"Liebste Schwester, wir müssen hier sterben oder siegen." - Marie Moutier - E-Book

"Liebste Schwester, wir müssen hier sterben oder siegen." E-Book

Marie Moutier

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Beschreibung

Eine beeindruckende Sammlung persönlicher Zeitdokumente

Die Museumsstiftung Post und Telekommunikation in Berlin ist in Besitz von 16.000 Briefen, die deutsche Soldaten im Laufe des Zweiten Weltkrieges an ihre Verwandten daheim geschrieben haben. Die französische Germanistin und Historikerin Marie Moutier hat eine Auswahl aus dieser großen Sammlung getroffen. Chronologisch und nach Kriegsschauplätzen (Polen, Frankreich, Norwegen, Afrika, Russland, Normandie) geordnet, liefert diese Feldpost gleichsam eine Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Briefen. Sie zeigt einfache Soldaten und Gefreite, die gegenüber ihren verwandten Briefpartnern oft enormes Mitgefühl und Einfühlungsvermögen beweisen und die zugleich von der Rassenideologie des Nationalsozialismus durchdrungen sind. Jedem Brief ist jeweils ein kurzer Lebensaufriss des Absenders vorangestellt.

„Die Veröffentlichung dieser Briefe ist ein bedeutender Beitrag zum Verständnis des Zweiten Weltkrieges und der Mentalität der Soldaten.“ TIMOTHY SNYDER

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Seitenzahl: 444

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Das Buch

Diese Briefe sind außergewöhnlich nicht nur durch ihren Inhalt. Von den ersten Zeilen an sieht der Leser den Zweiten Weltkrieg durch den Blick seiner Soldaten. Die Unverblümtheit ihrer Aussagen bildete einen Kontrast zu den banalen Details des Militärlebens, die Brutalität des Krieges zu den zärtlichen Worten, die sie ihren Ehefrauen schickten. Das Schmerzlichste ist die Erkenntnis, dass diese Soldaten, die die Welt in einen extrem mörderischen und völkermordenden Krieg stürzten, einfache Männer waren.

Die Zensur der Nazis war eine der strengsten im Zweiten Weltkrieg und veränderte sich im Laufe des Kriegs. Zunächst wurde nur jede militärische Information zensiert, später wurden dann die Passagen geschwärzt, die nicht der Ideologie entsprachen: Die Familien durften nicht allzu deutlich über die Sorgen und Zweifel in ihrem Alltag sprechen, und die Soldaten durften keinen Defätismus an den Tag legen. Die deutsche Armee warnte die Soldaten: keine Details über Militäroperationen, über die Position der Truppen, keine Flugblätter des Feindes, keine kodierten Aufschriften und die Abfassung der Briefe in einer europäischen Sprache – außerdem mussten Spionage und Subversion verhindert werden. Aber die Soldaten, die sich dieser Gefahr bewusst waren, zensierten sich selbst. Doch gerade diese Selbstzensur macht diese Quellen unter anderem so interessant.

Marie Moutier hat die Briefe chronologisch, dem Kriegsverlauf entsprechend, in drei Teilen angeordnet: 1939–1941, 1942–1943 und 1944–1945.  

Die Autorin

Marie Moutier studierte an der Sorbonne in Paris Geschichte und promoviert gegenwärtig an der der Universität von Amiens. Als Archivleiterin der Organisation Yahad-in Unum forschte sie über Massenexekutionen von Juden zwischen 1941 und 1944  auf dem Gebiet der heutigen Ukraine und Weißrussland.

Marie Moutier

unter Mitarbeit von Fanny Chassain-Pichon

„Liebste Schwester,

wir müssen hier sterben

oder siegen.“

Briefe deutscher

Wehrmachtssoldaten 1939–45

Vorwort, Einführungstexte und Anmerkungen

aus dem Französischen

von Michael von Killisch-Horn

Blessing

Originaltitel: Lettres de la Wehrmacht.

Originalverlag: Perrin, Paris

1. Auflage 2015

Copyright der Übersetzungen 2015 Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Geviert Grafik & Typografie, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-16353-2

www.blessing-verlag.de

VORWORT

Die Veröffentlichung dieser Briefe von Soldaten der Wehrmacht ist ein wichtiger Schritt für das Verständnis des Zweiten Weltkriegs. Immerhin waren diese Männer die einzigen Europäer, die an allen Fronten Europas gekämpft haben: im Osten und Westen, Norden und Süden. Sie bildeten eine große Mehrheit unter jenen Deutschen, die den Krieg außerhalb ihres Heimatlandes verbrachten, da sie die Zivilisten und die SS-Männer zahlenmäßig übertrafen. Die hier gebotene Zusammenstellung ihrer Briefe erlaubt uns, die ungeheure Bandbreite der Erfahrungen zu erfassen, welche die deutschen Soldaten über fast sechs Jahre hinweg gemacht haben.

Frankreich ist eines der Themen. Aber der Frankreichfeldzug erscheint hier weder als typisch noch als außergewöhnlich. Er ist eine Erfahrung unter anderen, die mit Sicherheit die Eroberungspolitik der Deutschen prägte, doch das galt auch für alle anderen Länder, die sie annektierten. Wenn man diese Briefe liest, stellt man fest, wie sehr die Vorstellungen, die sich die Deutschen vom Leben in Frankreich machten, ihre Beschreibungen des Alltags beeinflussten. Und das gilt auch für Polen und die Ukraine, wo die Ideologie auf heimtückischere Art der Erfahrung einer äußerst blutigen Besetzung vorausging und sie prägte.

