Limits of Law - Svea Lundberg - E-Book

Limits of Law E-Book

Svea Lundberg

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Beschreibung

»Am Tag waren wir wohlerzogene Söhne aus gutem Haus – in der Nacht gab es keine Tabus zwischen uns.« Jahrelang hat Julian Étienne blind vertraut. Bis dieser ohne ein Wort des Abschieds nach Dubai gegangen ist, um dort seine Karriere als Anwalt zu verfolgen. Sieben Jahre sind seitdem vergangen, in denen sich Julian ein Leben als erfolgreicher Chirurg aufgebaut hat. Er ist zufrieden – eigentlich. Als die beiden sich ausgerechnet auf der Beerdigung von Étiennes Vater wieder begegnen, flammt die nie vergessene Sehnsucht zwischen ihnen auf, gemeinsam Julians Grenzen auszuloten. Etwas, wofür es Vertrauen braucht, doch dieses hat durch Étiennes Fortgang Risse bekommen. Auch bei Étienne haben die letzten sieben Jahre Wunden hinterlassen. Niemals wieder wird er die Kontrolle aus der Hand geben. Dennoch ist Julian sich sicher: Wenn jemand hinter Étiennes eiserne Fassade blicken kann, dann er.

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Impressum
Inhalt
Content Notes
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Erstes Intermezzo
Kapitel 3
Zweites Intermezzo
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Drittes Intermezzo
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Viertes Intermezzo
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Fünftes Intermezzo
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
Danksagung
Leseempfehlungen
Über die Autorin

 

 

 

 

 

 

 

Limits of Law

Wie Sand im Wüstenwind

 

 

Ein Roman von Svea Lundberg

Impressum

 

Copyright © 2022 Svea Lundberg

 

Julia Fränkle-Cholewa

Zwerchweg 54

75305 Neuenbürg

[email protected]

www.svealundberg.net

 

 

Buchsatz: Annette Juretzki / www.annette-juretzki.de

 

Covergestaltung: Irene Repp / www.daylinart.webnode.com

 

Bildrechte:

© Augustino - stock.adobe.com

© w.aoki - stock.adobe.com

© konradbak - 123rf.com

 

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte sind vorbehalten.

 

Die in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

Der Inhalt des Romans sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus.

Inhalt

 

»Am Tag waren wir wohlerzogene Söhne aus gutem Haus – in der Nacht gab es keine Tabus zwischen uns.«

 

Jahrelang hat Julian Étienne blind vertraut. Bis dieser ohne ein Wort des Abschieds nach Dubai gegangen ist, um dort seine Karriere als Anwalt zu verfolgen. Sieben Jahre sind seitdem vergangen, in denen sich Julian ein Leben als erfolgreicher Chirurg aufgebaut hat. Er ist zufrieden – eigentlich.

Als die beiden sich ausgerechnet auf der Beerdigung von Étiennes Vater wieder begegnen, flammt die nie vergessene Sehnsucht zwischen ihnen auf, gemeinsam Julians Grenzen auszuloten. Etwas, wofür es Vertrauen braucht, doch dieses hat durch Étiennes Fortgang Risse bekommen.

Auch bei Etienne haben die letzten sieben Jahre Wunden hinterlassen. Niemals wieder wird er die Kontrolle aus der Hand geben. Dennoch ist Julian sich sicher: Wenn jemand hinter Étiennes eiserne Fassade blicken kann, dann er.

Content Notes

 

Dieser Roman enthält Inhalte, die triggern können, daher sind im Folgenden sog. Content Notes aufgeführt.

 

Bitte beachtet, dass diese Hinweise Spoiler für die Romanhandlung beinhalten können.

 

~*~*~*~*~*~

 

Content Notes:

 

• nicht einvernehmliche sexuelle Handlungen, die klar als solche benannt und nicht romantisiert werden (explizit beschrieben im dritten Intermezzo)

 

• homofeindliches Verhalten und Äußerungen; keine explizit beschriebene homofeindlich motivierte Gewalt, jedoch verbale Thematisierung der Todesstrafe innerhalb der Vereinigten Arabischen Emirate

 

