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Erfolgreicher Schriftsteller und einflussreicher Intellektueller Lion Feuchtwanger, der weltberühmte Autor von "Jud Süß" und "Erfolg", war ein wirkungsstarker Akteur seiner Zeit: stilprägend in Theater und Literatur, politisch bewusst angesichts verstörender Zeitläufte, konsequent menschlich trotz existenzieller Bedrohung. Der 1884 in München geborene jüdische Intellektuelle warnte als einer der Ersten vor der nationalsozialistischen Gefahr. Im Exil in Frankreich und den USA war er eine stets hilfreiche Anlaufstelle. Freundschaften verbanden ihn mit vielen anderen Vertriebenen wie Arnold Zweig, Bertolt Brecht und Heinrich Mann. Wie viel uns seine Lebensgeschichte auch heute zu erzählen hat, zeigt diese Biografie.
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Seitenzahl: 619
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Andreas Heusler
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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ISBN eBook:978-3-7017-4460-2
ISBN Printausgabe:978-3-7017-3297-5
Vorwortvon Edgar Feuchtwanger
Was bleibt? (an Stelle einer Einleitung)
Feuchtwangen – Fürth – München
1884: Jakob Lion
1900: München
1909: Marta
1914: Kriegsjahre
1918/19: Eisner, Brecht und Hitler
1925: Berlin
1933: Sanary-sur-Mer
1936/37: Moskau
1939: Les Milles
1940: New York – Los Angeles
Epilog: München 1957
Danksagung
Anmerkungen
Stationen
Auswahlbibliographie
Personenregister
Ich fühle mich geehrt, dass man mich um dieses Vorwort für Andreas Heuslers aufschlussreiche Biographie über meinen Onkel Lion gebeten hat.
Einer der wichtigsten Einflüsse auf Lion und seine Werke war seine Beziehung zum Judentum. Um diese Beziehung in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zu verstehen, muss man seinen elterlichen Hintergrund betrachten. Die Eltern waren orthodoxe Juden, aber sie waren auch mit den Lehren von Rabbi Samson Raphael Hirsch verbunden. Der Rabbi aus Frankfurt war, gemeinsam mit vielen anderen, der Überzeugung, dass das deutsche Judentum ohne strenges Festhalten an den traditionellen jüdischen Gesetzen aussterben und das Reformjudentum keine dauerhafte Zukunft haben würde. Hirsch war gleichwohl der Auffassung, dass die strenge Einhaltung der jüdischen Vorschriften mit der völligen Integration in die deutsche Kultur vereinbar sei.
Im Einklang mit Hirschs Lehren wurden Lion und mein Vater Ludwig, die ein Altersunterschied von knapp anderthalb Jahren trennte, auf das elitäre Münchner Wilhelmsgymnasium geschickt, wo sie unter anderem von Heinrich Himmlers Vater unterrichtet wurden. Beide empfanden den Schulalltag als sehr schwierig. Beispielsweise waren sie angehalten, koscher zu essen und am Schabbat keine Gegenstände zu tragen. Dies schuf eine Kluft zwischen ihnen und ihren Mitschülern. Aber es entfremdete sie auch in zunehmendem Maß vom elterlichen Umfeld. Gleichzeitig entwickelte sich durch die gemeinsame Erfahrung eine enge Beziehung der beiden Brüder. Sie hatten daher zu Beginn ihrer Karrieren vieles gemeinsam, aber bald trennten sich ihre Wege. 1914, vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, hatte Lion seine Bestimmung noch nicht gefunden und durchlebte gemeinsam mit seiner Frau Marta seine Années de pèlerinage.
Dagegen war mein Vater bereits ein Teil des intellektuellen Establishments in Deutschland. Noch vor seinem 30. Geburtstag war sein Leben geprägt von der Beziehung zu Gustav von Schmoller. Schmoller, der »Doktorvater« meines Vaters, veröffentlichte einige seiner Artikel in Schmollers Jahrbuch. Es ist auf Schmoller – einen der prominentesten Kathedersozialisten – zurückzuführen, dass mein Vater schon im frühen Alter von 28 Jahren die Position des wissenschaftlichen Leiters und Syndikus des Verlags Duncker & Humblot übertragen wurde. Er hatte diese Position bis zu seiner von den Nazis erzwungenen Demission im Jahr 1936 inne. Duncker & Humblot war gegen Ende des 18. Jahrhunderts gegründet worden. 1831 erschienen hier mit Ueber das Daseyn und Phänomenologie des Geistes einige Spätwerke Hegels; 1815 veröffentlichte der Verlag Goethes Des Epimenides Erwachen. Später erschien hier das Gesamtwerk Rankes. Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde Duncker & Humblot zum Hausverlag des Vereins für Socialpolitik, dem Mittelpunkt der Kathedersozialisten. Unter den Autoren waren Werner Sombart, Georg Simmel und Lujo Brentano.
Zwischen derart eng verbundenen Brüdern entstehen zwangsläufig auch geschwisterliche Rivalitäten. Zwischen Lion und Ludwig waren diese aber, wie man der Darstellung von Andreas Heusler entnehmen kann, zu keinem Zeitpunkt bitter oder anders als wohlwollend. Als mein Vater 1938 in Lebensgefahr geriet, zögerte Lion keinen Augenblick und rettete ihn und seine Familie.
Meine einzige persönliche Begegnung mit Lion fand 1927 statt, als er nach München kam, um meine Eltern zu besuchen. Ich war damals kaum drei Jahre alt. Später erzählte mir meine Mutter: »Ich habe Lion gefragt: ›Willst du nicht deinen Neffen sehen, der ist sehr nett?‹ Lion sagte, in seiner typisch leicht ironischen Weise: ›Ich habe für solche Gelegenheiten immer ein paar passende Worte auf Lager.‹« Nach dem Tod meines Vaters im Jahr 1947 entwickelte sich zwischen Lion und mir eine regelmäßige Korrespondenz. Er schickte mir seine Bücher, und es schien ihn zu freuen, wenn ich ihm mitteilte, dass und warum ich sie mochte. Ganz besonders erinnere ich mich in diesem Zusammenhang an das Buch Narrenweisheit. Ich war stolz, als er mich in seinem Testament als seinen natürlichen Erben benannte, falls Marta vor ihm sterben sollte. Rein rechtlich wäre ich dies womöglich ohnehin gewesen.
Edgar Feuchtwanger
Southampton, im Mai 2014
»Wie leicht ist es, die Menschen glücklich zu machen. Eine Biographie. Was ist eine Biographie? Als ob etwas anderes zählte als das schöpferische Werk. Aber da kramt einer herum in den Abfällen, in der sogenannten Wirklichkeit, im Abgelebten, und ist glücklich.«1
Lion Feuchtwanger hat sich stets einem autobiographischen Diskurs verweigert. Als Schriftsteller wollte er nicht in eigener Sache tätig werden, wollte über sich selbst vor allem durch sein Werk Auskunft geben. Aus gutem Grund, wie er fand: »Eine Selbstbiographie schreiben, ist ein heikles Unternehmen. Das Wort ›ich‹ ist gefährlich für den Schriftsteller. Läßt er sich nur ein wenig gehen, dann bekommen seine Sätze sogleich einen wichtigtuerischen Klang; versucht er, kühl zu bleiben, dann wirkt eine solche Kühle rasch wie falsche Bescheidenheit, und die Ich-Erzählung wird doppelt unerträglich.«2 Dieser Maxime der autobiographischen Diskretion ist Lion Feuchtwanger zeitlebens treu geblieben. Es gibt nur wenige Texte aus seiner Feder, die das eigene Werden und Leben reflektieren. Meist sind es kurze, summarische Übersichten, mehr Notizen und Fragmente, die als unfertige Bausteine und Module für eine Biographie dienen können, bisweilen aber auch den Blick auf die Person Feuchtwanger mehr verstellen als erhellen. Selbst die Tagebücher, als Fragmente für die Jahre 1906 bis 1940 überliefert, sind weder für literaturwissenschaftliche noch für biographische »Ermittler« geschrieben. Es sind intime, oft im Telegrammstil abgefasste Zeugnisse, die eher den Charakter chronologischer Ereignisprotokolle haben und kaum einmal den Leser mit klugen, diskursiven Reflexionen über Literatur, Kunst, Philosophie und Politik erfreuen. Sie sind erkennbar nicht mit Blick auf eine spätere, womöglich posthume Veröffentlichung geschrieben. Es sind Zeugnisse der Selbstvergewisserung, persönliche, bisweilen explizit intime Notizen, die in der geschützten Sphäre des Privaten bleiben sollen – andernfalls hätte Lion Feuchtwanger diese nicht in der den meisten Lesern unzugänglichen Kurzschrift verfasst. Da also Feuchtwanger mit Informationen und Daten über seine Person und sein Leben sehr sparsam war, müssen andere die Aufgabe des lebensgeschichtlichen Erzählers übernehmen. Germanisten und Historikern fällt die Aufgabe zu, Zeugnis abzulegen von einem Leben, dessen Verlauf wie wenige andere die Höhen und Untiefen, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des »langen 20. Jahrhunderts« (Charles S. Maier) widerspiegelt.