Hannah Arendt sprach von der Banalität des Bösen. In diesen Briefen tritt das Böse der Banalität zutage. Die deutschen Soldaten waren sich der Gräuel vollkommen bewusst, deren Zeugen sie wurden oder die sie begingen, doch aus ihrer Sicht waren diese Verbrechen lediglich ein Element ihres Alltags und nur selten dasjenige, das am meisten zählte. Was sie aßen, wo sie schliefen, was sie über ihre Kameraden oder über die Abwesenheit ihrer Familien dachten, beschäftigte sie weitaus mehr. Die Veröffentlichung dieser Briefe erlaubt uns, diese erschreckende Totalität des Alltagslebens zu verstehen. Und da kommt natürlich auch ein nicht unerheblicher Wahrnehmungsunterschied zwischen Verbrecher und Opfer ins Spiel. Für den Verbrecher ist das Verbrechen ein Element der Geschichte und nicht die Hauptsache. Für das Opfer ist das Verbrechen die Geschichte selbst.

Was für die deutschen Soldaten gilt, galt ebenso für die Soldaten der anderen Länder. Ihre Briefe erinnern uns durch den Platz, den sie der Intimität einräumen, sowie durch ihre Details und ihre Vielfalt daran, dass die deutschen Soldaten auch Menschen waren. Sie sprechen hier nicht zu sich selbst oder zu ihren Befehlshabern, auch nicht zu denen, die sie nach dem Krieg befragten, ja nicht einmal zur Geschichte. Sie sprechen zu den Personen, die sie lieben. Die Verbindungen, die sie zwischen dem knüpfen, was sie sehen, und dem, was sie tun, müssen auf eine Weise erklärt werden, welche die Bedeutung, die dem Krieg in Deutschland gegeben wird, ebenso berücksichtigt wie die Bedeutung, die der Intimität geschenkt wird. Die Fähigkeit der Wehrmachtssoldaten, das Böse zu tun und es den anderen und folglich sich selbst zu erklären, war nur allzu menschlich.

Deswegen ist diese Auswahl von großem Wert: Sie zwingt uns, über den Krieg in allgemeineren Begriffen nachzudenken, als uns lieb ist.

Timothy Snyder

April 2014

EINLEITUNG

Eine feine, gedrängte Schrift auf dickem, mit der Zeit brüchig gewordenem Papier. Eine Haarlocke, aufgeklebt mithilfe einer Briefmarke mit dem Bild des Führers. Eine blaue Schrift, die sich auflöst in einem braunen Kaffee- oder Feuchtigkeitsfleck. Die mit Bleistift vollgekritzelte vergilbte Postkarte eines Loireschlosses. Ein junger Blick unter einer funkelnden Schirmmütze im Atelier eines Armeefotografen, der sich im Leeren verliert. Soldaten in Schwarzweiß, die sich kaum von einer Baumgruppe in einer Schneelandschaft unterscheiden …

Ein repräsentatives Gebäude aus hellem Sandstein beherbergt das Museum für Kommunikation. Von den großen Fenstern der fünften Etage aus gesehen, verliert sich die Leipziger Straße in einem Gewirr von Betonhäusern aus den Sechzigerjahren und elektrischen Leitungen. In Richtung Westen befindet sich der ehemalige Flugplatz Tempelhof, wo 1936 das Flughafengebäude entstanden war. Ein gewaltiges, von Hitler befohlenes Gebäude, einer der letzten Überreste des Dritten Reiches in einer einst vom Krieg verwüsteten Stadt. Eine weitere bedeutende Hinterlassenschaft aus der Zeit des Dritten Reiches befindet sich zwischen den Sandsteinmauern des Museums für Kommunikation.

Die grauen Ordner, die auf dem großen Tisch aus Kiefernholz liegen und von der Wintersonne, die über der Stadt aufgeht, schwach beleuchtet werden, tragen alle einen Namen. Otto, Werner, Hans … Sie enthalten die originalen Korrespondenzen der Soldaten. Ihr Umfang variiert: Die Briefwechsel sehr mitteilsamer Soldaten sind in mehreren Kartons aufbewahrt, während von anderen nur ein Brief oder ein Telegramm vorhanden ist. Der Umfang der Akte hängt zu einem Gutteil von der an der Front verbrachten Zeit ab. Nicht alle Soldaten kämpften während der ganzen fünfeinhalb Jahre des Krieges, das hing häufig vom Alter des Rekruten ab. Und Verwundung, Gefangenschaft und Tod sind ebenfalls Faktoren, die den Austausch von Briefen abbrechen ließen. Allerdings hatten auch nicht alle Soldaten den gleichen Bezug zum Schreiben oder zur Aufrechterhaltung des Kontakts mit der Heimat.

Wir öffnen eine Mappe. Es ist diejenige eines gewissen Wolfgang. Sofort gleitet eine Schwarzweißaufnahme heraus und fällt auf den Tisch. Der Mann ist jung. Etwa zwanzig. Seine Lippen deuten ein Lächeln an. Seine Augen, vermutlich braun, blicken offen und amüsiert in die Kamera. Eine Spur von Stolz funkelt darin. Er sieht gut aus; man ahnt seine frischen Wangen. Das Kinn ist vorgestreckt. Er trägt Uniform. Das Feldgrau der Armee Hitlers. Wir nehmen die Blätter heraus, sorgfältig nach dem Alphabet geordnet, manche kleben aneinander aufgrund der Zeit und der Feuchtigkeit eines Speichers.

Diese Briefe sind Schenkungen der Familien. Mit einem kräftigen Bindfaden zusammengebundene Pakete, gefunden in einem Schrank zwischen zwei Stapeln Laken, zwischen den Papieren einer verstorbenen Großmutter oder in der staubigen Schublade eines lackierten Holzbüffets, in der Truhe im Keller inmitten von Kriegsheften und Kriegsauszeichnungen. Hunderte von Blättern, meist vergessen – wie viele schlafen noch auf dem Speicher eines Bauernhofs, und wie viele wurden zerstört von den Bombenangriffen, von dem Vergessen und der Gleichgültigkeit … Das Berliner Museum für Kommunikation hat eine gewaltige Arbeit geleistet, indem es 16 000 Briefe von deutschen Soldaten gesammelt hat, die am Zweiten Weltkrieg teilgenommen haben.

