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Ein Spiel, das nur Verlierer kennt: Der Kriminalroman „Liebeskind“ von Monika Detering jetzt als eBook bei dotbooks. Kommissar Weinbrenner steht vor der schwierigsten Entscheidung seines Karriere: Sein Leben hat sich schlagartig verändert, seit die mysteriöse Jonna Kontakt zu ihm aufgenommen. Verzweifelt hat die junge Frau ihn um Hilfe gebeten, ihre verschwunde Freundin zu findet. Doch Weinbrenner beginnt zu zweifeln: Was verbirgt Jonna vor ihm? Ein erschütterndes Psycho-Spiel beginnt, bei dem sich die Grenze zwischen Opfer und Täter langsam verwischt. Viel zu spät merkt Weinbrenner, wie tief er sich darin verstrickt hat. Kann es noch einen Ausstieg geben? Ein neuer Fall für den melancholischen Kommissar mit dem besonderen Gespür für die Abgründe des Lebens. Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Liebeskind“ von Monika Detering. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 297
Über dieses Buch:
Kommissar Weinbrenner steht vor der schwierigsten Entscheidung seines Karriere: Sein Leben hat sich schlagartig verändert, seit die mysteriöse Jonna Kontakt zu ihm aufgenommen. Verzweifelt hat die junge Frau ihn um Hilfe gebeten, ihre verschwundene Freundin zu findet. Doch Weinbrenner beginnt zu zweifeln: Was verbirgt Jonna vor ihm? Ein erschütterndes Psycho-Spiel beginnt, bei dem sich die Grenze zwischen Opfer und Täter langsam verwischt. Viel zu spät merkt Weinbrenner, wie tief er sich darin verstrickt hat. Kann es noch einen Ausstieg geben?
Über die Autorin:
Monika Detering wollte Schiffsjunge, Malerin oder Schriftstellerin werden. Die letzteren Wünsche waren den Eltern zu unseriös (vom ersten ahnte niemand etwas).
Sie arbeitete viele Jahre als Puppenkünstlerin mit zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland (z.B. Washington, Philadelphia und New York). Durch weitere lange Aufenthalte an der Nordsee ist das Meer ihr Sehnsuchtsort geworden. Sie war als freie Journalistin tätig und entschied sich später ganz für das belletristische Schreiben.
Die Autorin ist verheiratet und hat drei erwachsene Töchter.
Monika Detering ist Mitglied bei den „Mörderischen Schwestern“ und den „42erAutoren“.
Monika Detering veröffentlicht bei dotbooks auch die anderen Romane der Weinbrenner-Trilogie Herzfrauen und Puppenmann sowie auch die eBooks:Bernd, der Sarg und ich Venusbrüstchen
Die Website der Autorin: www.monika-detering.de
Die Autorin im Internet: www.facebook.com/monika.detering, http://schreibhaus.blogspot.de/, http://langeooger-liebestoeter.blogspot.de/
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Neuausgabe April 2017
Dieses Buch erschien bereits 2009 unter dem Titel Der Kommissar und das liebe Kind bei Pendragon
Copyright © der Originalausgabe 2009 by Pendragon Verlag Bielefeld
Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: © Johannes Frick, Neusäß, unter Verwendung eines Bildmotivs von Shutterstock/Kiselev Andrey Valerevich
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-532-7
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Monika Detering
Liebeskind
Weinbrenners dritter Fall
dotbooks.
Es ist niemand im Haus. An den Wänden klebt Luft. Der Himmel wird rot und Finsternis ruft.
»Hier«, sagte Viktor Weinbrenner und blickte nach oben, bis er blinzeln musste. Dann bückte er sich, strich nachdenklich und lange mit den Fingern durch den Sand, als würden sich noch Spuren oder gar Worte von ihr finden. Geheimnisvoll heulte der Wind und sirrte wie ein Klagegesang.
Es sind ungeheure Kräfte, die einen Menschen zwingen können, grausame und schreckliche Dinge zu tun, und man könnte sich fragen, wenn diese oder jene Entscheidung so oder so ausgegangen wäre, wäre es dann nicht geschehen?
Scharf glühte die Sonne durch Rost und Eisen, ehe sie unterging.
Frühjahr 2007
Als er ins Büro kam, sah er ihn sofort. Jemand hatte einen DIN-A4-Umschlag an die Fensterscheibe geklebt. »Werden Briefe neuerdings von der Poststelle dekoriert?« Kriminalhauptkommissar Viktor Weinbrenner übersah das Blinken des Anrufbeantworters und den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch. Ohne zu wissen warum, war er jetzt froh, im Büro allein zu sein. Sein bisheriges war inzwischen durch andere Kollegen besetzt. Es war ihm durch seine ausnehmend lange Sabbatzeit verloren gegangen. Aber er hasste es, das Allerheiligste nicht mehr für sich zu haben.
Ein verfrühtes Geschenk? Kollegenscherz? Sein zweiundfünfzigster Geburtstag stand bevor, erinnerte unangenehm an die eigene Sterblichkeit und er hatte sich in einer melancholischen Stunde gefragt, wann er sein Leben endlich grundlegend ändern würde.
Er zog den Umschlag von der Scheibe. Der Tesastreifen blieb und hinterließ Klebespuren. Sorgfältig tastete Weinbrenner den Brief ab, feste oder weiche Gegenstände fühlte er nicht. Auf der Vorderseite stand in großer Schrift und einzeln geschriebenen Großbuchstaben sein Name, darunter PERSÖNLICH. Er drehte das Kuvert um und fand keinen Absender.
Er zog vier bedruckte Seiten hervor.
Auf der Insel Langeoog im Jahr 1996
»Ich bin allein?«
Das Kind redete die Wand an, als würde sie antworten können. Irgendjemand, irgendetwas musste doch sprechen.
