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Die 29-jährige Louisa Feldmann aus Hamburg steht an einem Wendepunkt ihres Lebens. Nach jahrelangem Verhältnis mit ihrem verheirateten Chef muss die Personalberaterin erkennen, dass das in Aussicht gestellte gemeinsame Leben eine Illusion war: Er wird Vater, und seine angeblich schlechte Ehe ist nichts als eine Lüge.
Enttäuscht stürzt sie sich Hals über Kopf in eine neue Beziehung, in der Hoffnung, all das zu bekommen, was sie bisher vermisste: Eine gemeinsame Zukunft mit Familie und Kindern.
Doch ist Stefan wirklich ihr Traummann? Kann sie ihm vertrauen? Und was verheimlicht er ihr?
Zum ersten Mal in ihrem Leben beschließt Louisa, sich nicht zu verkriechen und alles hinzunehmen. Sie muss die Wahrheit wissen, egal, wie es endet.
In dieser schwierigen Zeit wird Markus zu einem Freund, der ihr nach und nach die dunklen Seiten von Stefan enthüllt. Dabei stößt sie auf zutiefst verstörende Abgründe, die auch ihr Leben in Gefahr bringen.
Ingrid Jenckel lebt als freie Autorin in Hamburg. Nach einer Ausbildung zur Redakteurin arbeitete sie für verschiedene Zeitschriften, sammelte Erfahrungen in Werbung und PR, bevor sie sich als Journalistin selbstständig machte und sich auf das Entdecken des Abgründigen in menschlichen Verhaltensweisen spezialisierte, das auch Thema ihrer Bücher ist.
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Ingrid Jenckel
Liebeswahn
© 2023 Europa Buch | Berlin www.europabuch.com | [email protected]
ISBN 9791220135832
Erstausgabe: März 2023
Gedruckt für Italien von Rotomail Italia
Stampato presso Rotomail Italia S.p.A. - Vignate (MI)
Liebeswahn
Danksagung
An dieser Stelle ist es üblich, den Menschen zu danken, die das Entstehen des Buches ermöglicht haben. Mein Dank gilt zunächst meinem ehemaligen Berater Dirk Meynecke, der mir erklärte, dass die Veröffentlichung eines Buches heutzutage nicht nur von der Qualität eines Buches abhängt, sondern auch vom Alter der AutorInnen. Deshalb danke ich mir, weil ich nicht auf ihn gehört habe.
Ernsthaft herzlich bedanken möchte ich mich bei der Mannschaft von „La Caffetteria“ in Hamburg, die mich mit Croissants und Milchkaffee versorgte und mich in Ruhe arbeiten ließ. Besonders gern erinnere ich mich an den netten jungen Kellner (seinen Namen weiß ich leider nicht), der mich bat, einen Satz von ihm im Buch unterzubringen. Das tue ich hier gern: „Sie schaute in den Nachthimmel: Unendlichkeit. Aber sie spürte nur ihre eigene Vergänglichkeit. Alleine.“ Ich hoffe, er freut sich darüber, wenn er es entdeckt.
In allererster Linie aber bedanke ich mich beim Europabuch Verlag, dessen freundlicher und respektvoller Umgang mit Autoren das schreibende Herz wärmt.
Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Hände umkrampften das Lenkrad so fest, dass sie kaum steuern konnte. Ihr Mund war trocken, die Schultern angespannt. Sie versuchte, das Zittern ihrer Knie zu unterdrücken. Bald hast du es geschafft, dachte sie, dann bist du in Sicherheit. Bloß weg, den Alptraum hinter sich lassen.
Die Nacht war tiefschwarz. Sie hatte das Gefühl, wie in einem Tunnel zu fahren ohne das Licht am Ende zu sehen. Sie zwang sich, sich auf die Straße zu konzentrieren. Nicht an all das Entsetzliche zu denken.
Er war früher zurückgekommen, als er gesagt hatte. Ihr war zu wenig Zeit geblieben. Er hatte ihre Tasche im Kofferraum entdeckt und war ausgerastet. Im Licht der Eingangstür sah sie sein wutverzerrtes Gesicht. Sie wollte ihn beruhigen, aber sie drang gar nicht zu ihm durch. Den Schlag sah sie nicht kommen. Die Ohrfeige ließ sie taumeln, aber er riss sie am Arm hoch und zerrte sie in Richtung der Ställe. Sie sträubte sich mit aller Kraft, stemmte die Fersen in den Boden, aber das machte ihn nur noch wütender. Er packte sie an den Haaren und schleifte sie weiter. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Doch dann überfiel sie eine nie gekannte Wut. Als er für einen Moment seinen Griff lockerte, trat sie ihm mit aller Kraft seitlich gegen das Knie. Er schrie auf, taumelte und knickte zusammen.
Sie rannte los zum Auto. Der Schlüssel steckte Gott sei Dank noch. Sie trat das Gaspedal durch. Die Landstraße war stockfinster. Die Büsche zu beiden Seiten warfen bizarre Schatten, wenn die Scheinwerfer sie kurz erfassten. Sie sah keine Lichter hinter sich auftauchen.
Er verfolgte sie also nicht. Ihre Anspannung ließ ein wenig nach.
Jetzt kam die Strecke mit den vielen engen Kurven. Auf beiden Seiten der Straße verlief ein alter Abflussgraben, der längst ausgetrocknet war. Nach ungefähr drei Kilometern kreuzte eine schmale Nebenstraße, die eigentlich nur von Treckern befahren wurde. Danach waren es nur noch knapp zwei Kilometer bis zur Bundesstraße und sieben Kilometer bis zur Autobahn. Dort gab es Tankstellen und Raststätten, Menschen und Telefone. Ihre Anspannung ließ ein wenig nach. Sie wischte sich ihre schweißnassen Hände an der Hose ab und versuchte, die völlig verspannten Schultern zu lockern.
Die Straße hinter ihr war immer noch in tiefste Dunkelheit gehüllt. Sie nahm den Fuß vom Gas. Die Kurven waren unübersichtlich. Plötzlich sah sie weit vor sich ein Scheinwerferlicht aufblitzen. Gottseidank, sie war nicht mehr allein unterwegs auf dieser einsamen Landstraße. Wer immer ihr entgegenkam, sie war ihm dankbar. Mit neu erwachter Zuversicht stieg auch ihre Hoffnung, diesen Alptraum heil zu überstehen.
