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Was, wenn schöne Worte tödlich sind …?
Der atmosphärische Insel-Krimi für alle Ostfriesland-Fans
In einem Haus auf der Insel Langeoog bricht ein Feuer aus. Bei den Löscharbeiten entdecken die Rettungskräft zwei Mädchen. Jördis ist schwer verletzt, Ilka ist tot. Die Untersuchungen ergeben schnell, dass das Feuer nicht die Ursache für das Unglück der beiden gewesen sein kann. Die jungen Frauen wurden zuvor betäubt und erschlagen. Doch wer sind die beiden und wer hatte ein Motiv, zwei unschuldigen jungen Frauen so etwas anzutun? Und was hat es mit den Gedichtstrophen auf sich, die an verschiedenen Orten auf Langeoog auftauchen? Die Inselkommissare Carla Bernstiel und Gerrit Blau arbeiten unter Hochdruck und suchen unter den ersten Saison-Gästen der Insel nach Hinweisen.
Dies ist eine Neuausgabe des Romans Wer liebt, stirbt zweimal.
Erste Leserstimmen
„Der Krimi ist eine perfekte Urlaubslektüre, nicht nur (aber auch) für Nordsee-Fans.“
„Realistischer, fesselnder und interessanter Kriminalroman!“
„spannender Inselkrimi mit sympathischem Ermittlerteam“
„Ein packender Fall, detailreiche Landschaftsbeschreibungen und eine klare Leseempfehlung!“
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Seitenzahl: 277
In einem Haus auf der Insel Langeoog bricht ein Feuer aus. Bei den Löscharbeiten entdecken die Rettungskräft zwei Mädchen. Jördis ist schwer verletzt, Ilka ist tot. Die Untersuchungen ergeben schnell, dass das Feuer nicht die Ursache für das Unglück der beiden gewesen sein kann. Die jungen Frauen wurden zuvor betäubt und erschlagen. Doch wer sind die beiden und wer hatte ein Motiv, zwei unschuldigen jungen Frauen so etwas anzutun? Und was hat es mit den Gedichtstrophen auf sich, die an verschiedenen Orten auf Langeoog auftauchen? Die Inselkommissare Carla Bernstiel und Gerrit Blau arbeiten unter Hochdruck und suchen unter den ersten Saison-Gästen der Insel nach Hinweisen.
Dies ist eine Neuausgabe des Romans Wer liebt, stirbt zweimal.
Überarbeitete Neuausgabe Juni 2021
Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-863-9 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-864-6 Hörbuch-ISBN: 978-3-98637-169-2
Copyright © 2016, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2016 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Wer liebt, stirbt zweimal (ISBN: 978-3-94529-883-1).
Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Olha Rohulya, © Jenny Sturm, © brickrena, © jh Fotografie Lektorat: Astrid Rahlfs
E-Book-Version 05.07.2023, 10:09:20.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Was, wenn schöne Worte tödlich sind …?Der atmosphärische Insel-Krimi für alle Ostfriesland-Fans
Sie kam aus der Schule und hatte den Sommer und die Ferien dabei. Ihr Gesicht leuchtete und beschwingt wiegte sie Hüften und schwang die Haare. Erst nachmittags überfielen sie die Zweifel.
Sie betrachtete sich im Spiegel und ging noch dichter heran. Nein!Diese Nase!Wie die aussieht!Nein!So lang und streng. Wie Mama! Jördis warf ihre Haare nach hinten, die in geübtem Wellenschwung wieder zurück fielen. Der Pony hing schräg über Stirn und Nase. Das fand sie verrucht, obwohl sie sich nichts Genaues darunter vorstellen konnte. Sonnenlicht strömte in das Zimmer und tanzte leuchtend über ihren schlanken Körper, über die Haare, beides war wohl das Begehrenswerteste an ihr. Hatte er gemeint. Er fand sie anziehend und makellos, eben, wie junge Mädchen seiner Meinung nach sein sollten. Denn er hatte Ahnung von Frauen. Das sagte er oft. In diesen Momenten fühlte sie sich erfahren. Und sehr erwachsen.
Trotzdem. Oft fühlte sie sich unsicher, wenn sie zu Hause in ihrem Zimmer war. Dann grübelte sie jedem seiner Worte hinterher, zerpflückte sie und setzte selbst Kritik zu liebesseligen Sätzen zusammen. Sie sprach mit ihrer Freundin darüber und beide überlegten, ob man ihm und seinen Worten trauen könnte. Aber er bekräftigte glaubhaft immer wieder das, was er sagte. Jördis beschloss daher, ihm zu glauben.
Das Einzige, was sie trug, war ein Armreif am rechten Handgelenk. Elfenbein mit fein geschnitzten, ineinander verschlungenen Frauen- und Männerminiaturen. Sie trug ihn nur, wenn sie allein war. Beim Tasten über die winzigen Körper wanderte ihr Blick und sie entdeckte einen Falter, der in der Gardine hing. Ihr war vor kurzem einer in den Mund geflogen. Jördis spürte wieder dieses fremde Flattern und musste an Küsse denken. Versonnen schüttelte sie die Gardine aus, der Falter stob in die Höhe und suchte sich an der Wand einen neuen Platz. Er sah aus, als trüge er anstelle von Flügeln alte Baumrinde.
Sie öffnete einen Fensterflügel und das Insekt entflog mit sirrendem Flügelschlag. Sie bedeckte mit der Gardine ihren Körper, blickte hinterher – und sah auf dem Bürgersteig einen Mann stehen. Er schaute zur anderen Straßenseite und schien in Gedanken zu sein.