»Ich hätte gern ein Kaninchen. Kaninchen essen ist besser als streicheln. Wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß. Sprich mit mir, ich hör dich nicht, das Entenküken hat ein Rabe geholt, der fette Engel mit den gefalteten Händen ist ins Meer gefallen.«
Die Beine waren durch das reglose Sitzen taub geworden, und Ameisen kribbelten in den Waden. In dem ordentlich hergerichteten Kinderbett durfte es tagsüber weder sitzen noch liegen. »Ich weine gleich«, sagte es mit zitternder Unterlippe, reckte sich und schaute hilflos zum Fenster.
Du hast Glück, hier sitzen zu dürfen, ich muss arbeiten, hast du ein Glück, nörgelte die Erinnerung. Bei den Worten hatte Mama dem Kind in die Wange gekniffen, es danach mit schwimmenden Augen gestreichelt.
»Mama, hier riecht es so gut nach deiner Bluse.« Das Mädchen schnupperte angestrengt. Im Nebenzimmer tickte die Standuhr, unerbittlich und laut. Oder waren es Schritte, die langsam immer näherkamen?
Draußen war Sommer, war es warm und hell, draußen fuhr die bunte Inselbahn ein.
***
Verbote waren bedrohlich wie Hornissenaugen, die Großvater in riesiger Vergrößerung gezeigt hatte. Verbote schienen lebendig, und das Kind klebte auf dem Sofa. Es wäre ja möglich, dass Etwas hinter der Wand hervorkommen und sagen würde: »Komm her zu mir!« Es war alt genug, um zu wissen, was dann geschehen würde. Darüber hatte Mama genügend erzählt.
Es betrachtete einen schillernden Käfer, und auf der Fensterbank blühten Vergissmeinnicht mit tausend blauen Augen.
Das T-Shirt klebte am Rücken, die Haut juckte. Worte krochen an sein Ohr: »Du bleibst sitzen, bis ich wiederkomme. Rühr dich nicht vom Fleck. Sonst holen dich die Geister. Du weißt, in der Dunkelheit, dann sind sie da. Sie werden dich fressen und zerhacken, also sei brav, liebes Kind«, hatte die vertraute Stimme noch gesagt. »Nicht wahr, du bist ein braves Kind? Ich sehe alles. Ich höre alles. Ich rieche deine Lügen schon draußen vor der Tür.«
Die Hand hatte kurz und knapp über das braune Haar gestrichen und einen guten und beruhigenden Geruch nach Seife gehabt..
»Kommst du bald wieder?«, hatte es mit hängenden Schultern gefragt, ohne die Stimme großartig zu heben, damit der hämmernde Puls im Hals es nicht erstickte.
»Mama?« Das Kind krümmte sich in vorauseilender Enttäuschung. »Mama?«
Auf der Stirn bildete sich eine dünne Schicht Schweiß, Kälte und Hitze stiegen in die Achselhöhlen, in den Rachen und verklebten den Mund.
Im Zimmer herrschte brüllende Stille und der Wind zog durch die Fensterritzen. Auf dem grau gesprenkelten Teppichboden tanzten Staubmäuse, an der Wand hing das Bild mit dem Riesenfisch, der zwischen den Dünen hin- und her schwamm. Das Mädchen kniff die Augen zusammen, fühlte den Sand, roch die Hitze des Sommers, schmeckte das Meer und durfte nicht raus.
Es wurde dunkel und das Licht weniger, wurde ein Streifen, der an den Füßen vorbeizog bis hin zu der Tür, die abgeschlossen war. Das Kind bewegte die Hände, die Finger, die Arme, zappelte mit den Beinen, es konnte unmöglich noch länger so bewegungslos sitzen bleiben.
Die Furcht kam mit der Verzweiflung. Es war so weit.
Zitternd griff es nach der Puppe mit dem schweinchenrosa Gesicht, den runden blauen Augen und verfilzten Kunsthaaren. »Sollen wir an den Strand? Es ist so schön draußen«, fragte die Puppe.
»Wir? Wir gehen nirgendwohin. Außerdem wird es dunkel.«
»Sollen wir rufen? Nach der Mama?«
»Weißt du doch. Darf ich nicht. Muss leise sein.«
»Dann bleibst du immer hier sitzen. Dann stirb doch.«
Es sah aus, als würde sich die Puppe schlapplachen. Ärgerlich drückten die Kinderfinger gegen Plastikaugen, bis sie im Puppenkopf kullerten und lustige Geräusche von sich gaben. Es zerrte an den Haaren, die im rosa Hinterkopf eingenäht waren. Die Hände drehten die Arme, zogen, bis sie mit einem schmatzenden Plopp aus dem Gelenk flutschten. »Du bist nicht meine Puppe. Meine ist weich und warm und riecht ganz anders.«
»Es gibt keine andere als mich«, höhnte der Torso.
Unten im Flur schepperte das Telefon.
»Tut es weh?«, fragte das Mädchen streng. »Wasch dir die Hände. Guck mich nicht so an! Bück dich, hast du? Haaast du?«, und schlug mit der flachen Hand auf den Puppenhintern. »Morgen bringe ich das Stöckchen mit. Ich möchte eine Katze, die kann man nicht wie Kaninchen essen.«
Jemand kam ins Haus. Aus dem unscharfen Geraschel wurden Schritte, ganz leichte, beschwingte. Das Kind presste die Lider zusammen. Blut rauschte in den Ohren, innen drin pfiff es und zirpte bis ins Gehirn. Es versuchte, gleichmäßig zu atmen, ein und aus, aus und ein.
Die Wände begannen ihr seltsames Eigenleben, bogen sich, flossen auseinander und Schatten zeichneten darauf fremdartige Figuren. Jetzt würden sie kommen, sie fressen, düstere riesige Möwen.
Das Mädchen presste die Beine zusammen und hielt die Hände davor. Warm floss es durch die Finger, in das dunkelrote Polster und versickerte.
