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Aurelia hat das Glück, in eine perfekte Zeit hineingeboren zu sein. Eine Zeit, in der die Menschheit friedlich und makellos ist und Maschinen den Menschen alle lästigen Arbeiten abnehmen. Sollten sie dennoch einen Fehler begehen, werden sie durch ihre hochintelligente Uhr, genannt »Life-Watch«, sofort darauf hingewiesen. Ihre Welt ist ebenso perfekt wie sie selbst, bis sie ein altes Tagebuch entdeckt, das alles, woran sie bisher geglaubt hat, auf den Kopf stellt. »Hi, mein Name ist Marcello Martini, aber nennt mich doch einfach Cell. Es bedeutet Zelle, und das trifft den Zustand, in dem ich mich seit zehn Jahren befinde, ziemlich gut auf den Punkt. Nicht dass ihr jetzt etwas Böses denkt; es ist nur zu unserem Besten, sie wollen uns nur beschützen. Seit der Klimakatastrophe sind wir dazu verdammt, ein endlos langes Nichtleben auf neunzig Quadratmetern zu führen. Und das Einzige, was mich tagtäglich dazu motiviert, damit weiterzumachen, ist mein eiserner Wille, für etwas Sinnvolleres zu sterben, als für die Zeit, mit der ich nichts anfangen kann. Denn diesen Triumph gönne ich ihr nicht.« Ein gesellschaftskritischer Science-Fiction-Roman mit christlichen und philosophischen Elementen rund um die Frage: »Was bedeutet Leben und was macht uns tatsächlich lebendig?«
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Seitenzahl: 554
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Valentina Pfau
AndroSF 211
Valentina Pfau
LIFE-WATCH
Die goldene Zelle der Zukunft
AndroSF 211
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: November 2024
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Peter Stern
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 431 1
ISBN dieses E-Books: 978 3 95675 712 1
»Dort, wo du nur eine Spur gesehen hast, habe ich dich getragen.«
Wir gehen immer wieder durch schwere Zeiten, aber wenn es besonders hart wird, trägt Gott uns durch das Tal der Tränen hindurch. Klingt einfach, oder? Ist es aber nicht, denn damit Gott uns tragen kann, müssen wir ihm zu hundert Prozent vertrauen und loslassen. Oft halten wir krampfhaft daran fest, es doch unbedingt allein schaffen zu wollen. Auf diesem Weg immer wieder zu stolpern, kann derart entmutigend sein, dass in uns die tückische Pflanze der Angst und Verbitterung wächst, durch die wir uns immer weiter von Gott entfernen. Sind wir an diesem Punkt angekommen, können wir auch seine Hand nicht mehr sehen, die uns nach oben ziehen möchte.
Jetzt könnten wir uns die Frage stellen: »Was ist falsch daran, es allein schaffen zu wollen?« Sollen wir die Verantwortung aus Bequemlichkeit an Gott abgeben und selbst keinerlei Ziele mehr haben, für die wir uns einsetzen wollen, weil Gott schon alles passend hinbiegen wird?
Wer das glaubt, stellt vielleicht auch gerne die Frage: »Warum lässt Gott dieses Leid zu?« Aber Gott ist kein Puppenspieler, der willkürlich an unseren Fäden zieht. Wenn es je Fäden gegeben hat, hat er sie abgeschnitten und uns das größte und wertvollste Geschenk gemacht, das wir je bekommen werden: den freien Willen. Parallel dazu gibt es eine Brücke, bestehend aus purer Liebe, die uns mit Gott verbindet, wenn wir es zulassen. Wenn wir in dieser Liebe bleiben und aus vollem Herzen sagen: »Dein Wille geschehe!«, kann er uns auf die Art helfen, die er für richtig hält. Und wer könnte besser wissen, was wir in jedem Moment brauchen als unser Schöpfer?
Doch wenn wir uns in der heutigen Welt umsehen, entsteht nicht gerade der Eindruck, dass die Menschen dieses Geschenk dankbar annehmen. Wünschen Sie sich vielleicht einen Puppenspieler als Gott? Wenn die Entwicklungen so weiterlaufen, könnten sie davon sehr bald zumindest eine schlechte Kopie bekommen.
Doch wo kommen Puppenspieler vor? In einem Theaterstück, richtig? Aber ein Theaterstück ist niemals die Realität, sondern lediglich eine Show, die uns präsentiert wird, und es ist unsere Entscheidung, ob wir daran teilnehmen oder lediglich von außen zuschauen möchten. Sind es die bösen Menschen, die sich einen göttlichen Puppenspieler wünschen? Nein, aber es sind die Menschen, die sich von der größten Waffe des Bösen in die Knie zwingen lassen: der Angst!
Sie glauben, wenn jemand an ihren Fäden zieht, kann ihnen nichts mehr passieren, weil sie auf diese Weise nie mehr in die falsche Richtung laufen werden. Jetzt könnte man denken: »Aber das ist doch exakt das Gleiche wie bei dem Spruch mit den Spuren im Sand.« Genau das ist die größte List des Feindes! Er lügt nicht offensichtlich, sondern krallt sich die Wahrheit und verdreht sie in sämtliche Himmelsrichtungen. Oft tut er nicht einmal offensichtlich etwas Böses, sondern stülpt sich das Gute als Verkleidung direkt darüber.
Doch der entscheidende Unterschied ist: Wir können die Hand Gottes nehmen und sie wieder loslassen. Wir können uns tragen lassen und selbst entscheiden, wann wir wieder allein gehen wollen. Aber wie lange können wir die Fäden der Menschen, die Gefallen daran finden, Gott zu spielen, noch abschneiden, ehe sie zu Stahl werden?
Es ist heiß, brennend heiß. Um mich herum nichts als Sand. Wo bin ich? Die Luft ist staubig. Ich weiß nicht, ob es klüger ist, möglichst viel oder möglichst wenig davon einzuatmen. Das Einzige, was noch schlimmer ist als die Hitze, ist das salzige Brennen in meiner Kehle. Mir wird schwindelig, auch der Sand um mich herum dreht sich. Der Strudel umschließt mich und wirbelt immer schneller, bis ich vollständig die Orientierung verliere. Ich fühle, wie mich etwas in die Tiefe zieht. Meine Knie versinken im Sand. Ich verdränge den Gedanken, dass ich sterben werde, bevor ich alt genug bin, um nicht mehr sterben zu können. Nein!Nichthierundnichtjetzt!NichtvordemgroßenTag!
Ich blicke nach unten und erkenne etwas Krabbelndes. Ein Skorpion? Ich will schreien, doch aus meiner Kehle kommt nur ein Schwall Sand – gemischt mit bitterer Galle.
»Aurelia!«, flüstert das Etwas unter mir.
Erst jetzt erkenne ich, dass es eine kleine Eidechse ist. Könnte ich noch normal atmen, würde ich jetzt erleichtert aufatmen.
»Hey«, flüstere ich schwach.
»Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen?«
»W… W… Wasser«, presse ich mit letzter Kraft hervor.
»Folge mir«, flüstert das Tierchen.
Wie denn, du Scherzkeks?
Auf allen vieren krieche ich ihr hinterher. Wosindwir?
»In der Wüste«, zischt die Eidechse.
Ich habe die Frage doch gar nicht laut ausgesprochen! Wüste? Nein, das ist nicht möglich, wir dürfen dort nicht hinreisen; alle Zonen, in denen eine Wüste existiert, sind viel zu weit weg. Es würde die Umwelt unverhältnismäßig beschädigen.
»Du lügst!« Die Wut verleiht meinen Worten die nötige Kraft, die meinen Stimmbändern fehlt.
Das hier ist nicht real, geht es mir durch den Kopf.
»Wir sind gleich da. Nur noch ein paar Meter, dann kommen wir an einen Brunnen. Du musst mir nur vertrauen.« Ihre Stimme klingt auf einmal seltsam blechern und echoartig.
Mein Körper versteift sich, sämtliche Glieder werden schwer wie Blei. Ich habe gelernt, dass Dehydration den Verstand ausknockt. Scharfes Nachdenken wird mich also nicht weiterbringen. Bauchgefühl ist Aberglaube, aber in diesem Moment erscheint es mir wie die einzige Karte, die ich noch ausspielen kann.
»Nein! Ich muss gar nichts und du bist nicht echt!«
Ich spüre einen gewaltigen Schuss Energie, der wie ein Stromschlag durch meinen Körper schießt. Mit einem Mal ist der beißende Durst wie weggeblasen.
»Das wird dir noch leidtun!« Die Eidechse verändert sich. Plötzlich ist sie doppelt so groß und ihre hellgrünen Augen beginnen zu glühen. Ihr Maul sperrt sich auf, während sie ihre schwarzen Fangzähne auf mich richtet wie eine Kobra. Hätte der Tod ein Gesicht, würde er genau so aussehen. Ich schreie aus vollen Leibeskräften. »Niemand wird dich hören. Niemand!«
Das Sonnenlicht brennt in meinen Augen, die ich reflexartig sperrangelweit aufgerissen habe. Mein Körper ist klatschnass und klebrig, als hätte ich mich in Schlamm gewälzt. Ich hyperventiliere noch immer. Beschämt und voller Frust über mich selbst, versuche ich den Albtraum abzuschütteln.
»Guten Morgen, liebste Aurelia!«, begrüßt mich Kaffeelana, die wie so oft schon an meinem Bett wartet. Ich glaube, sie wurde nach dem Vorbild von Madame Pottine aus »Die Schöne und das Biest« gebaut. Ich habe den Film nur einmal gesehen, bevor Märchen und Ähnliches für »bedenklich« und »nicht zielführend« erklärt wurden. Aber soweit ich es in Erinnerung habe, hatte das Original wesentlich mehr Charme. Vielleicht liegt es daran, dass Kaffeelana nie lächelt.