16000 Briefe

Diese Sammlung ist außergewöhnlich aufgrund ihres Inhalts. Von den ersten Zeilen an sieht der Leser den Zweiten Weltkrieg durch den Blick seiner Soldaten. Diese Sicht der unmittelbar Betroffenen auf den Krieg ist nicht neutral. Sie ist angereichert durch die Erziehung und die Persönlichkeit der Briefschreiber, durch ihre Geschichte.

Mein Projekt, eine Auswahl aus diesen Feldpostbriefen zu treffen, geht auf das Jahr 2012 zurück. Ich arbeitete seit 2009 bei der Organisation Yahad-In Unum, deren Vorsitzender Pater Patrick Desbois ist, und hatte einige Zeit im Archiv des United States Holocaust Memorial Museum in Washington verbracht. Ich war auf der Suche gewesen nach Material für Forschungen, welche die Organisation über die Massaker an Juden und Zigeunern durchführte. Die Teams machten bereits seit 2004 Interviews mit Zeugen dieser Erschießungen und lokalisierten die Orte dieser Gemetzel. Damals stieß ich auf eine Dokumentensammlung aus dem Deutschen Militärarchiv in Freiburg, die meine Aufmerksamkeit erregten: Tagebücher und Briefe von Soldaten der Wehrmacht. Ich fing an, all diese Dokumente zu lesen, und wurde schnell in Bann geschlagen von diesen Worten, in denen sich Krieg und persönliche Geschichte vermischten. Es war verwirrend, den Krieg durch die Augen der deutschen Soldaten zu sehen. Die Unverblümtheit der Sprache bildete einen Kontrast zu den banalen Details des Militärlebens, die Brutalität des Krieges zu den zärtlichen Worten, die sie ihren Ehefrauen schickten. Das Schmerzlichste war die Erkenntnis, dass diese Soldaten, die die Welt in einen extrem mörderischen und völkermordenden Krieg stürzten, einfache Männer waren. Sie verkörperten ein Paradox, nämlich das einer Person, die von einer ideologischen und rassistischen Raserei beseelt und zugleich ein Ehemann sein konnte, der sich um die Daheimgebliebenen sorgte. Ich wollte mehr wissen.

Das Museum für Kommunikation in Berlin erwies sich als eines der wichtigsten Archivzentren, was die Korrespondenzen des Zweiten Weltkriegs betrifft. Wie war es möglich, eine vernünftige Auswahl aus einem so gigantischen Korpus zu treffen? Eine Reihe von Kriterien musste gefunden werden.

Zunächst einmal waren nur die deutschen Soldaten an allen Fronten Europas und Nordafrikas gewesen. Nur sie allein konnten von den verschiedenen Kriegsschauplätzen mit Ausnahme derer in Asien berichten. Neben dem Frankreichfeldzug war es uns wichtig, auch jene Fronten zu berücksichtigen, die leicht in den Hintergrund geraten: Norwegen, Griechenland, Jugoslawien, Mitteleuropa … Ein großer Teil der Briefe wurde an der Ostfront geschrieben, was sich in der Auswahl widerspiegeln sollte. Denn 3 600 000 deutsche Soldaten, zum größten Teil Rekruten, nahmen am Unternehmen Barbarossa teil. Manche Soldaten zogen besondere Aufmerksamkeit auf sich: Ihr Einsatz an den verschiedenen Fronten zeigt sehr deutlich die Entwicklung ihrer Gesinnung und ihres Platzes innerhalb des Krieges. So diente etwa Robert W. zunächst im Afrikakorps in Libyen, bevor er 1943 an die Ostfront versetzt wurde, wo er fiel. Ebenso kann man den Weg von Heinz R. durch Frankreich, die Tschechoslowakei, die Ukraine und den Kaukasus verfolgen.

Auch die Daten spielten eine entscheidende Rolle bei der Auswahl der Briefe. Es kam uns darauf an, sie unter Berücksichtigung wichtiger militärischer Ereignisse auszuwählen wie das Unternehmen Barbarossa, Stalingrad, das Hitlerattentat, die Landung in der Normandie. Wir haben uns entschlossen, die Briefe chronologisch in drei Teilen anzuordnen: 1939–1941, 1942–1943 und 1944–1945. Diese Unterteilung ergab sich aus dem Verlauf des Krieges.

Die ersten Kriegsjahre waren geprägt von den Siegen der Wehrmacht, dem schnellen Vormarsch in Polen, in Norwegen, in Belgien, in den Niederlanden und in Frankreich. Darüber hinaus bildeten sich in diesen Jahren die wichtigsten Fronten. Die Soldaten waren damals wie elektrisiert von ihren Erfolgen, fühlten sich ihren Feinden überlegen und wurden beseelt von dem Gedanken, einen gerechten Krieg zu führen. Doch der hartnäckige Widerstand Englands und das Stocken des Vormarsches in der Sowjetunion zu Beginn des Winters 1941 versetzten ihrer Euphorie einen Dampfer.

1942/43 erlebte die Wehrmacht ihre stärkste territoriale Expansion – sie drang bis zum Kaukasus vor –, aber auch ihren Niedergang: Der Rückzug aus Nordafrika und die Niederlage von Stalingrad leiteten eine Reihe von Rückschlägen ein, welche die Armee veranlassten, sich nach und nach aus der Sowjetunion zurückzuziehen.