Hastig trat sie einen Schritt zurück, spähte erneut und Anspannung kroch in ihr hoch. Als er sich bewegte, duckte sie sich.
Er war kräftig, durchschnittlich groß und zwischen dem dichten, dunklen Haar schimmerte elegantes Grau. Wartet er auf jemanden? Beobachtet er etwas? Was? Wen?
Einen Augenblick lang hörte sie nur ihr Herz schlagen. Erst dann ihr Atmen.
Das konnte nicht sein. Das war nie so verabredet. Und bei jedem, der diese Statur hatte, dieses Grau an den Schläfen, zuckte sie zusammen, wurde unpassend rot und fing an zu stottern. Es war so peinlich.
Jördis zog sich an. Eine Bermudajeans, ein ausgeschnittenes Shirt. Sie hörte Stimmen, beugte sich aus dem Fenster und beobachtete, wie ihre Mutter auf den Mann zuging und ihn ansprach.
Er antwortete. Was, konnte sie nicht verstehen. Aber er ging die Straße hinunter, zum Wald hin. Ob er gefragt hatte, wohin die Wanderwege führten?
Die Haustür klappte. Den weiteren Geräuschen nach zu urteilen, begab sich ihre Mutter in die Küche.
Zu Hause war sie immer Kind und ihre Eltern ahnten nicht ansatzweise, wie erwachsen sie geworden war. Sie freute sich auf die Reise nach Langeoog und nur deshalb erbarmte sie sich der Bitte ihrer Mutter, die Töpfe mit den Margeriten auf die Terrasse zu tragen. Sie nahm sie hoch und stellte sie in den Flur. Gleich!
Jördis kreuzte die Hände vor die Brust, senkte den Kopf und hoffte, dass Mutter nicht zu ihr hereinplatzte und etwas über den fremden Mann sagte. Sie wusste, wie sie reagieren würde und auf die Frage: „Seit wann stammelst du?“, hätte sie nur erneut gestottert. Vielleicht war er es ja auch gar nicht. Doch sie zweifelte weiterhin. Die vertraute, ziehende und schmerzende Unruhe machte sich breit, verursachte Magenschmerzen und das Drängen, durch die Wand rasen zu müssen, um den Mann einzuholen, ihn von vorn zu betrachten, um endlich zu wissen, ob er es war.
Und wenn? Was wollte er? Er hätte eine Nachricht schicken können. Das Handy lag neben ihr. Er sagte einmal, dass er nichts von diesen Dingern halte, die Energie, die sie abstrahlten, würden kosmische Weisheiten zerstören und jeder könnte seine SMS lesen. Das kann ich mir nicht erlauben, du bist sehr jung und zum anderen flüsterte er lieber Aufregendes in ihr Ohr.
Jördis nahm von ihrem Schreibtisch die große Tasse mit dem selbst angesetzten Tee. Er hatte ihr aufgetragen, jeden Tag davon zu trinken und obwohl sie sich vor dem Gebräu schüttelte, hielt sie sich daran. Das Getränk bestand aus Hanfblättern, Zitronenverbenen, Ringelblumen, Spitzwegerich, Rosenblüten, Muskatnuss, Vanille und Chili. Und guten Gedanken. Es sei sein Rezept, hatte er gesagt und ihr die Zutaten in einer Tüte gegeben.
***
Ihre Befürchtungen erfüllten sich, denn ihre Mutter kam, ohne anzuklopfen herein.
„Hast du gepackt?“
Jördis blieb einen Moment sitzen. Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung sagte sie: „Guck – alles ist fertig!“, wies auf eine offene, vollgestopfte Reisetasche, spielte mit ihrem Haar, drehte es nach hinten und band es mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz.
„Hast du es auch gesehen? Da war ein seltsamer Mann vor der Tür und als ich ihn gefragt habe, ob er etwas sucht, hat er behauptet, dass er sich das Haus der Krauses ansieht, weil die angeblich verkaufen wollen. Wollen sie aber nicht.“
„Hat er noch was gesagt?“ Dabei drehte Jördis den Kopf zur Seite. Sie befürchtete, bei der Frage rot zu werden.
„Man weiß so manches nicht von seinem Nächsten, was für eine kryptische Antwort. Ich habe gewartet, bis er in Richtung Wandergebiet ging. Hast du einen neuen Armreif?“
„Ach der. Habe ich mir von Ilka ausgeliehen.“
„Zeig’ doch mal!“
Jördis verschränkte die Hände auf dem Rücken und schob die Unterlippe vor.
„Gib ihn besser zurück. Ausleihen bringt nur Ärger. Hol’ lieber deine Jeans aus dem Trockenkeller. Du willst sie doch morgen anziehen. Bügele bitte kurz drüber.“
„Mama! Ich zieh keine gebügelte Jeans an!“ Sie hatte den Ton in der Stimme, den Mädchen ihres Alters bekommen, wenn sie sich bevormundet und beobachtet fühlen.
„Die Diskussion zu dem Thema hatten wir schon. Und die Margeriten muss ich doch selbst nach unten tragen?“
Jördis rannte in den Keller. Mutter schleppte den bauchigen Topf auf die Terrasse, setzte ihn neben dem Oleander und Bambus ab, direkt vor die dicht gewachsene Buchenhecke, die das Grundstück einfriedete. Dahinter stand jemand.
Sie ging um die Hecke herum. Es war der Mann von vorhin.