Dieses Buch ist mehr als eine Biographie. Denn es verschränkt Lebensgeschichte mit sozialen, kulturellen, politischen Gegebenheiten. Fragt nach Bezugssystemen, Netzwerken, Abhängigkeiten, Bedingungen. Stellt den Protagonisten in einen Kontext, der – im Rang gleichwertig – die lebensgeschichtliche Erzählung einrahmt und stützt. Und doch ist dieses Buch auch viel weniger als eine Biographie. Denn: Die Geschichte eines kompletten Lebens zwischen zwei Buchdeckeln einzufangen, den Werdegang eines Menschen »von der Wiege bis zur Bahre« in all seinen unberechenbaren Windungen und letztlich doch folgerichtigen Entwicklungen zu erzählen, ist ein hoffnungsloses Unterfangen. Man möchte bekennen: Ein derartiges Projekt scheint von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wie überhebliche Maßlosigkeit mutet es an, das Unmögliche zu wagen: zu schildern, wie sich Persönlichkeit und Charakter eines Menschen entwickeln, wandeln, festigen. Wie sich »Menschlichkeit« in einer Person verdichtet, wie sich Gefühlswelten, wie sich Hoffnungen, Ängste, Sehnsüchte, Leidenschaften und vieles mehr an emotionalen Befindlichkeiten mit Talenten und Begabungen mischen und so, stets in Wechselwirkung mit einem sozialen Umfeld, das Profil eines Individuums konturieren, seine Besonderheit formen und schließlich seine Einzigartigkeit unterstreichen.
Dieses Buch ist also vor allem: ein Versuch. Ein Versuch der Annäherung an einen Menschen, der einzig in schriftlichen Überlieferungen, in archivischen Fragmenten, in seinem poetischen, schriftstellerischen Werk fortlebt und schon längst nicht mehr in den Erinnerungen der Nachlebenden gegenwärtig ist. Denn auch die Generation der »Zeitzeugen«, die noch aus eigener Anschauung, eigenem Erleben und Mitleben über den Menschen und Schriftsteller Dr. phil. Lion Feuchtwanger berichten könnte, ist schon lange von uns gegangen. Dieses Buch ist demnach der Versuch einer Rekonstruktion. Und weil der Begriff Rekonstruktion auch den schöpferischen Aspekt der »Konstruktion« in sich trägt, gilt es einzuräumen, dass das Schreiben einer Biographie oft auch den Bereich des Spekulativen berührt. Wie etwas war, wie Ereignisse sich entwickelt und welchen Verlauf, ja, warum sie diesen Verlauf genommen haben, lässt sich nicht immer zweifelsfrei feststellen. Man kann Geschichte erschließen, deuten, andeuten. Beweisen lässt sie sich nicht. Nur Phänomene, deren spezifische Konfiguration in beliebig oft wiederholbaren Versuchsanordnungen überprüft werden kann, sind letztlich beweisbar. Geschichtswissenschaft ist hingegen eine Wissenschaft im Konjunktiv. Gleiches gilt auch für die Biographie. Erzählt wird in diesem Buch die Geschichte eines Mannes, dessen Leben – einem Brückenschlag vergleichbar – zwei Jahrhunderte miteinander verbindet, wie sie gegensätzlicher nicht sein können: Geboren und aufgewachsen ist er in der vermeintlich »guten alten Zeit«, in der jedoch das verklärte Idyll der bayerischen Prinzregentenära bereits machtvoll mit den Spannungen und Herausforderungen einer krisengeschüttelten Moderne konfrontiert wird. In die Lebenszeit von Lion Feuchtwanger fällt das unversöhnliche Aufeinanderprallen von Tradition und Fortschritt, er wird zum Zeugen (und zum Akteur) der zerstörerischen Konfrontation von bürgerlicher Selbstgefälligkeit und avantgardistischer Aufbruchstimmung. Das Leben von Lion Feuchtwanger ist gezeichnet durch die großen, die erschütternden Katastrophen der Epoche. Dieses Leben erfährt seine Zäsuren durch den Ersten Weltkrieg und in tiefgreifender, tragischer Form durch das Menschheitsverbrechen des nationalsozialistischen Judenmords. Im Leben des Protagonisten dieses Buches spiegelt sich die Vielschichtigkeit und die Tragik jener Jahrzehnte, die die Lebensentwürfe ganzer Generationen und Völker dauerhaft verändert, ja deformiert haben.
Dieses Buch über Lion Feuchtwanger verdankt den profunden Biographien von Joseph Pischel (1976), Volker Skierka (1984), Reinhold Jaretzky (1984) und Wilhelm von Sternburg (1991) viel. Sie geben die Koordinaten vor, legen das Fundament und setzen die Standards für diese Feuchtwanger-Biographie des Jahres 2014. Auch die Arbeiten von Heike Specht über »Die Feuchtwangers« (2006) und Manfred Flügge über Marta Feuchtwanger (2008) und Eva Herrmann (2012) sind grundlegend und haben ihre Spuren in der vorliegenden Darstellung hinterlassen. Damit sei gesagt, dass die Lebensgeschichte von Lion Feuchtwanger in diesem Buch nicht grundlegend neu erzählt wird, eben weil sie nicht grundlegend neu berichtet werden kann. Vieles ist bekannt, ausgeleuchtet, interpretiert und kommentiert. Dennoch beansprucht das Buch einen neuen Zugang. Die Lebensgeschichte von Lion Feuchtwanger wird hier anders akzentuiert, folgt modifizierten Leitfragen, nutzt bislang unbekannte Quellen und lenkt den Blick schließlich auf Aspekte von Leben und Werk, die in dieser Form bislang nicht die ihnen gemäße Aufmerksamkeit gefunden haben. Die Aufmerksamkeit richtet sich einmal auf München, die Geburts- und Heimatstadt Feuchtwangers. Vier Jahrzehnte hat er in der bayerischen Haupt- und Residenzstadt verbracht. Mehr Lebenszeit verbindet ihn mit keinem anderen Ort. Dieser Befund ist evident und er bestimmt Kurs und Format des lebensgeschichtlichen Narrativs. Was hat das »Milieu München« dem Menschen und Schriftsteller gegeben, wo liegen die wechselseitigen Wirkkräfte und welche literarische Energie wurde durch Reibung an und Inspiration durch dieses spezielle »Milieu München« freigesetzt? Mit anderen Worten: Wie hat sich die kulturelle und politische Physiognomie Münchens in Leben und Werk des Schriftstellers Lion Feuchtwanger eingeschrieben?