***
Ein Riegel wurde zurückgeschoben, der Schlüssel umgedreht. Das Mädchen spürte den Luftzug und wandte ihm sein Gesicht zu. Die hell gestrichene Tür schlug von alleine zu.
»Brav, bist sitzen geblieben, hast nichts angefasst, hast gewartet? Ich hatte heute dreißig Leute bei der Inselführung. Steh auf, dann weiß ich, ob du wirklich mein artiges Herzliebchen warst.« Die Stimme war leise, schmeichelte wie das Samtkissen im Wohnzimmer und warf alle Worte, ganz besonders Brav, in das Dämmerlicht.
Steif und stumm blieb das Mädchen sitzen. Unter der Nase klebte Rotz. Das dunkle Haar begann sich zu kringeln und die Kopfhaut schwitzte. Mama ist da. Schon wirkte das Zimmer heller.
»Steh auf, du hast doch nicht?«
Es schaute seine Finger an, eine kleine Spinne erklomm den Daumen, das Kind flüsterte: »Jetzt ist die Puppe tot.« Ihm war schwindelig.
»Wie bitte? Was hast du gesagt? Hast du etwa wieder? Hast du?«
»Es tut mir Leid!«, sagte das Mädchen und senkte den Kopf.
»Sehr gut. Du hast gelernt, wenn ich bedenke … Egal.«
»Ich bin – Ich habe –« Für den Bruchteil einer Sekunde flammte ein Bild in dem Mädchen auf, sah eine fröhliche Mutter, die es umarmte und küsste. Vielleicht war es wahr und was nun geschah, nur ein Traum, einer von vielen.
Das Kind blickte zur Wand, die wieder gerade war wie immer, seine Blicke huschten durchs Zimmer, an der Mutter vorbei. »Steh auf. Du bist ein wirklich braves Kind.«
Es holte so tief Luft, wie es konnte. Es kannte das Ritual.
Am Ende kam die Gnade der Besinnungslosigkeit, während die Möwen schrien.
***
Weinbrenner fühlte durch dieses Kind seine eigene Einsamkeit, der er selten entrinnen, die seine Freundin Sibylle Gott nur wenig verringern konnte. Die Hilflosigkeit, die ihm diese Worte vermittelten, packte ihn in seiner privaten Seele, während er das Areal des Polizisten für Momente ausblendete.
Er setzte seine neue Brille auf, als wenn er so besser begreifen würde.
Wer hatte das geschrieben? Warum ihm geschickt? Wer hatte es an das Fenster geklebt? »Fremde haben in diesem Büro keinen Zutritt.« Es sei denn, die Person hätte ganz zufällig ein unbesetztes Büro vorgefunden. Aber sie müsste sich an der Anmeldung vorgestellt haben. Interessant! Langeoog 1996 – das war Jahre her. Die Nennung der Insel berührte ihn, war sie doch eine seiner Lieblingsinseln.
***
Zur selben Zeit humpelte im Bielefelder Ortsteil Quelle Marlene Lachner mit ihren Gehhilfen zum Briefkasten und zog neben Werbesendungen und einer Mitteilung der Krankenkasse einen weiteren Brief heraus. Die Anschrift war in einer stark links geneigten Schrift verfasst. Meine Liebe, las sie, freu dich, es ist bald so weit. Du hast nicht mehr lange zu leben, genieß deine Zeit. Du wirst fast keine Chance haben. Bist weder Mutter, Frau noch gutes Kind. Eine winzige Möglichkeit bleibt dir. Nur – du musst selbst draufkommen.
Darunter stand: Ein Gönner.
Ihr wurde unbehaglich, und die Worte tanzten wirr vor ihren Augen. Drohungen hatte sie noch nie erhalten, so etwas bekamen nur die anderen. Sie hörte das Telefon klingeln, sie hörte die Sanders durch das offene Wohnzimmerfenster, eine Autotür klappte, ihre Welt war wie immer. Wirklich? Erleichtert atmete sie durch, überlegte, ob sie den Brief ihren Nachbarn zeigen solle, dachte, Unsinn, dadurch entstehen fantastische Geschichten, zerknüllte das Papier und warf es entschlossen hinter den Schrank.
***
Während Weinbrenner nachdachte, klopfte es. Einer der Vierwochen-Praktikanten überreichte ihm einen Strauß weißer Tulpen, die aus grünem Einwickelpapier hervorschauten.
»Ich habe noch nicht Geburtstag«, sagte er. »Weiße Tulpen – schrecklich! Sicher ein Irrläufer. Es reicht mir allmählich mit den Vorabgeschenken!«
»Ihr Name steht drauf.«
»Danke«, murmelte Weinbrenner.
Der erste KHK Björn Morek kam mit einer Brötchentüte herein, legte sie neben seinen PC und fuhr ihn hoch. »Blumen? Neue Freundin?«
Während Weinbrenner das Papier abnahm, fiel ihm ein USB-Stick entgegen. »Wir sind doch absolut gegen Viren gesichert?«
Morek nickte. »Ein Anschreiben dabei?«
»Nein.«
***
Sie sahen ein Kurzvideo mit verwackelten Aufnahmen, sie konnten Blumentöpfe erkennen und eine verwischte kleine, kauernde Gestalt, die auf dem Boden lag und um sie herum war etwas, das aussah wie Blut. Natürlich konnte es auch ganz etwas anderes sein. Eine grotesk hohe Stimme sagte:
»Wurde sie getötet? Kinder sind etwas Wunderbares. Ich weiß, dass Ihre Tochter Birte heißt. Herr Weinbrenner, passen Sie gut auf sie auf.«
Ein scharfer Schmerz machte sich in Weinbrenner breit. Seine Tochter Birte hatte ihn im März auf Spiekeroog besucht. Er hatte ihr versprochen, eine Woche Urlaub, nur wir beide. Sie war sehr enttäuscht, weil er mit Sibylle da gewesen war. Im gleichen Hotel, das er für Birte und sich ausgesucht hatte. Die Linde. Er konnte nicht einmal sagen, warum er das getan hatte. Im Nachhinein meinte er entschuldigend, es ginge doch auch zu dritt, wie eine neue Familie. Aber sie hatte ihm ›Verrat‹ entgegengeschleudert. Mit Zwanzig ist man noch sehr emotional, und das Auseinanderbrechen der Familie hatte sie nicht verwunden.