Aus der letzten, kürzesten Periode gibt es weniger Briefe als aus den beiden vorhergehenden. Insgesamt sind weniger Briefe aus dieser Zeit erhalten geblieben. Zahlreiche deutsche Soldaten waren gefallen oder in Kriegsgefangenschaft; logistische und Verbindungsprobleme behinderten die Weiterleitung der Briefe, und die ständigen Kämpfe schränkten die Möglichkeiten des Schreibens erheblich ein. Die Jahre 1944 und 1945 besiegelten den Niedergang der Wehrmacht, die im Osten von den Angriffen der Roten Armee empfindlich getroffen wurde und im Westen durch die Eröffnung einer neuen Front nach der Landung in der Normandie überfordert war, während die Familien der Soldaten im Reich unter den immer häufigeren und heftigeren Bombenangriffen litten.

Schließlich wurde der Vielfalt von Situationen eines jeden Soldaten Vorrang eingeräumt, um, möglichst verschiedenartige Briefinhalte sowohl über die Kämpfe als auch über das Alltagsleben der Soldaten, über ihre Eindrücke in jedem neuen Land, aber auch über Liebeserklärungen zusammenzutragen. Das Leben eines deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg beschränkte sich nicht auf Kämpfe und andere Manöver. Sein Alltag war geprägt von Momenten der Untätigkeit, manchmal der Langeweile, von Feiern, Besuchen, Kameradschaft und Kontakten mit der örtlichen Bevölkerung.

Historiker der Wehrmacht wie Omer Bartov etwa haben Briefe von Wehrmachtssoldaten für ihre Untersuchungen herangezogen. In Deutschland erschienen ferner ein paar Werke mit Briefauszügen zu genau definierten Fragestellungen. So lieferte das Buch von Ortwin Buchbender und Reinhold Sterz1 beispielsweise Ausschnitte aus Briefen, eliminierte jedoch zahlreiche Passagen, die nichts mit dem eigentlichen Krieg zu tun hatten. Wir haben uns im Gegensatz dazu entschieden, diese Briefe in ihrem militärischen, aber auch familiären und persönlichen Kontext zu belassen. Ein Unteroffizier der Wehrmacht verfasste seine Briefe nicht auf die gleiche Weise wie ein einfacher Soldat. Man schrieb seinen Eltern anders als seiner Frau. Absicht dieses Buches ist es, mit der Idee einer deutschen Kriegsmaschinerie aufzuräumen und stattdessen die Gemütsverfassungen, die Überzeugungen, die Leiden und die Freuden der Wehrmachtssoldaten kennenzulernen. Es geht darum, sich von den im kollektiven Gedächtnis verankerten Bildern der Nürnberger Naziaufmärsche und dem rhythmischen Klang der Stiefel zu lösen, in denen alle Soldaten sich gleichen, im Stechschritt marschierend wie ein Körper. Ihnen ihre Individualität, ihre Menschlichkeit zurückzugeben, ist unabdingbar, wenn man verstehen will, was der Zweite Weltkrieg war. Diese Kämpfer Hitlers als Individuen zu sehen, mag Unbehagen auslösen. Doch auf genau dieses Unbehagen kommt es an: Indem wir sie als Menschen betrachten, wird die Katastrophe des Krieges nur noch schrecklicher. Diese Apokalypse wurde von Menschen gemacht. Die Soldaten der Wehrmacht zu entmenschlichen, wäre ein Fehler. Wie kann man diesen Krieg verstehen, wenn man von vornherein postuliert, die Soldaten und die Henker seien nichts als Schachfiguren im Dienste einer Ideologie gewesen? Hitlers Wehrmacht, um den Titel des Buchs von Omer Bartov2 aufzugreifen, setzte sich zusammen aus Familienvätern, Studenten, Bankiers, Künstlern, Pfarrern, Postangestellten, Arbeitern, Lehrern, die eines Morgens ihren Einberufungsbefehl bekamen. Menschen mit ihren Zweifeln, ihrem Kummer, ihrer Begeisterung, ihren Ängsten. Natürlich spielte die Naziideologie eine beträchtliche Rolle hinsichtlich ihrer Motive und der Vorstellung von ihrem Platz in diesem Krieg – was in den Briefen sehr deutlich zum Ausdruck kommt –, aber man darf darum nicht ihre persönliche Geschichte, ihre Erziehung und ihre Kultur außer Acht lassen. Christopher Browning setzte in seinem Buch über die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 bereits eine ausgezeichnete Reflexion über diese „ganz normalen Männer“3 in Gang, die sich im Zentrum des Völkermords wiederfinden. Auch das vorliegende Buch möchte zu dieser Reflexion über den Menschen im Zweiten Weltkrieg beitragen mit den Stimmen derer, die ihn geführt haben.

In jüngster Zeit veröffentlichten Sönke Neitzel und Harald Welzer ihr Buch Soldaten4, in dem sie die Tonufnahmen deutscher Soldaten kommentierten, die ohne ihr Wissen in den Kriegsgefangenenlagern in Großbritannien gemacht worden waren. So wichtig diese Quelle auch ist, um die Einstellung dieser Männer zu begreifen und ihre Berichte über die Ereignissen kennenzulernen, hat sie doch den Nachteil, dass sie keine näheren Informationen über die Soldaten selbst liefert, sodass man sie nicht in ihrem persönlichen Umfeld verstehen kann. Wir haben uns im Gegensatz dazu entschlossen, Briefe zu präsentieren, die mitten im Krieg geschrieben wurden, und keine nachträglich verfassten Berichte. Die mit Bleistift auf einem kaum von einer Kerze erleuchteten Tisch in einer russischen Winternacht geschriebenen Zeilen versetzen den Leser sehr viel stärker in die Realität des Augenblicks.