Jördis kam durch die Kellertür, die in den Garten führte und hörte, wie Mutter fragte: „Haben Sie etwas verloren?“
„Dachte ich auch, aber es fehlt nichts. Auf Wiedersehen, Frau Hauser!“ Er entfernte sich betont langsam.
Jördis konnte sein Gesicht nicht sehen.
„Woher kennt der meinen Namen? Wir haben doch am Tor kein Schild.“ Mutter krempelte die Ärmel ihrer karierten Holzfällerbluse hoch. „Hilf mir beim Tragen.“ Sie wies auf eine Wanne mit Unkraut. Als Jördis anfassen wollte, bemerkte ihre Mutter: „Warum zitterst du so?“
***
Familie Hauser saß in den von Wind und Sonne ausgeblichenen Stühlen auf der Terrasse, schaute in die Wolken und jeder von ihnen schien an etwas anderes zu denken. Die Eltern spürten die Anspannung ihrer Tochter. Sie glaubten in stummer Übereinstimmung, es sei wegen der Reise und lächelten nachsichtig.
Jördis fragte: „Du weißt auch nicht, wer der Mann war?“
Es war Sommer. Es waren Ferien und über Norddeutschland glänzte noch am Abend ein blauer Himmel.
Carla Bernstiel, die Saisonkommissarin, nahm sich zusammen und stellte sich auf ihren Vermieter und dessen karge Äußerungen ein. Die meisten Ostfriesen auf der Insel waren eben so.
„Wie war’s?“
„Gut. Norditalien ist einfach nur schön.“ Carla lächelte und blickte Hermann Lindner überzeugend an.
„Teuer?“
„Geht so. War schon in Ordnung.“
„Wie bei uns?“
„Na, nicht ganz. Ist eben eine besondere Gegend.“
„Da hättet ihr doch gleich hier Urlaub machen können, wenn es teurer war. Bist ja nun sowieso da.“ Der glatzköpfige Hermann blinzelte listig und drehte sein Glas mit dem frischen Pils. Wegen einer Polizistin so lange Sätze zu schrauben, war nicht sein Ding. Nach einem weiteren, tiefen Schluck machte er nicht den Eindruck, als wollte er noch etwas ergänzen. Aber er tat es. Weil er die Frau neben sich mochte. „Ich hatte dir sogar die untere große Wohnung freigehalten.“ Hermann zuckte die Achseln. „Für nichts und wieder nichts.“
„Ich mach’s wieder gut. – Noch eins?“
Carla Bernstiel tippte mit ihrem Glas gegen Hermanns und tat, als ob sie trinken würde. Sie mochte keinen Schnaps. Aber sie wollte mit den Insulanern auskommen.
„Jo.“ Hermann nickte. „Siehst aber nicht aus, als ob es dir leid täte.“ Er schaute den Wirt an, der hinter dem Tresen stand, dieser erwiderte seinen Blick: „Is was, Hermann?“
„Nix ist. Unter Zeugen verspricht uns jetzt Frau Kommissarin Bernstiel aus Aurich, das auch in dieser Saison unsere Insel sauber bleibt. Mehr als geklaute Fahrräder sind nicht drin. Dann hat jeder von euch was zu tun.“
Dass Carla Fremdluft geschnuppert hatte, stieß bei ihrem Kollegen Gerrit Blau und dem wortkargen Pensionsinhaber Hermann Lindner auf Unverständnis.
„Jetzt musst du mit einer winzigen Wohnung zufrieden sein. Noch ein Pils! Zahlt sie. Ist Strafzoll.“
Hermann wies auf Carla und schob dem Wirt sein Glas über den Tresen. „Glaub aber nicht, nur weil du aus Aurich kommst, dass du was Besseres bist.“
Carla nickte, ermahnte sich zur Geduld und wollte gehen.
„Und komm uns nicht mit einem deiner komplizierten Fälle. Die kannst du anderswo lösen. Wenn der Gerrit allein ist, passiert so was auch nicht.“
„Du glaubst an das Gute?“ Carla lächelte.
„Genug“, sagte Hermann. „Krieg’ schon einen Zungenkrampf vom Quatschen. Ich muss ins Bett. Und pinkeln.“
Am besten lasse ich ihn reden, dachte die Kommissarin und unterdrückte ein Gähnen.
„Was in unsere Zuständigkeit fällt, erledigen wir“, wandte sie sich an ihren Kollegen Gerrit Blau. Im dämmrigen Kneipenlicht sah sie aus, als hätte sie tiefe Schatten unter den Augen.
Sie machte gerne Außendienst. Als ihr der Staatsanwalt Dr. Storm sagte, die Polizeistation Langeoog brauche Verstärkung und ob sie für die Saison einspringen wolle, sagte Carla zu. Er hätte sie sowieso geschickt. Das wusste sie und fand, eine Zusage ihrerseits machte sich besser. Zum Glück mochte sie die Insel.
Carla wollte auf der Insel auch ihr Sportabzeichen erneuern. Das war längst fällig. Zeit würde es bei den anfallenden Bagatellfällen schon dafür geben, obwohl ihr ein Auricher Kollege einen Aktenstapel mit dem ‚Unerledigt’-Stempel mitgegeben hatte. „Zum Abarbeiten. Dafür übernehme ich Ihre Sachen.“
Dass sie ihre Sachen abgearbeitet hatte, wussten er und sie. Aber sie sagte nichts dazu. Es würde sich schon eine Gelegenheit ergeben, ihm seine Nickligkeiten auf ihre Weise heimzuzahlen.