»Herr Weinbrenner, passen Sie gut auf sie auf.« Jetzt war jener Augenblick gekommen, in dem er seine Tochter hören musste. Er hatte sich vorgenommen, sich mehr seinen beiden Töchtern zu widmen. Und die Beziehung zu Sibylle Gott zu festigen. In einem Brief, den er Birte vor Wochen schickte, hatte er seine aktuelle Situation erklärt: Dass er seinen Job immer noch liebte, auch wenn sich die beruflichen Herausforderungen schon lange verändert hatten, auch wenn er keine volle Stelle mehr hatte. Bei Gewalttaten lösten heute das meiste die Techniker, Rätsel waren durchsichtig geworden. Aber Ermittlungen brauchten neben der Technik immer noch Einfühlungsvermögen, Geduld und Intuition. Und das waren seine Stärken, diese Voraussetzungen besaß er. Er hörte zu, er hörte das, was unter den Worten und zwischen ihnen lag, wenn eine Lüge in die nächste nicht mehr passte. Er achtete auf die Körpersprache Verdächtiger und Zeugen. Um Besonderheiten und kriminelle Veranlagungen herauszufiltern, halfen Gespräche, Zeit, die eigentlich selten da war und die er sich trotzdem nahm. Auch die Gewalt in den Familien wuchs, es herrschte große emotionale Kälte; Überforderung und psychische Erkrankungen entfalteten ihre negativen Kräfte bei Müttern und Vätern, bei Kindern und Jugendlichen aufs Rabiateste.
Bei manchen Fällen, wie im letzten Jahr beim Timothius Sauer, konnte er durch sein verändertes Arbeitsmodell den Kollegen Theorien und Tatsachen liefern, für welche diese zu wenig Zeit hatten. Es galt, so viele Informationen wie möglich herauszubekommen, wenig vom Ermittlungsstand preiszugeben und manchmal eben auch die Presse rauszuhalten.
Warum wurde Birtes Name erwähnt? Drohungen gab es immer wieder, er und die Kollegen bekamen wilde Ankündigungen ohne Nennung der Namen und des Ziels, manche Stalker und sehr erregte, aggressive Mitmenschen konnten sich so verhalten. Es war nicht schwer herauszufinden, ob ein Polizist Kinder hatte.
Als Weinbrenner bei seiner Frau Maria, von der er getrennt lebte, anrief, sich nach dem Befinden der gemeinsamen Töchter erkundigte, hatte Maria gefragt, ›sag’s doch gleich, du willst was über Birte wissen? Die ist auf Tauchstation, weil sie ziemlich enttäuscht ist. Die Geschichte mit deiner neuen Freundin war ziemlich unsensibel. Lass die plötzliche Anruferei.‹ Er fragte, ›kann ich nicht zu dir kommen?‹ Maria sagte ›nein‹ und legte auf.
Birtes Ablehnung seit Spiekeroog schmerzte ihn mehr als Krankheit oder eine verloren gegangene Liebe. Man begegnete dann anderen Menschen, die zu lieben man bereit war. Aber Kinder liebte man immer, sie waren Offenbarung, sie waren Glück. Und andere brachten ihre Jungen und Mädchen um. Er dachte, mit zwanzig haben auch meine Töchter ein eigenes Leben. Birte gestattete sich augenblicklich zwei Schnuppersemester an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig. Museologie. Swantje, die Ältere, hatte sich vor vier Monaten für ein Jahr in ein Zen-Kloster in Süddeutschland abgemeldet. Eigentlich war er stolz auf seine Mädchen, dass sie vor der Karriere eigene Wege suchten.
***
Er sah an Morek vorbei, der während eines Telefonats den ständig zu kurz rasierten Nacken betastete. Weinbrenner verlor sich in weiteren Gedanken an Birte, die an einer Arbeit über Ferropolis, über die Entwicklung dieses Projektes auf dem Weg zur ›neuen Stadt‹, schrieb. Im August hatte sie ihr Zimmer in Leipzig gekündigt, eins während der Semesterferien in Gräfenhainichen gemietet, eine Kleinstadt nahe diesem riesigen Freiluftmuseum.
Aus der Schreibtischschublade zog er einen Prospekt hervor.
… Fünf gigantische Bagger und Absetzer stehen zusammengerückt auf einer Halbinsel, nach Beendigung der Flutung, inmitten des neu entstandenen Gremminer Sees. Diese fünf übrig gebliebenen Tagebaugroßgeräte sind technische Denkmäler und bilden gleichzeitig ein begeh- und erlebbares Industriemuseum.
Weinbrenner googelte Ferropolis, klickte sich durch Informationen, bis ihn die Frage Moreks: »Was machen wir mit dem Video?«, in die Realität zurückholte.
»Vorläufig in die Ablage? Hier, lies mal«, sagte er und reichte Morek den Brief. »Wahrscheinlich geht es dabei um ein misshandeltes Kind. Es könnte allerdings auch ein Buchauszug sein. Marketingleute lassen sich fast jeden Unsinn einfallen. Ich habe anderes zu tun.« Weinbrenner überlegte. »Frage ist: Will uns da jemand …«
»… etwas mitteilen? Gib her. Wir werden sehen.«
»Ich muss Birte anrufen. Nicht, dass sie von irgendwelchen Spinnern belästigt wird, sollte der Schreiber oder die Schreiberin sie tatsächlich kennen.«
Auf dem Handy und der Festnetznummer antwortete eine freundliche Automatenstimme. Weinbrenners athletische Einmeterneunzig schienen zu schrumpfen, und er musste widerwillig akzeptieren, dass Töchter eben nicht immer zu Hause waren.