Das tröstliche Licht von vorne näherte sich der letzten langgestreckten Kurve. Sie schaltete ihr Fernlicht aus, um den anderen Fahrer nicht zu blenden. Im selben Moment blendete der andere auf. Was sollte das denn? Nun gab er auch noch Gas und lenkte auf ihre Fahrbahnseite. Sie blinkte ein paar Mal mit dem Fernlicht, aber der andere raste weiter auf sie zu.
Das Auto – sie kannte es! Er musste sie auf der Treckerstraße überholt haben, schoss es ihr blitzartig durch den Kopf. Und nun fuhr er genau auf sie zu. Bevor sie die Situation richtig begriff, war er so nahe, dass sie nur noch voller Entsetzen das Steuer nach links reißen konnte. Ihr Wagen geriet ins Schleudern, dann schoss er
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über die Böschung auf der linken Seite in den Graben, überschlug sich. Sie sah den Baum auf sich zurasen.
Von der Straße aus hatte er den Unfall betrachtet. Er fuhr an den rechten Straßenrand und schaltete die Warnblinkanlage ein, falls jemand vorbeifahren sollte. Dann ging er das Stück zurück und näherte sich dem zerfetzten Auto. Die Frau bewegte sich nicht. Er fühlte nach ihrem Puls, aber er spürte nichts. Dann war sie also tot. Er suchte in dem Autowrack nach ihrer Tasche, aber er fand sie nicht. Verdammt, dachte er, sie musste doch irgendwo sein. Er schaltete eine kleine Taschenlampe ein und suchte den Boden ab. Und dann sah er sie. Sie war durch das zersplitterte Heckfenster hinausgeschleudert worden. Rasch öffnete er sie und überprüfte den Inhalt. In der Seitentasche fand er das Tagebuch. Er erkannte den Einband, steckte es ein und lief zurück zu seinem Wagen. Je schneller er hier wegkam, desto besser.
Als er losfuhr, fühlte er überraschenderweise nichts.
Fast so, als ob überhaupt nichts passiert war.
„Möchten sie vielleicht noch einen Cappuccino?“ Die junge Kellnerin sah Louisa mitleidig an.
„Nein danke, aber ich möchte zahlen.“ Mitleid - das hatte ihr gerade noch gefehlt. Nein, sie war wütend. Zwei Latte Macchiato lang hatte sie gewartet. Machte fast eine Stunde. Sie hasste es, warten zu müssen. Das wusste Hans-Holger genau. Machte er das extra? Manchmal glaubte sie das beinahe.
„Bis gleich“, hatte er gesagt. Sie müssten doch auf ihren Erfolg anstoßen. Louisa sah auf die Uhr. Von wegen bis gleich. Sie merkte, dass ihre schlechte Laune wuchs. Sie wollte nach Hause, in die Badewanne, nichts mehr sehen und hören. Und sie wollte auch nicht auf Hans-Holgers blöden Erfolg trinken. Erfolg – das war alles, was für ihn zählte. Wo blieb sie denn da eigentlich? Was war sie denn für ihn? Auch ein Erfolg?
Hatte ihre Freundin Henny Recht? Henny war die Einzige, die über ihr Verhältnis mit Hans-Holger Bescheid wusste, und die kein Blatt vor den Mund nahm. Ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann war für Henny ein Unding, aber sie verurteilte Louisa deswegen nicht. Sie fand nur, dass Louisa sich selbst schadete. Und war es so? Hatte sie sich schon so weit von der echten Welt entfernt, dass sie gar nicht mehr wusste, wie Leben ging? Was hatte Henny gesagt? „Melde dich erst wieder, wenn Hans-Holger nicht mehr das einzige Thema ist, über das man mit dir reden kann. Merkst du gar nicht, wie wenig von dir, Louisa, übrig geblieben ist, seit dieser Typ über dich bestimmt?“
Louisa war beleidigt gewesen. „Er bestimmt nicht über mich“, hatte sie empört erwidert. „Ich bin von ihm abhängig. Er ist nun mal mein Chef.“
„Ja, und dein Lover, der sich niemals von seiner Frau trennen wird. In welcher Welt lebst du denn. Der hat es sich doch bequem eingerichtet: Spaß mit der Geliebten, Zweisamkeit mit der Ehefrau. Warum sollte er das ändern wollen. Wie alt ist er jetzt? Mitte Vierzig? Pass auf, als nächstes kriegt seine Frau ein Kind. Das gehört zum Programm von solchen Typen, glaub mir.“
Louisa hatte nichts darauf erwidert. Was auch. Sie wusste im Grunde ihres Herzens ja, dass Henny irgendwie Recht hatte. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie ihre Gefühle für Hans-Holger so einfach abschalten konnte. Da gab es eben immer noch diese kleine Hoffnung, dass sie die Ausnahme war. Dass er tatsächlich einen Schlussstrich unter seine Ehe ziehen würde. Vielleicht sollte sie einfach ein bisschen Druck machen. Nur – konnte sie das? Und wollte sie das überhaupt?
Was wäre denn, wenn Hans-Holger seine Frau verließ? Wer sagte denn, dass er Louisa dann heiraten würde. Sie wusste überhaupt nicht, welche Pläne er hatte. Und ob sie darin vorkam. Über seine Ehe hatte er sich bisher ausgeschwiegen. Und Louisa fragte nicht mehr, sie wollte eigentlich auch nichts über seine Frau wissen, das hätte ihr nur ein schlechtes Gewissen gemacht. Sie war ja auch immer davon ausgegangen, dass sich die beiden längst auseinander gelebt hatten. Deswegen verstand sie auch nicht, warum Hans-Holger nicht endlich die Konsequenzen zog und sich zu Louisa bekannte. Auch ohne Trauschein. Was Louisa wollte, war eine Perspektive. Und dazu gehörte für sie eine Familie.
In letzter Zeit beschlich sie allerdings immer häufiger das Gefühl, dass Hans-Holger vielleicht nicht der Richtige dafür war. Sie konnte ihn sich einfach nicht als Vater ihres Kindes vorstellen.
Sie selbst wünschte sich Kinder. Aber seit sie für Hans-Holger arbeitete, war dieser Lebensentwurf in weite Ferne gerückt. Einmal hatte sie mit ihm darüber gesprochen.