Allerdings unterlagen diese Briefe der Zensur, während sich die Soldaten in Gefangenschaft frei ausdrücken konnten. Die zuständige Dienststellen unterstanden dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW). Die deutsche Feldpost beförderte zwischen 1939 und 1945 um die drei Milliarden Briefe und Päckchen. Die Zensur der Nazis war eine der strengsten im Zweiten Weltkrieg und veränderte sich im Laufe des Krieges. Zunächst wurden nur alle militärischen Informationen zensiert, später dann sämtliche Passagen geschwärzt, die nicht der Ideologie entsprachen: Die Familien durften nicht allzu deutlich über die Sorgen und Zweifel ihres Alltags sprechen, und die Soldaten durften keinen Defätismus an den Tag legen. Die Wehrmacht warnte die Soldaten: keine Details über Militäroperationen, über die Position der Truppen, keine Flugblätter des Feindes, keine kodierten Aufschriften und die Abfassung der Briefe in einer europäischen Sprache – außerdem mussten Spionage und Subversion verhindert werden. Wenn ein Brief, der sich nicht an diese Anweisungen hielt, in die Hände der Zensur fiel, wurde sein Absender von da an streng überwacht. Allerdings hatten diese strikten Maßnahmen vor allem eine abschreckende Wirkung, denn die Zensur konnte nicht im Entferntesten die Gesamtheit der gewaltigen Briefmengen kontrollieren, die zwischen Front und Hinterland hin und her geschickt wurden, sondern musste sich mit Stichproben begnügen.

Logistische Gründe verhinderten, dass dieses ganze Material der Zensur in die Hände fiel. Die Soldaten, die sich dieser Gefahr bewusst waren – zumal ihnen in den „Mitteilungen für die Truppe“ immer wieder eingeschärft wurde, dass Feldpost Zuversicht spenden, Zweifel zerstreuen und „wie eine Waffe“ wirken könne –, zensierten sich selbst. Doch gerade diese Selbstzensur macht diese Quellen unter anderem so interessant. Wenn man seiner Familie keine Details über die Militäroperationen mitteilen darf, was schreibt man ihr dann? Im Übrigen betraf diese Zurückhaltung nicht nur die Kampfhandlungen. Es kam auch vor, dass ein Soldat sich dagegen sträubte, die Beschwerlichkeit seines Lebens zu schildern, und seine Verwundungen und die eisigen Temperaturen herunterspielte. Doch solche Schamhaftigkeit schränkt den Wert ihrer Briefe nicht ein, im Gegenteil, sie offenbart ein Stück Menschlichkeit dieser Soldaten.

Die Auswahl der Briefe wurde auch von dem Wunsch geleitet, eine möglichst große Vielfalt von Einstellungen der Soldaten zu zeigen: ideologischer Fanatismus, Überdruss, Hoffnung, Kampfgeist, Engagement, Defätismus … Auch hier geht es nicht darum, die von der Wehrmacht begangenen Gräueltaten herauszustellen. In Deutschland wird auf diesem Gebiet gründlich geforscht und diskutiert, etwa im Zuge der Ausstellungen über die Verbrechen der Wehrmacht5, den Buchveröffentlichungen von Wolfgang Wette6 und in jüngster Zeit von Neitzel und Welzer. Darin wird mit der Vorstellung einer Wehrmacht aufgeräumt, die sauber und unbefleckt dastand, während alle im besetzten Europa begangenen Verbrechen der SS zugeschrieben wurden. Im vorliegenden Buch erwähnen mehrere Briefe die Massaker an Juden oder sowjetischen Kriegsgefangenen, aus manchen spricht auch ein tiefer Antisemitismus. Doch der Akzent sollte nicht ausschließlich auf dem Fanatismus liegen, es sollte vielmehr gezeigt werden, dass die Meinungen der deutschen Soldaten durchaus unterschiedlich waren. Ihre Menschlichkeit deutlich werden zu lassen, geschieht keineswegs in der Absicht, sie sympathisch zu machen. Diese Menschlichkeit soll im Gegenteil unterstreichen, wozu ein Mensch im Krieg fähig ist.

Kurt H. befand sich in Kowel in der Ukraine, als er am 20. März 1942 seiner Frau schrieb. Juwelier im zivilen Leben, war er damals Aufsetzer in einem Lager für sowjetische Kriegsgefangene. Er beschreibt die schrecklichen Bedingungen, unter denen die Männer der Roten Armee interniert waren, und die vergeblichen Bemühungen ihrer Frauen, sie freizubekommen. In demselben Brief breitet Kurt H. Geschichten von Ehemännern aus, die während ihrer Abwesenheit betrogen worden waren, macht seiner Frau äußerst explizite Avancen und erzählt ihr überdies ein paar Details des Alltagslebens, insbesondere hinsichtlich der Ernährung. Wir hätten von diesem Brief einfach nur den Teil abdrucken können, der das Kriegsgefangenenlager betrifft. Doch dann hätte diese Passage nicht die gleiche Wirkung, wie wenn sie in die persönliche Welt des Soldaten eingebettet bleibt. Das Lager wird so zu einem Detail im Alltag des Schreibers, der sich spürbar langweilt und sich mit seinen Kameraden über Ehebruchsgeschichten unterhält. Anliegen dieses Buches ist es nicht, Beweise für die von diesem oder jenem Soldaten begangenen Verbrechen zu liefern, sondern den Leser in die ungeschminkte Kriegsrealität eines jeden dieser Männer eintauchen zu lassen, indem es das Grauen mit Details mischt, die an sich belanglos, aber dennoch der Schlüssel sind, um zu begreifen, wie deutsche Soldaten den Krieg erlebten.