»Guck nicht, als hättest du schreckliche Visionen«, sagte Morek und sah den Freund an. »Birte ist wahrscheinlich mit einem Freund in der Kiste, stell dich nicht so an.«
»Ein Sechsjähriger wird von seinen Eltern vermisst. Warum steigt der Junge drei Haltestellen eher aus dem Bus? Ich weiß ja, dass Kinder neugierig sind und nicht einmal kleine Abenteuer sind ihnen heute noch gestattet. Er ist am Obersee ausgestiegen. Schlimm, dass Gewalt mehr und mehr an Macht gewinnt.« Weinbrenner drehte den PC so, dass Morek den aufgerufenen Artikel sehen konnte.
»Schon gesehen. Der Junge heißt Lukas Schreiber und wird von der Mutter seit drei Stunden vermisst. Hast du Birte erreicht?«
»Weil die Angst wächst, nimmt auch die Gewalt zu. Ich muss für die Teambesprechung das Protokoll wegen dieses Mordanschlags in der Sparkassenfiliale fertig machen. Der Verdächtige sagt, er sei es nicht gewesen. Immer dasselbe. Niemand war es.« Weinbrenner begann, unruhig das Zimmer zu durchschreiten. »Manchmal nennen sich Angst und Gewalt auch Liebe.«
»Du kannst froh sein, manch eigene Vorstellung nicht ausgelebt zu haben. Wie schnell schrappt man an schlimmen Taten vorbei, wie schnell wird der ansonsten Harmlose zur Bestie. Verändere die Umstände und die Bedingungen, denk an das Milgram Experiment … Menschen waren schon immer schlecht. Ich habe nicht die Absicht, länger darüber zu grübeln. Es würde mich kaputtmachen.« Moreks Blicke drifteten durchs Büro.
»Um ihrem Elend zu entrinnen, träumen so viele von einem Leben nach dem Tod und glauben daran. Warum? Für immer sorgenfrei Blümchen im Himmel pflücken. Und auf Erden morden. Gibt’s für das Böse auch ein Leben nach dem Tod?«
»Du machst mich depressiv.« Morek räusperte sich. »Bist du Esoterikern mit Kräutertees in die Hände gefallen? Einer Neuen mit Wallehaaren und gesunden Sandalen? Deine Tonlage ist so erregend wie die eines gelangweilten Pfarrers. Muss ich mir jetzt Sorgen um dein Seelenleben machen?« Schon guckte er wie jemand, der am Himmel gerade eine kilometerlange Reihe Geistlicher in dunklen Soutanen gesehen hat. »Ich brauch nur ein Leben vor dem Tod. Hast du meinen Marzipankringel gegessen?«
***
Auf dem Sims saßen Tauben und ihre äußerst wachsamen Pupillen glänzten hart. Lärm stieg hoch, nachdem Morek das Fenster geöffnet hatte und die Tiere verscheuchte, die sich das nicht gefallen ließen und auf ihren Stammplatz zurückflogen. Sie beobachteten ebenso wie die Polizisten, wie unten blauweiße, grob gestrickte Schals um fast jeden Hals flatterten. Massenausflug der Väter und Söhne, der Frauen und Töchter, Lemminge im schöpferischen Rausch der längst im Kopf geschossenen Tore für die eigene Mannschaft. ›Arminia‹ hatte ein Spiel nachzuholen. Die Seitenstreifen waren zugeparkt, selbst vor, neben und hinter dem Präsidium versuchten die Fans, ihre Autos abzustellen.
»Macht gewinnt die Gewalt nur über den, der das Böse reinlässt.« Morek schloss das Fenster. »Was soll uns das Video sagen? Dieser Brief geht mir nicht aus dem Kopf. Er tastete mit der Zunge nach einem entzündeten Backenzahn. »Wir müssten in Bielefeld auch ein Dezernat für Delikte an Schutzbefohlenen haben. Wie in Berlin.«
Ein Brummer kreiste durch den Raum und ließ sich mit trägem Summen auf Moreks Ohr nieder. »Das Spiel gegen Hertha würde ich gern sehen. Was für Gedanken an einem Mittwoch«, sinnierte er und fragte mit ironischem Unterton nach: »Es ist Vollmond und wir haben milde Temperaturen, ist es das, was dich umtreibt? Du solltest mehr arbeiten. Wir haben genug davon.« Er nahm Umlaufordner hoch und knallte sie Weinbrenner vor die Füße.
»Manche Tage zwingen einen zu solchen Überlegungen. Hast du so was nie?« Weinbrenners Stimme war jung geblieben, klang nach Lachen und charmanter Melancholie, nach biegsamer Härte und hatte einen ›verflucht erotischen Touch‹, wie Sibylle Gott sagte. Vielleicht gerade durch seine schiefe Nase, die nach einem Unfall nicht mehr richtig zusammengewachsen war, fielen seine topasfarbenen, großen Augen auf. Die melangegrauen, kurzen Haare passten gut zu Weinbrenners schmalem Gesicht, seine Größe war immer noch eindrucksvoll, er hatte weder Bauch noch sonst Fettansätze, obwohl er wenig Sport trieb. Bartschatten ließ ihn besonders dynamisch aussehen – jedenfalls fand er das. Er schaute sich jeden, und besonders Frauen neugierig und mit verstecktem Lächeln ausgiebig an. Er begehrte sie besonders, wenn sie sich ihm entzogen. Tägliche Nähe war für Weinbrenner schwer zu ertragen, obwohl er sie sich wünschte.
