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Du sollst Dir kein Bildnis machen: Der Kriminalroman „Puppenmann“ von Monika Detering jetzt als eBook bei dotbooks. Eigentlich wollte die 65-jährige Eva-Maria Sauer nur ein paar Tage eine Bekannte besuchen. Doch nun ist sie spurlos verschwunden. Schnell gerät ihr Sohn ins Visier der Polizei: Der „Puppenmann“ ist ein Verdächtiger wie aus dem Bilderbuch – ungepflegt, menschenscheu und immer umgeben von den leblosen Figuren, die er in seiner Werkstatt zu Dutzenden anfertigt. Kommissar Weinbrenner glaubt nicht an eine einfache Erklärung. Er beginnt zu ermitteln und stößt auf ein düsteres Geheimnis aus der Vergangenheit… Ein neuer Fall für den melancholischen Kommissar mit dem besonderen Gespür für die Abgründe des Lebens. Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Puppenmann“ von Monika Detering. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 302
Über dieses Buch:
Eigentlich wollte die 65-jährige Eva-Maria Sauer nur ein paar Tage eine Bekannte besuchen. Doch nun ist sie spurlos verschwunden. Schnell gerät ihr Sohn ins Visier der Polizei: Der „Puppenmann“ ist ein Verdächtiger wie aus dem Bilderbuch – ungepflegt, menschenscheu und immer umgeben von den leblosen Figuren, die er in seiner Werkstatt zu Dutzenden anfertigt. Kommissar Weinbrenner glaubt nicht an eine einfache Erklärung. Er beginnt zu ermitteln und stößt auf ein düsteres Geheimnis aus der Vergangenheit…
Über die Autorin:
Monika Detering wollte Schiffsjunge, Malerin oder Schriftstellerin werden. Die letzteren Wünsche waren den Eltern zu unseriös (vom ersten ahnte niemand etwas).
Sie arbeitete viele Jahre als Puppenkünstlerin mit zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland (z.B. Washington, Philadelphia und New York). Durch weitere lange Aufenthalte an der Nordsee ist das Meer ihr Sehnsuchtsort geworden. Sie war als freie Journalistin tätig und entschied sich später ganz für das belletristische Schreiben.
Die Autorin ist verheiratet und hat drei erwachsene Töchter.
Monika Detering ist Mitglied bei den „Mörderischen Schwestern“ und den „42erAutoren“.
Monika Detering veröffentlicht bei dotbooks auch die anderen Romane der Weinbrenner-Trilogie Herzfrauen und Liebeskind. sowie auch die eBooks:Bernd, der Sarg und ich Venusbrüstchen
Die Website der Autorin: www.monika-detering.de
Die Autorin im Internet: www.facebook.com/monika.detering, http://schreibhaus.blogspot.de/, http://langeooger-liebestoeter.blogspot.de/
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Neuausgabe März 2016
Copyright © der Originalausgabe 2007 – Gmeiner-Verlag GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: © Johannes Frick, Neusäß, unter Verwendung eines Bildmotivs von Shutterstock/dimitris_k
E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95824-531-0
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Monika Detering
Puppenmann
Weinbrenners zweiter Fall
dotbooks.
Die Fähigkeit zur Selbsttäuschung ist die herausragendste Errungenschaft unseres Wesens.
Aldous Huxley,
Eva-Maria zerrte den Koffer die steilen Stufen hinunter. Keuchend wuchtete sie das Teil in den Flur. Sie kam an der offenen Küchentür vorbei, fader Geruch zog ihr in die Nase, der Raum schwitzte fischigen Schweiß und zersetzten Käse aus. Sie knallte die Tür zu. »Elende Kocherei. Muss er ständig etwas Absurdes zubereiten?« Eva-Maria holte ein gebügeltes Taschentuch hervor und wischte sich feinen Schweiß von der Stirn.
Sie stand reglos und lauschte. Sie wusste genau, dass er ihre Worte gehört hatte, dass er im Keller ebenso lauschte. Sie lächelte so ein halbes Lächeln, als wüsste sie etwas, dass er nicht wusste. Sie lächelte mit Wärme und Zuneigung und Sorge. Eva-Maria ging in den Garten, und die tiefblaue Dunkelheit vermittelte ihr eine Ahnung von Freiheit. Der zunehmende Mond schob sich vorbei. Beschwingt tänzelte sie an den Rosen und Nachtkerzen vorbei und fasste sich in die Taille. Auch nach so vielen Jahren hatte ihr Körper noch den sanften Schwung einer Violine. Auf der Straße lachten Radfahrer, wahrscheinlich Studenten, in dieser Gegend wohnten viele. Ein Hund bellte. Der Geruch des feuchten Grases vermischte sich mit dem der Blumen, destillierte sich in herber Klarheit und versprach einen schönen Tag. Eva-Maria war sicher, morgen würde es ein besonders schöner Tag werden.
Sie stolperte, bückte sich, tastete und schimpfte laut: »Timmi! Nun trockne deine Gebeine einmal woanders!« Als sie sich umdrehte, bemerkte sie, dass die Lampen im Keller brannten. Eva-Maria zog die Sandalen aus und schlüpfte in ihre Hausschuhe, die neben dem Eingang standen. Nachtfalter flatterten unter einem weißen Glasschirm, müdes Licht machte die Haut fahl. Sie ging zur Treppe und rief in den Keller hinunter: »Ich geh jetzt schlafen. Gute Nacht.« Schon hörte sie seine schlurfenden Schritte. Ein greller Lichtstrahl blendete. »Lass den Unsinn mit der Taschenlampe!« In der plötzlichen Helligkeit kniff sie ärgerlich die Augen zusammen. Timothius kam näher, sie sah sein weiß bestäubtes Gesicht. »Setz eine Schutzmaske auf, siehst ja wie ein gepuderter Geist aus.« Sie schüttelte den Kopf. »Tstss. Außerdem trägst du wieder den ganzen Tonstaub durchs Haus. Stell bitte den Wecker auf sechs, du weißt ...« Eva-Maria war enttäuscht, weil keine Antwort kam, ging abrupt weiter und sah nicht mehr das äußerst unzufriedene Lächeln ihres Sohnes.