Ein zweites Leitmotiv liegt dem Buch zugrunde. Die älteren Biographien richten bei der Rekonstruktion und Einordnung des Lebens von Lion nicht nur großes Augenmerk, sondern auch großes Vertrauen in die Berichte von Marta Feuchtwanger. Marta ist die besorgte Hüterin des Feuchtwanger’schen Erbes, die Treuhänderin von Lions Nachlass und die zentrale Figur der Feuchtwanger-Rezeption, der Feuchtwanger-Biographik nach dem Tod des Schriftstellers. Mit lakonischer Selbstverständlichkeit reklamiert Marta die Deutungshoheit über den Menschen Feuchtwanger. Als »Lions Königliche Kustodin« wird sie 1981 in einem Magazinbeitrag der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« bezeichnet – eine durchaus treffende Zuschreibung. Das Werk, das jedem zugänglich ist, in millionenfacher Auflage gedruckt vorliegt, interpretiert Marta, die »lebende Legende« (Thomas Bublacher), kaum. Das überlässt sie Lesern, Kritikern und Wissenschaftlern. Allenfalls gibt sie Hilfestellungen und Hinweise zur literaturgeschichtlichen Einordnung, zur philologischen Feinjustierung. Spricht gewissermaßen die bisweilen erforderlichen Zwischentexte zu einer Gesamtbetrachtung des heterogenen und weitläufigen Feuchtwanger’schen Œuvres. Anders dagegen, sobald die Deutung und Einordnung des Menschen Lion Feuchtwanger gefragt ist: Hier ist manche Auslegung schwierig, kommt man nicht um Martas Erzählungen, Interventionen und Interpretationen herum, die durch die jahrzehntelange Zeitzeugenschaft und Lebenspartnerschaft beglaubigt scheinen. Marta wird nach 1958 zur wichtigsten Gewährsperson der Feuchtwanger-Forschung. Sie ist die Hüterin des Schatzes in der Villa am Paseo Miramar in Pacific Palisades, der späteren »Villa Aurora«, der aus der Bibliothek des Schriftstellers und seinem Nachlass, vor allem aber aus den Erinnerungen Martas besteht. Diese Erinnerungen besitzen einen hohen Stellenwert für die Archäologie in Sachen Lion Feuchtwanger. Marta wird allmählich zur Ikone der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Manche verklären sie gar zur »Grande Dame des Exils« – eine Rolle, die Marta gerne übernimmt und mit großer Überzeugungskraft ausfüllt. Dem ist das wichtigste methodische Instrument des Historikers entgegenzuhalten: die Quellenkritik. Das vorliegende Buch vermeidet eine allzu starke Anlehnung an die Deutungsangebote, die sich dem Biographen durch die vielfältigen Berichte von Marta Feuchtwanger geradezu aufdrängen. Das funktioniert nicht ohne Selbstkritik und Distanz. Und auch nicht ohne die Einsicht in den Befund, dass es nicht eine gültige Form, sondern viele Varianten von historischer Wahrheit gibt. Oder mit den Worten Lion Feuchtwangers: »Nichts gegen den Historiker, der auf der Basis der Hegelschen Philosophie an Hand von Fakten die Grundlinien der Entwicklung der Menschheit, die Gesetze dieser Entwicklung, ihre Dialektik, darzulegen sucht. Aber wer unter anderen Gesichtspunkten historische Fakten zusammenstellt, darf der den Anspruch erheben, ein Wissenschaftler zu sein? Gibt er nicht, wie immer er seinen Stoff anordnet, einfach durch seine Anordnung der Fakten ein subjektives Bild, gibt er nicht im besten Falle Kunst?«3
Was bleibt? Vor allem die Einsicht, dass über die Nacherzählung des individuellen Erlebens Einzelner auch die großen Züge der Geschichte in ihrer wundersam farbigen, tragischen, hoffnungsvollen, beklemmenden, lebensfrohen, mörderischen und lustvollen Vielseitigkeit erschlossen, greifbar und begreifbar werden können. Und der Wunsch, dass dieses Buch dazu beitragen möge, einen großen, einen bedeutenden epischen Erzähler des 20. Jahrhunderts neu zu entdecken. Über Feuchtwanger zu lesen, ist informativ. Aber Feuchtwanger zu lesen, ist lohnend.
München, im April 2014
»Die ersten historischen Nachrichten, die wir von dem Daseyn der Juden in Baiern haben, sind zugleich die ersten Nachrichten von ihrer Mißhandlung.«4
Mit knappen Worten fasst Martin Feuchtwanger, der jüngere Bruder Lions, die Geschichte seiner Familie zusammen: »Ich wurde in München geboren, mein Vater wurde in Fürth in Bayern geboren, und sein Vater auch in Fürth und dessen Vater ebenfalls in Fürth. Wahrscheinlich auch der Urgroßvater und wahrscheinlich auch der Ururgroßvater.«5 Die komprimierte Genealogie deutet die lange Geschichte der Feuchtwangers lediglich an und legt doch tiefliegende, über viele Generationen gewachsene bayerische Wurzeln frei. Wenn es im 19. und frühen 20. Jahrhundert so etwas wie ein bayerisch-jüdisches Establishment gab – die Feuchtwangers gehörten dazu. Sie waren tätige Gestalter des kulturellen Erbes dieses Landes. Sie beeinflussten Tradition und Überlieferung, waren als Juden und Bayern wirkungsstarke Impulsgeber für den Werdegang, für das Profil des Landes. Am Beispiel der Familie Feuchtwanger wird exemplarisch deutlich: Bayerische Geschichte war seit dem Mittelalter stets auch jüdische Geschichte. Soziale, kulturelle und ökonomische Entwicklungen wurden vom jüdischen Bevölkerungsteil über Jahrhunderte beeinflusst und mitgeprägt. Jüdische Lebenswelten waren allgegenwärtig und besonders stark, ja nachhaltig präsent im fränkischen Raum und im schwäbischen Teil Bayerns. Bayern ist ohne jüdische Einflüsse, ohne jüdische Gestaltungskraft nicht vorstellbar. Der Name Feuchtwanger wiederum ist vor allem mit den beiden Städten Fürth und München verbunden.
Will man den Menschen Lion Feuchtwanger erkennen und den Schriftsteller Lion Feuchtwanger verstehen, die bisweilen widersprüchliche Zerrissenheit zwischen den lebensgeschichtlichen Positionen des bayerischen Juden und des kosmopolitischen Intellektuellen begreifen, muss man die Chronologie seiner Vita in den spannungsreichen Kosmos bayerisch-jüdischer Lebenswelten einordnen. Denn die jüdische Identität war dem Menschen und Schriftsteller Lion Feuchtwanger ebenso unverzichtbarer Lebensbegleiter wie die bayerisch-münchnerische Prägung. Die wichtigen Kindheits- und Jugendjahre, die Phasen der Persönlichkeitsbildung, die Momente des Entdeckens der eigenen Begabung, der konkreten Verortung von sinnlichen wie abstrakten Sehnsuchtsorten, des selbstbewussten Aufbruchs und des peinigenden Scheiterns, der ersten Erfolge – es sind Münchner Jahre. Und in der Biographie Lion Feuchtwangers vollzieht sich die Rückkoppelung jener in sich zerrissenen Stadt, die sich wie keine zweite in der unvereinbaren Gegensätzlichkeit von behaglicher Wirtshausfolklore und provokativer künstlerischer Geste, von konservativem Trachtencharme und unangepasster Bohème, von katholischer Selbstgerechtigkeit und rechtsextremem Chauvinismus gefallen hat. Es ist München, es sind die Bewohner der Stadt, die dem literarischen Entdecker und Aufdecker Feuchtwanger ein reiches, ein üppiges Tableau an Inspirationen, Themen und Geschichten anbieten.