***
Sie versuchte in der Ferienwohnung heimisch zu werden und merkte, dass es dauern würde. Aber zum Wohlfühlen war sie nicht hier, obwohl sie fand, in ihrer Freizeit hätte sie ein Recht darauf.
Sie zog einen Tisch zum Fenster, als es klopfte. Ehe sie ‚Herein‘ rufen konnte, wurde die Tür aufgestoßen und Erika rauschte herein. Erika war Hermanns Frau. Sie sorgte für das Wohlbefinden der Gäste im Haus Lindner.
„Warum stellen Sie den Tisch unters Fenster, da hatte ich mir solche Mühe gegeben, Ihnen eine gemütliche Ecke zu schaffen, na ja, die Leute aus der Stadt haben eben andere Ansichten. Macht nix. Mir ist eingefallen, dass der Fernseher noch nicht richtig eingestellt ist. Soll ich mal eben …?“
„Ach, lassen Sie mal.“
„Warum nicht?“ Verblüfft blieb Erika stehen und sah Carla an.
„Ich kann keinen TV-Krimi mehr sehen.“
„Aber heute kommt keiner.“
„Frau Lindner, ich habe mir vorgenommen, während meiner Inselzeit fernsehfrei zu bleiben.“
Erika blieb vor der Kommissarin stehen, räusperte sich, verschränkte die Arme vor ihrer Brust und fragte: „Sind Sie ansonsten mit allem zufrieden?“
„Bin ich. Wirklich. Habe ich Ihrem Hermann schon gesagt.“
„Nur, wenn Ihr Mann kommen will, ich meine, das wird zu eng mit dem Platz.“
Bei dem Satz sprach Erika hektischer. Sie wusste, dass dies so nicht stimmte. Sie wollte nur herausfinden, ob die kräftige hellblonde Kommissarin verheiratet war.
„Er müsste sich was dazu mieten. Ich könnte Ihnen preislich entgegenkommen. Das große Zimmer nebenan ist ab Freitag frei. Das Bad können Sie gemeinsam nutzen.“
Carla reckte sich und musterte Erikas Scheitel, das dichte, graublonde Haar und sagte mit einem feinen Lächeln in der Stimme: „Liebe Frau Lindner, es wird keinen Besuch geben. Außerdem bin ich zum Arbeiten hier, ich habe mir auch einiges mitgebracht, also, Sie müssen sich nicht sorgen, dass es mir in dieser Wohnung zu eng wird.“
Erika verbarg die Enttäuschung hinter ihrem geübten Wirtinnen-Lächeln. „Wir wollen erweitern“, erklärte sie, „hat Hermann schon erzählt? Hinten im Garten, einen Pavillon für ein bis zwei Personen. Das wäre dann nächstes Mal auch etwas für Sie.“
Carla strich behutsam mit dem Zeigefinger über ihre linke Schläfe. Die Kopfschmerzen kamen und gingen.
„Die Göntje vom Polderweg macht Kräutersalben und Heiltinkturen. Nee, nun gucken Sie mal nicht so abschätzig, Göntje kann das, die würde Ihnen sicher helfen. Kopfschmerzen, nicht wahr?“ Erika betrachtete Carla mit Kennermiene.
Carla unterdrückte ein Stöhnen, griff nach einer Schachtel auf der Fensterbank, öffnete sie und drückte eine Tablette heraus.
„Göntje kann das besser! Tabletten sind Gift, glauben Sie es mir.“
„Ja, sicher.“
Carla wollte noch zur Kaapdüne und dem Kollegen helfen, auch wenn es längst schon nach Dienstschluss war. Sie verzog das Gesicht, während Erikas Hand sich auf ihren Arm legte, ihn drückte, was eher einem Quetschen glich.
„Das wird wieder. Lassen Sie einfach den Gerrit das meiste machen. Der hilft gern. Und ich sag Göntje Bescheid.“
„Bitte Frau Lindner! Das ist nett von Ihnen, aber wenn ich Hilfe benötige, melde ich mich.“ Sie flehte zu allen Wassergeistern, dass der ungebetene Besuch endlich verschwand. „Sie wissen ja, ich bin zum Arbeiten hier, es gibt einiges zu tun …“ Sie milderte ihren gereizten Ton und versuchte ein Lächeln. „Wenn ich Schmerzen habe, bin ich nicht immer freundlich.“
Erika kaute auf der Unterlippe. „Ja, das wollte ich gern einmal wissen: Fürchten Sie sich eigentlich vor den Toten? Vor denen, die Sie manchmal finden?“
„Sie meinen, die Ermordeten? Es sind nicht viele. Wirklich nicht. Aber wenn da ein Fall nicht gelöst ist, geistert der oder die Tote in mir herum – und schmerzt.“
„Das sind Ihre Gespenster? Auch mit denen kennt sich Göntje aus. Wenn Sie welche loswerden müssen, ich mein’ ja nur …“
Carla ging zu der kleinen Garderobe neben der Wohnungstür, nahm ihren Wetteranorak und zog ihn an. „Es gibt verschiedene Arten von Gespenstern. Sie haben sicher auch welche.“
„Bei einem Mann wie dem Hermann halten sich keine.“ Sie reichte ihr die Hand: „Auf eine ruhige Saison.“
„Danke. Ich gehe denn mal. Gerrit wartet bestimmt schon.“
Während sie gemeinsam die Ferienwohnung verließen und Carla abschloss, heulten die Sirenen der Feuerwehr.
