die halbe Nacht gearbeitet. Gib mal die Milch rüber.«
Gekränkt kaute Rolf mit geöffnetem Mund geräuschvoll weiter. Der endlich frisch aufgebrühte Kaffee besänftigte Sibylle. »Ihr sitzt hier, als hättet ihr alle Zeit.«
»Jeder, wie er es verdient!« Rolf griente.
Sibylle stand auf und sagte: »Dann wisch den Fußboden. Wie der aussieht! Bist du nicht überhaupt in dieser Woche dran?«
»Weil ich arbeitslos bin, soll ich putzen? Reine Frauensache.«
»Du solltest die Hausordnung lesen.«
»Machs doch selbst, wenn es dir so wichtig ist. Ich möchte nur gesund leben.«
»Ich muss arbeiten.«
»Alles geschehe in Gottes Namen.«
Abrupt nahm Sibylle ihre Tasse vom Tisch, zischte: »Spinner«, und entdeckte ein Blatt Papier zwischen den gesunden Brötchen. Sie zog es hervor, aber gleichzeitig griff Maike danach. »Lass mich doch mal lesen«, sagte Sibylle. »Oder ist es der sehnlichst erwartete Liebesbrief?« Da schob Maike ihr das Blatt hin. Darauf waren Herzen in einer umgekehrten Pyramide gezeichnet. In jedem Herz standen Namen und Telefonnummern. Sibylle hielt es hoch, guckte erstaunt und fragte: »Was ist denn das?«
Schon stand Rolf neben ihr. »Großartig, wenn es so was doch für Männer gäbe. Aber die sind ja inzwischen kaum noch gefragt. Immer druff auf uns. Aber es hat eine geniale Struktur.«
»Wovon sprichst du«, fragte Sibylle. Maike starrte auf ihren Teller. Ihr Mund wirkte verkniffen. Dabei war er schön, wenn sie lachte. Rolf strahlte.
»Wenn ich es denn mal erkläre: Also, dieses System, da kriegen Frauen, ohne etwas dafür zu tun, Geld geschenkt. Mann o Mann, wo ich es so dringend gebrauchen täte!«
Seine verdrehte Sprechweise konnte Sibylle zur Weißglut treiben, trotzdem fiel ihr auf, dass sie zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit auf lukrative Geldquellen für Frauen aufmerksam gemacht wurde. Als sie das Blatt einstecken wollte, legte Maike ihre Hand darauf. »Gib her, ich brauche es noch! Und solche Systeme gibt es auch für Männer, mein lieber Rolf. Geh mal zu ›Arturs Tafelrunde‹.«
»Kenn ich nicht.«
»Sind aber nicht die alten Ritter der Artussage oder der edle Lancelot.« Maike lachte. »Aber es kann sein, dass einige Männer sich die Ritter der Sage zum Vorbild nehmen. Egal. Ich muss jetzt los, in die Werkstatt.«
Maike war Töpferin und als Ostwestfälin überlegte sie sich gründlich, wem sie mehr Persönliches erzählte. Sibylle gehörte nicht zu den Vertrauten.
Rolf erhob sich. »Einen gedeihlichen Tag wünsche ich euch. Wir unterhalten uns später noch mal darüber. Du solltest es dir überlegen, Sibylle. Jedenfalls, die Maike …«
»Du redest zuviel! Das geht Sibylle nichts an.« Ohne Jacke ging Maike in den grauen Nebeltag hinaus.
***
Am Schreibtisch überflog Sibylle ihre aktuellen Aufzeichnungen. Korrigierte die Texte über Gespräche, die sie mit einigen Paaren geführt hatte, Menschen jenseits der siebzig, die ihre letzte Liebe erlebten.
Sie begann, die dazugehörigen Fotos auf dem Bildschirm zu sortieren. Während sie auswählte, klingelte das Telefon. Eine Sekunde verstrich, ehe sie abhob und ihren Namen nannte. Am anderen Ende war Marlene Garber. Schon wieder diese Exaltierte mit den exotisch bedruckten, langen Röcken und der dichten braunen Haarmähne, die sie immer und überall wie in der Shampoo-Werbung mit beiläufig scheinendem Ruck nach hinten warf. Wieder fing sie an, von dieser unglaublichen Gelegenheit zu reden. Wie ein Wasserfall fielen ihr die Worte aus dem Mund, Sibylle konnte sie nicht stoppen. Es sei denn, sie würde sofort auflegen. »Mach doch mit. Das ist ohnehin nur für ganz besonders Ausgewählte. Weil ich dich schätze, habe ich dich unserem Bielefelder Zirkel empfohlen. Sie lieben dich jetzt schon und möchten dich kennenlernen.« Während ihrer Nonstop-Rede über das Herzfrauen-Geldbeschaffungsmodell fielen Sibylle die Notizen ein, die sie dazu als Gedankenstütze eingegeben hatte.