• toxische Männlichkeit und in Teilen straight acting

Prolog

 

~~~ Mai 2019 ~~~

 

Lediglich mit einem um die Hüften geschlungenen Handtuch bekleidet, lehnte Étienne im Rahmen eines der bodentiefen Fenster. Von dort konnte er über die Dächer von Downtown Dubai hinweg sehen. In der Ferne ragte das Burj Khalifa wie eine Rakete, die auf die Startfreigabe gen Unendlichkeit wartete, in den Himmel auf. Jeden Morgen, direkt nach dem Aufstehen, dieses Mahnmal des Reichtums vor Augen zu haben, weckte ein Kribbeln in Étienne. Eine seltsame Mischung aus Sättigung und Hunger zugleich. Satte Zufriedenheit, weil er das Gefühl hatte, in dieser Stadt der Superlative ganz oben angekommen zu sein, und hungrige, nahezu schmerzende Sehnsucht, weil es noch so viel mehr gab, das er erreichen wollte – nachdem er es zurückgelassen hatte.

In einem langen Zug leerte Étienne seine Kaffeetasse und stieß sich vom Fensterrahmen ab. Die Tasse stellte er auf die Ablage des Spülbeckens, auf dessen Edelstahl sich ein einzelner Wasserfleck abzeichnete. Unwillig zog Étienne die Stirn kraus. Zum Glück würde heute seine Reinigungskraft vorbeikommen. Nicht, dass er grundsätzlich nicht selbst in der Lage gewesen wäre, dem unliebsamen Fleck zu Leibe zu rücken. Doch die Zeit saß ihm drängend im Nacken. Er hatte sich bei seinem morgendlichen Workout im hauseigenen Gym mit Latif verquatscht und anschließend länger unter der Dusche benötigt als üblich. Und ausgerechnet heute stand am Vormittag ein Meeting mit einem wichtigen Geschäftskunden an. Einem emiratischen Geschäftskunden. Demnach konnte Étienne es sich auf keinen Fall leisten, zu spät in der Kanzlei zu erscheinen. Der Emirati würde selbstverständlich erst dann eintreffen, wenn er es für richtig hielt. Was bedeuten konnte, dass er zur vereinbarten Uhrzeit oder aber auch erst zwei Stunden später kam. Von Étienne hingegen wurde – wie von allen Expats – Pünktlichkeit erwartet.

Wenn das Leben in Dubai ihn eines gelehrt hatte, dann war es, die Waage zwischen Genuss, Dekadenz, Höflichkeit, Anpassung und Toleranz zu halten. Und Mäßigung! Wer in Dubai die Kontrolle über sich selbst verlor, verlor alles.

Noch auf dem Weg vom großzügigen Wohnbereich ins nahezu ebenso großzügige Badezimmer riss Étienne sich das Handtuch fort. Statt es jedoch unachtsam auf den Boden zu werfen und darauf zu bauen, dass Adeeba es wegräumen würde, hängte er es ordentlich über den Handtuchständer neben der Duschkabine. Während er mit der linken Hand die Tür des Spiegelschränkchens aufzog, strich er mit der rechten an seinem Schwanz entlang. Die Berührung weckte ein feines Kribbeln und Étiennes Gedanken schweiften dorthin zurück, wie er sich vorhin unter der Dusche selbst befriedigt hatte. Wobei es befriedigt eben nicht traf. Er hatte Druck abgebaut, ja, aber was er wirklich brauchte, war ein Fick. Ein richtiger Fick. Mit einem Kerl.

Schnaubend warf Étienne die Schranktür zu. Nicht zu heftig, das Glas gab keinen Mucks von sich. Mäßigung lautete das Zauberwort. Selbst hier, in seinen eigenen vier Wänden hielt er sich daran. Meistens. Ja, es war dringend an der Zeit, dass er mal wieder fickte.

Nach einem prüfenden Blick in den Spiegel hüllte Étienne sich in einer dezenten Wolke Parfüm ein – das zweite Gewand Dubais. Sein eigentliches Gewand wartete im Schlafzimmer auf ihn: dunkelblaue Anzughose, blütenweißes Hemd, passende Krawatte. Kurz überlegte Étienne, ob er noch ein Ersatzhemd in seinem Wagen liegen hatte und entschied sich, zur Sicherheit ein weiteres mitzunehmen. Wenn es in Dubai ein absolutes No-Go gab, dann waren dies ein nicht makelloses Auftreten im Allgemeinen und Schweißflecke im Besonderen. Was im Grunde abstrus war, wenn man bedachte, dass es bei Temperaturen um die dreißig Grad in der cold season und bei locker über vierzig in der hot season quasi unmöglich war, nicht zu schwitzen, sobald man das Haus verließ. Ersatzhemden im Auto zu haben, gehörte daher quasi zur Grundausstattung, ebenso wie Sonnencreme, eine Kopfbedeckung und Augentropfen.

Auf dem Tresen in der Küche hinterließ Étienne eine handgeschriebene Nachricht für Abeeda, seine Aktentasche stand wie jeden Morgen fertig gepackt neben seiner Reihe teurer Anzugschuhe neben der Tür. Rasch tippte Étienne den Sicherheitscode ein und verließ sein Apartment.

 

Den Weg von dem Luxuswohnkomplex in Downtown Dubai, nahe der Business Bay, hin zum Sama Tower legte Étienne an diesem Morgen in beachtlichen vierzehn Minuten zurück. Nicht selten benötigte er für dieselbe Strecke eine halbe Stunde oder gar noch länger. Zu der Zeit, zu der er für gewöhnlich in die Kanzlei fuhr, konnte die Schlagader der Stadt schon mal ordentlich verstopft sein. Auch so ein Ding, welches Étienne in Dubai hatte lernen müssen, war, am Steuer nicht zu fluchen. Und er hatte früher wirklich sehr oft und sehr inbrünstig beim Autofahren geflucht. Doch in Dubai galt neben der allseits angemessenen Mäßigung der eigenen Gefühle noch ein weiteres Gesetz: Nicht der höflichste, sondern der rücksichtsloseste und vor allem geschickteste Fahrer kam am schnellsten ans Ziel.

Étiennes BMW M6 war mit Abstand nicht das protzigste oder gar teuerste Auto an diesem Morgen auf der Sheikh Zayed Road. Aber er liebte seinen Wagen genug, um nicht zu versuchen, der geschickteste Fahrer zu sein.

Beim Sama Tower angelangt, übergab er sein Auto, gemeinsam mit einem ordentlichen Trinkgeld, an einen Mitarbeiter des Valet-Parkservices. Einer der Aufzüge brachte Étienne in die dreiunddreißigste Etage. Oder vielmehr: zunächst in Etage zwölf. Dort stieg ein älterer Emirati zu und Étienne und der andere Mann, der sich im Lift befand, wechselten wie automatisch auf die linke Seite, zollten dem hochrangigeren Mann damit wortlos ihren Respekt.

Mit einem leisen Pling kündigte der Aufzug die nächste Etage an, die dreiunddreißig. Mit einem Nicken bedachte Étienne die beiden Männer, ehe er aus dem Lift und von dort direkt hinein in die Kanzlei huschte. Aleesha sah auf, als er eintrat und schenkte ihm ein Lächeln, das weniger einstudiert wirkte als das, welches sie den meisten Geschäftskunden entgegenbrachte. Ein flüchtiger Blick ringsum bezeugte Étienne, dass gerade weder Kunden noch Kollegen im Empfangsbereich der Kanzlei anwesend waren, weshalb er darauf verzichtete, die Hand aufs Herz zu legen und zur Begrüßung zu nicken. Stattdessen trat er zu Aleesha an den Tresen, die offenbar sehr bewusst nicht den Blick niederschlug, wie es sich eigentlich gehört hätte. Ihre honigfarbenen Augen blickten direkt in seine.

»Bonjour«, begrüße er sie in seiner zweiten Muttersprache, was ihr Lächeln prompt zu einem neckenden Schmunzeln werden ließ. Vor Jahren schon hatte sich diese Flachserei zwischen ihnen etabliert – wenn keine fremden Augen und Ohren in unmittelbarer Nähe waren. Dementsprechend antwortete Aleesha ihm zwar wie gewohnt auf Englisch, dafür aber mit ihrem herrlich irischen Akzent, den sie normalerweise nahezu aus ihrer Intonation ausradiert hatte. Im nächsten Moment reichte sie ihm einen Stapel Akten über den Tresen.

»Soll ich für das Meeting um elf das große Konferenzzimmer vorbereiten?«

Étienne überlegte, schüttelte dann jedoch den Kopf. »Das neben meinem Büro reicht aus. Danke dir. Ich muss.« Mit einem Nicken deutete er den Flur entlang. Bis zum Meeting sollte er sich noch in ein paar Unterlagen einlesen.

 

Arabisch war eine Sprache, die laut und mit vollem Körpereinsatz gesprochen wurde. Und zumindest im Falle seiner zukünftigen Mandanten – ein Emirati Mitte der fünfzig und sein Sohn – übertrug sich diese Eigenart auch ins Englische. Oder in das, was in Dubai als Englisch galt. Im Allgemeinen war es sinnvoll, das eigene Englisch möglichst einfach zu halten, da in Dubai zwar gefühlt jeder Englisch sprach, aber doch nur die Hälfte verstand. Der Wortschatz erstreckte sich oftmals nur über wenige Verben, mit denen man doch alles aussagen konnte, was gesagt werden musste. Und statt präzisen Adjektiven existierte eigentlich nur der Komparativ: Alles war »expensive«, »much expensive« oder »too much expensive«. Und dieser Fall würde »fucking much expensive« werden – auch wenn Étienne das so nicht laut aussprechen würde. Der Rechtsstreit der beiden Männer, die ihm inbrünstig gestikulierend gegenübersaßen, mit einer Privatklinik würde sowohl der Kanzlei als auch Étienne eine nahezu unanständig hohe Summe einbringen – insofern er den Fall gewann. Was er definitiv würde. Weil er nahezu jeden Fall gewann.

Für diese Summe nahm Étienne es auch gern in Kauf, dass die Besprechung deutlich länger dauerte, als er sie eigentlich angesetzt hatte. Er verbot es sich vehement, auf seinem Stuhl herumzurutschen oder irgendetwas an seiner Beinposition zu verändern. Übereinandergeschlagene Beine in einem hochkarätigen Meeting galten als unhöflich, unter dem Tisch aus Versehen den Schuh eines anderen zu berühren als No-Go. Étienne tat nichts von beidem. Er sah lediglich auf, als ein gleichsam energisches wie zaghaftes Klopfen an der Tür Aleeshas Eintreten ankündigte. Auf einem Tablett reichte sie drei kleine Tässchen echt arabischen Kaffee und frisches Mineralwasser. Außerdem gab sie Étienne einige Ausdrucke, die er vorhin bei ihr geordert hatte. Obenauf klebte ein Post-it. Darauf wenige Worte in geschwungener Handschrift.

20 Uhr bei dir?

Étienne verkniff sich das scharfe Atemholen. Während er dem älteren der beiden Männer einen Teil der Unterlagen über den Tisch hinweg zuschob, schweifte sein Blick flüchtig über den jüngeren. Die markanten, ebenmäßigen Gesichtszüge gefielen Étienne, keine Frage. Dunkle Augen begegneten seinen. Der Blick fest, aber nicht herausfordernd. Zu schade eigentlich. Dennoch sanken Étiennes Schultern innerlich herab, nach außen hin jedoch blieb er gefasst.

Er sah zu Aleesha, die noch an der Tür stand, und nickte ihr zu. Gerade so knapp, dass es für seine Mandanten wirken musste, als entließe er lediglich die Empfangsdame ohne weiteren Auftrag, doch auch so deutlich, dass Aleesha seine Geste für sich deuten konnte. Um ihre Lippen spielte ein fast schon triumphierendes Lächeln, als sie die Tür vollends auf schob und rückwärts nach draußen trat, ihr Blick dabei im Rücken der Mandanten noch immer fest auf Étienne gerichtet. In ihrem langen Hosenanzug und mit den streng nach hinten gebundenen Haaren wirkte sie beinahe bieder auf ihn. Doch er wusste zu gut, dass sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit teure Spitzenwäsche darunter trug.