»Guten Morgen«, brummle ich noch immer völlig benommen.
»Du siehst wunderschön aus.«
Ich verdrehe die Augen. Würde sie das auch sagen, wenn ich einen eigroßen Pickel auf der Stirn hätte?
»Man rollt nicht mit den Augen!«
»Tue ich nicht, ich mache Gesichtsgymnastik.«
»Gymnastiktag ist erst am Mittwoch.«
»Ich beantrage einen Zusatztermin.«
»Aber Aurelia, bedenke, dein CO2-Fußabdruck.«
Verdammt, die Maschine lässt sich einfach nicht austricksen! Nur zweimal pro Woche Sport, der Umwelt zuliebe, wie konnte ich das vergessen?
»Wie möchtest du deinen Kaffee?«
Ihr vorwurfsvoller Ton ist verschwunden und an dessen Stelle tritt ein überfreundliches Gesäusel, das mich fast noch mehr in den Wahnsinn treibt. Ich bin einfach kein Morgenmensch – schon gar nicht nach so einem schrecklichen Traum.
»CO2-neutral«, antworte ich, vergeblich bemüht, meine Gereiztheit zu verbergen.
»Sehr vorbildlich«, lobt sie mich. »Bitte schön, ein frisch gemahlener Kaffee mit recycelten Biobohnen und Labormilch.«
Wahnsinn, unter dem Begriff CO2-neutral ist also tatsächlich etwas einprogrammiert. Direkt nach dem ersten Schluck bereue ich meinen kleinen Versuch. Die Mischung ist kaum trinkbar. Keine Ahnung, ob es an der synthetisch hergestellten Milch oder an den Bohnen liegt, die schon mindestens einen tierischen Darm durchlaufen haben. Aufgrund der Ressourcenknappheit sind wir teilweise gezwungen, Nahrungsmittel zu recyceln. Kaffeebohnen werden immer wieder gerne von Ratten stibitzt. Seltsam, dass man diese Plage noch nicht unter Kontrolle hat, wo man doch alle Tiere durch Fortpflanzungskontrolle mittels Gentherapie auf eine angemessene Anzahl reguliert hat. Jedenfalls können die Ratten die Bohnen kaum verarbeiten, sodass sie zur Wiederverwertung nur noch durch Spezialreinigungsmittel unschädlich gemacht werden müssen.
»Kann ich noch umbestellen und einen Kuhmilch-Latte-Macchiato draus machen?«
»Bedenke, liebe Aurelia, es ist nicht dein Geburtstag.«
Mit einem Mal fühle ich wieder diese zutiefst verhasste und dennoch vertraute Schwere in meiner Brust. Ich sollte dankbar sein, einmal im Jahr in den Genuss von Kuhmilch zu kommen. Alle fünf Jahre bekomme ich sogar ein Steak serviert. Außerdem habe ich den Luxus, dass jeden Morgen eine Kaffeemaschine an meinem Bett vorbeifährt und mir ein Getränk serviert. Mum redet oft von den düsteren alten Zeiten, in denen Menschen sich noch selbst Kaffee kochen mussten. Zeiten, in denen die Leute so viel hatten, dass sie schon nicht mehr wussten, was sie eigentlich wollten. Es gab niemanden, der ihnen Hilfestellung geboten hätte, zu entscheiden, was richtig oder falsch ist. Sie mussten selbst auf die Antwort kommen. Eine Antwort, die doch niemand wissen konnte. Niemand außer ADENA, der intelligentesten aller Maschinen. Sie ist das große Zentrum für Werte und Regeln, das tagtäglich die Entscheidungen aller Führungspersönlichkeiten analysiert und gegebenenfalls absegnet.
So gesehen war es vollkommen aussichtslos. Die Menschen aus der alten Zeit konnten nur verlieren. Aber vielleicht war genau das nötig, damit eine bessere Welt erschaffen werden konnte. So viele Jahre lang lebten die Erdbewohner im Chaos zwischen Krankheiten, Kriegen, Revolutionen, Klimawandel und Hungersnöten. Die Anzahl der Menschen reduzierte sich auf nie da gewesene Weise, weil die Erde sich zurückgeholt hat, was die Menschen ihr mit Gewalt geraubt hatten. Daraufhin haben die stärksten und reinsten Lebewesen, die von der Natur verschont wurden, ein System entwickelt, das die Fehler der Vergangenheit ausgeräumt und sich ganz auf das Wohl aller konzentriert hat.
Vor der Zeit der vielen Katastrophen gab es für die Menschen keine Grenzen. Sie taten, was sie wollten, mit wem sie wollten. Sie gingen Beziehungen ein, die nicht dem Allgemeinwohl dienten. Dabei schreckten sie auch nicht vor zügellosem Bakterienaustausch in der Öffentlichkeit zurück. Teilweise wurde behauptet, dass sie dabei nicht einmal Klamotten trugen, aber ich hoffe doch sehr, dass dies nur der Fantasie sensationshungriger Tratschtaschen entsprungen ist.
Die schlimmste Horrorgeschichte von allen ist jedoch die, dass man früher allen Ernstes Tiere ermordet hat, um in den Genuss von Steaks zu kommen, die heute zum Glück im Labor hergestellt werden. Wenn ich mir diese Dinge nur oft genug vor Augen führe, werden meine dummen Gedanken schon verschwinden und ersetzt werden durch die einzig richtigen:
Warum habe gerade ich dieses unfassbare Glück, in so einer wunderbaren Zeit zu leben? Einer Zeit, in der die Menschen friedlich und unbedenklich sind. Einer Zeit, in der uns die Maschinen alle mühseligen Arbeiten abnehmen und wir uns voll und ganz dem zuwenden können, worum es im Leben wirklich geht: möglichst viele Solidaritätspunkte zu sammeln, dem individuell für jede Person entworfenen Lebensplan zu folgen, befreit zu sein von der Last des Besitzes und glücklich zu sein.
Ich bin glücklich. Ich vergesse es nur manchmal.
Mit zwanzig wird mir das nicht mehr passieren, denn dann wird der »Goldene Salamander« dafür sorgen, dass ich nie wieder etwas vergesse. Noch dazu wird er meinem Kopf das ewige Leben schenken. Früher wurden Körper beerdigt oder eingeäschert, wenn sie nicht mehr funktionstüchtig waren – noch so eine gruselige Geschichte. Das ist es, was wir noch immer »Tod« nennen, auch wenn der Begriff genau genommen veraltet ist. Schließlich sterben wir nicht wirklich, unsere Gedanken und Gefühle leben weiter, denn der goldene Salamander bewahrt sie alle auf. Diese Technik macht es möglich, dass sogar Roboter von uns lernen können. Unsere Körper werden für die Herstellung anderweitiger Rohstoffe wiederverwertet oder für höhere Zwecke recycelt. Auf die Frage, was passiert, wenn ich durch einen dämlichen Umstand vor dem großen Tag sterben sollte, bekam ich stets folgende erkenntnisreiche Antwort:
»Je genauer du den Anweisungen der Life-Watch folgst, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit für dämliche Umstände.« Wenn ich doch nur die Zeit nach vorne drehen könnte! Fünf Monate sind unendlich lang.
Auf Zehenspitzen tripple ich ins Bad, um Dad nicht zu wecken. Er braucht seinen Schlaf, denn er muss heute Mittag fit sein, wenn er wichtige Entscheidungen über unser Quadrat 333 verkündet. Ich weiß nicht, wie viele Quadrate es gibt, viele gehen von etwa tausend aus. Auf dem ersten Blick wirkt die Welt dadurch unendlich groß, aber wenn ich zu den Sternen hinaufblicke, erscheinen mir tausend Quadrate viel zu unbedeutend. Im Grunde genommen ist es auch nicht wichtig, denn sie alle sehen gleich aus, und die Menschen im Quadrat 1 leben nicht anders als die Bewohner des Quadrats 1000, sie sprechen nicht mal anders. Noch eine Bereicherung, die der große Wandel gebracht hat: Früher existierten gefühlt so viele Sprachen, wie es Sterne gab. Nach dem großen Wandel haben sich die Menschen auf eine gemeinsame Sprache geeinigt.
Ich beuge mich über das Waschbecken, um mich wie jeden Morgen mit einer Handvoll desinfizierendem Wasser zu reinigen. Mein Blick fällt auf den Spiegel. Unser Mentor für äußere Erscheinungsbilder sagt immer, wir sollten nicht öfter als nötig hineinschauen. Wenn wir es zu selten tun, leiden andere unter unserem ungepflegten Anblick. Aber tun wir es zu oft, fangen wir an, uns selbst zu wichtig zu nehmen.
Normalerweise interessiert es mich nicht besonders, wie ich aussehe, schließlich sorgt unser Beautyroboter für Perfektion. Doch aus irgendeinem Grund bleibe ich an diesem Tag an meinen Augen hängen. Sie sind anders blau als die meisten. Als ich noch klein war, hat Dad immer gesagt, sie würden aussehen wie Veilchen. Keine Ahnung, ob das was Gutes oder was Schlechtes ist. Meine weißblonden Haare stechen noch mehr aus der Masse hervor, aber auch das hat mich nie gestört. Es ist nicht verboten, anders auszusehen; das Einzige, worauf es ankommt, ist, dass man sich nicht anders verhält.