Was verbindet mich eigentlich mit Marlene, fragte sie sich. Ja, manchmal sprach sie mit ihr über die Liebe, das Leben schlechthin und über Geld. Aber so war das nie gemeint gewesen. Entnervt und auch neugierig hörte sie: »Schenke dem Herzfrauen-Zirkel 5000 Euro!« Nach dem Motto, … und du wirst gesund.
»Wann und wo? Kenne ich nicht. Wo soll das sein?« Sibylle notierte sich eine Straße, Haus- und Handynummer sowie den Vornamen Judith, den Marlene am Schluss durchgab. Zu dieser Adresse sollte sie kommen. Das wird eine verrückte Story, dachte Sibylle und grinste vergnügt.
***
Der Mitpatient guckte neugierig durch einen Strauß mit verblühten Rosen und Schleierkraut. Unbekümmert räusperte er sich, um Weinbrenners Aufmerksamkeit zu erhaschen. Aber Weinbrenner achtete nicht darauf, er beobachtete den Schlafenden vor ihm, dessen Gesicht eine kreidige Färbung aufwies und an Schläfe und Wange zugepflastert war. Matthuschs Mund hing offen. Seine Atemzüge wechselten zwischen hastig und ruhig.
»Der schläft ständig«, mischte sich der Bettnachbar ein. »Sind Sie ein Verwandter? Wird Zeit, dass der Besuch hat. Kommt ja niemand. Wenn man erst krank ist und so aussieht, Mann o Mann. Meine Frau erscheint auch nur noch alle vier Tage.«
Weinbrenner machte ein abweisendes Gesicht. »Nicht verwandt«, entschied er.
Ohne Verletzungen sah Matthuschs Gesicht sicher ansprechend aus. Hohe Stirn, vortretende Wangenknochen, tief zurückliegende Augen, großflächige Stirnglatze. Dunkles Haar, feinporige Haut, schmaler Nasenrücken. Ausgeprägtes Kinn mit Grübchen, grauschwarze Bartstoppeln. Nach einer halben Stunde stand Weinbrenner auf, blieb am Kopfende des Bettes stehen, nickte dem Kranken zu, auch wenn der es nicht wahrnahm. Da war nichts zu machen. Schade, kein klärendes Gespräch über den Unfallhergang. Er stellte den Stuhl an seinen Platz zurück, verabschiedete sich von dem Schleierkrautgucker, öffnete die Tür, schloss sie und stand im Flur der Station M4. Er entdeckte eine Sitzecke am Ende des Ganges. Die Sonne warf lange, violette Schatten auf den Fußboden. Am Fensterbrett lehnte eine Frau und stützte sich mit den Händen auf. Aus der weißen Kitteltasche hing der Schlauch ihres Stethoskops.
Er erkannte das rostrote Eichhörnchenhaar, er setzte zum Gehen an, die Frau drehte sich um, lachte und kam ihm entgegen. Während er sich wünschte, sie eile freudig erregt auf ihn zu, setzte er ein langsames Lächeln auf, bis es seine Augen erreichte. Ihr: »Der Herr Kommissar, was machst du denn hier?«, quittierte er mit: »Das erzähle ich dir, wenn ich dich heute zum Essen einladen kann.«
»Ach, weil du deinen Charme ausgießt, gehe ich gleich mit dir essen?«
»Ja. Am liebsten jetzt.« Er seufzte mitleiderregend.
Sie schwieg. Dann sagte sie ruhig: »Du erzählst, hinter wem du gerade her bist, was deine Intuition geflüstert hat und ich sage dir, wer gestern eingeliefert oder verstorben ist.« Bettinas rechtes Auge mit dem leichten Silberblick funkelte irritierend. »Das ist ja eine hocherotische Aussicht!«
»Was für Vorwürfe höre ich da heraus. Dafür darfst du das Gespräch eröffnen.«
Ihre Miene wurde sachlich. »Sei nicht albern. Was machst du hier? Warum bist du auf dieser Station? Doch sicher nicht meinetwegen?«
»Sagte ich das? Ich würde zu gern wissen, ob der neue Patient Matthusch auch dein Patient ist? Er wurde gestern eingeliefert. Ein merkwürdiger Unglücksfall.«
»Aha. So ist das, du bist nicht wirklich wegen mir hier. Schade, beinahe hätte ich dir geglaubt. Aber lass meinen Patienten in Frieden. Er braucht viel Ruhe. Und da ist nichts, was in deinen Bereich fällt. Iss du mal schön zu Abend und träum von Mord und Co. Ich denke, du bist nicht im Dienst? Du hast doch deine Auszeit? Warum stocherst du hier ungebeten herum?«
Sie sah ihm in die Augen und er hielt ihrem unwilligen Blick stand.