Wäre Aleesha eine Emirati, würde Étienne sie niemals so ansehen, wie er es nun einmal tat. Und selbst für zwei Expats waren die Blicke, die sie tauschten, viel zu intensiv. Die Art, wie sie einander ansahen, gebührte sich nicht für Dubai – und schon gar nicht für ein Meeting. Doch mittlerweile kannte Étienne die Sitten und Regeln des Landes. Mehr noch: Sie waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Er wusste genau, wie weit er wo, wann und mit wem gehen konnte, um nicht belangt zu werden. Und das kaum merkliche Zucken in Aleeshas Mundwinkel, das herausfordernde Aufblitzen ihrer Augen zeigte ihm überdeutlich, was auch sie wusste: Er würde sie heute Abend ficken. Was sie nicht wusste, war, dass er dabei an einen seiner Mandanten denken würde.

 

~*~*~*~

 

Rund zehn Stunden später hatte Étienne Aleesha nicht gefickt. Und er hatte auch weder an seinen Mandanten noch an einen anderen Mann gedacht. Außer an den, der sich bis eben stöhnend und nach mehr bettelnd unter ihm in den Laken gewunden hatte.

Étienne konnte nicht einschätzen, ob Aleesha durchschaute, dass er sie wegen eines anderen Ficks versetzt hatte. Ganz gewiss wusste sie nicht, dass er einen Männerarsch ihrer Pussy vorgezogen hatte. Immer vorziehen würde. Nur waren die Möglichkeiten hierfür in Dubai sehr viel begrenzter, als sie es in seinen Heimatländern Deutschland oder Frankreich gewesen waren. Demnach musste Étienne die Gelegenheit am Schopf – oder eher: am Schwanz – packen, wenn sie sich ihm bot. Nicht, dass er wahllos jeden Kerl vögeln würde, den er zu fassen bekam. Aber Blake war auch nicht jeder. Und es war nicht das erste Mal, dass sie sich zum heimlichen Sex in Étiennes Apartment verabredet hatten. Im Grunde taten sie das jedes Mal, wenn Blake in der Stadt war. In dieser Stadt, in der sie für das, was sie in den letzten Stunden getan hatten, bitter hätten bezahlen können. Auch Étiennes Anwaltsstatus würde sie dann nicht retten können.

»Shit ...« Blakes Stimme erklang träge aus dem Kissen, in welchem er eben noch sein Gesicht vergraben hatte. Nun jedoch stemmte er sich auf die Unterarme hoch und warf einen prüfenden Blick über seine Schulter und auf seinen Arsch, auf dessen knallroten Backen sich deutliche Fingerspuren abzeichneten. »Bete für mich, dass der Kunde morgen keine Fotos im Sitzen schießen will.«

Étienne schnaubte nur belustigt, blieb seitlich auf einen Ellbogen gestützt liegen und sah dabei zu, wie sich Blakes drahtiger Körper streckte.

»Wobei ...«, Blake feuerte einen scharfen Blick auf ihn ab, »dir würde es ja wahrscheinlich noch gefallen, wenn ich beim Shooting das Gefühl hätte, immer noch deine Hände auf mir zu spüren.«

Nun lachte Étienne wirklich. »Bist du dir sicher, dass deine Arschbacken das Problem sein werden?« Er konnte sich eher vorstellen, dass Blake morgen anderweitige Probleme mit seinem Hintern haben würde – auch wenn er es nicht hoffen wollte.

»Keine Ahnung.« Ein theatralisches Seufzen folgte. »Sieh nach.« Vollkommen schamlos ruckelte Blake sich so zurecht, dass Étienne beste Aussicht auf seinen kleinen, festen Arsch hatte, und zog seine Backen auseinander.

Das Grollen sperrte Étienne in seiner Kehle ein, dem Drang jedoch, näher an Blake heranzurücken, widerstand er nicht. Mit der Spitze von Zeige- und Mittelfinger zog er eine sachte Spur über Blakes unteren Rücken, zwischen seine Backen und neckte sein Loch, an dem noch Reste von Spucke und Gleitgel hingen. Kein Sperma. Zu schade. Étienne konnte sich nicht mal mehr daran erinnern, wann sein Schwanz zum letzten Mal gummilos abgespritzt hatte. Mal abgesehen davon, wenn er es sich selbst mit der Hand besorgte.

Vorsichtig schob Étienne zwei Finger in Blake hinein, genoss das noch immer – oder schon wieder? – sehnsüchtige Krampfen des Muskelrings, erinnerte sich daran, wie Blakes Arsch ihn regelrecht umklammert gehalten hatte, als er gekommen war. Blake summte genießerisch, zischte im nächsten Moment, als Étienne seine Finger zurückzog. Etwas zu abrupt vielleicht.

»Keine Sorge, nicht wund«, bestätigte er Blake, was dieser vermutlich ohnehin bereits gespürt hatte und wovon er außerdem wissen sollte, dass Étienne so weit nicht gehen würde. Keine Frage, dass er harten und auch kinky Sex liebte und gern Grenzen austestete. Jedoch tat er dies immer im Rahmen dessen, was unter Consent lief. Hatte es immer getan. Mit einer Ausnahme.

Energisch schluckte er gegen das plötzlich enge Gefühl in seiner Kehle an. Mit keinem anderen Mann war Sex je so gewesen, wie er es mit Julian gewesen war. Damals. So lange her.

»Cognac? Whiskey?«, fragte Étienne in die Stille des Raumes hinein und stemmte sich in eine sitzende Position hoch, rutschte gleich darauf vollends vom Bett hinunter. Während er nach seiner Unterwäsche suchte, verrieten das Rascheln der Laken und Blakes langgezogenes Seufzen, dass dieser sich bequem zurecht geräkelt hatte.

»Du solltest mittlerweile wissen, dass ich nicht trinke. Zumindest fast nie. Hast du Wasser da?«

»Hab ich«, entgegnete Étienne knapp und schlüpfte in seine schwarze Retroshorts. Theoretisch sollte er tatsächlich wissen, dass Blake nie Alkohol annahm, wenn er ihm welchen anbot. Ebenso wie Blake hätte auffallen können, dass Étienne in der Regel erst nach dem Sex trank. Zumindest, wenn dieser geplant war und in die Kategorie ›härter‹ fiel. Praktisch jedoch blieb so vieles über diesen Mann nicht in Étiennes Gedächtnis hängen und das, obwohl sie sich mit annähernder Regelmäßigkeit trafen.

Aber so gut der Sex mit Blake auch war und so sehr Étienne es mochte, ihn für die wenigen Stunden um sich zu haben, er war eben doch auf eine gewisse Weise austauschbar für ihn. Jeder Kerl seit Julian war das gewesen.

»Kann ich bei dir duschen? Ich will noch ins Barasti und nicht noch mal extra ins Hotel zurück.«

»Natürlich«, entgegnete Étienne sofort und verließ das Schlafzimmer. Aus dem Kühlschrank nahm er eine Flasche Wasser, an der Bar drehte er zwei Gläser um, befüllte eines mit Whiskey. Seine Gedanken verweilten im Barasti. Dieser Bar, in der Blake und er sich vor inzwischen rund zwei Jahren kennengelernt hatten. Oder waren es sogar schon drei? Doch nur eines? Dass er sich an den Ort ihres Kennenlernens erinnerte, lag einfach nur daran, dass er die meisten seiner Sexbekanntschaften – egal ob männlich oder weiblich – dort getroffen hatte. Denn diese Bar am Jumeirah Beach war anders als andere Bars in Dubai. Im Grunde waren alle anderen Bars besser oder doch wenigstens schicker und teurer und hipper als das Barasti. Und dennoch war das Barasti die Bar. Weil dort alles möglich und vieles erlaubt war. Oder das, was anderorts unter Strafe – teilweise sogar Todesstrafe – stand, im Barasti geduldet oder einfach nicht wahrgenommen wurde. Nicht, dass Étienne es gewagt hätte, dort einen Mann zu küssen. Direkt zu küssen. Mit Zunge. Aber zumindest war es im Barasti möglich, Menschen kennenzulernen, um mit ihnen zu schlafen. Notfalls auch gegen Geld.

»Vielleicht komme ich mit«, sagte er mehr zu seinem Whiskeyglas als zu Blake, der gerade splitternackt aus dem Schlafzimmer trat und sich auf einen der Barhocker am Tresen zog. Étienne schob ihm das zweite Glas und die Wasserflasche zu.

»Klar, warum nicht? Ich bin allerdings schon in einer Stunde dort verabredet. Also entweder wir beeilen uns oder du kommst nach.«

»Mhm, mal sehen.« Nachdenklich starrte Étienne in das Glas, schwenkte die bräunliche Flüssigkeit darin. Vielleicht sollte er sich, bevor er ausging, noch mal bei Aleesha melden und vielleicht würde er sie sogar fragen, ob sie mitkommen wollte. Nicht, um doch noch mit ihr zu vögeln, das würde sein Schwanz nicht durchhalten und außerdem wollte er das herrliche Gefühl von Blakes Arsch um sich nicht gleich wieder mit einem anderen, eben doch nicht ganz so guten überdecken.

»Also, darf ich?« Blake rutschte schon wieder vom Barhocker herunter, sein Wasser hatte er geleert, und nickte in Richtung Badezimmer.

»Ja. Handtücher sind im Schrank unten links. Nimm dir Shampoo oder Duschgel oder was auch immer du brauchst.«

»Okay.« Nahezu lautlos verschwand Blake über den Flur, sein Gang wie immer katzenhaft und gleichsam aufrecht, als zögen ihn unsichtbare Fäden an Schultern und Kopf nach oben. Model eben.

In zwei Zügen leerte Étienne sein Glas und überlegte gerade, ob er sich einen weiteren Whiskey genehmigen sollte, denn immerhin war morgen Freitag, der dubaierische Sonntag, als sein Smartphone auf der Anrichte klingelte. Sein privates Smartphone. Mit der Anrufmelodie, die er für enge Familienmitglieder hinterlegt hatte. Oder genauer: zwei Mitglieder seiner Familie.

Rasch stellte er das Glas auf dem Tresen ab und umrundete diesen, griff nach dem klingelnden Gerät. Maman appelle stand auf dem Display. Bereits zu Schulzeiten hatte Étienne sich einen Spaß daraus gemacht, sein Handy auf Französisch einzustellen, einfach nur, um seine Mitschüler zu irritieren. Irgendwie hatte er es nie geändert. Selbst bei neuen Smartphones wählte er automatisch seine zweite Muttersprache als Standardsprache.

Kopfschüttelnd nahm er das Gespräch entgegen. »Maman! Ça va? Quoi de neuf?«

Statt der für seine Mutter üblichen Gegenfrage, ob es bei ihm Neuigkeiten gäbe, empfing ihn Stille in der Verbindung. Unterbrochen von einem gurgelnden Laut, der ein unterdrücktes Schluchzen hätte sein können.

»Maman? Qu’est-ce qui se passe? Alles in Ordnung?« Nur am Rande registrierte Étienne, dass er vom Französischen ins Deutsche gewechselt war. Etwas, das eigentlich seine Mutter tat, gern auch mal innerhalb eines einzigen Satzes, wenn sie aufgebracht war.

»Étienne, il s’est ... Es ist etwas ... Dein Vater, es ... Il s’est passé quelque chose de grave.«

Dass etwas Schlimmes passiert war, war leicht aus dem zittrigen Gestammel seiner Mutter herauszuhören, dazu hätte er den Satz nicht mal von der einen in die andere Sprache übersetzen müssen. Nur was es sein sollte, war in diesem Moment nicht für ihn zu fassen. Schlicht deshalb, weil er ahnte, dass etwas Schlimmes in Hinsicht auf seinen Vater für seine Mutter etwas gänzlich anderes bedeutete, als es für ihn bedeuten würde.

»Alors quoi?«, hakte er dementsprechend emotionslos nach. Tippte ungeduldig mit den Fingern der freien Hand auf dem Küchentresen herum. Ungeduld war nicht unbedingt das erste seiner Mankos. Aber wenn er etwas hasste, dann war es zusammenhangloses Herumgestammel.

»Ton père ... Dein Vater, er ist ... Étienne, er ist ... Il est mort. Étienne, c’est affreux. C’était ...«

Er hörte noch den Begriff infarctus du myocarde, Herzinfarkt, doch er drang nicht wirklich in sein Bewusstsein durch. Alles, woran er in diesem Moment denken konnte, war, dass sein Vater tot war.

Tot.

Nicht mehr da.

Vorbei.