***
Gerrit Blau schloss zwei Umlaufordner und stempelte ‚Erledigt’ darauf. Ruhestörender Lärm samt Schlägerei und eine Erpressung. Einen weiteren zog er heran, blätterte und dachte: auch das noch, der Enkeltrick. Diese Schockanrufe waren ein Thema, mit dem sich die niedersächsische Polizei immer wieder beschäftigen musste. Auch auf Langeoog. Der Enkeltrick wurde auf der Insel in den vergangenen Monaten fünfzehn Mal registriert, von denen in neun Fällen die Täter erfolgreich waren. Der entstandene Schaden war beträchtlich, finanziell und ganz besonders seelisch bei den Geschädigten.
„Den Enkeltrick muss Carla bearbeiten“, entschied er. „Sie soll die betroffenen Senioren befragen, die sind ja alle von hier. Dass diese Schweinehunde unsere Alten verunsichern und es schaffen, sie auszunehmen …“ Er legte die Unterlagen auf Carlas Schreibtisch. „Und sie wird etwas demütiger durch derartige Aufgaben. Die tritt hier auf, als hätte sie das Sagen. So geht das nicht. Schließlich bin ich derjenige, der ansonsten hier alles stemmt.“ Er strich sich durch das helle kurzgeschnittene Haar, schlug auf seinen flachen Bauch, auf den er sehr stolz war. Denn dieser war noch vor Monaten als ‚Speckrolle‘ von seinem Freunden bezeichnet worden.
Zur gleichen Zeit sagte in Bremen Mira Hauser zu Henning, ihrem Mann: „Heute früh habe ich schon mit unserer Tochter gesprochen. Sie war ganz fröhlich und einmal nicht pampig. Die Mädchen waren schon richtig wach, also sind sie gestern Abend wohl nirgends mehr versackt.“
Herr Hauser warf seiner Frau einen misstrauischen Blick zu.
„Wirklich. Glaub es mir. Es scheint alles wieder in Ordnung zu kommen. Jördis hörte sich längst nicht mehr so bedrückt an wie sonst.“
„Bedrückt? Bis zu ihrer Abreise war sie unausstehlich. Zickig und unverschämt. Aber doch nicht bedrückt. Denk mal daran, wie sie dir letztens die Hühnersuppe vor die Füße geknallt hat, nur weil es keine Spaghetti gab. Meine Güte, was können sechzehnjährige Mädchen giftig sein.“
„Das legt sich. Es war schon mal schlimmer. Ich war früher in dem Alter auch nicht gerade die Netteste.“ Mira Hauser stellte zwei ungleiche Tassen auf den Tisch und goss frisch gebrühten Kaffee ein. „Möchtest du?“
Henning Hauser nippte und verzog den Mund. „Zu stark. Mach ihn doch einmal richtig!“ Gereizt betrachtete er seine Frau und war trotz seines kleinen Ärgers mit ihrem Anblick sehr zufrieden. Er fand, dass sie mit ihren fünfundvierzig Jahren noch immer dieses mädchenhafte hatte, in das er sich einst verliebte. Mädchenhaft, aber nicht devot oder huschig, stellte er fest.
„Sei nicht gleich muffelig. Du vermisst Jördis, das ist es. Lass sie mit Ilka auf Mutters Haus aufpassen, dann haben beide eine kleine Aufgabe und ansonsten sollen sie einfach nur Ferien haben – ohne Eltern, ohne Schule. Und ohne irgendwelche Jungs, die nur Kummer bereiten. Jördis wird erwachsen. Hast du es immer noch nicht bemerkt?“
„Meinst du Liebeskummer? Da steckt doch dieser – wie heißt er denn – dahinter, der … hat sie uns überhaupt den Namen mal genannt?“ Er blickte seine Frau fragend an.
Die lachte. „Sie muss uns nicht bei jedem, mit dem sie sich mal trifft, dessen Familie vorstellen. Ich weiß den Namen auch nicht. Ich weiß nur, dass dieser spezielle Junge ein Klassenkamerad von ihr ist. Er will nach dem Abi eine Schreinerlehre machen.“
„Schreiner? Was soll Jördis mit einem Schreiner?“
„Nun hör aber auf. Sie will ihn doch nicht heiraten! Und wer weiß, vielleicht, ja wahrscheinlich, ist das nach den Ferien wieder vorbei. Ich bin jedenfalls beruhigt, dass unsere Tochter wieder normal klingt. Sogar gekichert hat sie heute früh. Das liegt bestimmt auch an Ilka, die hat einen guten Einfluss auf sie. Die ist schon erwachsener.“
„Als ob Kichern alle Ungereimtheiten auflösen würde! Sie hat Sorgen mit sich rumgeschleppt und das nicht erst seit gestern. Meinst du, die verschwinden gleich, nur weil sie an der Nordsee ist? Von alltäglichen Verliebtheiten kriegt man keine Augenringe, nimmt ab und wird seltsam verschlossen. Aber vielleicht ist das heute so, Kinder kommen in die Pubertät, würden sie am liebsten von ihren Eltern abgenommen bekommen und sind wütend, dass sie da letztendlich allein durchmüssen. Heute klingt Pubertät wie eine Krankheit und die Kids finden das auf schräge Weise lustig und werden depressiv. Wir können uns ja nicht an einem weiteren Kind orientieren, wir haben nur das eine.“