Sagt mir am letzten Abend nicht einmal gute Nacht.
Ein Gefühl der Endgültigkeit überfiel sie. Was von nun an ablaufen würde, konnte sie weder vorhersehen noch durchschauen. Später, viel später erst würde sie begreifen, was und wie sich alles abgespielt hatte, worauf eine in früheren Jahren getroffene Entscheidung hinausgelaufen war. Vielleicht.
***
Um fünf Uhr wachte Timothius auf. Er warf das Bettzeug zurück, tappte zum Stuhl, fand eine Jacke, die er über den Schlafanzug zog. Draußen erwartete ihn prickelnde Morgenluft, Wind raschelte in den Blättern. Mit seinen Gedanken um diese Zeit alleine zu sein, war schlimm für ihn, denn in den Stunden des frühen Tages bekamen sie ein besonderes Eigenleben. Er trampelte durch Mutters Lavendelbüsche, verließ das Grundstück, nahm den Waldweg, der hinter dem mit Efeu und Wein bewachsenen Gebäude begann. Schon nach kurzer Zeit blieb er stehen und drehte sich um, sah, wie sich das Dach gegen die Morgendämmerung abhob. Nervös trommelte er mit den Fingern in der Luft, stand da wie ein ausgesetztes, verdrossenes altes Kind und hatte das Gefühl, in seinem tiefsten Innern sehr böse auf Mutter zu sein.
Seine Stimmung wechselte wie die Nacht zum Tag, von tiefer Unsicherheit zu großer Stärke. Genau dieses Gefühl wollte er festhalten, bewahren, nur mit ihm konnte er sich von Mutter verabschieden. Abschiede konnten ihn in Panik versetzen, aber nun war die Situation ruhig und klar, wie lange nicht mehr. Mit großen Schritten eilte er zurück, schlüpfte durch den Hintereingang in seine Werkstatt, atmete den Geruch der gasigen Luft, die um den aufgeheizten Brennofen waberte. Sein Gesicht entspannte sich, er betrachtete seine Marionetten, die ihm immer Gesellschaft leisteten. Fast zärtlich blickte er auf die Werkzeuge, betrachtete Rohlinge, tastete Gesichter ab, denen er einen lebendigen Ausdruck geben würde.
Ein Käfer krabbelte über eine mit dunklen Rottönen bemalte Gipsmaske mit überdimensionierten Zähnen. Timothius nannte sie Thihuhba, Vertreiberin böser Gedanken. Ärgerlich presste er Daumen und Zeigefinger zusammen, fasste das Krabbeltier und griff nach einer Lupe, die auf dem Werktisch lag. Wie ein Riesenauge wanderte er damit über den winzigen Tierkörper, beobachtete das Flattern der Flügel. Er griff nach einem Skalpell, und mit hauchdünner Klinge schnitt er den Leib in feine Streifen und fegte sie auf ein Stück Papier. Mit den Käferscheiben fütterte er Thihuhba, damit er ihm gnädig gestimmt war. Die Marionetten drehten sich, Timothius vernahm eine fremde Melodie, die sirrend in seine Gehörgänge kroch. Er starrte, seine Augen schauten kühl und wissend, es war ein Blick voller Geheimnisse.
Er setzte sich in Bewegung und stand wenige Minuten später im Schlafzimmer seiner Mutter, stellte sich vor ihr Bett, hob eine Hand, hielt inne, zögerte und nahm dann den Wecker vom Nachttisch. Er lauschte dem gleichmäßigen Ticken, und das plötzlich einsetzende Schrillen zerriss den leisen Seufzer, der aus Mutters Mund kam. Lautlos begann Timothius zu lachen, bis es ihn schüttelte. Ungesehen verließ er den Raum.
»Vergiss die Rosen nicht, pass auf den Lavendel auf, räum deine Essensreste weg, es stinkt im Haus. Frag nicht mehr, was du schon gestern wissen wolltest. Ich will nicht wieder streiten. Ansonsten – ich rufe dich von Lara aus an.«
Ihre Anweisungen und Nörgeleien während des hastigen Frühstücks gingen ihm auf die Nerven.
Seit diesem Morgen war Eva-Maria Sauer spurlos verschwunden.
Manchmal ahnte er sie vorher. Dinge, die passieren würden. Dinge, die er tun musste. Aber dieses Mal hatten ihm seine Nachtgedanken nichts Besonderes befohlen. Wieso meldet Mutter sich nicht? Wenn etwas passiert ist, ist es nicht meine Schuld. Welches Recht nimmt sie sich heraus, mich in Unruhe zu versetzen? Noch war er eher verblüfft als besorgt, genoss ein zwiespältiges Gefühl, das ihn an Befreiung erinnerte. Mutter hatte ihre Eigenarten. Sie mochte es nicht, wenn er ihr hinterher telefonierte. Das machte sie von sich aus. Er musste warten. So war es bisher immer gewesen.
In den ersten Tagen seines Alleinseins fuhr er täglich mit dem alten Renault aus Bielefeld heraus, ließ auf Landstraßen den Motor aufheulen und jagte singend durch die Kurven. Er freute sich, wenn jemand erschreckt zur Seite sprang, er freute sich noch mehr, wenn es eines dieser jungen Mädchen in engen Hüftjeans und bauchfreiem Top war. Dann bremste er schlitternd, guckte ungeniert, Männerblicke, die eine eben einfängt, wenn sie allein ist und halbnackt die Straße entlanggeht. Sie fordern es ja förmlich heraus, diese kleinen Luder, die unbekümmert daherschwänzeln und selbstzufrieden lächeln. Er sprach sie nicht an. Er ließ nur den Wagen so ganz langsam vorbeirollen. Er guckte genau, das Gesicht übersah er und schluckte an seiner Gier.
Timothius brannte vor Verlangen nach einem Frauenkörper, darüber vergaß er beinahe Mutter. Erst als dieser akute Hormonschub abebbte, wurde er wieder zum sorgenden, rücksichtsvollen, zum schüchternen Sohn und stellte erschrocken fest, dass schon über sechs Tage seit Mutters Abreise vergangen waren.