Der Geschichtenschreiber Lion Feuchtwanger war gleichermaßen auch Geschichtsschreiber. Die Vergangenheit war ihm nicht nur Steinbruch aus Ideen, Ereignissen und Akteuren, sondern auch Resonanzraum für die kritische Analyse von Gegenwartsfragen, für die Befragung und Klärung von aktuellen Phänomenen. Er ist, so Volker Skierka in seiner voluminösen Bildbiographie, »ein Betrachtender, der die politische Gegenwart in seinen Büchern mit dem Mittel historischer Stoffe verarbeitete«.6 Lion Feuchtwanger formuliert dieses Selbstverständnis noch prägnanter. In einem Interview mit dem amerikanischen Journalisten Ralph Friedmann bekennt er, nur wenige Monate vor seinem Tod: »Bei einem wirklich kreativen Schriftsteller ist es so: nicht er wählt seinen Stoff; es ist der Stoff, der ihn wählt. Wenn ich historische Romane schreibe, denke ich immer, dass es unsere Zeitgeschichte ist, über die ich schreibe.«7 Bei einem Autor, der wie kaum ein anderer die Vergangenheit als Bezugssystem für eigene künstlerische Positionsbestimmungen benutzt, ist ein konzentrierter Blick in die Geschichte unvermeidbar. Erst durch die historische Kontextualisierung, durch die Einordnung in einen Wertekanon von religiöser Prägung und identitätsstiftenden jüdischen Traditionen werden Mensch und Schriftsteller Lion Feuchtwanger »erkennbar«, werden die Konturen einer widersprüchlichen Persönlichkeit sichtbar, in der sich scheinbare Gegensätze aufs Fruchtbarste begegnen: die bewusst gelebte Distanz zum tradierten Judentum und zur Religion »der Väter« einerseits und das tiefe Bewusstsein für den eigenen Standort in der jüdischen Überlieferung, in der kulturellen Tradition des Judentums andererseits. Mit anderen Worten: Wer die Geschichte von Lion Feuchtwanger glaubwürdig erzählen möchte, muss auch die Geschichte der Juden in Bayern und die Geschichte von Lions Vorfahren erzählen.
Die ersten gesicherten Hinweise auf die Anwesenheit von Juden in Bayern finden sich bereits im 10. Jahrhundert in Regensburg – einer Stadt, die sich in den folgenden Jahrhunderten wegen der dortigen Talmud-Schule zu einem Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit im süddeutschen Raum entwickeln wird. Neben Regensburg bildeten die Städte Augsburg, Würzburg, Nürnberg und Fürth die mittelalterliche Achse jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in Bayern. Die spätere Haupt- und Residenzstadt München hingegen hat im Mittelalter und in der Neuzeit keine nennenswerte Bedeutung für das süddeutsche Judentum. Regensburg mit dem einzigen jüdischen Friedhof in Bayern, mit einer repräsentativen Synagoge, mit einer weithin bekannten Talmud-Schule und einem rabbinischen Gericht ist der Zentralort für die jüdischen Niederlassungen in Bayern. Deren Leben wird im mittelalterlichen Bayern immer wieder gestört und zerstört durch heftige Gewalt, durch langandauernde Phasen der Ausgrenzung und gewaltsamen Vertreibung. Gleichwohl deutet Ludwig Feuchtwanger, ein jüngerer Bruder Lions und namhafter Historiker jüdischen Lebens in Bayern, die mittelalterliche Lebenswirklichkeit nicht nur negativ. Es sei falsch, sich das Leben der Juden »in Bayern in älterer Zeit als einen grausigen Wechsel von Gefahren, Bedrückungen, Austreibungen und Wiederzulassungen vorzustellen. Vielen Generationen war auch in den bayerischen Gebieten im Mittelalter (…) ein friedliches, geschlossenes jüdisches Leben beschieden. Der jüdische Stamm lebte wie überall im christlichen Abendland in diesen Epochen auch in Bayern für sich und hatte sein eigenes vielgestaltiges geistiges und soziales Dasein.«8 Unstrittig ist freilich, dass die restriktive und von wirtschaftlichen Eigeninteressen geleitete Politik der bayerischen Herzöge den Juden im Mittelalter eine dauerhafte Bleibe in Bayern nicht ermöglicht. Erst für das ausgehende 17. Jahrhundert ist in Bayern die Entstehung neuer kleiner jüdischer Gemeinschaften belegt. Noch unterliegen diese Neuankömmlinge weitreichenden Einschränkungen in rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht, so dass man bis weit ins 18. Jahrhundert hinein festhalten muss: Juden sind in Bayern geduldet, aber nicht willkommen.
Lion Feuchtwangers Vorfahren stammen aus einem kleinen malerischen Städtchen in Mittelfranken. Feuchtwangen, an der Sulzach zwischen Rothenburg ob der Tauber und Nördlingen gelegen, ist seit dem 13. Jahrhundert als freie Reichsstadt nur dem König verpflichtet und vorerst keiner fürstlichen Landesherrschaft unterworfen. Wann die ersten Juden nach Feuchtwangen kommen, ist ungewiss. Doch sind in der Stadt bereits für das Spätmittelalter jüdische Gemeinschaften nachweisbar. Für die kleine jüdische Gemeinde ist das Leben im christlich geprägten Feuchtwangen indessen nicht einfach. Auch hier kommt es immer wieder zu antisemitischen Pogromen, gewaltsamen Verfolgungen und brutalen Vertreibungen der Minderheit. Juden werden als »Brunnenvergifter« und »Hostienschänder« beschimpft und im Jahr 1555 endgültig aus Feuchtwangen ausgewiesen. Es ist die konfliktgeladene Zeit der Reformation. Die Juden gehören zu den Hauptleidtragenden der konfessionellen Wirren, die auch im fränkischen Land für Unsicherheit und Orientierungslosigkeit sorgen. Viele Vertriebene retten sich an Orte, wo man den Juden noch wohlgesinnt ist, etwa nach Schwabach, Sulzbürg oder Pappenheim. Zwar werden die Heimatlosen auch hier nicht mit offenen Armen empfangen, aber immerhin vorläufig geduldet. Eine Gruppe lässt sich im mittelfränkischen Fürth nieder. Die von der alten Heimat etwa eine Tagesreise entfernt liegende Stadt gilt als vergleichsweise tolerant und zieht daher viele Juden an. In der Folgezeit entwickelt sich in Fürth ein reiches jüdisches Leben mit einer gut funktionierenden religiös-rituellen Infrastruktur. Friedhof und Synagoge entstehen, ein Bet- und Lehrhaus wird eingerichtet, ein Spital sorgt für die Versorgung der Kranken. Insbesondere die weitbekannte Fürther Talmud-Schule genießt hohes Ansehen. Anfang des 18. Jahrhunderts zählt man etwa 400 jüdische Familien in der Stadt. Damit ist annähernd ein Fünftel der Fürther Bevölkerung jüdisch. So kommt es, dass man die Stadt – nicht immer mit den besten Absichten – gelegentlich als »bayerisches Jerusalem« bezeichnet. Im 19. Jahrhundert gehören auch die ursprünglich aus Feuchtwangen stammenden Juden zu den eingesessenen Fürther Bewohnern. Den offiziellen Namen »Feuchtwanger« nehmen sie aufgrund eines königlichen Dekrets zur Führung von Familiennamen im Jahr 1813 an. Er ist vom Ort ihrer Herkunft abgeleitet und hält die Erinnerung an eine wechselvolle Familiengeschichte wach.
Die Feuchtwangers sind eine große Familie. Der genealogisch Interessierte wird mit einer weitläufigen Dynastie konfrontiert, die sich ganz im Sinne der Thora entwickelt hat. »Seid fruchtbar und mehret Euch«, lautet die erste Mitzwah, der erste Auftrag Gottes an die Menschen aus dem Buch Genesis (1,28). Das Wort ist Verpflichtung, Gebot, Gesetz – gerade für streng observante, für fromme Juden. Fromm und den Worten der Thora gehorsam sind die orthodoxen Feuchtwangers. Viele Kinder zeugen Lions Urgroßeltern Fanny und Seligmann Feuchtwanger, alle geboren zwischen 1819 und 1841 in Fürth. Sechs Mädchen und neun Jungen sind der Stolz des angesehenen Kaufmanns, sichtbares Zeichen und Beglaubigung der göttlichen Gnade, die auf seinem Geschlecht ruht. Glückliche Eltern sind es zudem, denn nur drei Kinder sterben im ersten Lebensjahr, die anderen überleben, werden alt, manche für damalige Verhältnisse sogar uralt. Dass es den Feuchtwangers zu jener Zeit gelingt, viele Kinder »durchzubringen«, ist ein Hinweis auf die soliden wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie, auf gehobene bürgerliche Lebensstandards. Hygiene, medizinische Versorgung, gesunde und ausreichende Ernährung sind damals keine Selbstverständlichkeiten, sind nicht für jedermann zugänglich und verfügbar. Das 19. Jahrhundert kennt keine öffentliche medizinische Vorsorge und Daseinsfürsorge. Noch sind Gesundheit und Lebenserwartung untrennbar an die finanziellen Möglichkeiten und wirtschaftlichen Verhältnisse jedes Einzelnen gebunden und Sterblichkeit ist auch eine Bedingung von Armut und Wohlstand.