„Zerbrich dir doch jetzt nicht den Kopf darüber“, hatte er gesagt. „Du hast noch so viel Zeit. Nutze sie, die Welt und dich selbst kennen zu lernen. Wer weiß, ob du dann überhaupt noch Kinder willst.“
Das war auf Hawaii gewesen. Sie hatten für einen Kunden, einen Möbeldesigner aus Berlin, in Los Angeles die Möglichkeiten einer Geschäftsdependance untersucht. Eigentlich gehörte so etwas nicht zu ihren Aufgaben, aber der Kunde war ein Freund von Hans-Holger. Und Hans-Holger wollte die Gelegenheit nutzen, neue Kontakte zu knüpfen.
Nach drei Wochen Los Angeles mit Abstecher nach San Francisco hatte Hans-Holger den Auftrag erfolgreich abgeschlossen und sie und sich mit einem Trip nach Hawaii belohnt. Es war so romantisch gewesen, und sie fühlte sich Hans-Holger so nahe wie nie zuvor. Damals hatte sie gedacht und gehofft, dass er sich zu ihr bekennen würde. Aber er war sehr geschickt darin, dem Thema auszuweichen. Und anschließend hatte sie eine Kühle in seinem Verhalten zu spüren geglaubt. Danach hatte sie nie mehr über eine gemeinsame Zukunft gesprochen. Und Hans-Holger war wieder zur Tagesordnung übergegangen: Gemeinsame Projekte und zwei Abende in der Woche bei ihr.
Louisa sah auf die Uhr. Wieso ließ sie das eigentlich mit sich machen? Entschlossen stand sie auf, zog ihre Jacke über, bezahlte ihren Kaffee und ging. Sollte HansHolger doch mit seiner Frau auf den Erfolg anstoßen. Aber die hatte ja angeblich keine Ahnung von seiner Arbeit und interessierte sich auch nicht dafür.
Draußen vor dem Café zögerte sie. Wollte sie wirklich nach Hause und auf Hans-Holger warten? Vielleicht sollte er mal auf sie warten. Während sie unschlüssig dastand und überlegte, was sie tun sollte, sah sie sich plötzlich einer Frau gegenüber, die genau auf sie zukam. Verdammt, dachte Louisa, als sie sie erkannte. Am liebsten wäre sie auf die andere Straßenseite geflüchtet, aber dazu war es schon zu spät. Das wäre noch peinlicher gewesen als zu bleiben.
Die Frau arbeitete in einem Verlag, der unter schwindenden Auflagenzahlen litt und „gesund gespart“ werden sollte. Dafür war Hans-Holger engagiert worden. Und natürlich konnte man am leichtesten sparen, wenn man Personal abbaute. Hans-Holgers Konzept stieß beim Verlagsvorstand auf offene Ohren, solange die Herren sich nicht die Hände schmutzig machen mussten. Das erledigte Hans-Holger für sie. Auf dem Papier ließ sich das gut rechnen, aber die Umsetzung war heikel. Leute rausschmeißen – das war unangenehm und Hans-Holger überließ das daher immer häufiger Louisa. Das gehöre nun mal zu ihrem Job, hatte HansHolger erklärt, auch das müsse sie lernen. Außerdem hätte sie doch Psychologie studiert, das könne sie doch in diesen Fällen gut nutzen. Wenn sie mit ihm darüber diskutieren wollte, kam er jedes Mal mit dem gleichen Totschlag-Argument: Entweder die oder wir; und wenn wir das nicht machen, tut es ein anderer; das ist die Welt, in der wir heute leben.
An diesem Morgen hatte Louisa der Frau sagen müssen, dass die Redaktion in Zukunft ohne sie auskommen würde. Was Louisa krank machte, war die Tatsache, dass die Frau nur deshalb gehen musste, weil sie mit Mitte Vierzig zu teuer geworden war. Aus der Personalakte wusste sie, dass Kirsten Bauer alleinerziehende Mutter von zwei Kindern war. Die Chancen, dass sie in ihrem Beruf als Redakteurin je wieder einen festen Job kriegen würde, waren eher gering. Die Schallgrenze war Vierzig. Immerhin hatte sie für Kirsten Bauer eine recht gute Abfindung aushandeln können. Aber das half ja nur kurzfristig und nicht gegen die zu erwartenden Einschränkungen, wenn der erlernte Beruf einen nicht mehr ernähren konnte.
Und nun stand diese Frau vor ihr. Sie lächelte Louisa spöttisch an. Louisa nickte ihr zu und wollte schnell weiter gehen. „Na, weglaufen, wie?“ sagte die Frau. „Das täte ich an Ihrer Stelle auch. Sie sollten sich schämen, so wie Sie mit Menschen umgehen. Können Sie eigentlich morgens noch in den Spiegel sehen, ohne dass Ihnen schlecht wird?“
Louisa merkte, wie sie rot wurde. Auch das noch. „Ich mache nur meinen Job“, sagte sie und bemühte sich um eine feste Stimme.
„Ach so“, erwiderte die Frau mit sarkastischem Unterton. „Das entschuldigt natürlich alles. Sie wissen aber schon, dass Sie Existenzen ruinieren und Menschen in die Armut treiben. Ich möchte wissen, wie Sie damit leben können. Werden Sie wenigstens gut dafür bezahlt?“ Die Frau holte tief Luft. „Ich wünsche Ihnen, dass Sie niemals in eine solche Situation geraten.“
Louisa biss sich auf die Lippen. „Geben Sie mir Ihre Karte, vielleicht kann ich etwas für Sie tun.“
Die Frau sah sie erstaunt an. „Bisschen spät, oder?“ murmelte sie. Aber sie kramte in ihrer Handtasche nach einer Visitenkarte, reichte sie Louisa. „Wenn’s denn Ihr Gewissen beruhigt. Aber eigentlich möchte ich Sie nie wieder sehen, Sie haben genug Unheil angerichtet“, sagte sie im Weggehen.
„Aber ich kann wirklich nichts dafür“, rief Louisa ihr nach. Kirsten Bauer drehte sich nicht mal um. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung über die Schulter.
Louisas Handy signalisierte eine SMS. Hans-Holger. „Ich muss mit dem Kunden noch essen gehen, komme danach zu dir. Warte auf mich.“
Sie spürte Zorn in sich aufsteigen. Klar, der Kunde war natürlich wichtiger als sie. Und wenn Hans-Holger dann zu ihr kam, war doch bloß noch Zeit für eine schnelle Nummer, bevor er nach Hause musste. Sie wusste längst, dass es ein Fehler gewesen war, sich mit ihm einzulassen. Gegen jede Vernunft, wider besseres Wissen. Aber er konnte so überzeugend sein. Deswegen war er ja auch so erfolgreich mit seiner ConsultingAgentur.