***
Am siebten Tag stand er zwischen tanzenden Sonnenflecken in ihrem Zimmer, und um ihn war sie, Mutter, sie schien da, war überall, vor und hinter und neben ihm. Ihr Gesicht tauchte auf, während sie ansonsten merkwürdig körperlos blieb, ihr Gesicht war an den Wänden, wuchs aus ihnen heraus, weinte und lachte in einem, er drehte sich weg, rannte aus dem Zimmer, die Treppen hinunter, aber sie war schon da und empfing ihn. Ihre Stimme begann, in seinem Kopf zu hämmern, wurde leiser und wieder lauter, Mutter war bei ihm, und entsetzt rief er sofort ihre beste Freundin an. Mitten in seine hastige und gleichzeitig stockende Frage knallte Lara Stöckers Stimme hart aus dem Hörer:
»Eva-Maria und ich wollten uns ein paar schöne Tage an der Nordsee gönnen. Das weißt du doch.«
Hoffnungsvoll bog sich sein herzförmiger Mund nach oben. »Schöne Tage, schöne Tage! Hol sie bitte ans Telefon! Sich einfach nicht zu melden.«
»Timmi! Deine Mutter will sicher auch mal allein sein. Ohne dich im Gepäck.« Lara lachte dröhnend, beruhigte sich und sagte: »Bist ja wohl alt genug. Mit über 40!«, seufzte dabei ungeduldig, als rede sie mit einem begriffsstutzigen Kind. »Vielleicht hatte sie ganz anderes vor und wollte es dir und auch mir nicht sagen. Zuzutrauen wäre es ihr schon.« Sie kicherte anzüglich. Timothius verdrehte die Augen. Was wusste die denn schon von Mutter und von ihrem gemeinsamen Leben, was denn? Timmi, äffte er lautlos nach. »Das verstehe ich jetzt aber nicht.«
Er wollte sagen, ich vermisse sie. Er wollte auch sagen, sie ist da und doch wieder nicht. Stattdessen schwieg er und ging mit dem Mobiltelefon am Ohr durch die Hintertür in den Garten. Eine gestreifte Katze saß neben der Vogeltränke und beobachtete ihn wissend.
»Ihr wird schon nichts passiert sein«, beruhigte Lara. »Erinnere dich doch mal an ihre Venedigreise, da hat sie dich auch erst nach vier Tagen angerufen.«
Timothius Stimme bekam einen schrillen Klang.
»Mutter meldet sich immer bei mir, wenn sie verreist. Immer!« Er trat nach der Katze, starrte sie an, als könne er damit die Verschwundene zurückholen. »Wo soll sie denn sonst als bei dir sein?«
»Mein Herzliebster fährt gerade mit seinem Moped vor. Wieso sie nicht in Esens angekommen ist ... Ich weiß es nicht. Wird sie sich schon was bei gedacht haben. Keine Sorge, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie entführt wurde. Warst du schon bei der Polizei? Melde dich, wenn sie anruft oder eine Karte schickt.« Lara verschwieg, dass auch sie sich Sorgen um ihre Freundin machte.
In einem grässlich ruhigen Ton legte sie auf. Timothius dachte, Lara nimmt mich nicht ernst. Dafür immer einen flotten Spruch auf den Lippen. Nur Motorräder und Männer im verkalkten Hirn. Er war gekränkt. Es hatte ihn auch gekränkt, als Mutter ihm ihre Pläne mitteilte, dass sie in dieses Kaff an der Nordsee fahren wollte. Ohne ihn. Er ging in die Küche, zog ihr Notizbuch aus einer Schublade hervor, blätterte und tippte eine Nummer ein. »Tante Grete, ist Mutter bei euch? Hat sie angerufen?«
»Datt Frieeedchen?«
Er stellte sich bei dem lang gezogenen ›Frieeedchen‹ Gretes Zähne vor. Die fletschte sie beim Sprechen bis zum Zahnfleisch.
»Die ruft mich doch nicht an. Nicht mal zu Hans seinem Geburtstag. Das hat die Dame nicht nötig. Seitdem sie Schauspielern die Kleider am Hintern enger nähte, ist sie wohl was Besseres.«
Er biss sich auf die Lippen. »Nicht bei euch?« Ehe Mutters Schwester antwortete, dauerte es immer etwas.
»Nein. Wir sind ihr zu alt. Zu spießig. Dabei bin ich nur fünf Jahre älter. Friedchen ist doch auch in Rente. Kannst ihr sagen, dass sie noch eine Schwester und einen Schwager hat. Bei uns ist sie nicht. Einen schönen Tag noch, ich muss mit dem Hund raus.«
Danach rief er alle anderen an, deren Adressen Mutter notiert hatte. Aber so bedeutend war die geplante Reise nach Esens nicht gewesen. Es stellte sich heraus, dass nur Lara und er von ihrem Vorhaben wussten.
Nach zwei Wochen gab er im Bielefelder Polizeipräsidium eine Vermisstenanzeige auf. »Meine Mutter wollte am ersten Juni nach Esens und ist dort anscheinend nie angekommen.« Er konnte den Satz kaum aussprechen, so brüchig klang seine Stimme.