Ihre Briefe zeigen, wie sehr dieser Krieg als ein Krieg der Kulturen wahrgenommen wurde. Als Protagonisten der angeblich überlegenen germanischen Kultur fühlten sie sich mit der Mission betraut, Europa gegen die vom jüdischen Bolschewismus verkörperte Barbarei und die Dekadenz von Ländern wie Frankreich zu verteidigen. Die militärischen Erfolge der Jahre 1939 bis 1941 bestärkten die Wehrmachtssoldaten in der Richtigkeit ihres Kampfes. Die Siege in Polen und in Westeuropa und der rasche Vormarsch in der Sowjetunion bis Herbst 1941 schienen die Naziideologie, aber auch die Vorurteile hinsichtlich der betroffenen Länder zu bestätigen, die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs en vogue waren. Diese Briefe machen uns bewusst, dass die Soldaten den Krieg, ihren Krieg, nicht nur durch das Prisma der Ideologie sahen, sondern ebenso durch das ihrer jeweiligen familiären Tradition, ihrer Lektüren, ihrer Erfahrung, ihres Verhältnisses zur Geschichte und der Art und Weise, wie sie sich selbst innerhalb der Geschichte situierten.

Vergessen wir nicht, dass die Kriegsschauplätze, auf denen die Wehrmacht kämpfte, fast die gleichen wie im Ersten Weltkrieg waren. Hitlers Soldaten kämpften mit der noch sehr lebendigen Erfahrung des Ersten Weltkriegs im Hinterkopf. Und ihre Positionierung im Zweiten Weltkrieg erfolgte entsprechend ihrer Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs. Überlagert wurde all dies von der nationalsozialistischen Ideologie, die auf dem Nährboden der Feindbilder und der Wirtschaftskrise gedieh.

Für wen schreiben?

Wie im Ersten Weltkrieg war der Austausch von Briefen zwischen der Front und der Heinat, zwischen den Soldaten und ihren Familien von entscheidender Bedeutung, um die Moral der Truppen aufrechtzuerhalten. Im Großen und Ganzen unterscheiden sich die hier präsentierten Briefe in ihrer Art nicht von denjenigen der Soldaten des Ersten Weltkriegs. Man schreibt stets an seine Eltern, an seine Geschwister, an seine Ehefrau. Die Soldaten sind in erster Linie von dem Wunsch beseelt, die ihnen nahestehenden Personen zu beruhigen, sowie von dem Bedürfnis, ihre Erfahrungen und Entdeckungen vor Ort mit ihnen zu teilen, was zahlreiche Briefe bezeugen, die von den touristischen Aktivitäten mancher deutscher Soldaten berichten. Heinz R. beispielsweise beschreibt seiner Frau ganz genau die Gegenden, durch die er kommt. Er verstößt sogar gegen Befehle, um Prag besuchen zu können7. Im Übrigen wurden die Urlaube im Verlauf des Krieges immer seltener. Daher blieb den Soldaten und ihren Familien nichts anderes übrig, als brieflich den Kontakt aufrechtzuerhalten. Franz S. beklagt sich – wie viele seiner Kameraden – über die Unmöglichkeit, seine Familie einmal für einen längeren Zeitraum zu besuchen8. Man muss bedenken, dass die Truppen der Wehrmacht weit von zu Hause entfernt kämpften, manchmal mehrere tausend Kilometer. Der Kontakt war auch notwendig, um Päckchen hin und her zu schicken, eine weit verbreitete Praxis, die einen zentralen Platz in den Briefen einnimmt. Der Soldat schickt kleine Gegenstände, Stoff, Kleidung nach Hause, während die Familie ihn mit Lebensmitteln, Tabak und Filmen versorgte.

Allerdings wurde der Kontakt zwischen den Soldaten und ihren Familien bisweilen durch Verständigungsprobleme belastet. So ließen sich, je länger der Krieg dauerte, die unterschiedlichen Lebenserfahrungen an der Front und in der Heimat immer schwerer vermitteln. Hinzu kamen technische und logistische Hindernisse: Die Zustellung der Briefe verzögerte sich häufig, oder die Schreiben kreuzten sich, sodass ein wirklicher Gedankenaustausch kaum möglich war.

Ein Soldat schreibt überdies nicht auf die gleiche Weise an seinen Vater oder seine Mutter. In der Regel spürt er, dass die Mutter sich nicht im Geringsten für Fragen wie Ehre und Eroberung interessiert, sondern vor allem über das Schicksal ihres Sohnes besorgt ist. Mit dem Vater hingegen entwickelt sich eine Art von gegenseitigem unausgesprochenem Verständnis. Man scheut sich nicht, ihm detailliert die Waffen des Gegners zu schildern, wie Hans S. es in einem Brief vom 28. Juli 1941 von der Ostfront tut. Und als Siegfried W. seine Mutter tröstet, weil sein Vater gestorben ist, bittet er sie, jetzt ihm „der Kamerad [zu] sein, der mir Vati war“. Der Soldat braucht diese männliche Komplizenschaft, diese stillschweigende Ermutigung. Man kann sich vorstellen, dass zahlreiche Väter von Wehrmachtssoldaten im Ersten Weltkrieg gekämpft haben, wie der von Karl K.: „Heute vor dreißig Jahren sah ich den ersten Feldgrauen, einen Totenkopfhusaren, im Schein der Abendsonne auf dem Stettiner Bahnhof in Berlin. Als wir dann zu Haus ankamen, zeigte Vater Mutter seinen gelben Gestellungsbefehl. Und obwohl ich’s nicht ganz begriff, ist mir auch dieser gelbe Zettel im Gedächtnis haften geblieben.“9 Die Soldaten der Wehrmacht hatten das Bedürfnis, sich in eine militärische Tradition einzureihen. Günther S.-A. schreibt seiner Mutter einen Brief voller Vorwürfe. Man ahnt, dass sie sich große Sorgen um ihren Sohn macht, eine Sorge, die dieser vom Tisch fegt, indem er ihr einen Vortrag über die Pflicht hält: „Wir Jungen hängen doch alle am Leben, tuen trotzdem unsere Pflicht, wie es Jahrhunderte vor uns auch jeder Soldat getan hat, sollten wir schlechter sein als diese?“10 Ähnlich erklärt Gerd seiner Mutter in seinem Brief vom 18. August 1944 das jedem Mann angeborene Pflichtgefühl, doch er beendet seine Ausführungen mit dem Satz: „Da ist aber etwas, was du liebe Mutti nie verstehen wirst.“ Laut diesen Soldaten besteht die Rolle der Mutter darin, sich um die Soldaten zu kümmern. Sie schickt ihnen Lebensmittelpakete, und sie ist am besten geeignet, um die Zweifel und Ängste des Sohns anzuhören. Ludwig K. wendet sich in seinem Brief vom Januar 1945 an seine Mutter: „Dieser Brief ist insbesondere für Dich bestimmt; denn man kann ja nicht jedem seine innersten Gefühle aussprechen. Aber mich drängt es, das einem lieben Herzen auszusprechen, was mir das Herz fast zersprengt.“