Henning Hauser seufzte. Momentan fand er das Familienleben anstrengend. „Und?“, fragte er. „Hast du endlich mit deiner Mutter vor ihrer Abreise gesprochen? Ich überlege noch immer, was will eine Fünfundsiebzigjährige eigentlich am Bodensee? Meinst du, sie merkt noch, wie schön es dort ist? Sie sieht doch sowieso schlecht. Kennt sie da überhaupt jemanden?“
„Weiß ich nicht. Es war Mutters Entscheidung. Da rede ich ihr nicht rein. Sie muss in dem Ort auch niemanden kennen. Sie kommt doch schnell mit anderen in Kontakt.“
„Eben. Nachher kommt sie zurück, grinst und sagt, dass sie einen alten Knacker aufgetan hat. Zuzutrauen wäre ihr das.“
„Mutter weiß, was sie tut.“
„Das bin ich mir nicht so sicher. Sie soll das Haus auf Langeoog aufgeben, uns endlich überschreiben und sich um einen Platz beim Betreuten Wohnen kümmern. Du wirst sie mal nicht pflegen können. Das weißt du auch. Von Bremen bis zur Insel – viel zu weit. Außerdem arbeiten wir beide. Sobald sie zurück ist, werde ich sie darauf ansprechen – wenn du es schon nicht tust. Oder hast du wegen des Themas Angst vor ihr?“
Mira Hauser gelang es meist, ruhig zu bleiben, je gereizter ihr Mann wurde. Da saß er an dem zerkratzten Esstisch, im dunkelblauen Anzug und einem gestreiften Hemd. Mit zehn Kilo Übergewicht und dunklen kurzen Haaren, in dem sich erste Silberfäden zeigten. Er musste viel arbeiten. Auch heute, obwohl er gestern noch gesagt hatte, er komme schon mittags. Nun war es bereits später Nachmittag. Sie selbst arbeitete in einer Gärtnerei. Sie brauchte die Natur und werkelte gern im Freien. Pflanzen gießen und düngen, ein- und umtopfen, zurückschneiden – das gefiel ihr.
Der Familie ging es gut. Es lauerten weder Zahlungsunfähigkeit noch Schulden, noch Inkasso-Büros auf sie. Ihre Ehe war wie viele andere Ehen auch, es gab keine Liebhaber oder Liebhaberinnen. Also ganz normal. Sie hatten immer noch guten Sex. Bei dem der belanglosen Art träumte sie dann von einem aufregenden und gesichtslosen Mann. Das half. Derzeit hatten sie keinen Sex. Das lag an ihrer Tochter. Jetzt aber, überlegte Frau Hauser, jetzt haben wir endlich Zeit dafür. Zu viel Zärtlichkeit war Frauensache. Davon hielt ihr Mann nicht viel. Aber jetzt, da sie vermutete, dass es Jördis sehr viel besser ging als zuvor, jetzt wollte sie ihn dazu animieren.
Über das Pflaster der Friesenstraße flatterte ein Plakat einem Spaziergänger vor die Füße. Er hob es auf und las: Tagung der Gemeinschaft DIE AUSERWÄHLTEN im Haus der Insel, Saal 1. Herzlich willkommen. Der Eintritt ist frei. (Spenden sind erwünscht)
Vorträge: „Wie gestalte ich mein Leben neu?“ Ab 14 Uhr.
„Wie erreiche ich das absolute Glück?“ 16.30 Uhr
„Gesund für immer? Krankheiten sind heilbar – Spontanheilungen“ Diese Veranstaltung beginnt ab 19.30 Uhr. Voranmeldungen erbeten.
Er faltete das Blatt und steckte es in die Gesäßtasche seiner verwaschenen Jeans, blickte auf seine Hände, auf die Handinnenflächen. Schmutz hatte sich in den Hautrillen festgesetzt. Er zog ein Papiertaschentuch hervor, wischte die Hände daran ab, schulterte seinen Rucksack, bog in das ‚Blumenthal‘ ein und blieb vor einem niedrigen Backsteinhaus stehen. Hier hatte von März bis Oktober die Holzschnitzerin Krista Vogel ihre Sommerwerkstatt. Aus angeschwemmten Hölzern schuf sie skurrile Figuren und verkaufte sie gut.
„Moin.“ Der Mann rückte seine Sonnenbrille gerade, zupfte die dunkelblaue Strickmütze zurecht und entnahm seinem Rucksack ein Stück Holz, das noch mit Rinde versehen war.
„Ich finde, es ist so interessant gebogen, können Sie eine weibliche Figur daraus herstellen? Also, ein wenig nach Vorlage dieses Fotos hier.“
Er zog eine Aufnahme aus der Gesäßtasche und reichte sie Krista. „Das Holz fand ich im Wäldchen, ich sammele so etwas. Ich weiß ja nicht, wie lange Sie dazu brauchen, aber ich möchte es meiner Frau zum Geburtstag schenken. Würde es bis Mitte der nächsten Woche klappen?“
„Das ist schon ein bisschen knapp.“ Krista Vogel hob den Kopf, hielt die Hand vor die Augen, um nicht in die tief stehende Sonne sehen zu müssen. „Geben Sie mal her.“
Er überreichte ihr eine Papiertüte.
Krista entdeckte darin einen massiven Holzkanten, dazu Laub und Erde. Sie schüttete alles neben ihrem Arbeitsplatz aus.