»Aurelia, deine Temperatur ist erhöht«, informiert mich meine Life-Watch. Um eine persönliche Beziehung zu meinem alltäglichen Begleiter aufzubauen, habe ich ihr den Spitznamen Livi verpasst. Sie ist neben der Verteilung von Klima- und Solidaritätspunkten auch für den stetigen Gesundheitscheck zuständig. Außerdem nutzen wir sie zum Bezahlen oder Ausleihen von Dingen.
»Ich bin nicht krank. Ich habe nur schlecht geschlafen.«
»In diesem Fall empfehle ich eine kalte Dusche.«
»Na, da sag ich doch nicht Nein.«
Ich grinse triumphierend und springe in unsere Massageregendusche, die für eine Woche bei uns »wohnt«. Dad hat bei seinem letzten Treffen mit der Green Planet Area (GPA) ein paar Extrapunkte gesammelt, daher sind wir diese Woche die Glücklichen, die sie ausleihen dürfen. Einmal im Jahr treffen sich alle Quadratleader, um gemeinsam die neuesten Regelungen zur stetigen Verbesserung unseres Zusammenlebens festzulegen. Und ich bin stolz, dass Dad einer von ihnen ist. Er ist übrigens für die Führung von Quadrat 333 zuständig, in dem etwa dreitausend Menschen leben, was mich noch stolzer macht. Natürlich bestimmt er nichts allein, aber er hat schon zahlreiche Vorschläge eingebracht, die nach demokratischer Mehrheitsabstimmung und anschließendem Plausibilitätscheck durch ADENA umgesetzt wurden. Unter anderem hat er durchgesetzt, dass unsere Uhren sofort Alarm schlagen, wenn wir jemandem begegnen, der ein schwerwiegendes Vergehen begangen hat, damit wir der Person möglichst zeitnah aus dem Weg gehen können. Auf diese Weise dürfen wir uns zu jeder Zeit absolut sicher fühlen.
Ich lehne meinen Rücken direkt an die Massagedüse und atme tief durch. O ja, ich kann mich glücklich schätzen, unfassbar glücklich!
Viel zu schnell piepst meine Life-Watch. »Deine maximale Duschzeit ist erreicht. Du bist rein und keimfrei.«
Während ich in Richtung Küche tripple, zähle ich mehrere Male bis zehn, um das Bild von der Horroreidechse meines Traums aus dem Gedächtnis zu verdrängen.
»Guten Morgen, Miss Cookie«, begrüße ich den Thermomix.
»Guten Morgen, mein Kind! Was möchtest du zum Frühstück?«
»Hafermüsli mit Früchten, bitte. Und einen Proteinriegel für später.«
»Kommt sofort.«
Ich nutze die Zeit, um meine Mutter zu begrüßen. Sie sitzt gerade unter der Haube, um ihre aalglatte Haut straffen zu lassen. Manchmal habe ich regelrecht Mitleid mit den winzigen Lachfältchen, die niemals die Chance bekommen, länger als zwei Stunden ihr Gesicht zu beherbergen. Auch ihre Haare werden täglich bearbeitet. Sie glänzen schon im Normalzustand wie ein Sonnenblumenfeld, aber nach dieser Behandlung schmerzt ihr strahlendes Blond in den Augen, wenn man zu lange hinsieht. Dad sagt immer: »Wenn deine Mutter die Sonne ist, dann sind wir beide der Mond.« Er hat dieselben silberblonden Haare wie ich.
»Guten Morgen, Mum!«
»Guten Morgen, Schätzchen! Ich bin gerade beschäftigt.«
»Ich weiß, sorry. Ich wollte dir nur schnell sagen, dass ich eine Intensivreinigung für mein Bett bestellen werde.«
»Warum das denn? Die Wasserverschwendung beschert uns wieder jede Menge Punkteabzug.«
Ich werde rot. Zum Glück muss ich sie jetzt nicht ansehen. »Tut mir leid. Ich habe heute Nacht heftig geschwitzt. Ich hatte einen Albtraum.«
»Igitt! Du musst deine Gedanken besser kontrollieren.«
»Ich arbeite dran. Passiert dir so etwas eigentlich nie?«
»Aurelia, bitte! Ich möchte jetzt nicht reden. Kümmere dich um dein Bett, bevor sich die Schweißbakterien im ganzen Haus ausbreiten!«
»In Ordnung.« Ich schlucke.
Warum bin ich so schwach? Wieso träume ich noch? Die meisten aus meiner Klasse haben damit aufgehört, seit sie sechs Jahre alt sind. »Träume sind Schäume«, hat unser Mentor für innere Fehlleitungen immer gesagt. Er hat uns gelehrt, unser Unterbewusstsein vor dem Schlafengehen zu reinigen. Scheinbar hört man auf, zu träumen, wenn man das lange genug trainiert. Warum funktioniert es bei mir nicht? Ich mache abends autogenes Training, dennoch träume ich fast jede Nacht.
Vor ein paar Tagen habe ich mit einer Bekannten über dieses Laster gesprochen. Sie hat mir wie nebenbei erzählt, dass sie ab und zu träume. In diesem Moment erschien es mir einfach richtig, ihr zu zeigen, dass sie nicht allein ist. Und ich hatte die Hoffnung, endlich mit jemandem über meine Träume sprechen zu können. Aber sie meinte nur, es wäre wichtig, so wenig wie möglich über Träume nachzudenken und ihnen auf keinen Fall eine Form von Bedeutung zuzusprechen. Denn wenn wir anfangen würden, sie zu analysieren, bekämen sie Macht über uns und könnten uns schlimmstenfalls vollständig vom Weg abbringen.
»Hey, Livi«, spreche ich in die Uhr. »Ich verzichte auf meine Wellnessbehandlung am Wochenende.«
Ich habe das dringende Bedürfnis, einen Ausgleich für die sündhafte Großreinigung zu schaffen.
»Sehr vorbildlich. Dafür gibt es zwei Extrapunkte.«
Einmal im Monat dürfen wir ab einer bestimmten Mindestpunkteanzahl ein Algenbad nehmen. Es riecht nicht besonders gut, ist aber super für das äußere Erscheinungsbild, und außerdem reinigt es von innen. Genau genommen tun wir damit etwas für die Allgemeinheit, dennoch ist es solidarischer, Wasser zu sparen.
Wir sind an einem seltsamen Ort mit noch seltsameren Häusern. Sie sehen alt und vergammelt aus. Überall um sie herum sind Spinnweben, und die Fenster werden vom Efeu fast vollständig verschlungen. Sind es überhaupt Fenster? Sie wirken so dunkel. Die ganze Gegend ist finster. Ich frage mich, ob hier jemand die Sonne ausgeknipst hat. Ein beißend süßlicher Geruch steigt mir in die Nase.
»Mami, was sind das für komische Häuser?«
»Schau nicht hin, mein Kind, das sind die Aussätzigen! Sie sind krank. Aber du musst keine Angst haben. Sie bleiben in ihren Häusern, um uns nicht zu gefährden.«
Ich sehe eine Ratte an uns vorbeihuschen. Sie ist so groß, wie ich es bisher nur aus Filmen kannte. Tapfer beiße ich mir auf die Unterlippe, um nicht loszuschreien.
Mami bindet mir einen Schal um die Augen. Warum? Ich habe sie doch sowieso schon gesehen.
»Was haben sie denn? Gehen sie nie raus? Das ist ja schrecklich!«
»Nein. Und das ist auch gut so. Sie sind nicht gepflastert. Erinnerst du dich an die vielen Pflaster, die du einmal im Monat am ganzen Körper bekommst, damit du immer schön gesund bleibst?«
»Du meinst die, die immer so ekelig piksen?«
»Genau. Ein paar kleine Pikser zum Schutz vor nahezu allen Krankheiten. Die Menschen da drin sind eine Gefahr für uns, weil sie die Nadelpflaster verweigern. Deshalb müssen sie drinbleiben. Es war ihre eigene Entscheidung.«
»Haben sie Angst vor Nadeln? Aber ich bin doch gepflastert. Können sie mich trotzdem anstecken?«
»Keine Angst, mein Schatz, sie können dich nicht anstecken, weil sie nicht raus dürfen. Nein, sie haben keine Angst vor Nadeln. So wehleidig sind nicht mal Aussätzige! Sie sind einfach Staatsfeinde, die gegen alles sind, was die Regierung von ihnen verlangt. Sie verstehen nicht, dass man auch Pflichten hat, wenn man Rechte haben will. Sie zweifeln an allem. Es sind elende Egoisten, die sich nicht um andere sorgen. Sie kümmern sich nicht mal um den Klimawandel. Hätte die Regierung nicht rechtzeitig gehandelt, hätten sie die Umwelt so sehr verpestet, dass wir auf diesem Planeten wahrscheinlich gar nicht mehr existieren könnten.«
Ich bekomme eine ekelhafte Gänsehaut. »Aber Mami, warum sind sie denn so böse?«
»Es gab schon immer böse Menschen. Aber seit dem großen Wandel können wir sie zum Glück sofort erkennen und uns von ihnen befreien. Kümmere dich nicht um sie! Sie bekommen, was sie verdient haben«.
Mami nimmt mich an der Hand und führt mich irgendwo hin. Natürlich tragen wir beide Handschuhe. Unsere Mentorin für Hygiene hat uns einmal unter einem Mikroskop gezeigt, wie viele Bakterien an unseren Händen kleben. Das ist echt widerlich. Ich kann nicht aufhören, an die bösen Menschen zu denken. Was ist, wenn sie eines Tages ausbrechen?