Auch zwischen Eheleuten war die Kommunikation bisweilen schwierig. Die Soldaten hatten schlicht Angst, ihre Frauen könnten ihnen untreu sein. Ernst G. schreibt seiner Frau zahlreiche Liebesbriefe und verurteilt zugleich all jene, die einem anderen in die Arme sinken, während der Mann im Krieg ist11; in einem früheren Brief bemüht er sich, sie angesichts der Versuchung durch die französischen Frauen zu beruhigen12. Klaus B., damals in Russland stationiert, antwortet am 19. Juli 1941 wie folgt auf einen Brief seiner Frau: „Gestern erhielt ich von Dir das Päckchen mit dem Briefpapier. Das ist die 1. Nachricht, die ich seit 3 Wochen von Euch bekomme. Für mich war es allerdings eine große Enttäuschung. Ich hätte das Päckchen unter diesen Umständen lieber überhaupt nicht erhalten.“ Der Grund für seinen Zorn ist eine vermutlich gedankenlose Bemerkung, die ein neues Briefpapier begleitet. Ihm ist es egal, ob Briefe auf schlechtem Papier geschrieben sind, er wünscht sich vor allem, Nachricht von zu Hause zu bekommen. Die Soldatenfrauen hatten häufig mit einem Gefühl der Ohnmacht zu kämpfen; sie versuchten mehr schlecht als recht den Alltag ihrer Männer zu verbessern, doch ungeschicktes Vorgehen steigerte das Gefühl des Unverständnisses und vertiefte die wachsende Entfremdung zwischen Heimat und Front.

Die Eroberung Polens

Mit den Friedensverträgen des Ersten Weltkriegs fand eine weitgehende Neuordnung Mitteleuropas statt. Die verschiedenen Nationalitäten der Donaumonarchie wurden souveräne Staaten. Gleiches gilt für die baltischen Länder, die von der jungen Sowjetunion, dem Erben des russischen Zarenreichs in die Selbstständigkeit entlassen werden mussten. Die Weimarer Republik, Rechtsnachfolger des hinweggefegten Kaiserreichs, dem man im Verein mit Österreich die Alleinschuld aufbürdete, trat Elsass-Lothringen an Frankreich und Pommerellen, Posen und einen Teil Oberschlesiens an Polen ab. Dieser sogenannte Polnische oder Danziger Korridor13 sollte dem durch erzwungene Teilungen zu einem Binnenstaat gewordenen Polen wieder einen Zugang zur Ostsee verschaffen. Während die neuen Westgrenzen des Deutschen Reiches 1925 in den Verträgen von Locarno anerkannt wurden, wollte man sich in Berlin die Zustimmung zur Ostgrenze noch vorbehalten. Spannungen blieben da nicht aus, wenngleich sich das Verhältnis zwischen den beiden Nachbarn durch den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt von 1934 besserte.

Allerdings war er das Papier nicht wert, auf dem er stand, für Adolf Hitler war er ein Trick unter vielen anderen, um seine wahren Absichten zu verschleiern. Denn er war nicht zu einem Verzicht auf die verlorenen Ostgebiete bereit war, zumal dort entweder eine überwiegend deutsche Bevölkerung oder zumindest eine starke deutsche Minderheit lebte.

In seiner Expansionspolitik bestärkt nach dem Münchener Abkommen vom September 1938, das ihm das Sudetenland zugestand, schlug das Dritte Reich die Protestaktionen im Polnischen Korridor nieder. Ermutigt durch die vollständige Annexion der Tschechoslowakei, auf welche die Westmächte pflaumenweich reagierten, marschierten die Truppen der Wehrmacht am 1. September 1939 in Polen ein, ein aggressiver Akt, der den Zweiten Weltkrieg auslöste. Am 17. September marschierten von Osten ebenfalls sowjetische Truppen ein. Das Landwurde innerhalb weniger Wochen erobert. Die Unterzeichner des Hitler-Stalin-Paktes hatten sich bereits über eine Teilung Polens verständigt14.

Polen war also das erste Land, das von den Soldaten der Wehrmacht betreten wurde. Die deutschen Ansprüche der Zwischenkriegszeit waren stärker denn je in den Köpfen lebendig. So schreibt Hellmuth H. an seine Frau: „[…] in den letzten Tagen in der Gegend der Familie Hildebrand, eine Mittagsrast sogar in einem Dorfe, das, glaube ich, der Familie einst gehörte“15. Posen hatte natürlich einmal zu Deutschland gehört, doch hinderte das die Wehrmachtstruppen keineswegs daran, die Gegend zu plündern: „Auch gibt es meist nette Privatquartiere; gestern bei einem Webereibesitzer, wo ich gleich eine Kleinigkeit erwarb16: eine kleine Tischdecke, tiefrot-gold, ein schweres Stück, wie es als Altartuch hergestellt wird; ich denke, es paßt gut zu unseren Sachen, vielleicht fürs Radiotischchen“17, schreibt Hellmuth H., damals in Kalisch stationiert.