„Na ja.“ Wieder blickte sie den Mann an. „Ist es Ihnen ernst damit?“
„Natürlich.“
„Aus dem Rohling eine Frau? Ansatzweise, mehr geht in der kurzen Zeit nicht.“ Sie stand auf und man sah, dass ihre blaue Schürze schon oft benutzt worden war. „Ich werde es nach dem Entrinden einspannen. Mal schauen. Aber Sie müssen eine Anzahlung machen. Nicht, dass Sie sich mit Ihrer Frau streiten und dann … ist alles schon passiert.“ Krista Vogel zeigte um die Augen feine Fältchen, die von Humor zeugten.
Der Mann trat näher heran und besah sich die ausgestellten Stücke. Aus einem Stück Weidenholz lachte ein Seemann, daneben standen ein Gnom und eine in Arbeit befindliche Möwe. Etliche Holzrosen lagen auf einem Brett zum Verkauf ausgebreitet.
„Fünfzig Euro“, sagte Krista Vogel, „benötige ich als Anzahlung. Dafür haben Sie sicher Verständnis – ohne kann ich keine Aufträge annehmen. Sie müssen wissen, ich bin mit Arbeit reichlich eingedeckt.“
***
Die Tonfolge a-d eines Martinshorns im Frequenzbereich 362-483 Hz, dem Signal für die Nutzung auf dem Land, schrillte laut. Niemand außer Carla schien darauf zu achten. Für die technischen Details des deutschen Folgetonhorns hatte sie sich einmal interessiert und daher einige Details behalten. Die Sirene schrillte. Urlauber, die auf der Barkhausenstraße bummelten, wirkten weder erstaunt noch verzogen sie ihre Mienen. Für sie war alles wie immer und dieses Geräusch war höchstens unangenehm, aber es ging sie nichts an.
Die Polizistin entdeckte weder Rauchwolken noch roch sie Rauch. Sie blieb vor dem Fahrrad-Verleih stehen und betrachtete die neuen ausgestellten Modelle.
Es war ein wunderbarer Sommertag. Das Blau umhüllte die Insel und die Wärme war angenehm, machte leicht und die Gedanken frei. Carla fühlte sich nach den ersten abendlichen Strandspaziergängen wieder mit Langeoog vertraut, konnte sich einfügen wie schon vor ein paar Jahren, als sie hier das erste Mal Saisondienst gemacht hatte. Heute, ganz früh, war sie vor Dienstbeginn schon am Hafen gewesen, hatte sich auf die Böschung gesetzt und die Boote beobachtet, die sich auf dem ruhigen Wasser wiegten. Sie hatte Salz auf den Lippen gespürt und Tang gerochen und ihre Blicke waren den Seevögeln hinterher gefolgt. Sie war froh, einmal wieder hier zu sein und die Ostfriesischen Inseln waren eine ziemlich heile Welt. Ab und an passierte mal etwas. Ganz selten schlimme Dinge. In den letzten zwei Jahren hatte es hier kein Gewaltverbrechen, kein Tötungsdelikt gegeben. Nur das Übliche: Diebstahl, Einbrüche, Körperverletzungen. Und damit konnte sie gut zurechtkommen.
Wieder sah sie sich die Räder an, beobachtete dabei auch die ganz Gründlichen, die jede Schraube genau musterten, ehe sie mieteten.
Hermann Lindner hatte ihr ein altes, aber recht stabiles Damenrad zur Verfügung gestellt. „Ist noch eins von Rabeneick, einer Firma, die bis Ende der fünfziger Jahre in Brackwede bei Bielefeld produziert hat. Dieses Rad atmet Geschichte aus“, hatte er begeistert erzählt, „Fahrradgeschichte, ehe die Firma zum Beispiel von Fichtel & Sachs übernommen wurde. Die Guten werden gefressen, so ist es nun mal. Geh da sorgfältig mit um …“
Hermann liebte alte Räder, war immer im Keller oder hinterm Haus und werkelte, baute auseinander, baute neu zusammen. Carla benutzte das historische Rad kaum, sie befürchtete, dass es gestohlen werden könnte. Außerdem verfügte die Polizeiwache über eigene Räder.
Das Wetter und die klare Luft verführten Carla dazu, sich draußen vor das alteingesessene Café ‚Leiß‘ zu setzen. Hier, mitten im Dorf, konnte sie gemütlich Zeitunglesen, Kaffee oder Tee trinken, leckere Kleinigkeiten essen und das aufkommende Urlaubsgefühl genießen. Aber auf sie warteten der Kollege und die Arbeit. Wenn sie das Sitzen hier wenigstens als Beobachtungsposten erklären könnte. Aber dienstlich gesehen gab es nichts zum Beobachten. Und dann könnte es allzu schnell heißen, die Neue aus Aurich sitzt nur faul herum. Im Prinzip war ihr Gerede egal. Im Prinzip. Aber jetzt waren solche Gedanken nicht nötig. Sie war friedlich gestimmt, blickte rüber zum Café, den Sonnenschirmen und dem Ober, der mit einem beeindruckenden Bart und flinkem Blick vor dem Eingang stand und zu Touristen eilte, die mit den Fingern in die Luft schnippten. Morgen gehe ich da hin und werde hier frühstücken, nahm sie sich vor.
Jetzt aber blickten die Leute wie auf ein geheimes Kommando hinter einem Mann her, der mit einer schnatternden Gans die Straße entlang flanierte. Auch Carla war von dem Anblick in den Bann gezogen. Wahrscheinlich ein besonderer Gag, überlegte sie. Vielleicht gibt es einen neuen Laden mit Gänsen aus Keramik.