Staub, überall nichts als Staub. Das Kratzen in meinem Hals ist kaum auszuhalten, aber mein Zwerchfell ist inzwischen so angeschlagen, dass jedes Husten zur Höllenqual wird. In einer Woche bekommen wir einen neuen Saugroboter. Schade eigentlich, so langsam habe ich die Staubkügelchen richtig lieb gewonnen. Wären sie noch etwas länger unter uns, würde ich wahrscheinlich auf die Idee kommen, ihnen Namen zu geben. Natürlich weiß ich, dass die winzigen Tierchen, die sich darin tummeln, nicht gut für unsere ohnehin schon schwer angeknacksten Lungen sind. Aber immerhin befinden wir uns in lebendiger Gesellschaft. Tja, bald sind wir wieder nur zu dritt.
Alles ist vergänglich; alles, nur nicht der erbärmliche Zustand, in dem wir uns seit über einem Jahrzehnt befinden. Mein Blick fällt wie zufällig auf den Badspiegel, der von oben bis unten angelaufen ist. Keiner von uns ist besonders scharf darauf, ihn zu putzen, und das nicht nur aus Bequemlichkeitsgründen. Unsere Spiegelbilder sind schon lange kein Anblick mehr, der uns den Tag versüßen könnte. Genauer gesagt, es reicht manchmal schon ein Blick ins Gesicht des anderen, um uns die Laune gegenseitig zu vermiesen. Denn es erinnert uns stets daran, wie wir selbst aussehen: fleckig, leichenblass und abgemagert. Unsere Augen sind trüb wie ein See voller Algen, die Haare ohne jeden Glanz, unsere Haut dunkel gesprenkelt und fahl.
Nach über zehn Jahren Haft in dieser Wohnung könnten wir uns zweifellos ohne Kostüm in einen Zombiefilm schmuggeln.
Ich gehe zurück in mein Computereckchen und logge mich in den virtuellen Klassenraum ein. Was könnte ich heute lernen wollen? Die Antwort auf diese Frage wäre einfacher, wenn ich ein »wozu« kennen würde. Kein Beruf, den ich erlernen könnte, würde mir das Einzige geben, was ich mir wirklich wünsche. Die meisten von den wenigen, die heutzutage noch gebraucht werden, kommen erst dann wieder zum Einsatz, wenn sich etwas an »der Situation« geändert hat – also niemals. Theoretisch könnte ich dieses Jahr mein Abi machen, aber gerade habe ich große Lust, das nutzlose »Reinballern von unbrauchbarem Wissen« noch ein wenig hinauszuzögern. Während ich durch die Unterrichtsfächer scrolle, grummelt mein Magen.
Ich stochere mit der Gabel in der Raviolidose herum und fische einen letzten Klumpen Tomatensoße heraus. Mein Klappergerüst, das sich Körper schimpft, hat nicht die geringste Lust aufzustehen, aber mein Magen behält wie üblich die Oberhand. Ich schleppe mich in die Küche und durchwühle die Vorratskiste.
»Was tust du da, Marcello?« Meine Schwester Kimberly funkelt mich vorwurfsvoll an.
»Wonach sieht es denn aus? Ich hole eine zweite Dose Ravioli.«
»Ist das wirklich nötig? Wir müssen mit unseren Rationen sparsam umgehen.«
Ich strecke meiner großen Schwester die Zunge raus.
»Kimberly, der Junge ist im Wachstum!«, mischt sich mein Vater ein. »Schau ihn dir doch an, er hat kaum mehr was auf den Rippen!«
Ich weiß nicht, ob ihm in diesem Augenblick bewusst ist, dass ich fast einundzwanzig Jahre alt bin, und meine Wachstumsphase wahrscheinlich schon überschritten haben müsste. Er brummelt in sich hinein und zieht sich in unseren Wohnraum zurück. In letzter Zeit schläft er zirka sechzehn Stunden pro Tag. Manchmal beneide ich ihn darum. Zeit, mit der man nichts anfangen kann, ist die moderne Art von Folter. Und wir haben mehr als genug davon. Ich habe einmal einen brutalen Mittelalterfilm gesehen. Papa hat ihn mir gezeigt – vermutlich, um mir Dankbarkeit beizubringen. Stattdessen empfand ich nichts als Neid. Die Methoden waren grausam, aber immerhin wurden die Menschen meistens schnell von ihrem elenden Dasein erlöst.
»Ach, und deshalb soll ich verhungern? Interessante Logik.«
Kimberly ist dreiundzwanzig, dennoch habe ich manchmal das Gefühl, dass sie noch mitten in der Pubertät steckt. Genau dafür liebe ich sie. Gut, ich habe auch keine andere Wahl als sie zu lieben, schließlich gehört sie zu den beiden einzigen Menschen in meinem Leben. Wenn wir uns aus dem Weg gehen wollen, haben wir nur die Möglichkeit, uns auf drei Zimmer zu verteilen, was aber keiner von uns lange aushält.
»Okay, Kimmi. Dann nehme ich eben die Thunfischpastete, da hast du vermutlich nichts dagegen.«
Unsere Mutter hat damals, als es noch Fisch und Fleisch in Hülle und Fülle gab, jede Menge Fischdosen gehamstert. Zu meinem Glück mag Papa keinen Fisch und meine Schwester ist Vegetarierin.
Kimberly verzieht angewidert das Gesicht. »Weißt du eigentlich, wie diese Fische gehalten werden?«
Ich zucke mit den Achseln. »Nicht viel anders als wir vermutlich.«
»Ach kleiner Bruder, verstehst du denn immer noch nicht, dass es nur zu unserem Besten ist? Wenn wir hinausgehen, werden unsere Körper brennen und in Sekunden zu Staub zerfallen. Willst du so enden wie Mama? Wirst du eigentlich nie erwachsen?«
Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Im Laufe der Jahre habe ich vergeblich versucht, das Bild von dem verkohlten Körper meiner Mutter zu verdrängen. Sie hat die Berichte von der Hitze für Verschwörungstheorien gehalten. Die Leute in den Chatforen, mit denen sie mehr Zeit als mit ihrer Familie verbracht hat, haben sie so lange darin bestärkt, bis sie eines Tages einfach nach draußen gegangen ist. Eine Woche lang haben wir gehofft, dass sie zurückkommen würde. So lange, bis uns das schreckliche Bild zugeschickt wurde. Der Roboterlieferant muss es aufgenommen haben. Ohne das Kreuztattoo an ihrem linken Knöchel hätten wir unmöglich erkennen können, dass sie es war. Offenbar gab es viele Menschen, die sich auf diese Weise in den Tod gestürzt haben – manche, weil sie keinen Sinn mehr im Leben gesehen haben, andere, weil sie so naiv waren wie meine Mutter. Es geht das Gerücht herum, dass die Türen inzwischen zu unserem Schutz verriegelt sind. Keine Ahnung, bisher hat keiner von uns sich getraut, es auszuprobieren.
»Nö, was bringt es mir denn, erwachsen zu werden? Ich kann ohnehin nichts damit anfangen.«
»Du bist so undankbar! Es ist doch sowieso bald vorbei. Wir müssen nur noch ein wenig durchhalten, dann haben Sie das Klima im Griff.«
»So langsam frage ich mich, wer von uns beiden hier nicht erwachsen werden will«, murmele ich.
»Was soll das denn jetzt heißen?«, pampt sie mich an.
»Nur noch ein wenig durchhalten«, äffe ich die monotone Stimme der Nachrichtensprecherin nach, die uns tagtäglich mit ihrem Zahnpastalächeln verspottet, und von der ich mir nicht sicher bin, ob sie ein Mensch oder ein Roboter ist. »Wie lange sagen sie uns das denn schon? Seit zehn Jahren? Wie oft haben sie schon behauptet, sie wären ganz nah dran? Mach die Augen auf, Schwester! Sie wissen ganz genau, dass sie diesen Wahnsinn nicht beenden können. Vielleicht wollen sie es nicht mal! Wir werden den Rest unseres Lebens hier drin verbringen, ob wir wollen oder nicht.«
»Wow, mit der Lebenseinstellung verhungere ich freiwillig. Aber ich werde mir von dir nicht mein letztes Fünkchen Hoffnung rauben lassen! Was haben wir denn davon, negativ zu sein?«
»Du kannst dir natürlich weiterhin alles schönreden. Ich für meinen Teil habe einfach keine Lust mehr, immer wieder enttäuscht zu werden.«
»Gute Gedanken ziehen gute Dinge an. Und umgekehrt. Du kannst mich gerne auslachen, aber ich glaube daran.«
»Wo hast du das denn her? Aus einem Glückskeks?«
Einmal im Jahr liefern sie uns asiatisches Essen: Tiefkühlprodukte und eine Packung Glückskekse. Jeden Monat bekommen wir Spezialitäten aus einer anderen Kultur. Wirklich reizend. Die normale Nahrungsration kommt einmal wöchentlich. Hitzeresistente Roboter liefern uns die Pakete durch eine Klappe direkt vor die Tür. Ich habe mich schon oft gefragt, was passieren würde, wenn sie einmal defekt wären. Würden wir lieber verhungern oder rausgehen und in der Hitze zu Staub zerfallen? Welcher Tod ist wohl angenehmer? Vermutlich läuft es auf das Gleiche hinaus. Andererseits, wenn wir nicht mal in Würde leben können, warum sollten wir dann in Würde sterben?