Sie hatte ihn während ihres Psychologiestudiums kennengelernt. Damals jobbte sie in den Semesterferien in der Personalabteilung einer Reederei. Hans-Holger sollte dort als Personalberater die eingefahrenen Strukturen aufbrechen und für mehr Effizienz sorgen. Alle hatten Angst vor ihm. Nur Louisa nicht, für sie hing ja auch nichts von Hans-Holgers Wohlwollen ab.
Er ging von Abteilung zu Abteilung und ließ sich von ihr die jeweiligen Personalakten geben, die sie bereits durchgesehen hatte. Er gewöhnte sich an, mit ihr nachmittags in der Kantine einen Kaffee zu trinken. Sonst wollte keiner, und er tat ihr wegen der ständigen Anfeindungen ein bisschen leid.
Nach ein paar Tagen begann er, sie nach ihren Einschätzungen der Mitarbeiter zu fragen. Er hatte schnell gemerkt, dass sie über eine gute Wahrnehmung von Stimmungen verfügte und oft Aspekte menschlichen Verhaltens einbrachte, an die er überhaupt nicht gedacht und die er anfangs manchmal sogar für völlig abwegig oder unwichtig gehalten hatte. Aber Louisa hatte meistens Recht behalten und so half sie ihm, oft auch unbeabsichtigt, bei seinen Beurteilungen. Zumal sie ja auch über Interna informiert war: wer mit wem, wer sich beim Chef einschleimte, wer intrigierte, wer mobbte, wer oft blau machte oder sein Pensum nur mit Überstunden schaffte. Sie schwärzte niemanden an, nannte auch keine Namen, aber dieses Kennen menschlicher Schwächen und Stärken half ihr bei ihren Einschätzungen.
Hans-Holger war bald so angetan von ihr, dass er ihr vorschlug, in seiner Agentur zu jobben. Louisa überlegte nicht lange. Er bot ihr nicht nur ein gutes Honorar, sondern auch eine Tätigkeit, bei der sie ihr Studienwissen praktisch anwenden konnte. Außerdem, und das fand sie am besten, durfte sie reisen. Hans-Holger hatte Kunden in ganz Europa und begann gerade, seine Fühler auch in Amerika auszustrecken.
Durch ihn hatte Louisa New York, Chicago, Miami und San Francisco kennengelernt. Sie war dabei, wenn er Kontakte knüpfte, und es störte sie nicht besonders, wenn die potentiellen Auftraggeber mit ihr flirteten. Hans-Holger störte das übrigens auch nicht, er profitierte schließlich davon.
Sie waren ein gutes Team. Und irgendwann ergab es sich fast automatisch, dass sie im Bett landeten. Louisa wusste natürlich, dass es eine Ehefrau gab. Aber die kam in Hans-Holgers Leben kaum vor, und sie dachte auch nicht wirklich darüber nach. Erst als es nicht bei dem einen „Ausrutscher“ blieb, sondern ihr Verhältnis sich festigte, plagte sie bisweilen das schlechte Gewissen. Doch sie sagte sich dann, dass Hans-Holger schließlich wissen musste, was er tat. Es war nicht ihr Problem, sondern seins.
Hans-Holger sprach so gut wie nie über seine Ehe. Louisa war einfach davon ausgegangen, dass zwischen ihm und Katja, seiner Frau, nichts mehr lief. Lediglich von seiner Sekretärin erfuhr sie nach und nach, dass die Ehe wohl nur noch auf dem Papier bestand und die
Trennung nur eine Frage der Zeit war. Damit konnte Louisa leben. Das Studium hatte sie damals abgebrochen, es blieb einfach keine Zeit mehr dafür. HansHolger bezahlte sie gut, ihr Leben war interessant und aufregend, sie hatte genug Geld, um sich kleine und sogar auch größere Wünsche erfüllen zu können.
Im Laufe der Jahre war sie für Hans-Holger unentbehrlich geworden. Er rationalisierte in den Firmen – sie warf die Leute, die er für ineffizient hielt, hinaus. Zumindest lief es meistens darauf hinaus, das musste sie sich immer häufiger eingestehen. Sie hatte ein besonderes Geschick darin entwickelt, den Menschen die bittere Pille, die sie zu schlucken hatten, möglichst sanft und freundlich zu verabreichen. Dennoch änderte es nichts an den Tatsachen: Sie griff massiv in das Leben anderer Menschen ein und oft genug sehr nachhaltig. Die Zeiten waren nicht mehr so, dass die Jobs auf Bewerber warteten, und sie wusste genau, wie hart es manche Familien traf.
Hans-Holger fand ihr Mitleid unangebracht. „Heutzutage muss man sich eben anstrengen, um mitzuhalten“, meinte er. „Geschenkt wird niemandem etwas. Blau machen und überzogene Urlaubsansprüche funktionieren heute nicht mehr.“
Louisa hatte längst aufgegeben, mit ihm darüber zu diskutieren. Sie zog jedes Mal den Kürzeren und ärgerte sich maßlos. Aber ändern tat das nichts an seiner Einstellung. Außerdem war Hans-Holger ein schlechter
Verlierer: Wenn er keine Argumente mehr fand, um Louisa zu überzeugen, schmollte er. Das hieß, er bestrafte sie, ganz klassisch, mit Liebesentzug. Inzwischen konnte sie schon die Uhr danach stellen. Er wurde plötzlich sachlich, machte sich rar, beschränkte die Kommunikation auf das Allernotwendigste und behandelte sie wie eine Fremde. Früher hatte sie dann meistens eingelenkt und sich entschuldigt, für was auch immer. Inzwischen war sie zusehends genervt. Wieso konnte er sich nicht mal bei ihr entschuldigen. Als ob er es brauchte, sie klein und unmündig zu halten. Nur – sie war das nicht mehr. Hans-Holger hatte das nur noch nicht begriffen. Sie wollte nicht mehr auf Abruf parat stehen, für den Fall, dass er anrief; sie wollte nicht mehr die Frau im Hintergrund sein, die für alles Verständnis hatte. Und sie wollte ein Leben ohne Lügen und Heimlichkeiten.