»Manchmal kommt heillose Wut hoch, da könnte man einen mit harten Bandagen zum Geständnis zwingen. Wenn ich an diesen Triebtäter in Dresden denke! Zweijährige werden tot aufgefunden, Babys in die Mikrowelle oder in den Kühlschrank gesteckt … Kinder verschwinden und man findet so viele nie wieder.«
Morek stand auf. »Weißt du, dass wir im letzten Jahr allein im Regierungsbezirk Detmold dreiundvierzig schwere Kindesmisshandlungen hatten?« Er schüttelte den Kopf.
»Einige haben Glück und überleben. Aber wie kommen die Opfer mit dem Weiterleben klar? Wer kümmert sich um sie? Wie hätte ich gehandelt, wenn jemand meinem Kind oder meiner Frau …« Morek ballte die Hände zu Fäusten. »Man muss früh anfangen. Was einem Achtjährige schon an den Kopf schmeißen … Wenigstens sind die Kinder meiner Schwester großartig, besuchen die richtige Schule, haben die richtigen Eltern. Bei ihnen möchte ich selbst Kind sein. Die wohnen ganz in deiner Nähe, in einem schnuckeligen Reihenhaus.«
»Deine Ehe wieder paletti?« Weinbrenner dachte, ich brauche einen Kaffee und noch einen Kringel, und sah sich suchend um.
»Ich weiß nicht«, sagte Morek. »Sie kann sich nicht entscheiden.« Während er das sagte, fühlte er sich elend. »Erst wenn jemand fort ist, ahnt man, wie sehr man den anderen noch liebt.«
»Gebt euch Zeit.« Weinbrenner strich durch seine Haare.
»Jeder von uns befindet sich im Balanceakt zwischen Gut und Böse. Sagst du doch selbst.«
»Auch meine Frau? Oder ich? Wir vom KK 11 sind für Tötungsdelikte, Todes- und Brandermittlungen, Vermisste und Sexualstraftaten zuständig, wir …«
»… wollen aufklären und alles wieder zurechtrücken, aber nie haben wir Zeit, ausführlich mit den Tätern und Opfern zu reden«, sagte Morek, setzte sich vor den Bildschirm und las:
›ZEIT online, 6.11.2006. Erschreckender Befund: In Deutschland sterben wöchentlich zwei Kinder an den Folgen von Gewalt und Misshandlungen und die daraus resultierenden Folgen sind fatal. Bundesministerin von der Leyen plant Frühwarnsysteme gegen diese Gewalt.
Die Ergebnisse der ersten weltweiten Studie über Gewalt gegen Kinder, die am Freitag in Berlin vorgestellt wurde, sind alarmierend. …‹
Er drehte den Bildschirm um. »Gewalttaten steigen seit zehn Jahren landesweit an … Bei uns hatten wir im letzten Jahr mit neunhundertdreiundzwanzig Fällen traurige Spitzenwerte. Augenblicklich haben wir noch einen erpresserischen Menschenraub, eine versuchte Vergewaltigung, einen Raub mit Todesfolge zu bieten … Nun ist Schluss mit dem Gegrübel. Außerdem wissen wir das alles.«
»Übrigens, Birte ist in Ferropolis, sie ist total begeistert von diesen Tagebaubaggern, sagte Maria. Ich habe sie noch mal angerufen.«
»Na siehst du. Wenn du mit Birte sprichst, grüß sie.«
Weinbrenners Apparat läutete. »Hier spricht Lachner. Marlene Lachner. Ich habe Drohbriefe bekommen …«
***
Nach fünf Stunden war Lukas Schreiber immer noch nicht aufgetaucht. Weinbrenner stand mit Morek zusammen. »Könnte es sein, dass dieses Video etwas mit diesem Jungen zu tun hat?«
»Dann wäre dieser Brief nicht dabei gewesen. Oder?«
Während der Zeiger der runden weißen Wanduhr lauter und lauter tickte, fast aus dem Gehäuse zu springen schien, sagte Dr. Wilhelm Fromuth freundlich: »Sie sollten nicht allein sein. Das sind Sie nicht mehr gewöhnt. Lassen Sie doch fürs Erste eine Freundin bei sich wohnen. Das würde Ihnen den Übergang sehr erleichtern. Vergraben Sie sich nicht, nehmen Sie sich immer etwas Besonderes vor. Das kann zum Beispiel einfach ein Gang in die Stadt sein. Und dann schaffen Sie es auch. Sie sind stark, Jonna, das wissen Sie doch?«
»Sie können Mädchen wie mich nie begreifen, auch wenn Sie das glauben«, erwiderte sie. »Außerdem bin ich kein Umgang für Freundinnen da draußen. Kapseln Sie sich nicht ab, sagen Sie, ich bin eingekapselt, verstehen Sie es immer noch nicht? In diesem Haus habe ich eine Freundin, die Silke. Sie hat mir einiges über Leute erzählt, die ich gern kennen lernen möchte. Dummerweise bleibt Silke noch lange bei Ihnen. Wie schade. Die Besten werden eingesperrt.« Jonnas Kopfschmerzen pochten hinter den Schläfen und trieben ihr Tränen in die Augen. Die Konturen des Arztes wurden unscharf. »Ich werde Sie nicht mehr belästigen«, sagte sie.
»Unsinn. Sie müssen nur noch packen und sollten sich heute von allen verabschieden«, sagte er, und wischte sich einen Brotkrümel aus dem Mundwinkel. Den hatte er immer, der nette Doktor Fromuth. Er wusste, bisher kannte sie niemanden, bis auf die Patienten der Klinik in Bielefeld. Sie hatten darüber gesprochen, dass sie die Schule zu Ende bringen wollte. Ihre Prognose schien dem Arzt günstig, außerdem war sie ein intelligentes Mädchen. Als in seinem Apartmenthaus im Ortsteil Schildesche eine Wohnung frei wurde, hatte er sie ihr sofort angeboten. Niemand wurde entlassen, der draußen keine Bleibe hatte.