»Blas du ruhig weiter Trübsal. Aber ich wette um zehn Ravioli-Dosen, dass es mir gerade besser geht als dir.«
Ich verziehe meine Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln und kapituliere. »Okay, Sis, einigen wir uns darauf: Ich lass’ dir deine verkorkste Art zu denken und du lässt mir meine. Wenn wir doch mal wieder auf das Thema kommen, verteilen wir uns einfach auf zwei Zimmer.«
Ich versuche, nicht allzu sarkastisch zu klingen. Warum lasse ich mich immer wieder auf diese Diskussion ein? Dabei will ich sie gar nicht runterziehen, es passiert nur immer wieder, weil ich einfach nicht lügen kann. Und am allerwenigsten schaffe ich es, mich selbst zu belügen. Wahrscheinlich ist die Hoffnung, dass sich genau heute alles ändern könnte, für Kimberly der einzige Weg, um immer wieder freiwillig in den neuen Tag starten zu können. Aber für mich ist das nichts. Ich ziehe es vor, mich in eigene Welten zu flüchten; Welten, in denen man ein Leben hat. Welten, die einen nicht enttäuschen können.
»Hallo, Aurelia. Welches Make-up wünschst du dir heute?«
Heute ist Donnerstag, also Präsenzunterricht, der schönste Tag der Woche. Ich scrolle die Avatare am Bildschirm des Beautyroboters durch. Es fällt mir schwer, mich darauf zu konzentrieren, denn ich bin viel zu abgelenkt von den täuschend echten Federn auf seinem Rücken, in deren Pfauenaugen ich mein Spiegelbild aus allen Perspektiven betrachten kann. »Monsieur Visage« ist nur einmal im Monat bei uns und mit Abstand der Beste auf seinem Gebiet. Er ist einer der »Reisenden«, die für mehrere Quadrate zuständig sind. In unserem Quadrat gibt es etwa zweitausend Roboter, davon stehen dreihundert unserem Blockgebäude zur Verfügung. Sie verteilen sich je nach Bedarf auf die dreißig Haushalte, die in einem Gebäude leben. Die meisten von ihnen fahren täglich von Wohnung zu Wohnung. Wenn wir nicht so ein perfekt abgestimmtes Rotationssystem hätten, würde hier das reinste Chaos herrschen. Nach ein paarmal hin- und herswitchen entscheide ich mich schließlich doch für das Übliche.
»Einmal makellos, mit XXL-Wimpern und rosa Lippen im Hochglanzformat.«
»Gute Wahl. Kommt sofort.«
Ich schließe meine Augen, um mich die nächsten fünf Minuten lang bepinseln zu lassen – der entspannteste Teil des Tages.
»Gelbstich erkennbar. Bleaching-Mechanismus wird aktiviert.«
Ausgerechnet in diesem Moment richtet Monsieur Visage eine seiner Federn direkt auf meine Stirn und spiegelt die drei Fältchen, die sich immer dann dort niederlassen, wenn mir etwas missfällt. Von wegen Entspannung! Zahnfolter ist echt das Letzte, worauf ich gerade Lust habe. Das Schlimmste an der Sache ist, dass man nicht mal die Zähne zusammenbeißen kann. Aber für den makellosen Look ist es leider angebracht und notwendig. Ich setze ein Lächeln auf, in der Hoffnung, meinen kleinen Mimik-Ausrutscher zu überspielen.
Am liebsten würde ich aufschreien. Ich wette, zehn Zähne auf einmal zu ziehen ist nichts dagegen. Aber ich muss tapfer sein, denn ich will wenigstens ein paar Punkte für starkes Durchhaltevermögen kassieren, damit sich das Leiden lohnt. Wieder so ein Moment, in dem ich den großen Tag kaum erwarten kann. Mit der Einpflanzung des »Goldenen Salamanders« werden Schmerzen wesentlich erträglicher, da er die nervlichen Impulse auf ein Minimum reduziert. Ein kleiner Schnitt an der Stirn, nur ein winziger Eingriff und mein Leben wäre so viel leichter! Leider ist es während der Wachstumsphase zu riskant, ihn zu implantieren. Durch den Einfluss der Technik auf die Hormone könnte die körperliche Entwicklung außer Kontrolle geraten.
»Du warst sehr tapfer, Aurelia. Bedauerlicherweise habe ich am Ende ein kurzes Zucken deiner Körpermitte wahrgenommen. Daher leider nur ein Zusatzpunkt.«
Na, immerhin.
Zwei Minuten später kommt der mobile Kleiderschrank angefahren und öffnet mein Fach. »Guten Morgen, Aurelia! Welches Outfit wählst du? Eins, zwei oder drei?«
Meine Augen wandern einige Male zwischen den Varianten hin und her. Drei verschiedene T-Shirts in Grau, Weiß, Dunkelblau und Kaki, jeweils mit einer starken Message bedruckt, zwei dunkle Jeggins und eine graue Jeans. Noch vor ein paar Jahren waren Klamotten teilweise so grell leuchtend, dass man die Person hinter dieser geballten farblichen Reizüberflutung kaum noch erkennen konnte. Überhaupt war die alte Welt geradezu überflutet von den vielen Farben. Damals stand die sogenannte »Regenbogenflagge« für die Vereinigung der ganzen Welt. Die Menschen rückten näher zusammen und lernten, was es bedeutete, in Frieden und Solidarität zu leben. Der Ansatz war gut, aber irgendwann brannte den Leuten das viele Bunt in den Augen. Da sie ihr Symbol für den großen Wandel jedoch nicht aufgeben wollten, mischten sie einfach alle Farben zusammen, bis ein reines, unaufdringliches Braun entstand. Die Farbe ziert bis heute die Flagge des großen Wandels, die an jedem Gebäude hängt.
Auch ADENA war früher wesentlich bunter. Es ist schwer, ihre Optik zu beschreiben, ich kenne sie nur aus dem Bildschirm. Aber wenn ich sie mit einem Wesen vergleichen müsste, käme mir als erstes ein Seepferdchen in den Sinn, das auf einer Schlingpflanze thront. Sie hat nur ein Auge, aber mit dem sieht sie alles, worauf man ihre Aufmerksamkeit lenkt. Früher schillerte sie in einem prachtvollen Farbmix aus Blau, Gelb, Pink und Lila; heute wirkt sie je nach Lichteinfall braun oder golden. Aber so genau weiß man das nicht, inzwischen bekommt sie kein Mensch mehr live zu Gesicht. Die Gefahr, dass ein einzelner durch den bloßen Anblick ihrer Macht auf dumme Gedanken kommen könnte, wäre zu groß. Zwar lassen sich Menschen nur noch schwer verführen, aber in dem Fall will man wohl auf Nummer sicher gehen. Schließlich haben wir lange genug gebraucht, um eine optimale Version dieser Welt zu entwickeln.
Früher beherrschte das Chaos nahezu alle Bereiche des Lebens. Kriege und Spaltung dominierten die Welt. Selbst die Menschen wurden in sogenannte Geschlechter unterteilt, von denen es mindestens 100 verschiedene gab, bis man endlich zu der glorreichen Erkenntnis kam, dass es das Leben erleichtern könnte, wenn man uns einfach alle als Menschen bezeichnen würde, deren biologische Beschaffenheiten man ja bei Bedarf genauer erläutern kann. Ich bin vielleicht ein bisschen retro, weil ich noch immer Mum und Dad sage, aber es spricht sich eben leichter aus als »eierstocktragende Quelle und samenzellenspendendes Urerzeugnis meiner biologischen Existenz«.
Ich schwanke zwischen meinen Ballerinas in Weiß, Schwarz und Grau hin und her. Vermutlich dient die Ähnlichkeit dazu, uns die Entscheidung zu erleichtern, aber bei mir funktioniert das nicht. Ich hätte große Lust, mir endlich mal etwas Neues zu besorgen, aber dafür müsste ich eines dieser Schätzchen hergeben, und dazu bin ich noch nicht bereit, schließlich habe ich sie erst seit einem Monat gemietet.
Uns stehen für jeden Anlass jeweils drei Outfits zur Verfügung. Dabei gibt es die Kategorien »Zu Hause«, »Sport«, »Schule« und »Sonstige Events«. Wenn wir etwas Neues möchten, müssen wir unsere Klamotten gegen andere eintauschen. Auf diese Weise haben wir immer genau das, was wir brauchen. Wirklich seltsam, dass es früher Leute gab, die ihre Kleiderschränke kaum noch zu bekommen haben, während Menschen am anderen Ende der Welt mit löchrigen Kleidern durch die Gegend rennen mussten, weil sie sich keine neuen leisten konnten.
»Bitte einmal das T-Shirt mit folgendem Spruch: Es ist besser, den Planeten jetzt zu schützen, als ihn später zu reparieren. Dazu die dunkelblauen Jeggins.«
Kaum habe ich die Klamotten in Zeitlupe angezogen, steht »Monsieur Visage« erneut bei mir auf der Matte.
»Welche Frisur darf es denn sein?«.
»Einmal den französischen Zopf, bitte.«
»Schlicht, sportlich oder Glamour?«
»Sportlich.«
Ich eile aus der Tür, wie immer auf den letzten Drücker. Ich kann nichts dafür, ich habe einfach den Drang, jede Sekunde zum Punktesammeln zu nutzen. Es ist vielleicht so was wie ein Urinstinkt, der mich antreibt, immer einen gewissen Vorrat für schlechte Zeiten beiseitezulegen. Sich langsam fertig zu machen, ergibt immerhin zweieinhalb Zusatzpunkte fürs Klima. Je schneller ich mich bewege, desto mehr CO2 verbrauche ich. So gesehen bin ich nicht langsam, sondern umweltschonend. Unser Quadrattaxi ist schon da, wie immer pünktlich auf die Sekunde.
»Hi, Solarius. Na, alles fit?«
»Ciao, Bella!«, antwortet der solarbetriebene Alfa Romeo. »Vollgetankt, frisch getüvt und hundert Prozent klimaneutral, danke der Nachfrage.«
»Und sonst so? Gut geschlafen?«
»Wir Autos schlafen nicht. Wir transportieren und wir liegen still.«
Ich seufze. Kann diesen Maschinen nicht mal jemand Small Talk beibringen?