Der Silberhändler Seligmann Feuchtwanger, Lions Fürther Urgroßvater, wird zum Stammvater, zum Patriarchen eines Geschlechts, dessen Name in jüdischen Kreisen und weit über Fürth hinaus einen guten, einen respektvollen Klang besitzt. Gottgefälligkeit, Bildung, Unternehmererfolg, Wohlstand und Bescheidenheit sind die Koordinaten, die den fränkischen Kosmos der Familie Feuchtwanger umschreiben und begrenzen. Seligmanns Braut Fanny, im schwäbischen Wallerstein aufgewachsen und aus dem überregional tätigen, hochrenommierten Privatbankhaus Wassermann stammend, ist eine »gute Partie«. Sie bringt 1818 eine beträchtliche Mitgift mit in die Ehe, was dem ambitionierten Seligmann den Ausbau seines bereits erfolgreich laufenden Geschäfts ermöglicht. Dieser Seligmann Feuchtwanger ist als Unternehmer zwar an weltlichen Geschäften und an profanem Handel interessiert, und doch lebt und wirkt er in erster Linie als Jude, stellt er sich ganz in den Dienst der jüdischen Gemeinschaft. Als Mohel, als Beschneider der Fürther Juden, bekleidet er eine zentrale rituelle Funktion. Die Beschneidung gilt im Judentum als die Manifestation des Bundes mit Gott. Die Brit Mila muss am achten Tag nach der Geburt eines Knaben vollzogen werden; erst dann tritt der »abrahamitische Bund« in Kraft, ist das wichtigste göttliche Gebot durch den Menschen erfüllt. In seiner Doppelrolle als Kaufmann und Mohel verkörpert Seligmann Feuchtwanger das Spannungsfeld der jüdischen Orthodoxie in einer mehrheitlich christlich geprägten Welt. Zwar ist ihm im Säkularen, im weltlichen Bereich, die Bewältigung des Alltags und die Existenzsicherung der Familie aufgetragen, dieser Verpflichtung ist jedoch unbedingt im Rahmen der strengen Gesetze der jüdischen Religion nachzukommen. So verdichtet sich im Leben Seligmann Feuchtwangers der Konflikt zwischen Tradition und Glaubenstreue einerseits und Behauptung im Profanen, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben andererseits.
Innerhalb der Familie orientiert sich die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau an den gängigen Mustern der jüdischen Tradition. Diese sind in vielerlei Hinsicht den Binnenstrukturen christlich-bürgerlicher Haushalte vergleichbar. Die Töchter werden auf ihre spätere Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereitet. Mithilfe im familiären Haushalt, Betreuung der kleinen Geschwister und Unterweisung in allen Bereichen der Hauswirtschaft sind auch für die Feuchtwanger-Töchter obligatorisch. Um eine sichere Zukunft der Töchter zu gewährleisten, versuchen die Eltern frühzeitig die Weichen für adäquate Eheschließungen zu stellen. Anders jedoch als in der christlichen Welt kommen gemischtkonfessionelle Verbindungen in den jüdisch-orthodoxen Milieus unter keinen Umständen in Frage. Der Wahl des richtigen Ehepartners wird entscheidende Bedeutung beigemessen. Dabei geht es nicht nur um Eheglück, sondern auch um eine adäquate wirtschaftliche Symmetrie der beiden Partner und nicht zuletzt um die Sicherung, den Fortbestand orthodoxer Lebenswelten. Als Ehepartner kommt nur in Frage, wer den Kategorien der eigenen religiösen Observanz genügt. In ihren Erinnerungen beschreibt die Münchnerin Rahel Straus, eine Urenkelin von Seligmann Feuchtwanger, wie jüdische Ehen angebahnt und geschlossen werden: »In jüdischen Häusern war es damals (…) Sitte, dass Eltern, Verwandte und Freunde der Familien oder auch berufsmäßige Heiratsvermittler kamen, um den oder jenen jungen Mann für dies oder jenes junge Mädchen vorzuschlagen. Passten dann die äußeren Bedingungen wie Familie, Beruf, Vermögen, Gesundheit, so gaben die Eltern des Mädchens die Zustimmung, dass der junge Mann zur ›Beschau‹ kam. Selten fuhr der junge Mann unverlobt wieder fort. Das galt als große Beleidigung, denn eigentlich heiratete man ›in eine Familie‹, nicht das individuelle Mädchen. Dass man nachher zusammenpasste, dafür sorgten schon Sitte und Tradition.«9
Das Problem der geeigneten Partnerwahl stellt sich für die neun männlichen Nachkommen im Hause Feuchtwanger nicht in gleicher Schärfe. Für die Zukunft der Söhne ist vor allem eine solide und zukunftsweisende Berufsausbildung relevant. Hier können die Feuchtwangers auf vielfältige verwandtschaftliche Verbindungen zurückgreifen. Zwei Söhne, Jakob Löw und Moritz, werden bei Fannys Bruder Samuel im renommierten Bankhaus Wassermann ausgebildet. Auch die anderen Feuchtwanger-Söhne gehen ins Geschäftsleben, etablieren sich im Bankwesen, nutzen die innovativen Potentiale der noch jungen, aber aufstrebenden Lebensmittelindustrie oder machen sich in der Textilbranche selbstständig. Aber auch für die Söhne und die gedeihliche Entwicklung ihrer jeweiligen Unternehmungen wird eine glückliche Partnerwahl entscheidend sein.
Mitte des 19. Jahrhunderts werden nicht nur die männlichen Feuchtwanger-Nachkommen unter »die Haube« gebracht. Nun wird auch das Münchner Kapitel der Feuchtwanger-Geschichte aufgeschlagen. Jakob Löw (geboren 1821), der älteste Sohn von Seligmann und Fanny, ist entschlossen, in der aufstrebenden Haupt- und Residenzstadt sein Glück zu wagen. Nach der soliden Ausbildung im Bankhaus seines Onkels fühlt er sich reif und ausreichend vorbereitet, ein eigenes Geschäft auf die Beine zu stellen. Seine jüngeren Brüder Elkan (geboren 1823), Moritz (1828) und David (1832) folgen ihm wenig später nach München. Die Zeit für ein unternehmerisches Wagnis ist günstig. Bayern ist 1806 durch den Frieden von Pressburg zum Königreich von Napoleons Gnaden geadelt worden, und München ist das administrative und kulturelle Zentrum dieser noch jungen, aber ambitionierten süddeutschen Monarchie, die im Konzert der Großen ein Wort mitreden möchte. Trotz der politischen Wirren der Zeit – Vormärz und Revolution von 1848 beeinträchtigen auch die Selbstzufriedenheit des beschaulichen Bayern – ist die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Phase des wirtschaftlichen Aufbruchs, dank der es geschäftstüchtige Unternehmer zu erheblichem Wohlstand bringen können. Die in Schwung kommende Industrialisierung, der Ausbau des Schienennetzes und die extensive Nutzung neuer Technologien und Fertigungsverfahren sorgt für eine wirtschaftliche Boomphase, von der vor allem der Sektor der Finanzdienstleistungen profitiert. Denn der Aufbau von Fabriken und der Ausbau einer Verkehrsinfrastruktur müssen finanziert werden. Jetzt schlägt die große Stunde der Bankiers, die investitions- und expansionsfreudigen Unternehmern entsprechende Kredite zur Verfügung stellen.