»Sie werden sich ja kümmern, Sie sind mein Kümmerer, immer gewesen. Werden Sie mich auch zu meiner Wohnung fahren?« Dabei senkte sie ihren Blick und verkreuzte die Arme. Sie machte einen unschuldigen Eindruck, hinterließ ihm zum Ende der Behandlung ihr unglaubliches Lächeln. Sie war eine der wenigen Patientinnen, die weder ihn noch die anderen männlichen Ärzte angehimmelt hatte.
»Soll ich Ihnen zum Abschied die Karten legen?«, fragte sie und zwinkerte vertraulich. »Ich habe schon gemischt. Sehen Sie – hier, der Henker. Es wird etwas passieren. Ich bin wieder da und schon wieder verschwunden. Was haben Sie aus mir gemacht? Eine neue Person? Hoffentlich wirke ich authentisch in der wahren Welt. Es ist ein schreckliches Gefühl, nicht zu wissen, ob ich es selbst bin, die da vor Ihnen steht.«
Der Arzt und Psychotherapeut tätschelte Jonna etwas unbeholfen die Schulter. Sie lächelte ihn unergründlich an und lächelte immer noch, als sie schon längst allein in diesem zugigen Klinikflur stand und die tiefstehende Sonne Schatten sandte.
***
Sie redeten über sie. Natürlich. Sonst hätten Ärzte und Schwestern nicht so wissend geguckt. Überaus gelassen hatte sie die Reisetasche und den Koffer vom Schrank gezogen, die längst zugestaubt waren.
Am allerletzten Tag guckte der Klinikdirektor noch einmal prüfend herein, was sie irritierte. Noch mehr war sie irritiert, als er freundlich nickte und ihr sagte, dass die Behandlung doch recht erfolgreich gewesen sei, die Therapie gut angeschlagen habe. Dabei hatte er ihr ein Buch geschenkt und die Hände getätschelt. »Sie haben doch viel über sich gelernt.«
Seine Aufmerksamkeit gab sie ihm auf ihre eigene Art zurück, auf diese angenehme, schüchterne Weise. Dabei dachte sie, verpiss dich, Spritzenwichser. Nun brauche ich dir nicht mehr über meine sexuellen Vorlieben berichten, damit du meine Seele recyceln kannst. Ich habe keine. Auf jeden Fall weiß ich jetzt, dass die sexuellen Muster der Menschen zwischen acht und neun Jahren geprägt werden. Das ist doch was, da kann ich was mit anfangen. Das brauche ich in meinem neuen Leben.
»Auf Wiedersehen.« Sie lachte laut, und das Lachen hörte sich wie ein lang gezogener Seufzer an. Ich habe Angst. Aber wenn man lacht, braucht man nicht zu reden und nichts zuzugeben. Ihre Furcht vor draußen begann schon, es sich gemütlich zu machen.
Auch der dicke Oberarzt äußerte sich erfreut über gewisse positive Veränderungen bei ihr. Er mahnte sie, die Tabletten auch regelmäßig zu nehmen. »Acht Wochen und dann sehen wir weiter! Sie können jederzeit zu uns kommen, wenn etwas Ungewöhnliches geschieht, Sie nicht zurechtkommen …«
»Das kenne ich schon«, hatte sie geantwortet, »und dann noch mal acht Wochen? Und danach bin ich wieder hier drinnen, ein Jahr, zwei Jahre, bei Ihnen, in ihren Patschhändchen. Aber natürlich, Sie haben wie immer Recht. Soll ich Ihnen auch wie dem Doktor Fromuth die Karten legen?« Deine Tabletten werde ich nicht nehmen. Die machen nur fett und blöd.
»Sie haben Angst? Ich weiß. Die haben viele, die uns verlassen. Ist auch nicht einfach, wieder von vorn anzufangen. Angst kann einen zu den seltsamsten Reaktionen verleiten. Aber es ist keine Angst mehr nötig. Leben Sie jetzt. Sie sind jung. Das Leben ist so schnell vorbei. Das wird alles wieder.«
***
Sie saß auf dem gepolsterten Liegestuhl, der auch gleichzeitig ihr Bett war. Sie schaute sich ein ausgeschnittenes Zeitungsfoto und den dazugehörenden Artikel an, sie betrachtete die Aufnahme so intensiv, dass es ihr vorkam, als säße der Mann darauf neben ihr. Sie hatte die Ausgabe des Westfalen-Blattes in der Klinik gefunden. Als sie das Foto des Mannes sah, adoptierte sie ihn, sie brauchte jemanden, mit dem sie in ihrer Wohnung sprechen konnte. Längst glaubte sie, dieser attraktive ältere Mann schaue nur sie alleine an.
»Da bist du ja. Bald werden wir eine kleine, glückliche Familie sein. Ich mach das schon. Ganz früher behauptete meine Mutter, ich hätte keinen Vater. Ihr Lover hat mir später einiges dazu gesagt. Willst du hören, was noch? Nein? Lieber nicht? Später? Dann eben später.«
Sie versuchte, sich auf seine Fragen und ihre Antworten einzustellen. Sie spielte verschiedene Szenen durch, bereitete sich wie auf die Premiere eines Kammerspiels vor. Damit konnte sie ihrer Leere, diesem unersättlichen Tier, begegnen und es füttern. Sie schrieb Pläne und Gedanken auf, auch solche, die über diese Szenen hinausgingen, Pläne mit diesem noch unbekannten Mann. Eine große Erregung packte sie. Sie wusste, wie er hieß, das stand ja alles in dem Artikel. Noch aber traute sie sich nicht, seinen Namen auszusprechen, noch war er nur ›Du‹.
Sie beendete das ›Gespräch‹, legte Bild und Text auf die Fensterbank, packte einen Stein darauf, damit nichts wegwehte.