Louisa sah auf die Uhr. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch die Vorabendvorstellung in ihrem Lieblingskino schaffen. Das Programmkino war klein, kuschelig, plüschig, mit roten Samtsitzen, Lampen und klappbaren Tischchen. Es war selten voll, und man hatte oft das Gefühl, in einer Privatvorstellung zu sein. Genau der richtige Ort, um abzuschalten und all den Ärger wenigstens für zwei Stunden zu vergessen.
Außer ihr waren nur noch fünf Besucher im Kino.
Louisa setzte sich ganz nach hinten. Dort konnte sie in Ruhe nachdenken. Der Film handelte von der dramatischen Selbstfindung einer Frau mittleren Alters, die viel zu spät anfing, ihr Leben umzukrempeln, und es auch schaffte. Und das Ganze als Komödie.
Louisa fühlte plötzlich eine nie gekannte Traurigkeit. Würde sie auch mal so enden wie die Frau im Film, deren Leben aus lauter verpassten Gelegenheiten bestand? Hier in diesem dunklen Kinosaal, während der Abspann lief, wusste sie in aller Klarheit, dass Hans-Holger sich nie für sie entscheiden würde.
Louisa blieb sitzen, auch als es im Saal schon längst wieder hell war. Sie fühlte, wie heiße Tränen ihre Wangen hinabliefen. Wann hatte sie zum letzten Mal geweint? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Sie wusste eigentlich auch gar nicht mehr, wie Weinen ging. Aber die Tränen flossen weiter. Und nun musste sie auch noch schluchzen. Es war, als ob ein Damm brach und das Wasser sie hinweg spülte. Sie konnte einfach nicht mehr aufhören, fühlte sich einer tiefen Verzweiflung und Trauer ausgeliefert. Was war bloß los mit ihr?
Hoffentlich kriegt das keiner mit, fiel ihr plötzlich ein. Sie holte ein paar Mal tief Luft, bis der Tränenstrom endlich abebbte. Sie musste in den Waschraum, ihr Gesicht abkühlen, so konnte sie nicht auf die Straße gehen. Sie verließ den Saal mit gesenktem Kopf. Es musste sie nicht unbedingt jemand sehen.
„Ich wollte gerade nach Ihnen schauen“, sagte da eine Stimme. Louisa erschrak und schaute auf. Der Mann, der im Eingang stand, sah sie aufmerksam an. „Das hörte sich gar nicht gut an“, meinte er und nickte mit dem Kopf Richtung Saal. „So schlecht war der Film doch gar nicht. Kann ich irgendwie helfen? Ich bin ziemlich gut im Trösten.“
„Wo haben Sie das denn gelernt?“ fragte Louisa schniefend, nur um überhaupt etwas zu sagen.
„Oh, ich habe mit Kindern zu tun. Da lernt man das als erstes. Wenn Sie nicht gut trösten können, haben Sie verloren.“ Er hielt ihr ein Taschentuch hin. „Für die Nase“, sagte er.
Louisa nahm es automatisch, aber plötzlich hielt sie inne. „Ich kann nicht in ein wildfremdes Taschentuch schnupfen, das ist peinlich.“ Sie reichte es ihm zurück.
„Aber vielleicht wollen Sie darüber reden? Außer einem Taschentuch könnte ich Ihnen auch das eine oder andere Ohr leihen. Ich bin nicht nur ein guter Tröster, ich bin auch ein ebensolcher Zuhörer.“
Louisa schüttelte den Kopf. „Nur eine leichte Lebenskrise“ erklärte sie. „Der Film war wohl nichts für mich. Irgendwie hat er mir den Rest gegeben.“
Der Mann sah sie prüfend an. „Hörte sich eher nach einer schweren Krise an. Und am Film lag es bestimmt nicht. Das sollte nämlich eine dramatische Komödie sein.“ Er machte eine Pause. „Hören Sie, ich muss jetzt noch etwas erledigen. Aber haben Sie heute Abend ein bisschen Zeit? Ich muss zu einer Veranstaltung. Wollen Sie nicht mitkommen? Ich habe nicht so oft Gelegenheit, abends wegzugehen und weinende Frauen zu treffen. Nach dem offiziellen Teil könnten wir etwas essen und über Lebenskrisen reden. Wenn sie mögen.“
Er sah sie bittend an. Sollte sie? Warum eigentlich nicht. Auf sie wartete ohnehin ein trostloser Abend mit einem höchstwahrscheinlich angetrunkenen HansHolger, der Sex wollte. Und sonst nichts.
„Wo treffen wir uns?“ fragte sie. Er zog eine Visitenkarte aus der Tasche und schrieb etwas auf die Rückseite. „Das ist die Adresse des Literaturhauses“, erklärte er. „Ich hinterlege eine Karte für Sie, wenn Sie mir Ihren Namen verraten.“
„Louisa Feldmann“, erwiderte Louisa nach einem Blick auf die Karte. „Als mein persönlicher Tröster und Zuhörer dürfen Sie mich Louisa nennen. Und wenn wir über Krisen reden wollen, sollten wir uns vorher wenigstens duzen, Stefan. Und ich will dann auch etwas über deine Krisen hören.“
„Das kriege ich wohl hin“, entgegnete er und lachte. „Also: acht Uhr. Ich freue mich, auch wenn es eine Krisensitzung wird. Enttäusche mich nicht, Louisa.“ Damit drehte er sich um und ging davon.
Wie meinte er das denn, fragte sich Louisa. Enttäuschen? Oh Gott, was hatte sie sich denn da eingebrockt. Das konnte ja noch schlimmer werden als ein verdorbener Abend mit einem alkoholisierten Hans-Holger. Andererseits sah dieser Stefan schon ganz gut aus, und sympathisch war er. Und er schien Humor zu haben. Ach, zum Teufel, was soll’s. Weglaufen konnte sie ja immer noch, wenn es blöd wurde. Was sagte HansHolger immer? „No risk, no fun“. Na dann.
Es war ein milder Abend. Das schöne Wetter hatte viele Menschen auf die Straße gelockt. Auf dem Weg entlang des Stadtsees, der Alster, tummelten sich Spaziergänger, Hunde, Radfahrer und Jogger. Vor dem Literaturhaus am Schwanenwik, das nur durch die Straße und einen schmalen Wiesenstreifen von der Alster, dem großen Stadtsee, getrennt war, drängte sich eine Menschentraube. Louisa stellte sich in die Schlange. An der Kasse nannte sie ihren Namen und nahm ihre Karte entgegen.