Durch die Verbindung hindurch hörte er seine Mutter schluchzen, doch ihre Tränen kamen nicht bei ihm an. Das Smartphone an sein Ohr gedrückt, aber doch nicht mehr zuhörend, drehte er sich halb um. Blake stand im Flur. Noch immer nackt. Mit Spuren von Feuchtigkeit auf der Haut. Sein dunkles Haar glänzte im sterilen Licht der Deckenspots beinahe schwarz. Mit einem Handtuch rubbelte er hindurch. Sein Körper streckte sich dabei. Étienne ließ seinen Blick über ihn wandern. Blieb an Blakes Genitalien hängen. Sein eigener Schwanz zuckte leicht in seiner Retropants. Wie abstrus. Ausgerechnet jetzt.

»Maman? Ich ruf dich gleich noch mal an.« Ohne eine mögliche Entgegnung abzuwarten, beendete Étienne das Gespräch und knallte sein Smartphone auf den Tresen. Sein Blick hing noch immer starr auf Blake, der zwei Schritte auf ihn zukam. Das Handtuch hatte er sinken lassen. Mit einer Hand strich er sich wie beiläufig über den Bauch.

»Was ist los? Du siehst aus, als hättest du ...«

»Du musst allein ins Barasti.«

Blakes Augenbrauen zogen sich zusammen. Mehr überrascht denn irgendwie missmutig. »Okay, klar, kein Problem. Alles okay bei dir? Ich kann auch hier-«

»Nein. Geh.« Abrupt wandte Étienne sich ab. Hinter sich vernahm er Blakes gemurmeltes »wie du willst«. Sie standen einander nicht nahe genug, als dass er noch einmal nachfragen würde. Und Étienne hätte ohnehin nichts gesagt. Nicht nur, weil er nicht wusste, was er hätte sagen sollen. Nicht nur, weil er sein Seelenleben niemals mit anderen Männern ... Menschen ... besprach. Außer vielleicht mit einem. Damals. Sondern weil er das, was ihm in diesem Moment durch den Kopf ging, nicht gewagt hätte auszusprechen.

Scham wühlte sich durch seine Kehle nach oben und legte sich bitter auf seine Zunge. Dennoch konnte er nur eines denken: endlich. Endlich!

Kapitel 1

 

Der unverkennbare Duft von Ossobuco zog bereits durch die Tür, ehe diese geöffnet wurde, und mein Magen knurrte zur Begrüßung, bevor ich auch nur einen Ton sagen konnte.

»Julian, hallo! Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht.«

Als ob ich jemals ohne solchen an einem Freitag in meinem Elternhaus aufgekreuzt wäre. Da die Zahnarztpraxis meiner Eltern auch samstags geöffnet hatte, gönnten sie sich freitags den Luxus, bereits um sechzehn Uhr zu schließen. Das nahm meine Mutter nur allzu gern zum Anlass, sich in der Küche zu verkünsteln. Und ich wiederum schaute nicht selten rein zufällig freitags bei meinen Eltern vorbei, nachdem ich meinen letzten Patienten entlassen hatte.

»Hi, Mam. Klar.« Ich hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, als ich an ihr vorbei in den großzügigen Eingangsbereich trat. »Kann ich dir noch was helfen?«

»Nein, lass. Das Kalb schmort vor sich hin. Ich hole nachher nur noch ein drittes Gedeck. Dein Vater kämpft im Garten mit den Rosenbüschen.«

Ich konnte es mir bildlich vorstellen. Statt jedoch quer durch den Wohnbereich und über die Terrasse zu gehen, folgte ich meiner Mutter hinüber in die halboffene Küche.

»Okay. Hast du was von Jess gehört?«, hakte ich nach. Versuchte dabei, das vehemente Knurren meines Magens zu ignorieren. Dieser Duft war aber auch reine Folter, wenn man den ganzen Tag über keine wirkliche Zeit zum Essen gehabt hatte. »Kommt sie am Sonntag?« Nachdem es meine Schwester bereits im vergangenen Monat nicht zum monatlichen Familien-Golf-Tag geschafft hatte, hoffte ich sehr darauf, sie übermorgen wiederzusehen. Das Seufzen meiner Mutter ließ jedoch etwas anderes erahnen.

»Sie sagte, sie weiß es noch nicht genau. Sie hat am Montag eine Podiumsdiskussion, auf die sie sich noch vorbereiten muss.«

Kopfschüttelnd lehnte ich mich rücklings gegen einen der Küchenschränke. »Heißt es nicht immer, Ärzte hätten keine Freizeit und Geisteswissenschaftler zu viel davon? Was läuft falsch in unserer Familie?«

»Weniger als in anderen«, gab meine Mutter trocken zurück. Sie warf einen prüfenden Blick in den Backofen, wobei ihr eine Strähne ihres braun gelockten Haares ins Gesicht fiel. Dennoch entging mir nicht der plötzlich angespannte Ausdruck in ihrer Miene. Forschend musterte ich sie und als sie sich wieder aufrichtete und vollends mir zuwandte, hatte sich ein eindeutig bedrückter Zug um ihren Mund eingegraben.

»Ich nehme an, der Buschfunk ist noch nicht bis zu dir durchgedrungen?«

Auch wenn meine Mutter es wie eine Frage formulierte, klang es doch eher wie eine Feststellung.

»Buschfunk von wem und worüber?«, entgegnete ich, wobei meine Antwort auch schlicht Nein hätte lauten können. Klatsch und Tratsch war so ziemlich das Letzte, wofür ich mich interessierte. Auch – oder gerade weil – ich in meiner Praxis für Plastische Chirurgie ganz klischeehaft sicher einiges davon auffangen könnte, wenn ich wollte.

»Über die Familie Hagen.«

Ich verspannte mich prompt bei ihren Worten. Zum einen, weil es selbst Jahre nach dem großen Streit noch so merkwürdig war, meine Mutter so distanziert über ihre ehemals besten Freunde sprechen zu hören, zum anderen, weil allein der Familienname Erinnerungen in mir weckte. Erinnerungen an meinen Freund seit Kindertagen, an meinen Vertrauten, später dann meinen Liebhaber. An den Mann, der mir mein Vertrauen, zusammen mit meinem Herzen vor die Füße geworfen hatte. Klang theatralisch, fühlte sich aber selbst nach Jahren noch so an. Zumindest dann, wenn ich es mir mal erlaubte, über Étienne nachzudenken.

»Aha«, gab ich dementsprechend tonlos zurück. »Will ich wissen, was der Buschfunk zu berichten weiß?«

»Nun ...« Meine Mutter fuhr sich in einer fahrig wirkenden Geste durch die Haare. So ordentlich sie diese in der Praxis immer hochgesteckt trug, so wirr kringelten sich die Locken nun um ihren Kopf. »Du wirst es ja sowieso mitbekommen.«

»Ach?« Spöttisch verzog ich den Mund. »Solch große Neuigkeiten also? Hat eines der Rennpferde der Hagens das Grand National gewonnen?«

Um den Mund meiner Mutter zuckte ein Schmunzeln, doch sie wurde rasch wieder ernst. »Das Grand National ist im Oktober, also nein.«

Schön. Ich hatte mich nie sonderlich für Galopprennen begeistern können und das, obwohl ich vom Wintergarten meiner Wohnung in Iffezheim aus bis auf die Rennbahn sehen konnte. Étienne hingegen hatte ... Das war es. Das war der Grund, weswegen ich mich nicht für den Pferderennsport interessieren wollte.

»Joachim Hagen hatte einen Herzinfarkt.«

Abrupt ruckte mein Kopf herum. »Oh, Scheiße! Und ist er ...?«

Meine Mutter nickte, ihre Miene spiegelte Betroffenheit in einer seltsamen Mischung mit ablehnendem Unbehagen wider. »Tot, ja. Muss wohl in seiner Kanzlei passiert sein, als keiner seiner Angestellten mehr da war.«

»Scheiße«, wiederholte ich nur. Nun war ich derjenige, der sich fahrig durchs Haar strich. Meine Gedanken wanderten unweigerlich wieder zu Étienne. Es war kein Geheimnis – zumindest nicht für mich –, dass dessen Verhältnis zu seinem Vater ... nun, schwierig gewesen war. Mehr als nur schwierig. Auch Jess und ich waren von unseren Eltern streng erzogen worden und hatten als Jugendliche das gelebt, was man von Kindern aus gutem Hause erwartete. Aber bei aller Strenge und allem Wohlstand waren meine Eltern stets tolerant und fair gewesen. Étiennes Vater hingegen war ...

»Ich habe keine Ahnung, ob ich mich bei Florence melden soll.« Die Stimme meiner Mutter riss mich aus meinen Gedanken. Blinzelnd zwang ich mich, meinen Blick wieder auf sie zu fokussieren. Die Schatten, die sich über ihr Gesicht schlichen, waren unverkennbar. Ich wusste, dass es sie noch heute schmerzte, ihre ehemals beste Freundin in einem so hässlichen Streit verloren zu haben. Einem Streit, geboren aus Intoleranz und homophoben Ansichten.

»Tja«, stieß ich schnaufend aus und schaffte es nicht ganz, die Bissigkeit aus meiner Stimme zu vertreiben, »jetzt, wo der Tyrann des Hauses abgetreten ist, könnte Florence ja ...«

»Julian!«

»Was? Ist doch wahr.«

Sie presste nur die Lippen aufeinander und schwieg. Ich tat es ihr gleich. Gab mir alle Mühe, mich nicht unweigerlich zu fragen, wie es Étienne nun gehen mochte. Ob sich der unerwartete Tod seines Vaters eher wie ein Verlust oder wie ein Befreiungsschlag für ihn anfühlte? Oder beides in einem ... Wobei unerwartet relativ war. Wenn man Joachim Hagen eines niemals hatte vorwerfen können, dann, dass er für seinen Erfolg nicht hart gearbeitet hätte. Sehr hart. Gefühlt Tag und Nacht. In seiner Kanzlei an einem Herzinfarkt zu sterben, war quasi das wahrscheinlichste von allen Todesszenarien gewesen. Ja, es war sarkastisch, so zu denken. Ob Étienne ähnliche Gedanken hegte?

Energisch stieß ich mich vom Küchenschrank ab. Es sollte mich verdammt noch mal nicht kümmern, wie es Étienne ging. Ich hatte ihn aus meinen Gedanken und vor allem aus meinem Herzen zu streichen versucht. Jedoch zumindest teilweise vergeblich. Und obwohl ich nicht an ihn denken wollte, fühlte es sich in diesem Moment so falsch an, es mir zu verbieten. Denn egal, wie sehr er mich mit seinem wortlosen Abgang damals verletzt hatte, wir waren einmal Freunde gewesen. Enge Freunde. Zeitweise Liebhaber und manchmal sogar ...

»Ich kann dir auch nicht sagen, was du machen sollst.« Die Worte stolperten regelrecht über meine Lippen. »Wegen Florence, meine ich. Vielleicht lässt du ihr noch ein paar Tage und dann ... Keine Ahnung.«

Ich drückte meiner Mutter einen weiteren flüchtigen Kuss auf die Wange. Hatte mich schon halb abgewandt, als sie murmelte: »Wir sollten zur Beerdigung gehen.«

Ich hielt in der Bewegung inne. Sog den Atem ein. Dorthin zu gehen würde bedeuten, Étienne wiederzusehen. Nach all den Jahren der absoluten Funkstille. Vorausgesetzt natürlich, er würde den Tod seines Vaters überhaupt zum Anlass nehmen, mal wieder in einen Flieger zu steigen und aus Dubai hierher zu kommen. Oder vielleicht war er in den letzten Jahren auch zu Besuch gewesen und ich hatte es lediglich nie mitbekommen.

Das »Muss das sein?«, lag mir bereits auf den Lippen, doch ich schluckte es ungesagt hinunter. Zur Hölle, ich war fünfunddreißig, keine fünfzehn. Ich würde es wohl schaffen, einem Mann, der gewissermaßen einfach nur mein Ex war, für eine halbe oder auch eine ganze Stunde gegenüberzutreten. Theoretisch mussten er und ich bei der Beerdigung ja nicht einmal miteinander reden. Ich würde höchstens ein halbwegs ehrlich gemeintes »mein Beileid« über die Lippen bringen. Ihm die Hand geben. Ihn vielleicht kurz umarmen. Ihm in die Augen sehen. Wieder seine Nähe spüren. Gottverdammt!

»Allein schon aus Respekt und Anstand«, fuhr meine Mutter fort, als müsste sie mich davon überzeugen, auch wirklich zu dieser Beerdigung zu gehen.

»Ja, du hast recht.« Energisch schluckte ich gegen das enge Gefühl in meiner Kehle an. »Wie lange braucht das Ossobuco noch?« Als ob ich gerade noch Appetit gehabt hätte.

Meine Mutter seufzte. »Ich denke, wir können essen.«

»Okay.« Ich war bereits halb aus der Küche. »Ich geh kurz raus und hole Papa.« Ich brauchte wirklich mal für einen Moment frische Luft.

 