Plötzlich schrie sie auf. Eine kleine Frau mit einem faltigen Nussgesicht knallte einen Stock gegen ihr Bein und fragte mit heller Stimme: „Gehen Sie auch zum Feuer? Ich find’s immer wahnsinnig schön und aufregend.“
„Feuer? Hier ist keins.“
„Doch. Ich meine das Sommerfeuer am Schniederdamm. Deshalb ging ja wohl eben die Sirene.“ Die Frau stieß erneut mit dem Stock zu.
„Unterlassen Sie das!“
Sie kicherte albern.
Genervt zog Carla den Dienstausweis aus der Innentasche ihres Anoraks hervor.
Die Frau blickte erst darauf, und kam dann so nah heran, dass Carla ihren Atem riechen konnte. Wieder grinste sie breit. Carla sah braune Zahnstummel. „Was für eine zimperliche Polizistin haben wir denn da, die gleich Aua schreit? Nun stellen Sie sich nicht so an. Und jetzt gehe ich erst mal zur Ausstellung da im Haus der Insel, da macht eine Frau Möwen aus son Knetzeug. Als ob wir nicht genug von den Biestern hätten.“ Die Alte rief „Zack und zack“, und schlug belustigt auf den Hintern eines Mannes in einem blauen Hemd. Der drehte sich um. Aber die Frau marschierte schon, den Stock in der Luft schwenkend, auf der anderen Straßenseite weiter.
„Frechheit! Die Alten können sich wohl alles erlauben!“ Der Mann bebte vor Empörung. Eine Möwe schoss auf ihn zu und entriss ihm ein Papier, das er in der Hand hielt. „Mistviecher! Überall werden die gefüttert.“
Carla drehte sich um, schaute weder zum ‚Leiß‘ noch zu ‚He Tant‘ hinüber, obwohl sie Hunger bekommen hatte. Sie ging weiter. Von der Barkhausenstraße bog sie auf die Hauptstraße und erreichte mit ein paar großen Schritten die Polizeistation an der Kaapdüne. Dort entdeckte sie ihren Kollegen, der neben dem Feuermelder stand und sich mit einer Frau unterhielt. Hätte ich mir bloß die Zeit für einen Kaffee genommen, dachte Carla, Gerrit unterhält sich und ich eile abgehetzt herbei.
Es roch nach Sonne, nach Schweiß, nach Ferien. Der Wasserturm thronte über dem Dorf wie ein Fürstensitz. Ein paar Meter weiter befand sich die Buchhandlung, in der sie ihre Zeitungen kaufte. Carla liebte den Laden. Jeder Zentimeter darin wurde für Bücher, für Zeitschriften, für Schreibwaren genutzt.
Carla beobachtete, wie der Mann, den die Hutzelfrau auf den Hintern geschlagen hatte, die Düne hochging. Wahrscheinlich zum Strand, dachte sie etwas neidisch und fragte ihren Kollegen sofort als sie ihn erreichte, „Riechst du das auch? Ist das jetzt dieses Sommerfeuer oder brennt es wirklich?“
„Sommerfeuer? Wie kommst du darauf? Es gibt aber eine starke Rauchentwicklung im Erdgeschoss eines Hauses an der Willrath-Dresen. Scheint aber nichts Großes zu sein.“
„Welches Haus denn?“
„Die Leitstelle sagte, es ist das von Frau Bracht. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt noch vermietet. Die ist doch längst in Rente.“
„Müssen wir hin?“, fragte Carla und schaute dabei die Frau an, die an der Hauswand lehnte und sie auch ansah. Gerrit kam nicht mehr zu einer Antwort, denn sie stellte sich gleich vor: „Göntje. Einfach nur Göntje“, und reichte Carla die Hand.
„Sie? Sie sind das?“ fragte sie erstaunt. „Ich brauche keine Hexensalben. Hat etwa Frau Lindner …?“
„Sie hat. Und über Kopfschmerzen zu sprechen, ist doch nichts Schlimmes. Ich sehe, wie Sie gehen, also könnten sie daher kommen. Soll ich Ihnen eine Salbe anrühren, aus roter Taubnessel, Liebstöckel, Waldmeister, Schöllkraut …“
„Noch komme ich zurecht, vielen Dank!“
Dass die Kopfschmerzen begonnen hatten, seitdem ihre beste Freundin vor einigen Monaten gestorben war, ging keinen etwas an. Sonst hätte sie sofort weinen müssen.
„Sie brauchen neue Träume und Sie müssen Ihren Kopf von so manch alten Gedanken befreien. Übrigens, Schöllkraut lindert den Schmerz, Efeu …“ Göntje nickte Carla ermutigend zu.
„Glauben Sie das wirklich?“
„Glaube allein reicht nicht. In Ihre Salbe kämen noch Thymian und Salbei …“
„Ich bin doch kein Waldsalat!“
„Wenn Sie so stur bleiben, werden Sie es bald.“
„Lass sie, Göntje“, bat Gerrit und wandte sich an Carla. „Versuchs doch mal. Sie kann viel.“ So wie er das sagte, wirkte es überzeugend. Er war ein Mann, der Überzeugung und Zuverlässigkeit ausstrahlte.
Ein plötzlicher Regenschauer entlud sich. Die Polizisten eilten ins Haus. Göntje winkte ab, als Gerrit sie herein bat. „Ich gehe gern durch den Regen“, und sie fügte hinzu: „Weihrauch brauchen Sie auch – der entspannt, fördert das Glücksempfinden und stärkt die Wahrnehmung.“
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