Die mittleren und östlichen Regionen Polens lösten dagegen größeres Staunen bei den Soldaten aus, da sie hier die Orientierungspunkte verloren, die sie aus den ehemaligen deutschen Besitzungen kannten. Günther S.-A. befindet sich im Karpatenvorland, als er diese Zeilen an seine Eltern schreibt: „Sarcyna heißt das Nest, wir haben es gleich ‚Schlammbad‘ getauft. Es gibt keine feste Straße. Die einzigen Steingebäude sind die Kirche und das Pfarrhaus. Die Gegend [ist] einfach grausam eintönig. Arm die Bevölkerung, lebt durchschnittlich mit 6–10 Personen und einem Raum.“18 Die Armut der Bevölkerung und des Landes empörte manche dieser deutschen Soldaten, die sich letzten Endes darüber aufregten, dass ein ganzes Gebiet so wenig genutzt wird. „Dabei ist dies einfach fruchtbare Land überhaupt nicht ausgenutzt“, entrüstet sich Günther S.-A. „[…] euer Papa schreibt euch diesen Brief aus Feindesland; seid froh, daß wir unseren Führer bekommen haben, denn die Zustände hier in Polen, da macht ihr euch keine Vorstellung […] Heute waren wir in der Stadt; da könnt ihr was sehen; wo unsere Stukaflieger reingefunkt haben, da liegen ganze Straßen in Schutt und Asche, denn die faulen Polen räumen nichts wieder auf“19, schreibt Kurt S. an seine Frau.

Die Soldaten führten sich sehr bald schon als Herren in Polen auf. Laut Hitlers Rassenlehre galten die slawischen Polen als Untermenschen. Schon zu Beginn der Besetzung wurde die Intelligenzija Opfer der ersten Hinrichtungen. Karl-Ludwig P. lernte Polen 1942 nach seiner Militärausbildung in Deutschland kennen. Er war damals in Lublin stationiert. In seinen Beschreibungen (Brief vom 13. Oktober 1942) tritt der Kontrast zwischen den Lebensbedingungen der Bevölkerung und denen der deutschen Soldaten deutlich zutage: „Am Sonnabend habe ich wieder ordentlich und reichlich gegessen, ebenso am Sonntag. Mit einem Kameraden habe ich Sonnabendnachmittag einen kleinen Streifzug durch ein echt polnisches Stadtviertel gemacht, studienhalber. So viel Dreck, Primitivität und Abschaum der Armut und des Elends hält man in einer Großstadt einfach für unmöglich. Aber wir sind ja in Polen! Gestern, Montag, war ein schöner Tag, denn wir sind aus unseren Baracken in die Stadtwohnungen umgezogen. Hier ist es sehr schön. Jede Gruppe hat Wohn- und Schlafzimmer, Bad, fließendes Wasser und Innen-WC. Man könnte sich direkt wie zu Hause fühlen, denn es ist hier sehr wenig kasernenmäßig.“

Polen war also die erste Etappe auf dem Weg zur Eroberung von „Lebensraum“. Ein Begriff, der die Kolonisation des Ostens implizierte und sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wachsender Beliebtheit erfreute. Von den Nazis mit dem Begriff des „Herrenmenschen“ verknüpft, sah er für die neu zu besiedelnden Gebiete einen Sklavenstaat vor, in dem die Arier herrschten und die Slawen und andere „minderwertige“ Rassen arbeiteten.

Solchermaßen indoktriniert, hatten sich in den Köpfen vieler Wehrmachtssoldaten verhängnisvolle Klischees eingenistet. Den Polen wie den Juden gegenüber.

Bereits unmittelbar nach der Besetzung Polens wurden antijüdische Maßnahmen ergriffen. In den Briefen, über die wir verfügen, erscheinen die deutschen Soldaten mit mehr oder weniger Selbstgefälligkeit als Zuschauer der Aktionen, die gewissermaßen den Auftakt zum Holocaust bildeten. „Glaube, wenn wir aus dieser Wildnis einmal zurückkommen werden, kehren wir zurück wie in ein Wunderland, weil auch hier alle Städte angefangen bei Krakau bis Lemberg alles Drecksnester mit Juden sind.“20 Hellmuth H. entdeckt das Ghetto von Litzmannstadt (Łód´z): „Schade, dass ich nicht nach Litzmannstadt mehr gekommen bin, das Judenviertel muß da gigantisch sein; die Hauptstraße führt quer durch, aber die Juden überqueren sie auf Holzbrücken für jedes Mal 10 Pf; auf 14 000 Kinder unter 14 Jahren sollen ganze 7 Milchkühe sein; die Sterblichkeit ist so hoch und der Nachwuchs so gering, daß in 10 Jahren nichts mehr leben wird.“21 Auch in Siedlce, wo Kurt S. im September 1941 stationiert ist, sind die Juden in ein Ghetto abgeschoben worden: „[…] die Juden haben sie alle in einen Stadtteil zusammen gedrängt; es ist mit Stacheldraht umzogen.“22 Hans S. durchquert Polen auf dem Weg in die baltischen Länder und berichtet seiner Mutter: „Übrigens ist das russische Polen furchtbar verjudet. Von 600 Einwohnern 500 Juden. So trafen wir es in einer Stadt an.“23

ENDE DER LESEPROBE