~~~ Anfang Juni 2019 ~~~

 

Ich hatte geahnt, dass es so kommen würde! Ich war zu spät – viel zu spät – dran und alle Parkplätze rund um den Friedhof belegt. Ganz zu schweigen davon, dass ich den Gottesdienst verpasst hatte. Wenn ich mich jetzt beeilte, würde ich es vielleicht gerade noch schaffen, dabei zuzusehen, wie Joachim Hagens Sarg in das ausgehobene Grab hinab gelassen wurde.

Ich ertappte mich dabei, wie ich nach Étiennes Auto Ausschau hielt. Was schon allein deshalb vollkommen bescheuert war, weil ich keine Ahnung hatte, was für ein Auto er fuhr, wenn er in Deutschland war. Er würde seinen Wagen wohl kaum von Dubai nach Karlsruhe verschiffen lassen. So dekadent waren nicht mal die Hagens. Andererseits hatten Étienne und ich uns jahrelang nicht gesehen, nicht gesprochen, ja nicht einmal losen WhatsApp-Kontakt gepflegt. Was wusste ich also schon über ihn?

Zu viel, schoss es mir prompt durch den Kopf. Du kanntest ihn mal in und auswendig. Oder vielmehr: Ich hatte mir eingebildet, das zu tun.

Dieses Mal war das Schnauben, das von meinen Lippen drang, deutlich vernehmbar. Ich warf noch einen raschen Blick in den Innenspiegel und zupfte den Kragen meines schwarzen Hemdes zurecht. Kurzzeitig hatte ich überlegt, eine Krawatte zu tragen, aber das erschien mir dann doch etwas overdressed, selbst für die Beerdigung eines renommierten und stinkreichen Anwalts.

Ich stieß die Fahrertür auf. So heftig, dass diese beinahe gegen die Friedhofsmauer gedonnert wäre. Leise fluchend quetschte ich mich aus meinem Auto. Prompt traf ein einzelner, dafür dicker Regentropfen meine Wange. Kurzerhand schnappte ich mir noch den Regenschirm aus dem Kofferraum und eilte dann mit weiten Schritten an all den parkenden Autos vorbei und zum Tor.

Ich musste mich nicht einmal suchend umsehen, um zu erkennen, dass ich tatsächlich den Gottesdienst verpasst hatte. Die Menschentraube, die sich rechter Hand unter einer Gruppe Laubbäume um eine Grabreihe versammelt hatte, bildete eindeutig die Trauergemeinde. Eilig schritt ich den Kiesweg entlang. Scannte mit Blicken die Friedhofsgäste ab und redete mir dabei ein, dass ich nicht nach einem bestimmten Menschen Ausschau hielt. Nahezu ausnahmslos alle anwesenden Männer trugen schwarze Anzüge oder doch wenigstens Sakkos zu schicken Jeans, einige tatsächlich Krawatte, und unter den Damen entdeckte ich nicht wenige mit opulenten Hüten. Kurzzeitig kam ich mir eher vor wie beim Großen Preis von Baden-Baden, denn wie bei einer Beisetzung. Fehlte nur noch, dass gleich ein Rennpferd zwischen den Grabsteinen hervor geprescht kam.

Bitter verzog ich den Mund über meine eigenen, abstrusen Gedanken.

Als ich die Menschentraube beinahe erreicht hatte, entdeckte ich Jess und meine Eltern. Natürlich. Nach ihnen hatte ich Ausschau gehalten. Nach niemandem sonst.

Glücklicherweise standen sie ein klein wenig abseits, sodass ich mich nicht an allzu vielen Gästen vorbeidrücken musste. Jess wandte sich halb zu mir um und streckte eine Hand nach mir aus.

»Hey, tut mir leid«, flüsterte ich ihr zu und drückte meine Lippen zu einem flüchtigen Kuss auf ihre Schläfe, »die OP hat länger gedauert.«

Jess lächelte nur verstehend und unsere Eltern nickten mir zu. In den Augen meiner Mutter sah ich Tränen schwimmen. Wobei ich mir nicht so sicher war, ob sie wirklich um Joachim trauerte oder ob sie mit ihrer ehemals so guten Freundin mitlitt und sich noch immer fragte, ob sie für Florence da sein sollte oder ob die Kluft zwischen ihnen ohnehin zu tief geworden war.

Jess hielt noch immer meine Hand, wirkte ebenfalls traurig und auch ich fühlte mich mit einem Mal seltsam befangen. Es musste am Ambiente liegen. Beerdigungen und Friedhöfe allgemein waren einfach nie ein angenehmer Aufenthaltsort. Ganz egal, wie viel einem derjenige, der beigesetzt wurde, bedeutet hatte – oder eben auch nicht. Ich musterte die Mienen der uns am nächsten stehenden Gäste und fand auch in ihnen eine seltsame Mischung aus Ergriffenheit und Distanziertheit. Fragte mich unweigerlich, wie viele von ihnen Joachim wirklich gemocht – menschlich gemocht – hatten. Ich selbst hatte ihn einmal geschätzt. Als Freund meiner Eltern. Als Vater meines engsten Vertrauten.

Ich konnte nicht länger wegsehen. Ich musste ihn ansehen. Den Mann, dem ich blind vertraut, mit dem ich alles geteilt hatte.

Étienne stand nur etwa einen Meter vom Grab entfernt. Direkt neben dem Sarg seines Vaters, der noch nicht in die Erde hinabgelassen worden war, weil der Priester soeben den letzten Segen sprach.

Étienne stand aufrecht. Sein Blick ging über die Köpfe der Trauergäste hinweg. Scheinbar ins Leere und dennoch war ich mir sicher, dass er irgendeinen bestimmten Punkt fixierte. Étienne hatte immer einen Fixpunkt.