Kommissar Morek, 48, von behäbigem Äußeren, mit großen Ohren und kurzgeschnittenen Haaren, beobachtete Timothius, der das dunkle Büro mit den hellen Möbeln neugierig betrachtete, dann seine wohlgeformten Hände auf die Schreibtischplatte legte und mit den Fingern trommelte. Morek las die Personalien der Eva-Maria Sauer durch, überlegte dabei, diesen schwammigen Mann mit den feuchten, auffallend roten Lippen und dem bittenden Blick heute noch nicht zu fragen, warum er erst jetzt mit der Anzeige kam. Er hatte Vorbehalte gegen Söhne, die mit 40 immer noch bei ihren Müttern lebten. Und sich nicht erinnern können, was die Mutter am Abreisetag gesagt, wie sie auf ihn gewirkt hatte. Das glaube ich nicht. Morek sah auch, wie dicke Schweißtropfen von Timothius‹ Stirn in die Augen flossen. Es sah aus wie ein Weinen. Die Brille beschlug, aber er nahm sie nicht ab und putzte sie nicht. Er sagte nur: »Sie werden sie doch finden?« Morek nahm sich vor, seinen Freund und Kollegen Viktor Weinbrenner auf diesen Mann anzusetzen. Ein Gespräch in der häuslichen Umgebung konnte aufschlussreich sein, und auch Erkundigungen in der Nachbarschaft brachten Erstaunliches zutage. Es schien, als wäre unter der kindlich wirkenden Verlorenheit etwas ganz anderes verborgen. Vielleicht wollte die Vermisste einfach allein sein. Aber das war nach seiner Erfahrung eher unwahrscheinlich. Wenn eine Person über zwei Wochen nirgends ankam, nirgends gesehen wurde, sich nicht meldete, da war in vielen Fällen Schwerwiegendes geschehen.
***
In der verwilderten Ecke des Gartens, da, wo der Zaun den Wald berührte, sammelte Timothius Nacktschnecken ein, die prozessionsartig auf das Gewächshaus zusteuerten. »Sieht ja wie ein Trauerzug aus! Passt auf, sonst koche ich euch.« Angewidert betrachtete er die Schleimspuren, guckte die Tiere durch das Glas an, in das er sie hineingesetzt hatte. Er schraubte das Weckglas mit einem Deckel zu und warf es in die Mülltonne. Dabei hörte er Schritte. Als er sich umdrehte, sah er einen Mann, groß, schlank, um die 50. Dieser betrachtete den Schaukasten, der auf dem Rasen vor dem Haus stand. Eine Marionette mit bunten Federn und blau und grün gefärbter Haarmähne sah aus leeren Augenhöhlen starr geradeaus und lächelte lieblich. Ein Schild gab Auskunft: ›Marionetten und Porträts. Timothius Sauer.‹
»Hallo? Möchten Sie zu mir?«
Der Mann drehte sich um und kam näher. »Sehr eindrucksvoll!« sagte er, zeigte auf die Figur und fragte in formellem Ton: »Herr Sauer?«
Timothius nickte.
»Viktor Weinbrenner. Kripo Bielefeld. Wir kennen uns noch nicht. Sie hatten eine Vermisstenmeldung aufgegeben.« Er zog seinen Ausweis aus seiner Jackentasche hervor. Timothius betrachtete den Polizisten langsam und ausgiebig, eben, wie er manche Menschen ansah, in seinem Gedächtnis speicherte, für neue Figuren an Fäden.
»Im Garten waren jede Menge Nacktschnecken«, sagte Timothius. Was will der Polizist von mir? Vor der Polizei muss man sich schützen, dann, wenn sie zu einem kommen. »Ich musste die Viecher einsammeln, sonst rutsche ich aus. Haben Sie meine Mutter gefunden?« Sein Ton war angespannt.
»Können wir vielleicht reingehen, da kann man sich besser unterhalten. Ohne Nachbarn«, sagte Weinbrenner und lächelte ihn aufmunternd an. Inzwischen stand eine dicke kleine Frau vor dem Gartenzaun und musterte die Männer.
Timothius bewegte sich schnell und geschmeidig zum Haus, öffnete übertrieben weit die Tür und bat den Kommissar herein. Weinbrenner sah fantastisch anmutende Marionetten im Flur hängen, schlenderte in die Küche, wo Timothius begann, Kaffee aufzubrühen. »Warum haben Sie erst so spät die Anzeige aufgegeben?«
»Wissen Sie, meine Mutter ist eigen. Sie mag es nicht, wenn man ihr hinterherspioniert.«
»Soso. Hatte sie sich denn in der letzten Zeit verändert? Oder gab es zwischen Ihnen Auseinandersetzungen? War sie depressiv?«
»Nehmen Sie Milch und Zucker?«
»Schwarz. Haben Sie vor der Abreise irgendetwas Ungewöhnliches in ihrem Verhalten festgestellt?«
»Meine Mutter hat bloß Klamotten gekauft.« Timothius wirkte beleidigt. »Ich war einfach enttäuscht, weil sie ohne mich fahren wollte.«
»Sie kann im Prinzip reisen, wohin sie will. Es sei denn, sie wird daran gehindert. Und natürlich muss sie Ihnen nicht alles erzählen. Sicher rufen Sie auch nicht jedes Mal an, wenn Sie unterwegs sind!«
»Kann sie nicht!« Timothius Stimme war scharf. »Wenn man zusammenwohnt! Ist doch wie in einer Ehe. Wir waren immer zusammen. Sind Sie verheiratet, Herr Kommissar?«
»Sind Sie es?«
»Bisher habe ich immer noch Mutter!«
»Aber das Zusammenwohnen eines erwachsenen Sohnes mit seiner Mutter ist doch etwas anderes, als das Zusammenleben in einer Liebesbeziehung oder als verheiratetes Paar!«
»Was wissen Sie denn schon!«
***
Vor dem Fenster bewegte sich etwas. Beide blickten auf. Sie sahen ein Mädchen mit hellem Haar wie Engelgespinst, mit dem man früher die Spitzen der Christbäume drapiert hatte. Das Kind war vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Timothius erklärte: »Das ist Britta. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft. Sie kommt manchmal rüber.« Er stand auf und öffnete die Haustür.
»Darf ich heute mit deinen Puppen spielen?«
»Das geht jetzt aber nicht.«
»Kann ich trotzdem? Bitte!«
Weinbrenner musterte das äußerst zierliche Mädchen mit dem feingeschnittenen Gesicht. Er stellte sich vor. »Ich bin von der Polizei und muss deinen Freund jetzt mal allein sprechen.«
»Mach doch. Ich zähle schon mal die neuen Arme und Beine.«
»Was?«
Timothius lachte und erklärte, dass Britta ihm manchmal bei seiner Arbeit helfen wolle. »Dann sortiert sie frisch gegossene Arme und Beine von den neuen Figuren.«
Das Kind stand neben ihm. Seine Finger wanderten behutsam über das Haar des Mädchens.