„Da bist du ja wirklich“, hörte sie Stefans Stimme. „Ich habe schon Ausschau nach dir gehalten.“ Er führte sie in den Saal. „Ich habe dir einen Platz vorn reserviert. Dann kann ich an deinen Reaktionen sehen, ob das, was ich sage, Sinn macht.“
Louisa sah ihn verständnislos an. „Wieso, sitzt du nicht neben mir?“
Stefan deutete auf das Podium an der Stirnseite des Saales. „Ich fürchte, ich muss da oben Rede und Antwort stehen.“
„Aber...“. Bevor Louisa ihren Satz beenden konnte, wurde Stefan von einer Frau fortgezogen. „Stefan, wir müssen“, sagte sie, musterte Louisa kurz von oben bis unten und hakte sich besitzergreifend bei Stefan ein. Er konnte Louisa gerade noch ein „bis später“ zurufen, dann war er weg.
Louisa sah den beiden leicht irritiert nach. Dann zuckte sie mit den Schultern und setzte sich auf ihren Platz. Auf dem Nebensitz lag ein Flyer. Interessiert las sie den Text, der neben einem Foto von Stefan stand: „Der bekannte Kinderbuch-Illustrator Stefan Marquardt stellt sein neuestes Werk vor. Diesmal stammen nicht nur die Zeichnungen, sondern auch der Text dazu aus seiner Feder.“
Seiner Kurzbiographie entnahm sie, dass er auf dem Land lebte und Witwer war. Und wie alt war er? Aha, Jahrgang 1982. Sie rechnete. Einundvierzig, zwölf Jahre älter als sie. Hans-Holger war dreizehn Jahre älter als sie. Irgendwie hatte sie es mit älteren Männern. Hoffentlich war das kein schlechtes Zeichen.
Stefan machte nicht nur eine gute Figur auf der Bühne, er kam auch beim Publikum gut an. Louisa schaute sich unauffällig um. Tja, lauter Frauen um die Dreißig. Wahrscheinlich alles Mütter, beruhigte sich Louisa, die wollen seine Kinderbücher und nicht ihn. Sie ertappte sich dabei, dass sie ein bisschen stolz war, Stefan persönlich zu kennen. Sei nicht albern, schalt sie sich, das ist ja wie das Skilehrer-Syndrom. Der kann noch so blöd sein – die Frauen in seiner Skigruppe reißen sich um ihn. Und wenn er mit einer flirtet oder ins Bett geht, fühlt sie sich auserwählt – gewählt von dem Mann, der eine Woche lang wichtig ist. Und sie dann auch. Louisa grinste.
Stefan sah das und zwinkerte ihr zu. Während er nach der Lesung Bücher signierte, suchte er immer wieder ihren Blick. Schließlich deutete er fragend auf sein Weinglas. Sie nickte.
Er klappte das letzte signierte Buch zu, stand auf und stieg vom Podium. “Hier, für dich“, sagte er und reichte ihr das Buch. Louisa bedankte sich. „Ich bin sehr neugierig. Ich werde es in Ruhe lesen – und mich immer an meinen Nervenzusammenbruch im Kino erinnern“, sagte sie.
„Falsch“, entgegnete Stefan. „Das wäre sehr schade. Ich wünsche mir, dass du dich immer an den Moment erinnerst, in dem wir uns getroffen haben.“
„Und was ist nun mit den Kindern?“, wollte Louisa wissen, als sie sich wenig später in dem kleinen italienischen Restaurant gegenüber saßen. Stefan sah sie überrascht an.
„Du hast gesagt, dass du mit Kindern zu tun hast, und du schreibst Kinderbücher“, erinnerte sie ihn.
„Ach so“, meinte er. „Das meinst du.“ Er machte eine kleine Pause. „Ich dachte, die Erwähnung von Kindern macht mich vertrauenswürdiger. Ich hatte nämlich Angst, du könntest mich für aufdringlich halten und mich zum Teufel jagen. Und irgendwie stimmt es doch auch. Wer für Kinder schreibt, muss sich in sie hineinversetzen können.“
„Und das kannst du?“
Er zuckte mit den Schultern. „Ich war lange genug selbst Kind, reicht das nicht?“ Er grinste sie an. „Ich weiß noch genau, wie es sich anfühlt, wenn man etwas
ausgefressen hat oder vor den Eltern Geheimnisse hatte.“
„Hattest du denn etwas zu verbergen, das keiner wissen sollte?“
„Nun ja, wie jeder eben. Ich habe mal Erdbeeren aus dem Nachbargarten geklaut. Da war ich sechs. Es waren die besten Erdbeeren meines Lebens.“
„Hat man dich erwischt?“
„Nicht wirklich. Ich konnte so aufrichtig gucken, dass keiner glaubte, ich könnte klauen und lügen.“
„Hattest du hinterher wenigstens ein schlechtes Gewissen?“
Stefan zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich gar nicht mehr. Aber jetzt, wo du fragst – ich glaube eher nicht.“
„Und? Lügst du heute auch noch?“
„Nur wenn ich unbedingt muss“, bekannte er.
Louisa sah ihn an. Stefan lachte, aber der Schalk, der sonst in seinen Augen saß, blitzte nicht auf.
„Und hast du Kinder?“, fragte sie.
Er schwieg einen Moment. „Man kann auch ohne Kinder ein erfülltes Leben haben“, sagte er dann und eine kleine Falte erschien auf seiner Stirn. Aber die verschwand so schnell, dass Louisa nicht sicher war, ob sie sich das nur eingebildet hatte.
Sie bestellten und unterhielten sich angeregt über alles Mögliche, nur nicht über Louisas Ausbruch im Kino. Stefan war charmant und konnte gut erzählen, die Zeit verging wie im Flug. Nicht ein einziges Mal hatte Louisa an Hans-Holger gedacht.
Als sie sich vor der Tür voneinander verabschiedeten, griff Stefan nach Louisas Hand. „Alles wieder gut?“, fragte er mit besorgter Miene.