»Hi, Peggy! Hey, Cat!«, begrüße ich meine aktuellen Lieblingsmitlernenden.
»Oh. Hi, Punktequeen!«, entgegnet Cat. »Schön, dass du kommst. Es gibt knallharte Neuigkeiten.«
»Ach ja?«, frage ich amüsiert. »Lasst mich raten, euer Beautystore hat eine neue Frisur freigeschaltet?«
Ich kenne die beiden erst seit zwei Wochen, aber so viel ist sicher: Ihre Definition von knallharten Neuigkeiten weicht sehr deutlich von meiner ab.
»Quatsch! Außerdem würden wir es nie wagen, uns mit deinem Punkte-Highscore zu messen. Nein, echte Neuigkeiten. Peggy hat ihren perfekten Genpool gefunden.«
»Wow, Glückwunsch! Hast du ein Bild von ihm?«
»Hier schau dir mal dieses Sahneschnittchen an! Ich kann noch immer nicht glauben, dass er in zwei Jahren mir gehört.« Sie lacht überdreht.
Während ich auf das Bild starre, huscht mir eine seltsame Gänsehaut über die Arme. Er ist attraktiv, keine Frage – perfekt, um ganz ehrlich zu sein, aber dennoch hat er etwas seltsam Abstoßendes an sich. Sind es seine dunklen Augen, die in diesem Licht fast schwarz wirken? Oder bin ich einfach nur neidisch?
»Ja, echt nice. Das werden sicher hübsche Kinder.«
»Was macht bei dir eigentlich die Pool Search?«, fragt Cat und klingt etwas zu interessiert.
O Mann, ich bin diese Frage so leid! Warum stressen mich alle? Ich habe noch über drei Jahre Zeit.
»Na ja, es stehen ein paar zur Auswahl, aber festlegen will ich mich noch nicht«, weiche ich aus.
»Soso, Miss Highscore ist wohl zu anspruchsvoll, was?«, spottet Peggy.
»Ihr tut ja fast so, als ginge bei mir alles nur um den Punktestand.«
Die beiden haben erst vor Kurzem genügend Punkte erreicht, um in Klasse 1 aufzusteigen. Weil ich die Einzige bin, die schon seit Monaten dort ist, verpassen sie mir ständig Spitznamen wie »Punkte-Queen« oder Ähnliches.
»Woran willst du denn sonst erkennen, wer zu dir passt?«, bohrt Cat nach.
»Na ja, gut aussehen sollte er natürlich auch! Oder sie«, mischt sich Peggy ein. Wir haben für unser Quadrat mit knapper Mehrheit die Entscheidung getroffen, die Personalpronomen, welche biologische Beschaffenheiten kennzeichnen, beizubehalten. In manchen Quadraten wird für beides nur noch die Bezeichnung »ser« oder »es« benutzt.
»Ach so, du suchst eine Person mit Eierstöcken?« Cats Stimme schwingt ein paar Oktaven höher. Schwer zu sagen, ob sie den Gedanken nur urkomisch findet oder ob sie sich gerade Hoffnungen macht. Ich habe schon von dem Gerücht gehört, dass ihre Life-Watch einen weiblichen Genpool für sie vorsieht.
»Keine Ahnung. Um ehrlich zu sein, interessiert mich das Thema noch nicht. Ich lasse das Ganze einfach auf mich zu kommen.«
»Du bist bald zwanzig, Aurelia. Im Ernst, du solltest dringend mal Livi checken lassen, ob bei deiner Entwicklung alles normal läuft!«, meint Peggy.
»Macht euch um mich keine Sorgen.«
Es klingelt zum Unterricht und ich atme erleichtert auf. Manche lästigen Gespräche erledigen sich von selbst.
Ich lehne mich entspannt zurück, während wir auf den Mentor für Sprachwissenschaften warten.
»Guten Tag, ich bin Robby Speech.« Ich staune nicht schlecht, als ein Roboter vor uns steht. Er sieht so menschlich aus, dass es fast ein wenig gruselig wirkt. Wenn er anstelle von Rädern auf Stelzen Beine hätte, könnte ich den Unterschied kaum erkennen. Klar ist seine Mimik starr und viel zu mechanisch, aber Haut, Haare und, wow, diese Augen sind täuschend echt! Wie haben sie das nur hinbekommen?
»Steffen Luchs ist heute leider unpässlich, darum werde ich den Unterricht gestalten.«
Unpässlich? Aber wie kann so etwas passieren? Unser Schulsystem ist perfekt organisiert und alle Mentoren bekommen jeden Morgen einen kompletten Gesundheitscheck, damit man ihnen sofort etwas spritzen kann, wenn auch nur die geringsten Anzeichen von Viren, Bakterien oder gar einer Organschädigung feststellbar sind.
Die Maschine spult ihr Programm ab. Sie redet von den Nachteilen verschiedener Sprachen. Und von den verheerenden Folgen diskriminierender Worte. Mehr bekomme ich nicht mehr mit. Endlich habe ich Zeit, die Sache mit Peggys Genpool zu verarbeiten. Robby Speech wird nicht merken, wenn ich abschweife. Unsere Schulroboter werden nur selten benutzt und sind noch relativ altmodisch, sie besitzen nicht die Fähigkeit, die Reaktionen jedes einzelnen Schülers genauestens zu analysieren.
Bisher habe ich mich mit zwei potenziellen Genpartnern getroffen. Beide nicht mein Fall, und das beruhte auf Gegenseitigkeit, denn sonst hätten sie sich noch einmal gemeldet. Darüber hinaus habe ich mit fünf weiteren gechattet, aber ich habe beschlossen, das Treffen noch ein wenig hinauszuzögern. Die anderen Vorschläge habe ich nicht mal angesehen. Vermutlich, um die Hoffnung zu behalten, dass einer von ihnen perfekt passen könnte. Was passiert, wenn es bei keinem der Genpools, die Livi mir vorschlägt, zu einer Übereinstimmung kommt? Bekomme ich dann neue Vorschläge oder hätte ich in diesem Fall alle Chancen verspielt, eine Familie zu gründen?
Das Klingeln an der Tür reißt mich aus dem Schlaf und somit aus der Illusion heraus, dass ich heute vielleicht doch aufwachen und feststellen würde, dass alles nur ein völlig schräger Albtraum war. Ich höre Schritte. Offenbar ist meine Schwester schon die Treppe zum Keller hinuntergestürmt, um unser Päckchen zu bestaunen. Verschlafen taumle ich nach unten. Ich höre Kimberlys Zähneklappern, ehe ich registriere, dass auch ich fröstele. Seltsam, die Klappe muss doch erst vor einer Minute aufgegangen sein. Müsste die glühende Hitze, die dadurch hereingekommen ist, das Treppenhaus nicht ein wenig aufheizen?
»Guten Morgen, Kimmi!«
Sie nestelt an dem Paket, aufgeregt wie ein Kind, das es nicht erwarten kann, die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum auszupacken. Vermutlich erhofft sie sich, dass sie uns diesmal einen Schatz mitgeschickt haben.
»Steh hier nicht so dämlich rum, hilf mir lieber!«
»Mann, Schwesterosaurus, ich bin gerade erst aufgestanden!«
Ich verlangsame mein Zeitlupentempo noch ein wenig, einfach um sie auf die Palme zu bringen. Nicht aus Bosheit, aber wenn sie sich über mich aufregt, vergisst sie ihre Enttäuschung darüber, dass wieder nichts Besonderes dabei ist.
»Wenn du nicht gleich in die Gänge kommst, stopfe ich dich ins Paket und lasse dich als nutzlose Ware zurückschicken!«
Inzwischen hat sie das Päckchen schon halb aufgerissen und greift gierig nach den ersten Lebensmitteln.
»Du würdest deine nutzlose Ware schon nach fünf Minuten vermissen. Also schön, was haben wir diesmal?« Ich komme zu ihr herunter.
»Fünf Kanister Wasser, ein Päckchen Nudeln, zwei Kartoffeln, eine Dose Brot und eine Dose Tomaten, drei Packungen Kekse, Dosengemüse, zwei Mandarinen und noch ein paar Proteinpulver-Tüten. Und das Beste: der Saugroboter.«
»Juhu«, juble ich mit dem Elan eines Spielers, den man zuletzt in die Mannschaft wählt.
Wieder habe ich vergeblich auf eine Flasche Bier oder Wein gehofft. Spirituosen schicken sie uns grundsätzlich nur zu Geburtstagen oder wenn sie gerade etwas Abgelaufenes übrighaben, was aber selten vorkommt.
Wie üblich greife ich in das Paket und hole das Erstbeste heraus, was ich mir jetzt gönnen könnte. Es ist die Sauerstoffflasche. Ich grinse breit. Das Schicksal meint es wohl verdammt gut mit mir.
»Marcello, bitte reiß dich zusammen!«
»Nur ein Schluck! Ich fühl mich wie eine Fliege im Spinnennetz, der man den letzten Tropfen Blut ausgesaugt hat.«
»Denkst du, mir geht es anders? Es muss für die ganze Woche reichen, hast du das vergessen?«
Ich weiß, dass sie recht hat, aber mein Instinkt sagt mir, dass mein weiteres körperliches Dahinvegetieren davon abhängt, dass ich meinen Lungen exakt jetzt frisches Futter serviere. Ich öffne das Ventil und inhaliere genau einmal.