Zwischen 1840 und 1850 finden wir Jakob Löw Feuchtwanger in München als Mitarbeiter einer »Geldverwahrungsrechnungsstube« am Promenadeplatz, die von einem gewissen Isidor Neustätter geführt wird. Gegenstand des Betriebs ist der Geldwechsel, möglicherweise werden auch schon kleinere Kredite ausgereicht. In diesen Jahren wird Jakob Löw bereits als »Insasse«, dann auch als »Bürger« nach München aufgenommen. Elkan Feuchtwanger, der seinem älteren Bruder in die Haupt- und Residenzstadt gefolgt ist, wird 1852 Münchner Bürger. Die Verleihung des Bürgerrechts ist keine belanglose Formalie, sondern ein seltenes Privileg, das vom Stadtmagistrat zurückhaltend vergeben und streng reglementiert wird, das eine penibel-genaue Prüfung voraussetzt. Dies gilt besonders für Juden, die das Münchner Bürgerrecht erlangen möchten. Entscheidend ist vor allem die wirtschaftliche Lage des Antragstellers. Die Feuchtwanger-Brüder erfüllen alle Kriterien: Trotz ihrer Jugend verfügen beide bereits über stattliche Vermögen und Geschäftserfahrung und bieten daher hinreichend Gewähr, nicht der städtischen Armenpflege anheimzufallen. Die erfolgreiche Ansässigmachung wiederum ist Voraussetzung und Grundstein für die Errichtung eines eigenen Geschäfts. Begünstigt werden Jakob Löws Ambitionen durch eine geschickte Heiratspolitik. Die Eheschließung mit einer aus einem angesehenen Frankfurter Bankhaus stammenden orthodoxen Jüdin im Jahr 1850 ist deckungsgleich mit dem Gründungsakt der Münchner Feuchtwanger-Bank. Dass die Braut Auguste Hahn »die Hässlichkeit in die Familie brachte«10, spielt in Anbetracht der stolzen Mitgift von 18 000 Gulden eine nachgeordnete Rolle. Gemeinsam mit seinem Bruder Moritz, der ebenfalls in eine Frankfurter Bankiersfamilie eingeheiratet hat, gründet Jakob Löw im Mai 1857 das Bank- und Wechselgeschäft J. L. Feuchtwanger, das sich innerhalb kürzester Zeit zu einem renommierten Haus mit überregionalen Geschäftsbeziehungen entwickeln wird.
Seit Anfang der 1850er Jahre sind auch Elkan und David Feuchtwanger als Einwohner in München nachweisbar. Im Gegensatz zu ihren beiden Brüdern schlagen sie einen anderen beruflichen Weg ein. Elkan macht zunächst mit Textilien Geschäfte und firmiert einige Zeit als Tuchhändler, verlegt sich dann aber auf den Handel mit »Landesprodukten« – damit sind vor allem Waren aus dem Bereich der regionalen Landwirtschaft wie Saatgut, Futtermittel, Dünger gemeint. Der an Erfindungen, wissenschaftlichem Fortschritt und technischer Innovation interessierte Elkan erkennt bald die enormen Möglichkeiten, die in der noch jungen, aber höchst entwicklungsfähigen Lebensmittelindustrie schlummern. Zu Beginn der 1880er Jahre baut er mit David in der Bergam-Laim-Straße 24 im Münchner Stadtteil Haidhausen eine Kunstbutterfabrik auf. Es ist die erste Fabrik dieser Art in München, womöglich in Bayern. Die Idee zur Herstellung von Butterersatz kommt aus Frankreich und erlebt in den 1870er und 1880er Jahren auch in Deutschland eine regelrechte Blüte, an der die Feuchtwangers mit ihrer Münchner Fabrik erfolgreich partizipieren können. Wachsende Bevölkerungszahlen und die hohen Fertigungskosten von Butter führen zu einer steigenden Nachfrage nach Kunstbutter, die später die amtlich vorgeschriebene Bezeichnung »Margarine« tragen muss. 1885 gibt es im Deutschen Reich bereits 45 Kunstbutterfabriken; 1895 werden rund 95 Millionen kg Margarine vor allem für den einheimischen Markt hergestellt. Der Vorteil des Butterersatzprodukts liegt auf der Hand: Neben der vergleichsweise preiswerten Herstellung spricht auch eine längere Haltbarkeit als bei handelsüblicher Butter für die Margarine. Für die streng religiösen Feuchtwangers kommt noch ein wesentlicher Pluspunkt hinzu: Die jüdischen Speisegesetze verbieten den gemeinsamen Verzehr von Fleisch bzw. Wurst mit Milchprodukten. Die aus Kuhmilch hergestellte Butter kann daher in einer koscheren Küche nur sehr eingeschränkt verwendet werden. Anders dagegen Margarine, die vor allem aus pflanzlichen Ölen gewonnen wird. Die Fertigung von Kunstbutter besitzt daher für streng religiöse Juden wie die Feuchtwangers nicht nur eine nüchterne betriebswirtschaftliche Komponente, sondern hat auch den großen Vorteil, dass sie im Einklang mit den strengen jüdischen Speisegesetzen steht. Die Einhaltung der rituellen Vorschriften besitzt innerhalb der Familie Feuchtwanger einen hohen, ja den höchsten Stellenwert. So bleibt etwa die Feuchtwanger-Bank im Gegensatz zur allgemein üblichen Praxis am Schabbat und an den jüdischen Feiertagen geschlossen. Geschäft und Profit müssen sich dem göttlichen Gebot vom Ruhetag beugen. Und auch für die Margarinefabrik wird eine geschickte Konstruktion gefunden, um nicht gegen das samstägliche Arbeitsverbot zu verstoßen. Wegen produktionstechnischer Besonderheiten kann die Herstellung von Margarine nicht ohne weiteres für einen Tag unterbrochen werden. Daher wird das Unternehmen regelmäßig am Freitag für einen symbolischen Preis an einen christlichen Treuhänder »verkauft«, der es nach Ende des Schabbat wieder zurückveräußert – eine Praxis, die später von dem jungen Lion scharf kritisiert werden wird. Er wirft der Familie Scheinheiligkeit vor und moniert nicht ganz unberechtigt, dass auf diese trickreiche Weise Gott und das göttliche Gebot hintergangen werden.