Florence, die sich bei ihm eingehakt hatte und schluchzend ihren Kopf an seine Schulter lehnte, wirkte so schmal neben ihm. Sie war schon immer auffallend dünn gewesen. Étiennes breite Schultern hingegen spannten das Sakko. Augenscheinlich maßgeschneidert. Natürlich. Darunter trug er ein blütenweißes Hemd. Im Grunde vollkommen unpassend für eine Beerdigung, und gerade deshalb so typisch für ihn. Ein Hauch von Provokation. Gerade subtil genug, dass es jedem auffiel, aber man doch nichts dagegen sagen konnte.

Grenzen.

Er hatte sie schon früher gern ausgelotet. Gemeinsam mit mir. Und heute?

Rasch wandte ich den Blick ab. Registrierte erst dann, dass inzwischen mehr Regentropfen vom Himmel fielen. Jess bewegte sich neben mir und ich zog reflexartig meine Hand aus ihrer zurück, um den Schirm aufzuspannen und schützend über uns beide zu halten. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass mein Vater es mir gleichtat. Viele andere Trauergäste ebenfalls.

Étienne hingegen stand vollkommen reglos. Die ganze Zeit. Auch, als der Sarg schließlich in das Grab hinabgelassen wurde, und Florence ihr mehr tränen- denn regennasses Gesicht an seiner Schulter verbarg. Er zog sie mit einem Arm an sich. Streichelte über ihren schmalen Rücken. Aber die Bewegungen wirkten mechanisch. Ich sah auf in sein Gesicht und fand keine Regung darin.

Der Priester ergriff die kleine Schaufel, befüllte sie mit frischer Graberde. Seine Worte blendete ich aus, riss mich mühsam von Étiennes Anblick los.

»Jess«, ich flüsterte nur, »hier.«

Fragend begegnete sie meinem Blick, sagte jedoch nichts, sondern nahm wortlos den Schirm entgegen. Ich vernahm ein Luftholen neben mir, versuchte jedoch nicht herauszufinden, wer sich gerade Worte verkniff. Vorsichtig, aber entschlossen schob ich mich zwischen einigen Trauergästen hindurch. Ich musste näher zu Étienne. Musste irgendwie bei ihm sein. Sicherstellen, dass er mich sah und wusste, dass ich ...

Abrupt blieb ich stehen. Im selben Moment, in dem er den Kopf drehte. Mich ansah. Mir direkt in die Augen, wenn auch über die Distanz mehrerer Meter hinweg.

Sein Blick fühlte sich wie ein verdammter Stromschlag an, der drohte, mich meterweit zurückzuschleudern. Wieder mitten hinein in dieses Gefühlschaos aus Unverständnis, Zorn und Enttäuschung. Und Sehnsucht.

Meine Lippen öffneten sich, auch wenn mir klar war, dass ich in diesem Moment nichts hätte sagen können. Sagen sollen. Ich schloss sie wieder und Étienne wandte den Blick ab. Gemeinsam mit seiner Mutter trat er nach vorne ans Grab. Er überließ ihr den Vortritt, Erde in die Grube hineinzuschaufeln. Seine Hand auf ihrem Rücken stützte sie. So oft hatte er mich gehalten, mich aufgefangen, wenn Erschöpfung und Befriedigung mir die Knie weich werden ließen.

Ich sollte nicht daran denken. Nicht hier, während einer Beerdigung, ausgerechnet dieser Beerdigung, und überhaupt niemals.

Unter Schluchzern wankte Florence beiseite, wurde von einer anderen Frau – ihrer Schwägerin, wenn ich es recht erkannte – in die Arme gezogen. Nun ruhte die Grabschaufel in Étiennes Hand. In diesen Händen, die so oft ...

Gottverdammt, Julian, hör auf damit!

Étiennes Bewegungen erschienen kontrolliert, als er Erde auf die Schaufel häufte. Er ließ sich Zeit. Nicht demonstrativ viel, aber genug, dass nichts von alledem hektisch wirkte. Ja, nicht einmal betroffen. Und als er die Schaufel schließlich drehte und die Erde auf den Sarg rieseln ließ, lag so etwas wie ein Lächeln auf seinen Lippen. Bitter und auf schmerzliche Art ... erleichtert?

Auf seinem Gesicht zeigte sich keine einzige Träne, als er sich umwandte. Ja, ich war mir sicher, dass die vage Feuchtigkeit lediglich vom Regen herrührte. Schlagartig wurde mir klar, dass ich ihn noch nie hatte weinen sehen. Nicht mal als Kind. Er war nur ein einziges Mal kurz davor gewesen. Doch damals war ich da gewesen. Bei ihm. Für ihn. Ebenso wie er jedes Mal für mich. Aber jetzt ...

Er reihte sich nicht neben seiner Mutter ein. Stattdessen ging er mit großen, aber dennoch beherrscht wirkenden Schritten den Kiesweg entlang in Richtung Kapelle. Und ich war mir in diesem Moment seltsam sicher, dass ich der einzige unter all den Trauergästen war, der sehen konnte, dass in seinen Schritten ein Hauch von Flucht mitschwang.

 

Mit Jess neben mir, die sich bei mir eingehakt hatte, folgte ich meinen Eltern und den übrigen Gästen den breiten, von einer schmalen Steinreihe umsäumten Kiesweg entlang zum Haupttor des Friedhofs. Mittlerweile schüttete es wie aus Kübeln, sodass alle Anwesenden offensichtlich möglichst zügig zu ihren Autos gelangen wollten. Auch wir hatten Florence nur unser Beileid ausgesprochen. Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie registriert hatte, dass ihre ehemals beste Freundin samt Familie vor ihr gestanden hatte. Nur vor ihr. Étienne hatte keine einzige Kondolenzbekundung entgegengenommen. Ein Verstoß gegen Etikette, die ihm sein Vater niemals hätte durchgehen lassen.

»Dad?«

Über die Schulter hinweg warf er mir im Gehen einen fragenden Blick zu.

»Geht ihr noch zum Leichenschmaus?«

Mein Vater verneinte, was mich im Grunde nicht verwunderte.

»Alles okay, Mam?«

Sie nickte, ihre Augen jedoch waren gerötet.

»Ich fahr noch mit zu Mam und Dad nach Hause.« Jess lehnte sich leicht an mich. »Musst du wieder ...?«

»Julian!«

Abrupt blieb ich stehen. Alles in mir schien sich zusammenzuziehen, als hätte jemand einen Kübel Eiswasser über mir ausgeleert. Dabei war es nur kühler Regen, der auf den Schirm prasselte. Im nächsten Moment raste mein Herz los. Ich hätte seine Stimme unter Tausenden erkannt.

Ich wandte mich nicht zu ihm um. War schlicht nicht fähig, mich zu rühren. Suchte nur Jess’ Blick.

»Geh schon mal vor.« Wenigstens funktionierte Sprechen noch, auch wenn meine Stimme krächzend klang.

An mir vorbei sah sie zu Étienne. Ja, ganz sicher sah sie ihn an. Sein Blick jedoch bohrte sich in meinen Rücken. Unmöglich, es nicht zu spüren.

»Okay. Sehen wir uns dann gleich zu Hause?«

Fieberhaft kramte ich in meinem Kopf nach einer Synapsenverknüpfung, die mir verraten würde, ob ich heute wirklich genug Luft in der Praxis hatte, um erst am späten Nachmittag zurückzukehren. Ganz offensichtlich beeinträchtigte Étiennes Nähe meine Denkfähigkeit auf beunruhigende Weise.

»Ja, ich komme nach.«

Jess nickte nur und drückte mir meinen Schirm in die Hand und huschte durch den strömenden Regen dem breiten Tor entgegen. Es wäre wirklich nett von mir gewesen, meiner Schwester den Schirm zu überlassen. Nun jedoch war es zu spät. Jess hatte unsere Eltern, die vorausgegangen waren, bereits erreicht.

Noch einen langen Moment blieb ich reglos stehen. Umfangen nur vom Prasseln des Regens und von Étiennes Blicken. Ich war mir sicher, dass er noch immer hinter mir stand, obwohl er keinen Ton mehr gesagt hatte. Einfach nur meinen Namen. Ein einziges Mal mein Name aus seinem Mund und schon hatte ich Herzrasen und starrte vor mich hin wie ein Depp.

Reiß dich mal zusammen, Julian! Du bist erwachsen. Und Chirurg.

Auch wenn ich eigentlich keine Ahnung hatte, was bitte schön mein Beruf mit meinem Gemütszustand zu tun haben sollte.

In einem beherrschten Atemzug stieß ich die Luft aus und drehte mich um.

Étienne stand vielleicht vier oder fünf Schritte von mir entfernt, nahe der Friedhofsmauer, unter einer kleinen Gruppe Laubbäume. Das erklärte nicht, weshalb ich ihn im Vorbeigehen nicht direkt wahrgenommen hatte. Nun allerdings nahm ich ihn wahr. Überdeutlich.

Die blonden, kurzen und stets ordentlich frisierten Haare, die mir heller erschienen als früher, und die ihm nun regennass am Kopf klebten. Die auffallend graublauen, wachsamen Augen. Die vollen Lippen, die ich so oft, die mich so oft geküsst, schier in den Wahnsinn getrieben hatten.

Weder das Laub an den Bäumen noch das dunkle Sakko hatten es annähernd geschafft, den Regen abzuhalten. Das weiße Hemd klebte ihm wie eine zweite und mittlerweile verdammt durchsichtige Haut am Körper. Betonte jeden Muskelstrang und erinnerte mich unweigerlich daran, dass sein Körper zwar hart, seine Haut aber unglaublich weich war.

Gewesen war.