»Herrlich, ich fühle mich wie neugeboren.«
Sie verdreht die Augen. »Schön für dich.«
»Komm schon, Kimmi. Gönn dir doch auch einen Atemzug! Wir haben fünfzig Stück. Das reicht fast, um jeden Tag einmal kurz aufzutanken.«
»Aber nur fast. Und ich hebe mir lieber eine höhere Dosis für Notfälle auf. Außerdem braucht Papa den frischen Sauerstoff dringender als wir.«
Ich blicke beschämt zu Boden, das hatte ich nicht bedacht. Manchmal vergesse ich, dass er krank ist. In Momenten, in denen ich die Angst, auch ihn noch zu verlieren, nicht ertragen kann, ist das sehr hilfreich. Aber für Situationen wie diese wäre es ganz praktisch, wenn mein Verstand einen automatischen Umschalter für den Realitätsmodus hätte. Den Wissenschaftlern zufolge ist unsere Sauerstoffanlage, die die Regierung gesponsert hat, absolut ausreichend, um uns mit genügend sauberer Luft zu versorgen. Leider ist unser Gerät wohl schon etwas in die Jahre gekommen, sodass wir maximal die Hälfte des möglichen Sauerstoffs abbekommen. Wir haben die Regierung schon mehrfach gebeten, es auszutauschen, aber immer wieder aufs Neue die Antwort bekommen, dass dies auf der Prioritätenliste leider ziemlich weit unten stünde. Daher sind wir auf die Sauerstoffflasche angewiesen, die eigentlich ein Luxusgut sein sollte. Als mein Vater noch fit war, haben wir an den Tagen der Lieferung immer Flaschendrehen gespielt. Derjenige, auf den die Flasche gezeigt hat, bekam den ersten Atemzug.
»Sorry, Sis. Ich nehme meine nächste Dosis erst wieder in drei Tagen, versprochen.«
Ihre Miene wird etwas milder. »Ich weiß, dass es nicht einfach ist. Aber wir müssen alles tun, damit er wieder gesund wird. Ich habe im Internet recherchiert. Für das Gehirn ist es elementar, dass es ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird. Wenn wir beide versuchen, mit der Hälfte zurechtzukommen, geht seine Vergesslichkeit vielleicht von allein weg.«
Ich verkneife mir den Kommentar, dass der Verstand nur eine von vielen Baustellen an seinem Körper ist. Für heute habe ich genug Gewissensbisse.
»Meinst du nicht, wir sollten es noch mal mit einem Arzt versuchen? Die erste Onlinesitzung war ein Reinfall, aber es gibt doch überall gute und schlechte Ärzte. Wenn der nächste erkennt, wie krank Papa wirklich ist, werden sie uns vielleicht eine zusätzliche Flasche Sauerstoff schicken.«
»Was soll das bringen? Wenn sie genug Vorrat hätten, würden sie uns zehn Flaschen zuschicken.«
Ich seufze. Ihr hoffnungsloser Glaube an das Gute in jedem Menschen treibt mich manchmal fast in den Wahnsinn. Andererseits bewundere ich sie dafür. Leider bin ich mir ziemlich sicher, dass das Gute in diesem Spiel schon lange nicht mehr die Oberhand besitzt.
»Okay, probieren wir das mit der halben Ration für mich. Aber bitte mach du so weiter wie bisher. Ich will nicht riskieren, dass du auch noch krank wirst.«
»Jetzt labere keinen Schrott. Ich bin zäh. Ich will auch nicht, dass du krank wirst. Aber eine Woche stehen wir beide durch. Dann werden wir sehen, ob es was bringt und ob unsere Körper damit klarkommen.«
An manchen Tagen holt meine Schwester ihre innere Powerfrau wieder aus der verstaubten Rumpelkammer hervor. Es ist genau die Art von Frau, die sie jetzt wäre, wenn die Welt ein bisschen weniger kaputt wäre. Ich weiß, dass sie als Kind unglaublich stark war. Sie ist mir kaum von der Seite gewichen und hatte stets den Drang, mich zu beschützen. Schon damals habe ich mich gefragt, ob es nicht umgekehrt sein müsste. Nach Mamas Tod war sie diejenige, die sich allein für uns alle ins Leben zurückgekämpft hat, während Papa und ich kaum noch vom Computer aufgestanden sind. Ohne sie wären wir wahrscheinlich verhungert oder verdurstet. Aber ich weiß auch, dass all diese Dinge ihre Spuren hinterlassen haben und dass sie nicht so taff ist, wie sie gerne wäre. Mein Körper funktioniert weitaus besser als ihrer. Manchmal ist sie so schwach, dass ich sie stützen muss, damit sie nicht umfällt. Sie lebt in der Illusion, dass wir nicht mitbekommen, wie oft sie weint. Genauso häufig, wie sie erbricht.
»Es wird Zeit, dein Zimmer aufzuräumen, Aurelia!«, nervt mich Livi schon zum dritten Mal, während ich einfach nur mal fünf Minuten tanzen will. Es ist eine Maßnahme, die lediglich der Erziehung und sinnvollen Beschäftigung dient, denn natürlich haben wir für so etwas Roboterordner. In diesem Moment frage ich mich, wie es wäre, über den Sand zu tanzen. Ich glaube, man würde sich leicht fühlen, fast so, als könnte man schweben. Aus dem Lautsprecher ertönt mein aktuelles Lieblingslied, bzw. bis gerade eben lief es noch. Livi hat mir soeben den Saft abgedreht. Miststück!
»Du überschreitest die CO2-Verbrauchsbegrenzung!«
Exakt in diesem Moment stolpere ich mit einem Ruck im wahrsten Sinne des Wortes auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich lande auf allen vieren und beschließe, den Augenblick nur noch ein wenig länger auszukosten. Solange ich hier liege und mich scheinbar nicht rühren kann vor Schmerzen, wird die Life-Watch mich wenigstens in Ruhe lassen. Sekundenlang starre ich einfach nur Löcher in den Boden und tanze gedanklich weiter. Aber halt, was ist das denn? Etwas unter mir scheint sich zu bewegen. Bin ich auf den Kopf gefallen, ohne es zu merken? Vorsichtig richte ich mich auf. Da, schon wieder! Hektisch taste ich nach der Stelle, von der das Wackeln gekommen ist.
Endlich erkenne ich den Grund für den Spuk. Eine der Bodenfliesen hat sich leicht verschoben – das muss beim Tanzen passiert sein.
»Verflucht!«, schimpfe ich.
»Was ist passiert, meine liebe Aurelia?«, fragt Livi.
»Nichts ist passiert! Ich bin nur gestürzt!«, antworte ich schnippisch.
»Hast du dir wehgetan?«
»Nein, alles okay.«
»Hast du etwas beschädigt?«
»Nein«, entgegne ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Bist du sicher? Deinem Puls entnehme ich, dass du schwindelst.«
»Ja, ich habe den dämlichen Boden geschrottet, zufrieden?«
»Das macht dann zwei Punkte Abzug für heute. Darf ich dich an dein Zimmer erinnern?«
»Wie könnte ich das vergessen! Aber erst mal muss ich mich um den Boden kümmern, wenn du gestattest.«
»Natürlich. Das ist meine wunderbare, fleißige Aurelia.«
Ich versuche, das Holzstück wieder an die richtige Stelle zurückzuschieben, doch, wie so oft, machen meine handwerklich völlig unbegabten Hände alles noch schlimmer. Jetzt hat sich die Fliese vollständig gelöst. Ich starre ratlos in den Hohlraum. Moment mal … der ist ja gar nicht hohl. Was ist das denn? Es sieht aus wie … ein Buch! Gebunden und aus Papier, unglaublich! Ich dachte, so etwas gibt es gar nicht mehr!
So vorsichtig wie möglich nehme ich es heraus und rechne fest damit, dass es zu Staub zerfällt, sobald es in meinen Händen liegt. Aber nichts passiert. Im Gegenteil, es scheint noch ziemlich gut erhalten zu sein. Sanft streiche ich über die bronzefarbene Hülle. Es ist absurd, es ist nur ein Buch, trotzdem führe ich mich auf, als hätte ich einen Schatz entdeckt. Irgendwie fühlt es sich fast ein wenig verboten an, als ich die erste Seite aufschlage.
Die Schrift ist merkwürdig, total unregelmäßig, und sie sieht nicht gedruckt aus. Wurde der Text etwa von Hand geschrieben? Als wir lesen und schreiben lernten, haben wir das aus Spaß mal ausprobiert. Ich fand es umständlich und ziemlich mühselig. Meine Augen gleiten aufgeregt über den Text. Es ist etwas anstrengend, aber ich glaube, ich kann es entziffern.
Das Jahr, in dem die Zeit stehen blieb
Warum sind Pläne so oft verbunden mit einem Gefühl von Sicherheit, wenn es doch für keinen von ihnen eine Garantie gibt? Wie wackelig dieses Lebensgerüst ist, das wir uns bauen, wird uns gerade bewusster denn je zuvor. Dennoch können wir nicht damit aufhören und sind, auch wenn das Gerüst in sich zusammenfällt, immer wieder versucht, es neu aufzubauen und dabei den Bauplan vielleicht ein wenig anzupassen. Aber schaffen wir es, frei von Enttäuschungen zu werden, ohne auf Pläne zu verzichten? Vielleicht, indem wir sie wie eine Skizze betrachten, die wir auch anfertigen würden, wenn wir vorhätten, ein Haus zu bauen. Wir haben eine grobe Vorstellung, eine Vision davon, wie unser Leben verlaufen könnte. Träume sind wichtig, denn sie sind eine der Grundsäulen für Lebensfreude. Eine weitere ist der Mut, Träume zu verwirklichen, aber gleichzeitig die Bereitschaft, sich vom Leben überraschen zu lassen. Die dritte und wichtigste ist – zumindest für mich – Gottvertrauen. Allgemein ausgedrückt, man könnte es als das Vertrauen darin bezeichnen, dass alles so kommt, wie es kommen soll. Die Muttersäule von allem bilden Liebe und Dankbarkeit für alles, was man hat.