Das von den Fürther Feuchtwangers etablierte familiäre Muster der Unübersichtlichkeit setzt sich in abgeschwächter Form in den nächsten Generationen fort. Auch die Nachkommen von Fanny und Seligmann Feuchtwanger haben kinderreiche Familien. Die Söhne und Töchter des Patriarchen setzen 32 Kinder in die Welt, die ihrerseits selbst kinderreiche Familien gründen. Lions Vater Sigmund Aaron Meir wird am 2. März 1854 in München als erstes der fünf Kinder von Elkan und Sarah Feuchtwanger, geb. Fürther, geboren. Mit seinen Geschwistern Hermine, Jakob Louis, Elisabeth, Hedwig und Adolf (der 1877 geborene Max stirbt kurz vor seinem ersten Geburtstag) wächst Sigmund in der Salvatorstraße 14 1/2 unweit der Frauenkirche auf, wo die Familie seit Oktober 1863 lebt. Über seine Kindheit und Jugend ist kaum etwas bekannt. Als ältester Sohn ist er für die Nachfolge des Vaters an der Spitze der Margarinefabrik vorgesehen. Er lernt daher in der väterlichen Firma als Commis das Kaufmannshandwerk, absolviert einen Teil seiner Lehrzeit bei ägyptischen Geschäftspartnern des Vaters in Kairo und steigt im Frühjahr 1882 zum Prokuristen des Unternehmens auf. Im Mai 1884 wird er als Teilhaber am elterlichen Betrieb beteiligt, dessen Geschäftsführung er später ganz übernimmt. Im Juli 1883 heiratet Sigmund die 1864 in Darmstadt geborene Fabrikbesitzerstochter Ida Bodenheimer, die allgemein nur Johanna gerufen wird. Kurz darauf nimmt sich das jungvermählte Paar eine Wohnung in der Thierschstraße 9/II. Johanna stammt wie Sigmund aus einem orthodoxen Elternhaus und bringt als Tochter eines reichen Kaufmanns im Getreidegroßhandel und im Kaffee-Im- und Export eine beträchtliche Mitgift in die Ehe. Dieser Ehe, einer arrangierten Verbindung, fehlt es freilich an Herzenswärme und liebevoller Zuwendung. Johanna wird als dominant und herrisch beschrieben, Wesenszüge, unter denen Sigmund offenbar gelitten hat. Im Haus führt Johanna ein hartes Regiment: »Mutter war an und für sich schon streng, den Dienstmädchen gegenüber aber doppelt streng, und sie ließ ihnen keine Kleinigkeit durchgehen. Der ›Abstand‹ zu den Dienstmädchen mußte immer gewahrt werden. Das war eine Selbstverständlichkeit der guten alten Zeit, die noch wenig soziales Verständnis hatte. Notgedrungen mußte auch mein Vater den Abstand wahren, aber wenn unsere Mutter gar zu sehr zankte, dann sah man doch am Zucken seiner Augenlider, wie er unter dem Zanken litt«, erinnert sich Martin, Lions jüngerer Bruder, an das gespannte Verhältnis seiner Eltern.11 Ein Foto zeigt das Paar – aufgenommen vermutlich Mitte der 1880er Jahre – in einer zeittypischen Ateliersituation: Sigmund in einer bemüht selbstbewussten Haltung, den linken Arm in die Hüfte gestützt, die rechte Hand im Revers eines knielangen Überrocks verborgen. Johanna im hochgeschlossenen Kleid, mit leicht ironischem Gesichtsausdruck die Kamera fixierend. Offensichtlich ist die Distanz zwischen beiden, man berührt sich nicht, weder physisch noch emotional. Durch die Atelier-Situation wird Nähe konstruiert, nicht durch den Lebenszusammenhang Ehe. In der Erinnerung von Marta Feuchtwanger erscheint ihre Schwiegermutter Johanna als Frau, die »in der Lage war, die ganze Familie zu beherrschen, ohne ein Wort zu sagen. Wenn sie ärgerlich war, konnte man dies nicht in ihrer Stimme hören, sondern aus ihren Augen ablesen. Sie presste ihre Lippen zusammen und das war wie ein Schrei. Dieses Schweigen rief in der Familie eine größere Furcht hervor, als dies ein Schrei vermocht hätte. Auch der Vater hatte einen großen Respekt vor ihr. Ich glaube nicht, dass zwischen beiden eine große Liebe herrschte.«12
Lions Vater Sigmund entspricht nicht dem Typ des klassischen Geschäftsmannes. Er übernimmt die Leitung der elterlichen Firma vor allem aus Pflichtbewusstsein, weniger aus professioneller Neigung. In jungen Jahren hat er einen Ruf als Lebemann, mit unverhohlenem Interesse für das weibliche Geschlecht. Auch später liegen seine eigentlichen Interessen nicht im kaufmännischen Bereich, sondern konzentrieren sich auf die schönen Künste. Neben dem Briefmarkensammeln – einem Steckenpferd, das er mit Leidenschaft betreibt – gehört seine Liebe der Literatur. Er schätzt, natürlich, die Klassiker, liest aber auch zeitgenössische Autoren wie Paul Heyse und Gerhart Hauptmann. Zur literarischen Avantgarde pflegt er hingegen kühle Distanz. Die atemlose Aufgeregtheit moderner Autoren wie Wedekind, die literarischen Experimente, die Grenzüberschreitungen und der grelle Expressionismus sind nicht die Welt des Bildungsbürgers Feuchtwanger. Hinzu kommt ein Faible für jüdische Literatur. Sigmund Feuchtwanger trägt eine wertvolle Sammlung althebräischer Werke zusammen. Die literarische Liebe des Vaters, die große und reichhaltige, wertvolle Bibliothek im Hause Feuchtwanger prägen das Familienleben und stimulieren die Interessen der Kinder. Der Umgang mit Büchern gehört zu Lions frühesten Kindheitserfahrungen; die Auseinandersetzung mit Literatur ist selbstverständliche Alltagspraxis. Der Gang ins Kontor der Margarinefabrik ist für Sigmund Feuchtwanger eine leidige Pflichtaufgabe. Er hat, so auch die Erinnerung seines Sohnes Martin, »äußerst wenig Interesse für die Fabrik und für die Wirtschaft (…). Dagegen hing er mit großer Liebe an seiner Briefmarkensammlung, die für heutige Begriffe ungeheure Werte umfaßte. Ebenso liebte er seine Bibliothek (…). Er konnte uns Kindern am Mittag von der Verschiedenheit der Auslegungen von Hillel und Schamai erzählen und fünf Minuten später von der Tücke der Elisabeth gegenüber der Maria Stuart oder von den Schönheiten der versunkenen Glocke. Altjüdische Gelehrsamkeit und neue deutsche Literatur in einem Topf«.13
Sigmund Feuchtwangers Generation kann bereits die ersten Früchte eines jahrzehntelangen Kampfes um Gleichstellung und volle bürgerliche Rechte ernten. Die Emanzipation der bayerischen Juden erreicht gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt. Bereits um 1820/30 ist der Geist der Ächtung und Ausgrenzung der Juden erkennbar in Auflösung begriffen. Durch die Anwesenheit höchster königlicher Repräsentanten bei den Einweihungsfeierlichkeiten der neuen Münchner Synagoge im April 1826 wird erkennbar, dass die bayerische Politik gegenüber den Juden mehr beinhaltet als die huldvolle Duldung. Neben König Ludwig I. und seiner Gattin Therese nehmen auch hochrangige Hof- und Staatsbeamte an der Zeremonie teil und machen die Einweihung zu einem gesellschaftlichen Ereignis. Es ist ein Zeichen monarchischen Wohlwollens, aber auch ein unübersehbarer Indikator für eine zunehmende Akzeptanz der jüdischen Gemeinschaft. Das Entgegenkommen der in Bayern regierenden Wittelsbacher, das für das Selbstbewusstsein der Münchner Juden von unschätzbarer Bedeutung ist, wird von der Kultusgemeinde wiederum mit dauerhafter Loyalität belohnt. Nach 1848 sind schließlich auch in Bayern die bislang eher zaghaften Bemühungen der Juden um rechtliche Gleichstellung, um bürgerliche Anerkennung und Emanzipation erfolgreich. 1849 zieht mit David Morgenstern der erste jüdische Abgeordnete in den bayerischen Landtag ein. Zug um Zug erreichen Juden eine rechtliche Besserstellung, wenngleich die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung erst durch die Reichsverfassung von 1871 realisiert wird.
Wie weit inzwischen auch in München die Akzeptanz der jüdischen Bürger vorangeschritten ist, wird im Jahr 1870 deutlich. Als erster Jude wird der angesehene Unternehmer Moritz Guggenheimer mit großer Mehrheit zum Vorsitzenden des Kollegiums der Gemeindebevollmächtigten gewählt. Noch zwei Jahrzehnte zuvor war Guggenheimer die Anwesenheit in der Stadt lediglich über das demütigende Matrikelverfahren zugestanden worden. Für das Selbstverständnis der jüdischen Münchnerinnen und Münchner ist die jetzt erkennbare öffentliche Wertschätzung Guggenheimers ein entscheidendes, ja, ein aufsehenerregendes Signal. Auch viele nichtjüdische Zeitgenossen messen der Wahl große Bedeutung bei. Denn Guggenheimers Position an der Spitze des bürgerschaftlichen Wahlgremiums ist eine der einflussreichsten, aber auch verantwortungsvollsten in München. Dem liberalen Politiker und Unternehmer wird das Amt zugetraut; er gilt als einer der fähigsten politischen Köpfe der Stadt. Über ein Jahrzehnt wird er die Geschicke Münchens mitbestimmen und wichtige kommunale Infrastrukturprojekte realisieren bzw. auf den Weg bringen – etwa die Errichtung des Schlacht- und Viehhofes, des Wasserwerks und den Ausbau der Kanalisation.