Herrgott, woher sollte ich wissen, wie sich seine Haut mittlerweile anfühlte? Es sollte mir egal sein. Eine Beerdigung war verdammt noch mal nicht der richtige Ort, um festzustellen, dass Étienne noch genauso heiß war wie vor Jahren – oder noch heißer. Und wenn ich genau das schon unbedingt feststellen musste, dann sollte es mir doch bitte sehr möglich sein, es zur Kenntnis zu nehmen und als nicht ganz objektive Feststellung abzuhaken.

Schöne Männer gab es viele.

Aber nur wenige waren wie Étienne.

Und nichts von alledem, was ich nach ihm jemals mit anderen Männern gehabt hatte, war auch nur annähernd so gewesen wie mit ihm.

Weil ich keinem von ihnen so vertraut hatte wie ihm. Weil keiner von ihnen mir so viel bedeutet hatte wie er. Weil keiner von ihnen mich so gut gekannt hatte wie er. Und weil – zur Hölle noch mal – mich keiner so sehr verletzt hatte, wie er es getan hatte. Indem er einfach gegangen war.

Nun jedoch war er hier. Und ich wollte diese Begegnung so schnell wie möglich hinter mich bringen.

»Hey. Mein Beileid.«

Für einen winzigen Moment bildete ich mir ein, so etwas wie Fassungslosigkeit über sein Gesicht huschen zu sehen. Doch die Regung verflog zu schnell und wahrscheinlich trübten ohnehin die Regenschlieren meine Sicht.

»Danke.«

Respekt! Seine Entgegnung klang noch emotionsloser und weniger glaubwürdig, als meine Worte es getan hatten.

Er kam auf mich zu. Zwei Schritte nur. Immer noch war da eine Distanz zwischen uns, die mir unüberbrückbar erschien. Die ich nicht überbrücken wollte. Oder vielmehr: Die ich nicht überbrücken wollen sollte.

»Verdammt lange her, was?«

Ich widerstand dem Drang, ihm zu sagen, dass es sowieso nur deshalb so lange her war, weil er gegangen war. Es war ja nicht so, als hätten wir nie miteinander gesprochen, seit er nach Dubai gegangen war. Vor der jahrelangen Funkstille. Nur waren wir eben nie wieder über belanglosen Smalltalk hinausgekommen und schließlich hatte ich es aufgegeben. Er hatte nie versucht, den Kontakt zu halten. Vielmehr war es mir vorgekommen, als hätte er bei jedem kurzen Telefonat gewünscht, es möge das letzte sein, als sehnte er die Funkstille herbei.

»Ja. Allerdings.« Jedes Wort fühlte sich an, als müsste ich es mit purer Willenskraft dazu bringen, meinen Mund zu verlassen. »Wie gesagt, tut mir leid mit Joachim. Ich hoffe, dir geht’s davon abgesehen gut?«

Zu meiner Überraschung schlug Étienne den Blick nieder. Ließ seinen Kopf in einer nickenden Bewegung gen Brust sinken. »Ja. Blendend.«

Als er mich wieder ansah, lag ein vages Lächeln auf seinen Lippen. Eines, das im Kontrast zu seinen bitter klingenden Worten stand und diese damit ad absurdum zu führte.

»Und wie geht’s dir?«

Bis ich dich wiedergesehen habe? Gut. Und jetzt? Keine Ahnung.

»So weit alles in Ordnung.«

Ein merkliches Schaudern kroch über Étienne hinweg. Obwohl ich natürlich sah, dass er klatschnass war, begriff ich erst jetzt so richtig, dass er seit Minuten im kühlen Regen stand.

»Du frierst.« Ohne zu hinterfragen, was ich da tat, ging ich die letzten Schritte auf ihn zu. So weit, bis ich den Schirm über uns beide halten konnte.

»Schätze mal, Dubai hat mich für deutsches Wetter verweichlicht.«

Warum hatte ich nicht bedacht, wie nahe wir einander sein würden, wenn wir unter demselben Regenschirm standen? Nun sah ich Étiennes Zittern deutlich, nahm seine Nähe mit allen Sinnen wahr. Ich konnte mich gerade noch beherrschen, nicht in die regennasse Luft zu schnuppern, um zu versuchen, seinen Geruch ausfindig zu machen. Sein Aftershave hing mir so oder so bereits in der Nase.

Vehement schob ich den herben Duft beiseite und sah Étienne absichtlich direkt in die Augen, um nicht den verlockenden Rest von ihm ansehen zu müssen.

»Wann fliegst du zurück?«

Für einen Augenblick wurde das Lächeln auf seinen Lippen breiter. Himmel, hatte ich ihn nicht nicht mustern wollen? Ich erwartete schon, er würde mit einem neckenden Spruch kontern, mich fragen, ob ich ihn wirklich so dringend schon wieder loswerden wollte. Aber Gott sei Dank tat er es nicht. Zwischen uns war nichts mehr wie damals. Ich konnte ihn nicht mehr sicher lesen. Und das einzusehen tat erschreckend weh.

»Möglicherweise gar nicht mehr.«

Überrascht blinzelte ich ihn an.

»Ich meine, ich fliege mit Sicherheit noch mal zurück. Mehrmals. Aber ich werde die Kanzlei meines Vaters übernehmen.« Kurz stockte er. Und ich hielt den Atem an. »Ich werde zurückkommen, Julian.«

Er sagte das mit einer plötzlichen Weichheit in der Stimme. Dieser samtig dunkle Klang, den ich nie wieder hatte hören wollen und mich gleichsam nach ihm gesehnt hatte.

Scheiße, konnte ich nur denken. Scheiße, Étienne kommt zurück.

Kapitel 2

 

Es war nicht so, dass ich jeden Morgen einer strengen Routine folgte, aber oftmals halfen mir meine morgendliche Runde mit dem Rennrad oder zu Fuß und das anschließende meditative Starren ins Aquarium, meine Gedanken zu ordnen. Ruhe in meinem Inneren einkehren zu lassen. An manchen Tagen erschien mir dies notwendiger als an anderen. Und dann gab es noch diese Tage, an denen sich das Karussell in meinem Kopf nicht aufhören wollte zu drehen.

Heute war so ein Tag. Natürlich. Was hatte ich erwartet, nach einem Wiedersehen mit Étienne?

Himmel, hätte der Kerl nicht während seiner Zeit in Dubai von der Sonne komplett faltige Haut oder einen Bierbauch oder sonst etwas bekommen können, das mich wenigstens ein bisschen abgestoßen hätte? Am besten noch etwas, das ich als plastischer Chirurg nicht hätte korrigieren können?

Schnaubend pfefferte ich meinen Fahrradhelm auf die Kommode neben der Tür, wo er eigentlich nicht hingehörte, und warf eben jene Tür hinter mir ins Schloss. Meine Schuhe hatte ich bereits draußen ausgezogen, sodass ich mir auf einem Bein balancierend nur noch die Socken von den Füßen streifen musste.

Wenn es so einfach gewesen wäre, sich einen perfekten Mann zurechtzuschnippeln, hätte ich es längst getan. Aber auch wenn ich der festen Überzeugung war, dass ich mit den Operationen, die ich durchführte, nicht nur die äußere Hülle etwas schöner aussehen ließ, sondern auch etwas für das Seelenleben meiner Patienten tat, war mir auch klar, dass es bei Étienne und mir nicht nur darum ging, dass ich ihn nach wie vor scheiße heiß fand.

Zugegeben, sein Körper und die Erinnerungen daran, wie sich dieser nackt an meinem angefühlt hatte, gingen mir seit gestern nicht mehr aus dem Kopf. Dennoch war das nicht der springende Punkt. Étienne und ich hatten so viel mehr geteilt als nur unsere Betten. Wir waren Freunde gewesen, von Kindertagen an. Und später dann weit mehr als nur Fuckbuddys. Mehr als nur Kommilitonen oder zeitweise Mitbewohner. Étienne war mein Vertrauter gewesen. Zeitweise der wichtigste Mensch in meinem Leben. Und dann ... war er plötzlich weg. Ohne Erklärung. Um seine Karriere in Dubai zu verfolgen – meine Interpretation, die er nie negiert hatte.

Meine Socken landeten in der Wäschetruhe im Badezimmer, mühsam zerrte ich mir das verschwitzte Funktionsshirt über den Kopf. Nur noch mit enger Radlershorts bekleidet, ging ich durch den Flur, schaltete im Vorbeigehen die Kaffeemaschine auf dem Tresen an, der die offene Küche vom Flur und dem Essbereich abtrennte. Weiter ins Wohnzimmer, bis ich schließlich vor dem großen Aquarium stand, welches ich mir vor rund drei Jahren zugelegt und über die Zeit hinweg mit liebevollen Details ausgestattet hatte. Ein wahres Fischparadies – und mein kleines Seelenheil, wenn in meinem Kopf die Gedanken Achterbahn fuhren.

Früher einmal hatte ich Fische für die langweiligsten Haustiere ever gehalten. Heute wusste ich, dass es nicht so war. Nicht nur, dass es superentspannend sein konnte, ihnen beim Herumhuschen im Wasser zuzusehen, es konnte auch richtig spannend sein. Allein schon, weil ich beschwören konnte, dass jeder Fisch seine charakterlichen Eigenschaften hatte, ebenso wie kleine Unterschiede im Aussehen. Sie waren individuell. Mittlerweile konnte ich, selbst wenn sie im Schwarm schwammen, genau erkennen, welcher Fisch welcher war. Und selbstverständlich trugen sie mittlerweile alle einen Namen.