»Soso. Kannst du mir denn sagen, wann du Frau Sauer zuletzt gesehen hast?«
»Die ist doch verreist.«
***
»Ich benötige eine Liste aller Personen, die Ihre Mutter kannte. Also die aus dem unmittelbaren Umfeld, der Familie und den Freunden«, sagte Weinbrenner und fragte auch: »Können Sie sich auch ein spätes Liebesverhältnis vorstellen?«
»Mit 65? Was denken Sie eigentlich, nach wem Sie suchen! Mutter hat doch mich!« Timothius Augen blitzten. »Mich allein.«
»Ein Sohn muss nicht alles im Leben einer Mutter sein.«
»Sie würde aber nicht einfach wegfahren und sich sozusagen in Luft auflösen.«
Weinbrenner stand auf. »Was könnte Ihrer Meinung nach passiert sein?«
»Vielleicht hat sie jemand im Zug überfallen. Oder nach dem Aussteigen gezwungen, in sein Auto zu steigen. Oder ein Verrückter hat sie in eine Waldhütte verschleppt. Es gibt doch genügend Perverse.«
»Waldhütte? Im Zug überfallen? Nicht sehr wahrscheinlich«, sagte Weinbrenner. »Kinofantasien. Ich verstehe immer noch nicht den Grund, warum Sie die Vermisstenanzeige so spät aufgegeben haben. Sie wollten Ihre Ruhe, nicht wahr? Sie kann das Opfer einer Straftat sein, sie kann einen Unfall gehabt haben. Obwohl sie bis heute in keinem Krankenhaus registriert ist. Sie kann hilflos herumirren. Jedenfalls, bei dem Zeitfenster kann einiges passiert sein.«
»Oder sie probiert in der Toskana leckeren Wein.«
»Herr Sauer, haben Sie eine Freundin, eine Frau?« Weinbrenner durfte nicht zeigen, dass er den Mann unattraktiv fand. Schließlich hatte dessen Aussehen nichts mit der Sache zu tun.
»Tatsache ist –«, begann er. Das Grinsen in seinem Gesicht war halb verschämt, halb unverfroren. »So viel Bedeutung haben Frauen nun auch nicht.«
Ziemlich widersprüchlich, dachte Weinbrenner. »Hatte sie eine hohe Lebensversicherung abgeschlossen? Wenn ja, auf welchen Namen? Oder eine größere Geldsumme abgehoben? Nun. Wir werden die Kontobewegungen überprüfen.«
»Alles war wie immer.«
»Wir müssen alle Möglichkeiten in Erwägung ziehen. Und die datentechnisch gestützte Recherche zur Identifizierung unbekannter Toter oder unbekannter hilfloser Personen hat bis heute nichts ergeben, was auf Ihre Mutter hinweist.«
Sie tranken aus dünnen Tassen Kaffee.
»Erwägung! Hilflose Person. Wie sich das anhört«, äffte Timothius. »Mutter stochert nicht irgendwo durch den Teutoburger Wald. Wie soll sie denn dahin gekommen sein? Übrigens habe ich bei der Sparkasse nachgefragt. Aber die sagen mir ja nichts.«
»Sie haben eine Kontovollmacht?« Weinbrenner sog die Luft ein. Es roch unangenehm süßlich im Zimmer. Er atmete mit offenem Mund weiter.
Timothius schüttelte den Kopf. »Sie denken die ganze Zeit, ich lüge?« Hinter seiner Empörung musste er seine Sehnsucht nach Mutter und den kindlichen Wunsch, sie möge ihm über das Haar streichen und in die Arme nehmen, verstecken. Das würde niemand verstehen. Er wollte, dass sie ihn tröstete.
»Suchen Sie mir die aktuellen Auszüge heraus.«
»Ich weiß nicht, wo die Unterlagen sind.«
»Ja, suchen Sie mal. Sonst helfe ich Ihnen.« Weinbrenner unterdrückte einen Seufzer. »Also, die alte Dame fährt nach Esens. Warum sollte sie da nicht ankommen, Herr Sauer? Oder gab es am ersten Juni doch eine heftige Auseinandersetzung mit ihr?«
Britta kam herein. »Du hast aber nicht viel gearbeitet. Da ist nichts zum Sortieren!« Sie lief zur Tür und verschwand nach draußen.
***
»Ich möchte Sie dringend bitten, ein Foto an die Presse zu geben. Das hat in ähnlichen Fällen meist sehr geholfen!«
Weinbrenner näherte sich einer Kommode, auf der eingerahmte Fotografien standen.
»Nichts anfassen!«
»Ist sie das? Und der Junge da drauf?« Er speicherte den Bildkontrast, schlanke hübsche Frau – fetter Sohn.
Timothius zog eine Schublade auf und fand schnell eine aktuelle Aufnahme, als hätte er sie eigens für diesen Zweck bereitgelegt.
»Dass sie so in die Öffentlichkeit gezerrt werden soll!«
»Wir brauchen Zeugen. Geben Sie mir auch Kleidungsstücke, die, die sie zuletzt getragen hat. Vorsichtshalber benötige ich weitere Gegenstände wie Zahnbürste, Kamm, Unterwäsche. Dann haben wir analysefähiges Material, falls das Schlimmste eingetreten sein sollte. Damit wir sie sofort identifizieren können.« Eigentlich wäre Timothius ein ideales Mobbingopfer, dachte Weinbrenner, dieses unsichere Auftreten, wenn es kribbelig wird. Dazu die starke Mutterbindung. Er reichte dem Puppenmann die Hand. »Wo waren Sie eigentlich an jenem Tag? Zur Klärung Ihres Alibis melden Sie sich morgen um 11 bei meinem Kollegen Morek. Sie kennen ihn ja schon.«
Weinbrenner würde wieder kommen und fragen, falls Eva-Maria Sauer nicht bald auftauchte. Zurzeit war er eigentlich nicht im Dienst, seit Monaten schon hatte er eine Auszeit genommen. Alles war ihm zuviel geworden, die Arbeit, und Akten, die täglich nachwuchsen, Gedanken über das Leben nach dem 51. Geburtstag. Aber einige der Kollegen waren im Urlaub oder krank. Grippe im Sommer. Da hatte ihn sein Kollege und Freund Morek, der nach Vermissten suchte, um Unterstützung gebeten. Außerdem eine Möglichkeit, sich auf unkonventionelle Weise diesen Timothius und damit das Umfeld der Vermissten genauer anzusehen.