Aufwertung jüdischen Lebens und rechtliche Gleichstellung haben freilich ihren Preis. Die vielversprechenden Optionen des »Judenedikts« von 1813, das erstmals die Rechtsstellung der Juden auf bayerischem Staatsgebiet vereinheitlicht, verleiten, ja nötigen viele Juden, ihre hergebrachte Lebensweise, ihr religiös-kulturelles Selbstverständnis entsprechend der von christlich-bürgerlichen Werten geprägten nichtjüdischen Umwelt zu modifizieren, vielfach sogar ganz aufzugeben. Dies entspricht durchaus den Zielsetzungen der bayerischen Staatsführung, werden doch die Juden aufgrund ihres Festhaltens an eigentümlichen religiösen Traditionen und Lebensgewohnheiten vielfach als gesellschaftliche Außenseiter, »als Staat im Staate« wahrgenommen. Mit einem modernen Staatsgedanken und Gesellschaftsverständnis ist die fremd anmutende jüdische Lebenswelt nicht vereinbar. Durch die schrittweise Liberalisierung der restriktiven Judengesetzgebung soll eine Eingliederung der jüdischen Bevölkerungsgruppe in die Gesamtgesellschaft erreicht werden. Jüdisches »Wohlverhalten« ist demnach der Preis für die Akzeptanz durch die staatlichen Autoritäten und die nichtjüdischen Eliten. So entwickelt sich im deutschen Judentum eine Kultur der Anpassung, die zum Motor für die religiöse Reformbewegung wird und als Auslöser für den innerjüdischen Konflikt zwischen Orthodoxie und Reform anzusprechen ist. Die Anpassung an die nichtjüdische Umwelt, die Übernahme christlich-bürgerlicher Sitten und Gebräuche, die wachsende Zahl von Übertritten zum Christentum, die zunehmende Bereitschaft zur Heirat eines nichtjüdischen Partners bringen auch in Bayern einen nachhaltigen Verlust an jüdischer Identität, der von Anhängern der religiösen Observanz heftig beklagt wird.
Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt es in den jüdischen Gemeinden Bayerns zu heftigen Dissonanzen und zu einem Richtungsstreit zwischen reformorientierten und orthodoxen Gemeindemitgliedern. Häufig geben Form und Verlauf des Gottesdienstes Anlass zum Konflikt. Der Wunsch der Orthodoxen, streng am traditionellen Ritus festzuhalten, stößt bei jenen auf Unverständnis und Kritik, die erkennen, dass auch religiöses Leben mit der Zeit gehen und eine gewisse Anpassungsbereitschaft zeigen muss. Sogar Traditionalisten wie der »hochkonservative« frühere Oettinger Rabbiner Meyer Feuchtwang nehmen angesichts der innerjüdischen Zerreißprobe eine moderate Haltung ein und plädieren für eine Öffnung, für eine bedachtsame Modernisierung des Gottesdienstes. Die Münchner Familie Feuchtwanger hat sich in diesem Grundsatzkonflikt eindeutig positioniert. Man steht, wo sonst, auf Seiten der Orthodoxie.
In den 1870er Jahren eskalieren die Auseinandersetzungen zwischen Bewahrern und Erneuerern. Heftige Erschütterung bringt den Gemeinden insbesondere die geplante Einführung des Orgelspiels im Gottesdienst. Damit soll nach Auffassung der Liberalen eine »Verbesserung des Gottesdienstes« erreicht werden. Man will, so Ludwig Feuchtwanger, »bei der steigenden allgemeinen religiösen Indifferenz und der immer mehr Platz greifenden Beschränkung religiöser Teilnahme bei seltenen Gelegenheiten und an wenigen ausgezeichneten Tagen dem Gottesdienst eine besondere Würde, Weihe und Schönheit geben, nachdem die jüdische Religion als totale, ihre Bekenner von der Aussenwelt abtrennende Lebensordnung bei den Meisten keine Macht mehr ausübte«.14 Allerdings wird die Orgel von einer großen Fraktion innerhalb der Gemeinden vehement abgelehnt. Für orthodoxe Juden ist Instrumentalmusik im Gottesdienst eine unannehmbare, geradezu blasphemische Neuerung. Dennoch setzen sich in München, Fürth, Nürnberg und anderen bayerischen Städten die liberalen Orgelbefürworter durch. In der Residenzstadt erklingt das Instrument erstmals am Vorabend des Pessachfestes am 8. April 1876 in der Synagoge an der Westenriederstraße. Die Aufspaltung der Gemeinde in einen liberalen und einen orthodoxen Flügel scheint unvermeidbar. Mit bemerkenswerter Schärfe verurteilt ein Anhänger des traditionellen Ritus im Jahr 1887 die Verhältnisse in Bayern: »Den orthodoxen Gemeindemitgliedern ist es zur Unmöglichkeit geworden, ihren Kultus auszuüben und eine Befriedigung für ihre religiösen Bedürfnisse zu finden. Die für den orthodoxen Kultus eingerichtete Synagoge ist der Reform überantwortet und dadurch den Orthodoxen unzugänglich gemacht worden.«15 Die Feuchtwangers können diese Klage eines anonymen Berichterstatters zweifellos unterschreiben. Um Abhilfe zu schaffen, bilden sich überall in Bayern orthodoxe Fraktionen, die mit der liberalen Mehrheit um Teilhabe an der rituellen Infrastruktur ringen. Wie in München – wo 1891 die orthodoxe Synagoge »Ohel Jakob« eingeweiht wird – kämpft man um die Errichtung eigener Gotteshäuser und Schulen, in denen die Gläubigen unter der Führung orthodoxer Rabbiner ihre religiösen Bedürfnisse nach der »Tradition der Väter« befriedigen können. In München sind es – neben der Familie Fraenkel – vor allem die Feuchtwangers, die mit hohem persönlichen und finanziellen Engagement die Orthodoxie stützen und zu den wichtigen Protagonisten jüdischer Glaubensstrenge und jüdischen Traditionsbewusstseins zählen. Dies ist das Milieu, in das Jakob Lion Feuchtwanger am 7. Juli 1884 hineingeboren wird.
»Wiewohl ich mich mit meinen Schulkameraden gut vertrug und wiewohl wir zu Hause unser Deutsch mit dem gleichen breiten, kräftigen bayrischen Akzent sprachen wie alle anderen und am bayrischen Leben teilnahmen, soweit das die jüdischen Bräuche eben zuließen, fand ich mich von früh an gründlich verschieden von den anderen. Von meinen Eltern trennten mich tiefe und jugendlich hochmütige Zweifel an ihren Bräuchen und Meinungen, von meinen Lehrern und Kameraden trennte mich meine Vertrautheit mit allem, was jüdische Theologie anging.«16
Der 7. Juli 1884, ein Montag, ist ein bewölkter, vergleichsweise kühler und trockener Sommertag. Die Thermometer in München steigen kaum über 18 Grad. In der Stadt gehen die Menschen ihren üblichen Geschäften nach. Es ist die Zeit, in der elektrisches Licht noch Seltenheitswert hat und Mobilität meist Fortbewegung zu Fuß bedeutet. Die Straßen der Stadt sind schmal, gepflastert und nicht immer sauber. Klapprige Handkarren und Pferdefuhrwerke dienen dem Transport von Waren. Wer es sich leisten kann, benutzt eine der zahlreichen Droschken. Ansonsten geht man zu Fuß oder investiert ein paar Münzen in ein Billet der Dampftrambahn, die seit dem Vorjahr die bis dahin üblichen Pferdestraßenbahnen ersetzt. An heißen Tagen hängt ein unguter, bisweilen beißend-abstoßender Geruch über den Häuserzeilen, denn noch ist nicht überall eine funktionsfähige Kanalisation vorhanden. Es ist eine Zeit, in der Männer sich auf der Straße respektvoll mit einem Griff an den Hut begrüßen und die Tageszeitungen zweimal am Tag erscheinen. Besuche bei Freunden, Bekannten und Geschäftspartnern werden per Postkarte oder durch Visitenkarten mit kleinen Notizen angekündigt. Der Briefträger kommt mehrmals am Tag. Die großen Brauereien der Stadt kühlen ihr Bier noch in gemauerten Gewölben unter der Erde. Der 7. Juli 1884 ist ein Tag ohne besondere Vorkommnisse, und daher berichten die Münchner Zeitungen umso ausführlicher über die wenigen Sommerereignisse in Deutschland und Europa.
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