Mein Panzerwels namens Tolstoi ließ sich gerade nahe am Ufergrund treiben. Ein wenig sah er aus, als würde er meditieren. Das tat er jeden Morgen etwa um diese Uhrzeit. Während Dickens hingegen einen erbitterten Kampf gegen den Halm einer Wasserpflanze focht. Der elegant schwarze Black Molly war – nicht unbedingt arttypisch – ein richtiger Draufgänger. Und ja, ich hatte meinen Fischen absichtlich allen die Namen bedeutsamer Schriftsteller gegeben. Große Klassiker musste man schließlich in Ehren halten. Mein Liebling war Nabokov, ein lebhafter und aufgrund seiner zierlichen Gestalt mit den dunkelblauen Streifen irgendwie verwegen aussehender Zebrabärbling.

Nachdem die Fische gefüttert waren und ich noch immer nicht nennenswert geerdet, sprang ich rasch unter die Dusche. Sobald ich sauber und putzmunter in der Küche stand, hatte auch mein Kaffee die ideale Trinktemperatur erreicht. Seitlich an den Tresen gelehnt nippte ich in kleinen Schlucken. Guter Kaffee wollte genossen und nicht hinuntergekippt werden. So viel Zeit musste am Morgen sein. Für meine Wohlfühlroutine stand ich auch gern eine Stunde früher auf. Dumm nur, wenn das Wohlfühlen danach nicht so recht klappen wollte.

Immer wieder schweiften meine Gedanken zu Étienne. Zu unserer Begegnung gestern. Im Regen. Und zu dem Moment, in dem er die Erde auf den Sarg seines Vaters geschüttet hatte. Zu diesem kleinen Lächeln auf seinen Lippen. Es war kein Geheimnis, dass Étiennes Verhältnis zu seinem Vater schwierig gewesen war. Im Grunde immer schon und mehr noch, seit Étienne sich mehr oder minder unfreiwillig geoutet hatte. Genauer gesagt: Seit Étiennes Eltern mich und ihren Sohn gemeinsam erwischt hatten – an Joachims Geburtstag. Die Überraschung war definitiv gelungen, der Geburtstag im Eimer gewesen.

Nicht, dass Joachim seinem Sohn eine Szene gemacht hätte. Nein, ein Joachim Hagen zeigte seine Abscheu auf ganz andere Weise.

Ich war mir sicher, dass Étienne noch jahrelang von seinem Vater zu spüren bekommen hatte, was dieser von Homosexuellen hielt. Wer konnte Étienne dieses winzige Lächeln, diesen Hauch von Erleichterung also verübeln? Und doch war seine Miene im selben Moment so von Bitterkeit gezeichnet gewesen. Niemand wünschte schließlich seinem eigenen Vater den Tod. Zumindest lag das außerhalb meiner Vorstellungskraft.

Zum wiederholten Mal schweifte mein Blick zu der schmalen Kommode im Flur unter der Wendeltreppe, die ins obere Stockwerk führte. Dort lag, neben der Station fürs Festnetztelefon, eine Visitenkarte. Étiennes Visitenkarte, die er mir gestern nach unserem knappen Gespräch zugesteckt hatte. Ich kannte die Aufschrift längst auswendig, dennoch überbrückte ich die wenigen Schritte zur Kommode, nahm das Kärtchen erneut in die Hand.

Verhoeven Advocates and Legal Consultants

Étienne Hagen

Fachanwalt für Medizinrecht, Fachanwalt für Strafrecht

Zugelassen an allen Gerichten der VAE

Ich drehte die Visitenkarte zwischen meinen Fingern, überflog die Adresse auf der anderen Seite. Unter die Anschrift und die Kontaktdaten in Dubai hatte Étienne eine weitere Handynummer geschrieben. Ich hatte sie bereits in meinem Smartphone abgespeichert.

Mit einem resignierten Seufzen auf den Lippen schnippte ich das Kärtchen zurück auf die Kommode, ging zurück zum Tresen, stellte die Kaffeetasse ab und nahm mein Handy zur Hand. Ich ging schwer davon aus, dass Étienne mir seine Nummer gegeben hatte in der Hoffnung, wir würden uns für ein Treffen verabreden. Er war noch nie der Typ dafür gewesen, einfach nur mal am Telefon zu quatschen. Entweder ganz oder gar nicht. Wenn Étienne etwas tat, dann tat er es all in. Selbst einen Kontaktabbruch zog er durch. Unsere wenigen Telefonate nach seiner Abreise nach Dubai hatten nur stattgefunden, weil ich sie forciert hatte. Er hatte abgenommen, ja, aber er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass es ihm lieber gewesen wäre, wenn es diesen losen Kontakt nie gegeben hätte. Schließlich hatte ich kapituliert – und er sich nie wieder gemeldet. Ich hatte mich damit abgefunden, dass er in Dubai und für mich unerreichbar war. Was verdammt noch mal hart gewesen war, nachdem wir jahrelang alles geteilt hatten. Oder zumindest fast alles.

Und genau deshalb, weil wir einander einmal so nahe gestanden hatten, konnte ich mich jetzt auch nicht nicht bei ihm melden. Konnte – oder wollte – nicht so tun, als sei es mir scheißegal, dass er wieder hier war. Vielleicht sogar tatsächlich zurückkommen würde. Ich verbot es mir, so etwas wie zu mir zu denken. Ich hatte ihn vermisst wie die Hölle, aber ich hatte gewiss auch nicht sehnsüchtig auf ihn gewartet. Ich hatte gelebt. Beruflich und privat. Und ja, ich hatte es auch geschafft, die meiste Zeit der letzten Jahre nicht an ihn zu denken. Nur manchmal ... Und jetzt, wo er wieder vor mir gestanden hatte ...

Aus irgendeinem Grund musste ich plötzlich an Bastian denken. Fast drei Jahre hatten wir miteinander verbracht, unsere Trennung war mittlerweile rund acht Monate her. Wir waren friedlich auseinandergegangen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass irgendetwas ungeklärt zwischen uns stand. Umso mehr überraschte es mich, dass er ausgerechnet jetzt durch meinen Kopf geisterte.

»Du bist so unglaublich fokussiert«, hatte er einmal zu mir gesagt. »Ich habe immer das Gefühl, du wüsstest genau, was du willst und was du nicht willst. Und daran hältst du dich. Wie machst du das?«

Tja, wie machte ich das? Momentan irgendwie gar nicht. Momentan kam ich mir alles andere als fokussiert vor.

Im Grunde war Bastian meine vermeintliche Geradlinigkeit auch nur deshalb so vehement aufgefallen, weil er selbst so anders gewesen war. Das Klischee eines Künstlers: flatterhaft und immer auf der Suche nach der Erleuchtung.

Ich hingegen hatte mein Leben schon immer gern in geordnete Bahnen gelenkt und es gleichzeitig genossen, mir Freiheiten innerhalb dieser einzuräumen. Nicht selten hatte ich mir Freiheiten gemeinsam mit Étienne genommen. Mit ihm war ich ausgebrochen. So war es schon immer mit Étienne gewesen. Wir stellten gegenseitig unsere Prinzipien in Frage, testeten Grenzen aus. Étienne testete meine Grenzen. Nicht respektlos, aber mit einer provokanten Art, auf die ich nicht nicht eingehen konnte. Mehr noch: auf die ich eingehen wollte. Weil er mir die Wahl ließ. Auch jetzt. Er hatte mir signalisiert, ich solle mich melden, die Entscheidung lag bei mir.

Kurz entschlossen entsperrte ich das Display.

Hi, Étienne, hast du den Tag gestern noch gut überstanden? Ich zögerte einen Moment, fügte noch eine weitere Frage hinzu: Wie gehts dir? Dann drückte ich auf Senden. Theoretisch hätte ich vielleicht meinen Namen ergänzen sollen, immerhin hatte er meine Nummer nicht. Praktisch jedoch würde er sich denken können, von wem die Nachricht stammte.

Ohne abzuwarten, ob er direkt online ging, legte ich das Smartphone beiseite, trank den letzten Schluck Kaffee und tappte noch einmal hinüber ins Badezimmer. Die benutzte Tasse ließ ich auf dem Tresen stehen. So viel zum Thema geradlinig und so. Aber Bastian selbst hatte so im Chaos gelebt, dass ihm eine benutzte Tasse auf dem Tresen wirklich wie Ordnung vorgekommen war.

Während ich mich im Bad vollends fertig machte, vernahm ich das Summen meines Handys und war doch ein wenig erleichtert, dass mir dieser Ton einen nur minimal erhöhten Herzschlag einbrachte.

Als ich wieder aus dem Badezimmer trat, zeigte die Küchenuhr zehn nach sieben. Perfektes Timing. Für neun Uhr dreißig war die erste OP des heutigen Tages angesetzt: eine einfache Lidstraffung, bei der die Patientin noch am selben Tag wieder würde nach Hause gehen können.

Mit der Linken angelte ich meinen Schlüsselbund von der Kommode, mit der Rechten ergriff ich mein Smartphone. Die eingegangene Nachricht war tatsächlich von Étienne.

Hey! Schön, dass du dich meldest. Der Leichenschmaus war das blanke Grauen. ;-) Hast du heute Zeit? Ich würde dich gern sehen. Vielleicht zum Abendessen?

Ich hatte es geahnt. Dennoch überrumpelte mich seine Bitte um ein Treffen so, dass ich nur am Rande registrierte, dass er meine Frage danach, wie es ihm ging, nicht beantwortet hatte.

Sekundenlang starrte ich auf das Display, welches längst schwarz geworden war, sodass ich es erneut entsperren musste.

Ich habe heute einen langen OP-Tag. Tut mir leid.