»Sag einfach nur ja. Gutes Essen und guter Wein. Außerdem möchte ich dich einmal wieder außerhalb des Krankenhauses sehen, liebreizendste Kittelträgerin des ganzen Hauses.«
»Du tauchst plötzlich auf, dann wieder bist du wochenlang verschwunden. Glaub ja nicht, ich fall dir jetzt in deine langen Arme und streichle deine schiefe Nase. Ich bin beschäftigt.« Sie spitzte die Lippen. »Mit Wein erreichst du nichts bei mir, höchstens Kopfschmerzen.«
»Das habe ich aber anders in Erinnerung.« Weinbrenner beobachtete, wie Bettina mit dem Stethoskop spielte und die Gummischläuche verknotete, die immer wieder auseinander rutschten. Seine Augen bekamen einen verhangenen Blick und die Wimpern legten sich dekorativ darüber. »Weißt du eigentlich, was für eine zauberhafte Halskuhle du hast?«, murmelte er. »Dürfte ich da mal Zitroneneis zum Ausschlecken deponieren?«
»Morgen im Weinkeller am Alten Markt. Aber nicht öffentlich deine Eisnummer abziehen! »
Ihr Haar schien Funken zu sprühen, als sie sich umdrehte und im nächsten Patientenzimmer verschwand. Ihm wäre ein anderes Lokal lieber gewesen. Aber sie beide teilten eine Schwäche für gutes Essen.
Unrasiert sah er dynamischer aus. Schon jetzt wies sein Gesicht interessante Schatten auf, fand er. Ob Bettina das auch so sah? Vielleicht wurde endlich mehr daraus als in den letzten beiden Jahren. Bisher hatten sie sich in unregelmäßigen Abständen getroffen. Um miteinander zu essen, um schwierige Fälle zu besprechen; dies, je nach Dienstzeit, auch in der Nacht. Und da waren auch diese verdammten Momente, auf die er bisher hereingefallen war. Wenn sie in ihrer Wohnung getagt hatten, zog Bettina entweder zwischen Mitternacht und drei plötzlich den Lippenstift über ihre Lippen, bis sie tiefrot waren, setzte mit ihren grünen Augen Irrlichter, während er disharmonische Blutwellen im Bauch bekam. Oder sie zog mit kompromisslosem Ratschen den Reißverschluss ihres Rockes auf und streifte lässig klackend die Schuhe ab. Ja. Genau dann war Schluss, dann grinste sie amüsiert und sagte meist: »Ich muss ins Bett. Also, Viktor, ab auf die eigene Matratze.« Und er konnte weitere Blicke auf ihren üppigen Busen und die schlanken Beine vergessen.
Beim Essen würde er mit Bettina über den Neuzugang reden. Da mochte sie sich zieren wer weiß wie. Denn hier könnte mehr dahinter stecken. Da war so ein Jucken im Hirn. Aber was besagte das schon? Nichts. Er wusste, warum ihn gerade diese Geschichte interessierte. Denn er brauchte eigentlich gar nichts in dieser Sache tun. Aber in seiner Düsseldorfer Zeit war tatsächlich, als er spät am Abend nach draußen schaute, über ihm ein Nachbar vom Balkon gestürzt. Er war nach wenigen Stunden gestorben. Die Balkonbrüstung hatte nachgegeben. Später erfuhr er, dass es mehr als ein schlampiger Baufehler gewesen war.
Frau Bode würde er auch befragen. Möglich, dass ihr noch Außerordentliches im Nachhinein aufgefallen war. Manchmal waren es scheinbar belanglose Kleinigkeiten, die im Puzzle fehlten.
Aber das Puzzle besaß erst minimale Teilchen. Einen unmotivierten Sturz und einen noch sprachlosen Patienten. Mit Björn Morek hatte er telefoniert. Der sagte: »Da ist nichts weiter, Viktor. Der Typ ist noch ziemlich sediert. Wenn er in ein bis zwei Tagen klar ist, wird er schon erzählen, warum er aus dem Fenster gehüpft ist. Wenn du das machen willst, nur zu. Ich habe hier lauter Krankmeldungen. Habe viel zu wenig Personal für unsere Ermittlungen. Wir schieben längst wieder Überstunden. Und der Boss erwartet schnelle Lösungen. Bitte, sag mir Bescheid. Wahrscheinlich ist der Verunglückte bloß schwermütig. Das sind wir doch alle, gerade jetzt im Dezember. Wenn da jeder springen würde. Augenblicklich haben wir erst einmal diesen Prostituiertenmord vom Hauptbahnhof am Hals.«
***
Sibylle irrte mit ihrem Chrysler durch Steinhagen, eine Gemeinde vor Bielefeld. Es war nach zwanzig Uhr. Sie kurvte in dem Gebiet um das Hallenbad, und immer neue Straßen taten sich auf. Sie hielt, tippte eine Nummer in ihr Handy.