***
Unter dem Schwarzweißfoto stand in den Bielefelder Zeitungen: Gesucht wird seit dem 1. Juni 2004 die 65-jährige Bielefelderin Eva-Maria Sauer. Sie war auf dem Weg zu einer Freundin nach Esens, wohin sie mit dem ICE um 8:23 Uhr fahren wollte. Seitdem sie ein Taxifahrer zum Hauptbahnhof brachte, gibt es keine Spur von ihr. Eva-Maria Sauer ist 1,58 groß, hat X-Beine und trägt derzeit ein Teilprothesen-Provisorium. Die gebürtige Hamburgerin ist sehr gepflegt, schlank und redegewandt. Sie sieht wesentlich jünger aus, als sie ist. Nähere Hinweise bitte an jede Polizeidienststelle.
Seitdem klingelten im Dezernat die Telefone. »Die sitzt mit einem Hund am Bahnhof und bettelt!« – »Kenn ich, mit einem eleganten Herrn ging sie die Niedernstraße entlang!« Jemand rief aus Münster an: »Nebenan ist so ein Stöhnen. Die Wohnung hat eine ältere Frau bezogen. Nein, gesehen habe ich sie nicht!«
Plötzlich schien die Vermisste überall aufzutauchen, in Berlin, Bonn oder Stuttgart, sogar auf Rügen. Tagelang gingen weitere Hinweise ein. Jede Aussage wurde überprüft. Krankenhäuser, Angehörige und Bekannte befragt. Der Taxifahrer gab erneut seine Eindrücke der Fahrt mit Eva-Maria Sauer zum Bahnhof zum Besten. Kopien des Fahndungsaufrufs wurden am Bahnhof, am Jahnplatz, an den Bushaltstellen und der U-Bahn ausgehängt.
***
Inzwischen waren die ersten Zeugenaussagen ergebnislos abgearbeitet. Weinbrenner informierte Timothius, dass man jetzt mit einem Leichenspürhund suchen würde. Auf seinem Grundstück, im Wald dahinter, in der ganzen Umgebung des Bielefelder Univiertels. Seit gestern allerdings gab es zwei neue Zeugenhinweise, die möglicherweise zu Suchaktionen in den Teichen zwischen den Grünzügen des Viertels führen würden.
»Glauben Sie etwa, ich hätte sie unters Laub gelegt und dort verscharrt? In diesem mickrigen Wäldchen?«
»Ja, soll ich Sie das jetzt fragen, Herr Sauer? Wir wollen wissen, was am ersten Juni geschah. Jede Möglichkeit wird geprüft. Sie möchten doch, dass alles getan wird, um ein Verbrechen auszuschließen?«
»Ich werde mich beschweren«, sagte Timothius und fügte kess hinzu, »schicken Sie mir lieber eine Kommissarin, wenn denn schon sein muss.«
»Sie sind wenig kooperativ.«
Weinbrenner verschwieg, dass bei seinem Kollegen Morek eine der nächsten Nachbarinnen erschienen war. Es war Frau Bode.
Morek druckte das Protokoll aus, und legte es vor Frau Bode auf den Schreibtisch, die ihre 1,55m reckte. Inzwischen hatte er 20 verschiedene Zeugenaussagen hinter sich.
»Lesen Sie es sich genau durch und unterschreiben bitte da!« Mit dem Zeigefinger wies er auf eine gestrichelte Linie.
»Wenn ich denn ergänzen dürfte, Herr Marek ...«
»Morek!«, verbesserte er, wünschte sich eine Pause, eine Zigarette, einen Kaffee und dass er von dieser Frau erlöst würde.
»Ist es denn nicht merkwürdig, dass ein gesunder Mann Marionetten macht? Er war ja mal beim Theater, warum fummelt der nun Puppen zusammen? Richtig was Nettes macht er ja nicht. Leute modelliert er. Isses nicht schrecklich, Herr Hauptkommissar, wenn Sie sich so als Modell sähen? Mit allen Pickeln und Falten? Sagen Sie, gibt es auch Finderlohn?«
»Unterschreiben Sie hier!«
Frau Bode unterschrieb, stand auf und zögerte. »Ich habe da noch etwas Vertrauliches«, begann sie. »Aber ich will nicht in was reingezogen werden. Wenn Sie verstehen, was ich meine?«
***
Autotüren klappten. Schaulustige drängten sich vor die Polizeiabsperrung. Ihre Köpfe folgten den beiden Suchhunden wie eine Schafherde dem Leithammel. Erste digital geschossene Aufnahmen wurden sich gegenseitig als Ausdruck versprochen. Schließlich geschah so etwas selten in der sonst eher ruhigen Nachbarschaft. Eigentlich nie. Was gerade geschah, war unerhört, denn in den Straßen des Bielefelder Westens gab es keine versteckten Leichen. Ein Fotograf des Westfalen-Blattes stapfte den Hunden hinterher. Der Reporter der gleichen Zeitung stellte Fragen, machte Notizen, und die Zuschauer bestätigten sich gegenseitig ihre aktuellen Meinungen mit: »Da ist immer was dran!«
»Die Eva-Maria war doch nett. Und jetzt isse tot!«, jammerte Frau Bode. »Jesses aber auch.« Sie trug eine viel zu warme Trachtenjacke. Auf ihrer Stirn stand Schweiß.
»Ist doch noch gar nicht bewiesen.«
»Obse den Sohn mitnehmen?«, fragte Frau Bode laut in die Runde und keuchte wegen der Wärme. Die Hunde suchten, aber sie schlugen nicht an. Da wirkten die Zuschauer enttäuscht. Britta winkte, als Timothius seinen Renault öffnen musste. Im Wagen erschnüffelten die Tiere nichts. Polizeischüler holten Spaten aus dem Polizeibulli. Und nach kurzer Zeit war der Garten keiner mehr.