Louisa zuckte mit den Schultern. „Manchmal muss man Entscheidungen treffen, die weh tun“, sagte sie. „Danke für den schönen Abend, den habe ich gebraucht.“
„Soll ich dich nach Hause bringen?“
Louisa zögerte. „Nein, danke, ich gehe lieber allein, ich muss noch ein bisschen nachdenken. Außerdem ist es nicht weit.“
Sie schwiegen beide. Langsam wurde es peinlich. „Also, dann“, sagte Louisa drehte sich um und ging davon. Ein bisschen enttäuscht war sie schon, dass er nichts mehr von ihr wollte. Er hätte ja wenigstens nach einem Absacker bei mir fragen können, dachte sie. Auch wenn sie es abgelehnt hätte. Oder nach meiner Telefonnummer.
Als sie wenig später vor ihrer Wohnungstür stand, passierten zwei Dinge gleichzeitig. Beim Herausziehen ihres Schlüssels aus der Jackentasche fiel ein Zettel heraus und im selben Moment wurde die Tür von innen geöffnet.
„Da bist du ja endlich.“ Hans-Holger sah sie vorwurfsvoll an. „Weißt du eigentlich, wie lange ich schon warte? Wo warst du denn?“ Er bückte sich nach dem heruntergefallenen Zettel und warf einen Blick darauf. „Wer will dich denn wiedersehen?“
Louisa riss ihm das Blatt aus der Hand und trat ein. Bevor sie etwas sagen konnte, meinte Hans-Holger: „Komm, wir haben nicht mehr viel Zeit, bevor ich los muss.“ Er knöpfte sich im Gehen das Hemd auf und verschwand Richtung Schlafzimmer.
Louisa machte keinerlei Anstalten, ihm zu folgen. Sie sah ihm nach. Plötzlich entdeckte sie die kleine kahle Stelle an seinem Hinterkopf, die er sorgfältig zu verstecken suchte. Und dann sein Stechschritt Richtung Bett – hastig, zielstrebig wie immer. Effizient eben. Eine effiziente Affäre, dachte sie. Und plötzlich spürte sie nur noch Überdruss und Widerwillen. Sie wollte jetzt auf keinen Fall mit Hans-Holger schlafen. Er war ihrer so sicher. Wie konnte sie ihm gegenüber bloß so willenlos sein. Das war ja ekelhaft.
Sie hielt noch immer den Zettel in der Hand. Es stand nur eine Telefonnummer darauf und war mit ST unterschrieben. Na also, dachte Louisa. Plötzlich fühlte sie sich viele besser.
Langsam ging sie ins Schlafzimmer. Hans-Holger lag schon auf dem Bett und redete über den neuen Deal, den er beim Essen mit dem Kunden eingefädelt hatte. Er klopfte neben sich auf die Matratze. Als ob ich ein Hund bin, dachte Louisa. Fehlt nur noch, dass er „Platz“ sagt und ich „wuff“.
Sie setzte sich und Hans-Holger ließ seine Hand unter ihr T-Shirt gleiten. Sie rückte weg und schob seine Hand beiseite. „Hör zu, ich möchte heute lieber allein sein, mir geht es nicht so gut.“
„Was ist denn mit dir los? Ich habe mir extra für dich den Abend freigehalten. Schön, es ist später geworden als geplant, aber so ist das nun mal. Nun komm schon.“
Louisa sprang auf. „Nein, ich komme nicht! Ich habe es satt, immer nur die dritte Geige in deinem Leben zu spielen. Was bin ich denn überhaupt für dich. Ich habe dir gesagt, dass es mir nicht gut geht und du fragst nicht mal nach. Ich interessiere dich doch kein bisschen.“ Sie holte Luft.
Hans-Holger richtete sich auf und begann mit verbissener Miene sein Hemd zuzuknöpfen. „Meine Güte, du bist wirklich schlecht drauf. Aber Gemecker kann ich auch zu Hause haben.“ Er stand auf, griff zum Jackett. „Wenn du dich wieder beruhigt hast, kannst du ja anrufen.“
Sie hörte die Wohnungstür zuknallen und ließ sich aufs Bett zurücksinken. Das war also ihr erster richtiger Krach. Es ging nicht wie sonst um unterschiedliche berufliche Auffassungen, sondern um ihre Beziehung. Merkwürdigerweise war das einzige Gefühl, das Louisa empfand, Erleichterung. Nein, mehr noch. Es war fast so etwas wie eine Befreiung. Sie hatte Hans-Holger nicht nachgegeben. Und er rauschte beleidigt ab. Sie musste plötzlich grinsen. Es fühlte sich einfach verdammt gut an.
Stefan war unzufrieden mit sich. Er hatte Louisa einfach gehen lassen. Sie war so schnell weg gewesen. Aber er wollte sich noch nicht von ihr trennen. Er hatte das Gefühl gehabt, sie schon lange zu kennen. Wann passierte einem so etwas schon? Und das hatte nichts damit zu tun, dass er sie außerordentlich attraktiv fand. Sie war nicht im klassischen Sinn schön. Dazu war ihr Mund etwas zu groß und das Gesicht zu eckig. Aber ihre Augen waren lebendig und wenn sie lachte, lachten ihre Augen mit. Ihre langen Haare hatte sie zu einem festen Knoten hochgesteckt, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst hatten, die sie achtlos hinter die Ohren strich. Offenbar war sie nicht besonders eitel, dachte Stefan zufrieden.
Für ihn gab es keinen Zweifel: Er musste diese Frau unbedingt wiedersehen. Keinesfalls wollte er sie aus den Augen verlieren. Kaum hatte er das gedacht, setzte er sich auch schon in Bewegung. Louisa war nach links gegangen und dann noch einmal links um die Ecke. Er entdeckte ihre Silhouette und folgte ihr ohne weiter darüber nachzudenken. Er hoffte nur, dass sie sich nicht umdrehen und ihn entdecken würde. Das könnte peinlich werden. Andererseits konnte er ja, sollte sie ihn bemerken, einfach die Wahrheit sagen und sie um ein Wiedersehen bitten.
Aber Louisa merkte nicht, dass ihr jemand folgte. Schließlich bog sie in die Isestraße ein und hielt vor einem der großen, mehrstöckigen stuckverzierten Stadthäuser. Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel und öffnete dann die schwere Eingangstür. Das Treppenhauslicht flammte auf. Hier wohnt sie also, dachte Stefan. Irgendwie passte das zu ihr, fand er. Vor dem Haus stand eine alte Kastanie, deren Blätterkrone die Straße überdachte.