»Hallo?«
»Judith? Marlene hat mich eingeladen.«
»Wer bist du?«
»Sibylle.«
»Augenblick.«
Pause.
»Wo stehst du jetzt?«
Sibylle erklärte, dass sie neben dem Hallenbad stünde.
»Fahr bis zum Kreisverkehr, dann in die Queller, die erste rechts ist die Wagnerstraße. Nummer 184 findest du schon.«
Die Tür wurde geöffnet, Stimmen und Gelächter drangen zu ihr heraus.
»Hi. Sibylle? Marlene ist schon da. Ich bin Judith, komm rein, leg deine Jacke in den Flur. Mach dich mit den anderen selbst bekannt. Übrigens, wir duzen uns alle. Hier, bitte, in der Küche ist ein kleines Büfett aufgebaut. Bedien dich.«
Die dunkelbraunen Schränke mit den silbernen Griffleisten waren im typischen Zuschnitt der Siebziger Jahre. Auf Arbeitsplatten aus gesprenkeltem Resopal, dem Elektroherd standen Teller mit belegten Broten, appetitlich wirkendes Hühnchenfleisch, Salate, Stangenbrot und Getränke. Um einen rechteckigen Tisch hatte man eine Eckbank platziert, darauf drängten sich fünf Frauen zwischen achtzehn und vierzig. Neugierig schauten sie auf Sibylle. »Du warst noch nicht hier? Machst du auch mit?«
Sibylle lächelte ihnen vielsagend zu und verschwand mit einem Lachsschnittchen im Wohnzimmer. Vor großen Fenstern helle Vorhänge, Stühle in allen Formen, ein riesiger, dunkelbrauner Tisch mit klobigen Beinen. Hier saßen und standen bestimmt dreißig Frauen, aus der Garderobe riefen weitere: »Hallöchen! Ich freue mich riesig!« Was freuen die sich, dachte sie. Schon umarmten Fremde sie überfallartig, herzten Küsschen rechts und links auf die Wange und in die Luft und dufteten nach teuren Parfüms. Gut gelaunt winkte ihr Marlene zu.
Im Raum war ein Kribbeln, eine fühlbare Nervosität, die Luft schien elektrisch geladen. Gesichter glühten. Alle hatten so einen Blick, als wenn sie eine Erscheinung gesehen hätten und auf weitere warteten. Sibylle stand zwischen ihnen und niemand fragte, wer sie sei. Mit fettigen Fingern schlängelte sie sich zu Marlene vor. Die thronte wie eine Bienenkönigin auf Eichenholz und schimmelgrünem Plüsch. Sie redete und alle lauschten mit blanken Augen.
»Was ist schon Geld? Nichts, wenn es beim Einzelnen bleibt. Aber wir Frauen werden es allen zeigen. Niemand von uns wird arm bleiben. Geld schenken heißt loslassen, damit werden neue Energien entfacht.«
Marlene blickte mit äußerst rechtschaffenem Blick um sich, nahm einen Schluck aus einer Flasche mit levitiertem Wasser, das sie selbst herstellte und von dem sie immer etwas bei sich trug. Davon hatte sie Sibylle einmal erzählt. Sie reichte sie herum und fragte in königlicher Herablassung: »Ihr auch ein Schlückchen?«
Niemand reagierte. Sie räusperte sich mit einem bedeutsamen Unterton und dozierte weiter: »Schon seit Jahrtausenden lehren Philosophien und Religionen, dass nicht nur unsere Taten sondern auch unsere Gedanken, Emotionen und Visionen Auswirkungen auf unsere Umgebung, ja sogar auf die ganze Welt haben. Was wir jemals getan, gedacht oder gefühlt haben, ist irgendwo im Kosmos präsent. Was wir säen, werden wir früher oder später ernten.«
»Aha. Und das Geld wächst auf Bäumen?«
»Unterbrich mich nicht, liebe Sibylle.« Marlene seufzte milde und redete weiter.
»Keine Energie geht verloren. Wir haben deshalb angefangen, einander zu helfen. Deine Tatkraft und dein geschenktes Geld kommen um ein Vielfaches zu dir zurück. Das beweisen Statistiken, Briefe und Mails von vielen lieben Menschen. Alle befreiten sich von überflüssigem Geld, halfen und die Kreise schlossen sich. Auch ihr werdet unglaubliche Freiheit spüren, werdet im Überfluss Zuneigung bekommen und durch 40.000 Euro gesegnet werden.«
»Amen«, flüsterte Sibylle. Schon umarmte Marlene sie weihevoll, sah sie beschwörend und tiefgründig an. Sibylle, die fasziniert wie irritiert zugehört hatte, bemühte sich, ernst zu bleiben.