***
Später blätterte sie im Telefonbuch, suchte nach einem Namen, der ihr in den letzten Wochen immer wieder durch den Kopf gegangen war, aber nie hatte sie sich getraut, die Auskunft danach zu fragen. Sie hätte ins Internet gehen können. Die Frage hätte sie längst klären können, einen Patienten-PC hatte es auf der Station ja gegeben. Als Jonna tatsächlich auf den Namen stieß, ihn laut buchstabierte, um zu glauben, was sie sah, wurde ihr schwindelig. Es gab schließlich genügend Menschen, die denselben Vor- und Nachnamen trugen.
Erschrocken klappte sie das Buch zu, schlug es wieder auf, suchte erneut und tastete jeden Buchstaben des Namens ab. Es war wie ein Streicheln. Dann erst entdeckte sie die Adresse, in der Kombination lasen sich Name und Straße vertraut und bedrohlich.
Als der Anrufbeantworter sich einschaltete, legte Jonna auf. Gesucht und gefunden. Warum klingt ihre Ansage so heiter und voller Lebensfreude?
Sie konnte keine Nachricht hinterlassen, die Zunge klebte unter dem Gaumen, der Mund war ausgedörrt.
Jonna fühlte sich schwach vor Hunger und wurde stark vor Liebe, Sehnsucht und Hass.
***
In der zwanzig Quadratmeter großen Einraumwohnung konnte sie sich frei bewegen, niemand schränkte sie ein oder beguckte sie, wie es noch vor wenigen Tagen in dem Zweibettzimmer gewesen war. Sie konnte auf und ab gehen, stundenlang und immer wieder. Der Boden war hart, war irgend so ein Kunststoffzeug. Wenn sie barfuß lief, fühlte sie unter ihren Füßen Realität.
Als erstes hatte sie ihren Namen in das Klingelschild geschoben. Jonna Lund. In der Wohnung gab es eine eingebaute Küchenzeile mit Minikühlschrank. Die Kacheln waren in einem kränklichgrünen Farbton. Jonna hatte sich vorgenommen, sie zu streichen. Die Kartons mit ihren Sachen standen im Bad, der Hausmeister hatte sie ihr raufgeschafft. Die ersten sieben Nächte hatte sie tief und angenehm geschlafen, auf das Mittel vom Fromuth war eben Verlass, sie war glücklich gewesen, dass morgens niemand mehr an ihr vorbeischlurfte. Es war egal, wann sie aufstand, egal, wann sie aufräumte, egal, was sie dachte. Großartig begann ihr neues Leben.
Nach dem Abitur würde sie studieren. Nichts anderes als Psychologie kam in Frage. Aber das Projekt hatte noch Zeit. Erst suchen und finden.
Jonna nahm ihre Tabletten ein, hatte Zucker und Kaffee, Doseneintopf, Brot und Schokolade gekauft. Sie öffnete den Kühlschrank, griff nach der Milchtüte, hielt sie an die Wange, sie war angenehm kühl. Morgens war es früh hell, sie setzte sich mit einem Becher dampfenden Kaffee in die Ecke, die sie ›Wohnzimmer‹ nannte, guckte aus dem Fenster und sah Leute zur Arbeit, in die Schule, in ihr Leben gehen. Es war, als strahle etwas davon auf sie zurück, diese Stunde gab ihr ein starkes Gefühl eigener Aktivität.
Im Haus war ihr allerdings noch niemand von den anderen Mietern begegnet. Gleich am ersten Tag war sie mit dem Rad losgefahren. Rund um Stiftskirche und Marktplatz waren Puppenstuben-Fachwerkhäuser, lagen dicht aneinandergedrängt, waren gemütlich, waren eine Märchenidylle. Ganz in der Nähe wohnte sie. ›Beckhausstraße‹. Auf ihren Ausflügen fand sie Häuser mit Gärten, in denen Kinder spielten. Sie schaute zu. Sie träumte von Kindern und es war zu schön gedacht, wenn wenigstens eins davon bei ihr gewesen wäre.
***
Gestern hatte sie Kacheln abgewaschen, die über der Spüle und die im Bad, hatte jede Fuge gescheuert, danach das Telefonbuch aufgeschlagen, erwartungsvoll nach dem Namen gesucht, ihn wieder gefunden und konnte schlafen.
Schon klebte an der Flurtür ein Hochglanzabzug von ihr selbst, daneben der Zeitungsartikel mit dem Foto dieses Mannes.
Jeden Tag, wenn die Dämmerung begann, öffnete sie die Tür zum Bad und machte die einzige Lampe der Wohnung an, schaute geistesabwesend nach draußen, bis die Konturen aller, die vorbeikamen, nur noch gesichtslose Schatten waren.
Quelle liegt südlich am Hauptkamm des Teutoburger Waldes. Durch den Heimatverein, den er gelegentlich sponserte, wusste Weinbrenner, dass schon um 1036 der Meyerhof Borckhusen den Ort das erste Mal nannte. 1221 wurde die erste Erwähnung Quelles unter dem Namen Cawelle in einer Schenkungsurkunde festgehalten.
Während er mit Sibylle Gott über den verstopften Ostwestfalendamm fuhr, wurde der Himmel dunkler, und am Teutoburger Wald kochten die Hasen Kaffee, wie ihre Mutter gesagt hätte, wenn der Berg vom Nebel eingehüllt wurde.
Er wollte die Angelegenheit zügig angehen, glaubte, sie durch dieses Gespräch klären zu können. Es war Mai, seit Tagen schon so warm wie im Juli. Er dachte an seinen Geburtstag, den er auf Langeoog oder vielleicht auch auf Spiekeroog feiern wollte. Auf diesen Inseln fand er seine ganz persönliche Ruhe, konnte Spaziergänge am Strand machen, Wünsche klären, ohne Bielefeld und den KK 11 im Nacken.
»Warum machst du die Befragung nicht mit deinem Kollegen?«, fragte Sibylle. »Ich warte doch nicht wie Klein Erna draußen. Was ist denn mit der Frau?«