»Meine Rosen, haben Sie je Rosen gehabt? Meine wunderschöne Lady Hillingdon und die Blythe Spirits, sind Sie denn völlig verrückt geworden, haben Sie denn kein Herz?« Timothius wirkte hysterisch.
»Hoffentlich haben Sie eins. Seien Sie nicht albern. Blumen wachsen wieder. Lassen Sie uns unsere Arbeit machen und gehen Sie mal aus dem Weg«, wurde er angeblafft.
Am Rande des Geschehens beobachtete Weinbrenner die Szene. Bei der Vermisstenanzeige hat der sich aber nicht derart aufgeregt!
Am Abend wurde die Suche wegen Erschöpfung der Hunde abgebrochen. Die kleinen Teiche rund um die Turbinen und dem Umspanngelände hatten außer Schlamm und verrosteten Kleinteilen nichts zu bieten. Ein Hubschrauber kreiste über dem Teutoburger Wald. Als die Sonne unterging, stand Timothius vor seinen ausgebuddelten Rosenstöcken im Garten und weinte.
***
»Viktor, sprich du mit den Nachbarn, wie die Frau Bode und der Mutter von Britta! Verdammt, warum machen alle gleichzeitig Urlaub. Hol dir eine Einwilligung vom Sohn für eine Rundfunkdurchsage. Ich lasse jetzt das ganze gottverdammte Haus durchsuchen, ich weiß, das hatten wir schon, aber ich brauche die Eva-Maria. Ich kriege bald Ärger und die Presse hängt mir immer noch im Genick. Der Keller wird total umgekrempelt, die Tiefkühltruhe ausgeräumt, den Brennofen bitte nicht vergessen. Regale, Kisten, all das. Schaut nach losen Bohlen, vielleicht ist dort ein Erdkeller. Kann man nie wissen bei alten Häusern. Wer weiß schon, was Söhnen, die in dem Alter noch bei Mama wohnen, alles einfällt. Wer weiß, was sich in derartigen Beziehungen aufstauen kann«, sagte Morek und verschickte ein Fax an die Esener Kollegen mit der Bitte um Unterstützung.
***
Lara Stöcker wurde zu einer Zeugenaussage gebeten. Ganske, der Dienst habende Beamte der Esener Polizeidienststelle staunte, während er die Personalien aufnahm. Dem Alter nach hatte er eher eine großmütterliche Frau erwartet. Nun saß vor ihm die 70-jährige Lara in Motorradkleidung. Ihr hingen gegelte rote Fransen tief in der Stirn. Wenn meine Christa so aussähe ...
»Eva-Maria, also die Frau Sauer, wollte für zwei, drei Wochen zu mir kommen. Aber – sie hat eben ihren eigenen Kopf. Ich würde ihr zutrauen, dass sie ihr Fahrtziel plötzlich im Zug geändert hat. Vielleicht ist ihr dabei Hamburg in den Sinn gekommen.« Sie lachte. »Sie hat da mal gewohnt.«
Ganske stellte sich bei Laras Anblick alles Mögliche vor. Bei solchen Menschen schien alles denkbar. Verrückte Alte. »Hat die Vermisste vielleicht einen Freund? Könnte sie sich mit dem einen Malediven-Urlaub gönnen?« Alte Weiber kriegen ja manchmal einen Liebesspleen. »Gab es Streit zwischen Mutter und Sohn?«
»Eva-Maria war Herrenschneiderin, kam irgendwann zum Bielefelder Stadttheater und war für die Kostüme zuständig. Mit 63 ist sie in Rente.«
Lara stellte trotz der Wärme den Kragen ihrer Lederjacke hoch. »Ansonsten kann ich Ihnen nichts Besonderes berichten.«
»Irgendwelche Krankheiten? Oder Auffälligkeiten? War sie beliebt?«
»Sie klebte ständig mit ihrem Sohn zusammen. Ich glaube, sie wurde ihn nicht los. Schon als Junge wuselte er den ganzen Tag um sie rum. Mit anderen hat der kaum gespielt. Er war so unbeholfen. So weichlich. Selbst als Erwachsener hatte der Schiss auf meinem Motorrad. Wollen Sie mal eine Runde mitfahren?« Sie beugte sich vor. »Aber so richtig blicke ich durch diese Mutter-Sohn-Beziehung nicht durch. Es wäre ein interessanter Fall für den Psychologen.« Dabei lachte Lara den Polizisten derart provokant an, dass er sich tief über das Protokoll beugte.
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Das Telefon klingelte. Timothius nahm ab und hörte eine ihm unbekannte Stimme sagen: »Guten Tag. Ihre Frau Mutter, mein Herr, die sehe ich auf einem Schiff.«
»Wer ist denn da?« Erstaunt machte Timothius mit der Fernbedienung den Ton aus. Stumm lief die Tagesschau weiter.
»Saralinde, ich bin eine bekannte Hellseherin. Ich spüre, dass auch Sie von geheimnisvollen Dingen tief fasziniert sind. Sie sind jemand, der seine Energie einsetzt, um alles zu überprüfen. Sie wollen die Wahrheit ergründen.«
»Sie kennen mich doch überhaupt nicht! Und meine Mutter auch nicht. Was soll der Unsinn?«
»Mein Herr, natürlich können Sie mit Ihrer eigenen Energie Nachforschungen anstellen, um es herauszufinden. Niemand wird Sie in die Irre führen. Jegliche
Lernerfahrung bei der Suche nach Ihrer Mutter wird Sie tief bewegen.«
Saralindes Stimme wirkte suggestiv.