Ist es echt so einfach? Nein, es ist ein lebenslanger Kampf mit sich selbst, wenn man das Ziel hat, immer und überall zufrieden zu sein und alles bedingungslos zu akzeptieren.
Nach wie vor halte ich an der Hoffnung auf ein Osterwunder fest. An Tagen wie heute bilde ich mir ein, dass ich jetzt endlich an einem Punkt angelangt bin, an dem ich die Situation vollkommen so annehme, wie sie ist. Im Moment ist es okay, dass keine Familienfeiern stattfinden und unsere lang ersehnten Flitterwochen wahrscheinlich ausfallen. Natürlich überstehen wir einen ganzen Sommer ohne Schwimmbad oder See, das sind doch Luxusprobleme! Gerade schaffe ich es erstaunlich erfolgreich, jeden Wunsch nach allem, was gerade nicht mehr geht, zu verdrängen. Stattdessen habe ich mir vorgenommen, all die Dinge zu tun, die ich seit Jahren immer vor mir herschiebe (Renovierung der Wohnung usw.). Es sind definitiv genügend Punkte auf der To-do-Liste, um ein halbes Jahr zu überbrücken, also warum frustriert sein?
Aber habe ich tatsächlich so was wie eine Erleuchtung, oder hält mein Optimismus nur so lange an, bis die Seifenblase der Hoffnung eventuell zerplatzt? Was, wenn es nach Ostern noch lange, lange so weitergeht? Werde ich dann immer noch der Mensch sein, der ich in dieser Zeit, nach Meinung der Allgemeinheit, sein sollte? Wie lange schaffe ich es noch, die kleine Rebellin in mir in den Schlaf zu singen?
»Dir geht es gut«, versuche ich sie immer wieder aufs Neue zu beruhigen. »Du hast deinen Schatz, deine Küche, deinen Laptop, eine Terrasse; du bist gesund, alle um dich herum sind gesund! Du darfst noch arbeiten, so vielen Menschen geht es unendlich viel schlechter als dir! Du kannst die Zeit perfekt nutzen, um endlich dein Leben auf die Reihe zu kriegen!«
Doch meine innere Rebellin wird immer unruhiger, manchmal zappelt sie oder spricht im Schlaf.
Ich bin verwirrt. Die Worte klingen wie aus einer früheren Zeit … vielleicht von irgendwann aus dem Mittelalter, aber die Seiten sind ziemlich gut erhalten. Bis auf ein wenig Staub und eine minimale Vergilbung wirkt das Büchlein wie neu. Viele Ausdrücke kenne ich nicht mal. Gottvertrauen? Ostern? Träume?
Warum sollten Pläne nicht klappen? Sie stehen doch schon bei unserer Geburt fest. Alles hat seine Ordnung, alles ist perfekt organisiert. Wir müssen nur den Pfaden unserer Life-Watch folgen. Warum macht sich diese Frau derart unnütze Gedanken? So viel steht fest: Sie stammt offensichtlich aus einer ganz anderen Welt. War sie eine Aussätzige? Moment mal, wer sagt, dass sie nicht mehr am Leben ist?
»Aurelia, dein Zimmer wartet! Du willst doch nicht noch mehr Punkteabzug.«
Ich stöhne. »Ist ja gut. Schluss mit der Grübelei.«
Ich lege das Buch wieder zurück an Ort und Stelle. Irgendwie habe ich das komische Gefühl, dass ich die ganze Sache vergessen sollte, solange ich noch kann. Es ist unheimlich, die Zeilen faszinieren mich, aber gleichzeitig jagen sie mir einen Schauer über den Rücken, und ich weiß nicht mal warum.
Während ich mein Zimmer aufräume, gönne ich mir einen kurzen Blick auf die Life-Watch. In diesem Moment fällt mir auf, dass ich vergessen habe, die Kamera einzuschalten. O Mann, wie dämlich! Jetzt kann ich keinen Beweis an Livi senden, dass ich meine Pflicht erfülle. Was soll´s, dann nehme ich eben nur das Ende auf. Aber erst mal muss ich meine Neugier befriedigen. Ich habe schon lange keinen Blick mehr in meine Zukunft geworfen. Vielleicht gibt es Neuigkeiten. Ich drücke die Menütaste und scrolle nach unten bis zu dem Punkt »Lebenspläne«:
20. Geburtstag: Der große Tag. Einpflanzung des »Goldenen Salamanders«
Nach dem Abi: Studium der Ökologie-Wissenschaften
19.–25. Geburtstag: Vermittlung eines passenden Genpartners. Gute und vermehrungswürdige Gene. Kinderplanung ab dem 23. Lebensjahr passend und angemessen. Maximal zwei Kinder, klimafreundlicher wäre nur ein Kind. Das zweite Kind ist genehmigungspflichtig.
Ich schüttle verächtlich den Kopf. Was genau soll bei diesen Plänen denn schiefgehen? Livi hat sie für mich optimal berechnet und dabei alle Wahrscheinlichkeiten berücksichtigt. Relevante Hindernisse wie Krankheiten sind bereits einkalkuliert. Bei meinem morgendlichen Body-Check-up habe ich bisher immer die Rückmeldung bekommen, dass alles in bester Ordnung sei. Wäre ja auch seltsam, wenn nicht. Schließlich bin ich gegen schätzungsweise tausend Krankheiten immunisiert. Wie viele mehr kann es noch geben? Ich habe schon von seltenen Fällen gehört, in denen Pläne nicht erfüllt wurden, aber für die gab es allesamt eine rationale Erklärung. Soweit ich mich erinnere, haben die Leute, denen diese Pannen passiert sind, sich nicht immer an die Anweisungen ihrer Life-Watch gehalten. Sie waren also selbst schuld.
Ich habe wohl tatsächlich das Buch einer Verrückten entdeckt, nur was mache ich jetzt damit? Soll ich es der Polizei übergeben?
»Juhu, Abendessen gesichert«, murmle ich wenig euphorisch, während der Pfeil sich tief in den Bauch eines Mammuts bohrt. Wie so oft frage ich mich, ob ich im echten Leben zumindest einen Hauch von Mitgefühl verspüren würde. Das Tragische an der Sache ist, dass ich das arme Tier fast schon beneide. Bestimmt zum fünfzigsten Mal spiele ich »Adventure Stone Age 3«. Inzwischen habe ich nahezu alles ausprobiert, was das Leben in der Steinzeit eben so hergibt: Jagen, kochen, eine Frau daten, um sie mir gleich wieder von irgendeinem dahergelaufenen Höhlenmenschen ausspannen zu lassen, Kinder zeugen usw. Ich drehe die Kopfhörer noch lauter, um Kimberlys Schluchzen nicht zu hören.
Es muss doch noch etwas Cooleres geben, was man mit seiner Zeit anfangen kann! Ich könnte zu meiner Schwester gehen, um die Tränen zu trocknen, die ich verursacht habe. Das wäre höchstwahrscheinlich sinnvoller als mein Computerspielemarathon. Aber um sie wirklich zu beruhigen, müsste ich lügen, und dazu bin ich gerade einfach nicht in der Lage.
Warum konnte ich mir nicht verkneifen, ihr zu sagen, dass ihre Überzeugung von einer guten Regierung, die nur unser Bestes will, so langsam die Grenze zwischen Naivität und Dummheit überschreitet? Zu guter Letzt habe ich ihr auch noch an den Kopf geknallt, dass der Staat wahrscheinlich froh wäre, wenn Papa sterben würde, dann hätten sie eine Käfigratte weniger zu versorgen. Während der Technosound eine kurze Pause macht, bohrt sich Kimmis Würgegeräusch in mein Ohr. Schnell schlucke ich den Laut hinunter, bevor er mein Herz erreichen kann.
Ich lasse meinen Avatar durch den Wald rennen und stolpere dabei fast über eine Art Katapult. Der Säbelzahntiger ist mir dicht auf den Fersen. Es wäre ein Kinderspiel, ihn da reinzujagen, aber irgendwie brenne ich gerade darauf, herauszufinden, wie er sich dabei jedes Mal fühlt. Mich in die Luft schießen zu lassen, ist immerhin etwas, was ich noch nicht ausprobiert habe. Ich renne direkt auf das Gestell zu und hebe ab. Für einen Moment fühle ich mich tatsächlich befreit, weil ich endlich mal über mein eigenes Ende entscheiden konnte. Die Sonne kommt näher. Zur Sicherheit schaue ich kurz weg, um nicht geblendet zu werden. Als ich die Augen wieder öffne, ist es stockdunkel.
Ich fliege schon mindestens zehn Minuten lang und warte darauf, dass das Spiel endet. Der Himmel wird dunkel und die Sterne rasen in einer immer schneller werdenden Geschwindigkeit auf mich zu. So langsam wird es unheimlich, ist das vielleicht die Ewigkeit? Bin ich der Gefangene in einem unendlichen Spiel? Vielleicht sollte ich aufstehen, um nicht das letzte bisschen Restverstand zu verlieren … aber halt, was ist das? Um mich herum schwirren zahlreiche neonfarbene Frisbee-Scheiben. Sind das Raumschiffe? Im selben Moment erscheint eine Fehlermeldung.