Stefan stellte sich auf der gegenüberliegenden Seite in den Schatten. Die Straßenlampe war weit genug entfernt, so dass er neben dem Müllcontainer kaum auffiel.
Der kleine Garten vor Louisas Haus wurde durch eine dichte mannshohe Hecke und einen schmiedeeisernen Zaun von der Straße abgeschirmt. Stefan sah zur zweiten Etage hinauf, wo in einem vorderen Raum gerade das Licht angegangen war. Er bewegte sich unauffällig zum Hauseingang hinüber und betrachtete die Klingelschilder. Zweiter Stock, zwei Wohnungen, zwei Namen, einer davon Feldmann. Sie wohnte also offenbar allein.
Stefan zog sich wieder in den Schatten auf der anderen Straßenseite zurück. Gerade rechtzeitig, denn plötzlich flammte im Treppenhaus die Beleuchtung auf, kurz darauf verließ ein Mann schnellen Schrittes das Haus. Auf der Straße blieb er kurz unschlüssig stehen, dann zuckte er die Schultern und ließ die Schließanlage eines Porsches aufblinken. Mit aufheulendem Motor schoss er davon. Stefan zückte sein Handy und gab die Autonummer ein. Man konnte ja nie wissen. War das der Typ, der ihr so viel Kummer bereitete?
Während Louisa ihren kleinen Sieg über HansHolger genoss, dachte Stefan Marquardt über die junge Frau nach, die ihn sofort fasziniert hatte. Seit Jahren hatte er kaum irgendeinen Gedanken an eine Frau verschwendet, und jetzt genügten ein paar Stunden, um ihn völlig aus der Ruhe zu bringen. Sein Auto stand noch vor dem Literaturhaus. Hoffentlich wartete Bea nicht auf ihn. Seine Agentin konnte eine schreckliche Nervensäge sein und behandelte ihn gern wie ihr Eigentum. Meistens war ihm das egal, denn sie war in ihrem Beruf hervorragend. Aber heute würde er das nicht ertragen. Er sah auf die Uhr. Kurz vor eins, vielleicht schlief sie ja schon, hoffte er. Sie hatte ihm einen Schlüssel gegeben, den er aber ungern benutzte. Es war ihm lieber, wenn er klingelte und sie ihm die Tür öffnete. Er wollte sich nicht in ihre Wohnung schleichen.
Bea lebte in einer geräumigen Altbauwohnung im Jungfrauental, und wenn er Termine in Hamburg hatte, konnte er bei ihr im Gästezimmer schlafen. Das war praktisch, weil sie die Termine ohnehin meistens gemeinsam wahrnehmen mussten. Allerdings erwartete Bea von ihm dann, dass er ihr zur Verfügung stand. Anfangs war sie scharf auf ihn gewesen, und hatte das auch ganz offen gezeigt. Stefan war gleichermaßen abgestoßen wie fasziniert. Es gab ihm ein Gefühl von Macht, was er durchaus als reizvoll empfand, jedenfalls für kurze Zeit.
Tatsächlich hatte er sich hinreißen lassen, mit ihr ins Bett zu gehen. Sie hatte ihn erregt, aber es war nur sein Körper, der reagierte. Als sie dann hastig zur Sache kam, musste er sich anstrengen, um ihren Wünschen zu genügen. Er fühlte sich wie eine Maschine, und je heftiger sie stöhnte, desto mehr törnte es ihn ab. Es war furchtbar. Glücklicherweise verlangte sie hinterher keine Zärtlichkeitsbeweise von ihm oder ein gemeinsames Einschlafen und Aufwachen – das hätte er nicht ertragen.
Bea machte es ihm leicht. Sie gab sich cool, so dass er glaubte, die Bettgeschichte sei erledigt. Dass dem nicht so war, merkte er, als Bea bei seinem nächsten Besuch offenbar eine Wiederholung plante. Wie konnte er sie sich vom Leib halten ohne sie total zu verärgern, fragte er sich. Wieso hatte er sich bloß darauf eingelassen. Zurückgewiesene Frauen konnten eine Pest sein. Das wusste er nur zu gut.
Heute Abend stand ihm überhaupt nicht der Sinn nach einer Unterhaltung mit Bea. Aber in ihrer Wohnung brannte noch Licht, sie war also noch wach. Mist, dachte Stefan. Er schloss die Haustür auf und klopfte dann an ihrer Wohnungstür. Als sie öffnete, sah sie ihn überrascht und erfreut an.
„Du bist noch in Hamburg? Ich dachte, du wärst nach Hause gefahren. Komm rein und trink ein Glas mit mir.“ Sie setzte sich im Wohnzimmer auf das Sofa und klopfte auf den Sitz neben sich.
„Aber nur einen Moment“, erwiderte er, „ich bin hundemüde.“
„Dann sollten wir bald schlafen gehen.“ Das klang aus ihrem Mund zweideutig genug, aber Stefan beschloss, darauf nicht einzugehen. Bea reichte ihm ihr Weinglas. „Schenkst du mir bitte noch etwas ein? Du auch?“ Er nickte und holte sich ein Glas aus der Küche.
Bea hatte einen Arm einladend auf die Sofalehne gelegt. Als er ihr nachschenkte, beugte sie sich vor und umfasste seine Hand. Er tat, als ob er das nicht bemerkt hätte, wandte sich um und setzte sich in den Sessel gegenüber.
Er trank einen Schluck. „Weißt du, worum ich dich beneide?“ sagte er. Bea sah ihn erstaunt an. „Darum, dass du aus unserem schönen Abend neulich keine große Affäre machst. Du hast ja Recht, es würde unsere gute Zusammenarbeit nur belasten, wenn wir Privates damit vermischen, auch wenn ich das bedaure.“ Er log ohne rot zu werden. Ob sie das schluckte? „Danke, dass du mich zur Vernunft gebracht hast.
Bea schwieg einen Moment. „Wenn du das so siehst, bitte“, sagte sie dann.
Stefan atmete auf. Die Klippe war umschifft. Hoffentlich warteten keine weiteren Untiefen auf ihn. Er wollte Bea gern als Agentin behalten. Sie machte einen guten Job und hatte viele Kontakte. Vielleicht wäre es schlau, sie als „Beraterin“ auch in Teile seines Privatlebens einzubeziehen, so dass sie nicht mehr auf dumme Gedanken kam.