»Auf welchem Schiff? Welche Wahrheit? Was reden Sie da?«
»Eine gute Nachricht liegt in der Luft. Ich konnte schon viele Vermisstenschicksale aufklären. Allerdings entsprechen die Neuigkeiten, die Sie erreichen, nicht unbedingt Ihren geheimen Erwartungen. Akzeptieren Sie einfach auch widrige Umstände. Sie werden überrascht sein, wie viel Kraft Ihnen zur Lösung all dieser Ungereimtheiten zur Verfügung steht.«
Die Frau atmete bedeutsam in den Hörer. »Halt. Da ist sie, ganz vorn, an der Reling.«
»Von welchem Schiff reden Sie? So etwas gibt es doch gar nicht. Das ist eine ganz plumpe Anmache, Sie, Sie ...«
»Vertrauen Sie mir, Herr Sauer. Nun. Sie müssen schon glauben. Meine Voraussagen haben fast immer eine 100prozentige Trefferquote. Es ist nicht einfach, wenn ein lieber Mensch verschwindet. Ich kann Ihnen auch eine Trendanalyse für die nächsten sechs Monate für die Vermisste erstellen.«
Mutter? Auf einem Schiff?
»Trendanalyse? So was Ähnliches kriege ich kostenlos von der Kripo.«
»Sie müssen entscheiden. Sie müssen wissen, ob Sie das Schicksal Ihrer Mutter aufklären wollen. Jetzt geben Sie mir bitte Ihre Kreditkartennummer durch – diese Beratung macht 300 Euro, ein Sonderpreis, ein Klacks.«
Nach kleiner Pause setzte sie hinzu: »Ich spüre, dass auch Sie Probleme haben. Große Probleme, die Ihr Leben belasten. Sie wollen doch Ihre Mutter wiedersehen?«
300 Euro? Timothius legte mit einem Knall auf. »Die hat auch einen Klacks.«
***
Während er auf die Straße schaute und im Morgenlicht müde die Augen rieb, fragte er sich, was eigentlich in dieser Nacht geschehen war. Er konnte schwören, Mutter gehört zu haben. Sogar ihren Atem hatte er gespürt. Er war aus seinem Zimmer heraus in den Keller gerannt, und hatte einen sich schnell verflüchtigenden Schatten gesehen. Er ließ sich sogar dazu verleiten: »Mama?«, zu rufen.
Mutter hatte ihn wieder zu Dingen verführt, die er bei Tag albern und unwürdig fand. Wie früher hatte er sich in ihr Bett gelegt und seinem Herzschlag gelauscht. Sie sprach sogar die gleichen Worte wie damals. ›Mein kleiner Dickmops!‹, sie piekte ihren Finger in seinen Kinderbauch und lachte. ›Von wem hast du das bloß?‹ Deutlich hatte er gefühlt, wie sie ihn auf den Mund küsste.
Erleichtert sah er, dass in diesen Minuten nichts anderes als der Tag ins Zimmer strömte. Er dehnte und streckte sich, nackt, wie er war. Er, ein hellhäutiger Mann mittlerer Größe, mit Bauch und Hüftansatz und mit vielen kahlen Inseln auf dem Kopf. Er hatte weder Brustbehaarung noch Haare an den Armen. Nur auf den Unterschenkeln wuchs Dunkles. Genüsslich rieb er sich so lange mit einer leicht duftenden Körperlotion ein, bis die Haut matt glänzte. Sein Körper sah jetzt aus wie gewachst, wie geöltes Fleisch, dass man nur in den Ofen schieben brauchte.
Dennoch: Sie war in seiner Nähe, sie saß in seinem Hirn, und seit dem Tag ihrer Abreise war sie wie telepathisch mit ihm verbunden, erteilte Befehle, schimpfte und mahnte ihn. Die Stimme tauchte auf, wenn er es am wenigsten vermutete und das Grässliche daran war, er erlag dem schrecklichen Zwang, ihr zu antworten.
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Als er zum dritten Mal einen blauen Müllsack in die Abfalltonne steckte, tauchte Frau Bode auf und flüsterte laut hinter vorgehaltener Hand: »Die Eva-Maria war in der letzten Zeit so aufgedreht und ziemlich gut gelaunt. Wer ist das denn schon in unserem Alter? Ich nicht, Herr Sauer, ich nicht. Ich habs an der Hüfte. Da kommt einem so der Gedanke, sie könnte womöglich im dritten Frühling sein?«
»Wie sprechen Sie denn über meine Mutter?«
»Jesses Maria!«, antwortete sie verkniffen lächelnd. »Was haben Sie eigentlich in den Säcken drin? Doch nicht ...?« Erschrocken schlug sie die Hände vor den Mund, murmelte: »Entschuldigung«, und beobachtete ihn neugierig.
»Köpfe, Beine, Tonteile, die beim Brennen geplatzt sind. So was eben. Ich räume meine Werkstatt auf.«
»Ah. Ist schon seltsam, wenn einen die Polizei mit Bluthunden überfällt! Da müssen die ja einen Verdacht haben. Wenn ich es könnte, würde ich die Lena Odenthal fragen, wissen Sie, die Kommissarin aus dem Fernsehen.«
Schon stand sie dicht vor Timothius, riss ihre Augen auf und blies ihm ihren Atem ins Gesicht. Scheinbar litt sie unter zu viel Säure. Mit zugepressten Lippen ging er rückwärts, er wollte die Frau loswerden. Aber sie kam, wie von einem Gummiband gezogen, im gleichen Tempo hinterher. Verlegen nickte er mit dem Kopf, so, wie es die Tauben machen. Er wusste, die Alte kannte alle im Viertel, sie redete und redete, und genau deshalb wollte er ihr nichts sagen. Die drehte einem das Wort im Munde um. Ihn überfiel große Lust, sie ein wenig zu verprügeln. Vielleicht gefiel ihr es sogar. »Ich muss jetzt weiter aufräumen, Frau Bode.«
»Wir Nachbarn wünschen, dass die liebe Eva-Maria bald von ihrem unbekannten Ausflug zurück ist«, sagte die Nachbarin und hielt ihn am Hemdärmel fest. »Ich kann es nicht glauben.« Ihre Augen schimmerten feucht. »Meistens sind es ja die Menschen aus der Familie oder Bekannte, die einen entführen und töten und so was eben! Jedenfalls bete ich jeden Abend für die Verschwundene. Mir hat sie mal erzählt, dass sie früher oft in die Kirche gegangen ist. Wissen Sie, in die schöne alte Kirche, da am Klosterplatz.«