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Die amerikanischen Südstaaten zur Zeit des Bürgerkriegs. Der sechzehnjährige Mischling Lionel Forster ahnt nicht, dass er eigentlich ein Sklave ist. Auch wenn der fortschrittlich und humanitär gesinnte Gutsbesitzer Charles Trevor seine zweihundert Sklaven soeben durch testamentarische Bestimmung in Freiheit gesetzt hat, drohen Lionel und den anderen in einem Umfeld, für dass sie nur "diese schwarzen Tiere, die Neger" sind, nach wie vor mannigfache Gefahren. Während ringsum die Schlachten zwischen Konföderierten und Unionisten toben, den Befürwortern und den Gegner der Sklaverei, begibt sich der junge, lebenslustige Lionel auf eine abenteuerliche Fahrt ins Ungewisse. – Ein Roman für die ältere Jugend, der jedoch überhaupt allen Generationen eine prächtige Lektüre verspricht, verfasst von einer Autorin, deren Auflagen zu Lebzeiten in ihrem Genre allein von denjenigen Karl Mays übertroffen wurden.-
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Seitenzahl: 545
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Sophie Wörrishöffer
Bearbeitet von Armin Wendt
Mit farbigen Vollbildern und Federzeichnungen
Saga
Sophie Wörrishöffer: Lionel Forster, der Quarteron. © 1922 Sophie Wörrishöffer. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2015 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2015. All rights reserved.
ISBN: 9788711487587
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.
Es war im Beginn der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts. Auf der Veranda eines schönen, stattlichen Landhauses im fernen Virginien sassen zwei Herren bei der Kaffeetasse und der Zigarre plaudernd zusammen, behaglich den Schatten der hohen, alten Bäume vor dem Hause geniessend und nur hie und da in eine lebhaftere Unterhaltung verfallend, besonders dann, wenn von der Seite der Stallungen her eine helle, jugendfrische Stimme deutlich herüberklang oder der Hufschlag eines galoppierenden Pferdes den Sand in nächster Nähe der Veranda hoch emporwarf.
Ein schlanker Knabe von fünfzehn oder sechzehn Jahren trieb den Rappen zu immer keckeren Sprüngen, er lachte lustig, und sein braunes Lockenhaar flatterte im Winde. „Der ‚Ajax’ kennt mich noch, Onkel Trevor!“ rief er. „Vorwärts, mein Tier!“
Und ohne eine Antwort zu erwarten, brauste er wieder davon, während der Besitzer des Landhauses, Mr. Trevor, ihm lächelnd und doch mit einem unterdrückten Seufzer nachsah. „Ein prächtiger Junge, der Lionel,“ sagte er, „hübsch, klug und tapfer! Hätte mir der Himmel einen solchen Sohn geschenkt, wie glücklich wäre ich gewesen!“
Der andre Herr schien seine Antwort sorgfältig zu überlegen. „Du lebst zu einsam, Charles,“ sagte er dann. „Seit deine arme Frau gestorben ist, bist du nicht mehr aus dem Hause gekommen, das macht dich melancholisch. Ich glaube, diese schwarzen Tiere, die Neger, sind oft dein einziger Umgang.“
Der Squirea) nickte. „Häufig genug,“ versetzte er. „Aber ich sehe in den armen Kerlen wahrhaftig niemals Tiere, Manfred, — sie haben es gut bei mir, und sie lieben mich aufrichtig.“
Ein Blitz, böse und zornig, flammte in den Augen des andern. „Ganz besonders dieser Lionel, nicht wahr, Charles? Weiss der Bursche überhaupt, dass in seinen Adern afrikanisches Blut fliesst, dass er dein Eigentum ist, wie das Pferd, auf dem er reitet, oder der Boden, auf dem er sich so selbstbewusst ergeht?“
Mr. Trevor nahm die Zigarre aus dem Munde. „Er weiss es nicht, Manfred,“ sagte er mit scharfer Betonung, „und ich wünsche auch nicht, dass er es erfahre! Eins will ich dir übrigens bei dieser Gelegenheit sagen,“ setzte er dann hinzu. „Lionel und alle meine sonstigen Sklaven, mehr als zweihundert an Zahl, sind längst durch testamentarische Bestimmung in Freiheit gesetzt.“
„Charles,“ rief der andere, „ich bitte dich, du wolltest deinem Erben die Summe von zweihunderttausend Dollar zugunsten dieser Schwarzen willkürlich entziehen? — Wahrhaftig, hättest du Kinder, so würde das nie und nimmer geschehen!“
Der Squire lächelte. „Du irrst, Manfred. Mein Grundsatz steht mir höher als alle persönliche Zuneigung — und überdies, wer sagt dir, dass ich meinen Nachfolger nicht liebe?“
„Ihn — den — den —“
Die Stimme des magern Herrn schien vor Aufregung zu ersticken, er konnte seinen Satz nicht vollenden, sondern murmelte, als ihn der Squire ruhig fragend ansah, nur ein verwirrtes: „Entschuldige, Charles!“ — Dann wandte er sich zur Tür, aus welcher in diesem Augenblick ein junger Mensch von etwa siebzehn Jahren, an einer Krücke gehend, hervortrat. „Nun, Philipp,“ rief er, „wie geht es dir heute, mein guter Junge?“
Der schlanke Knabe mit dem blassen Gesicht und den mädchenhaft weissen Händen grüsste freundlich. „Guten Abend, Papa, guten Abend, Onkel Charles! — O wenn ich bedenke, wie ruhig und untätig wir hier sitzen indes andre, Glücklichere für eine geheiligte Sache ihr Leben einsetzen! Schlacht nach Schlacht wird geschlagen, und die Konföderierten gewinnen immer. Wohin soll das führen?“
Sein Vater lachte behaglich. „Zum vollen Siege!“ versetzte er. „Das Banner der Südstaaten ist vom Himmel selbst geweiht.“
Philipp schüttelte den Kopf. „Nimmer!“ bebte es über seine bleichen Lippen. „Nimmer! — Wäre ich ein kräftiger Mann, ein Mensch mit gesunden Gliedern, heute noch liesse ich mich für die Nationalarmee anwerben. Ich glaube sogar, auch du denkst wie ich, Onkel Charles?“
Der Squire reichte ihm lächelnd die Hand. „Ich denke so, Philipp, mein guter Junge,“ versetzte er, „ich habe dich lieb um deiner braven Gesinnung willen, aber wir dürfen über dieses Thema nicht so laut reden. Wenn heute ein Mann, der zweihundert Sklaven besitzt, für die Abolitionisten offen Partei nehmen wollte, so stände höchst wahrscheinlich von seinem Hause schon morgen kein Stein mehr auf dem andern.“
„Siehst du, Papa, dergleichen Greuel geschehen unter dem Banner der Südstaaten. — Fürwahr, Onkel Charles, ich bitte dich, vermache mir keinen einzigen Schwarzen, denn ich würde ihn sogleich laufen lassen.“
Das wohlwollende Antlitz des Gutsherrn wandte sich lächelnd zu dem erregten Knaben. „Ich vermache dir keinen Sklaven, mein guter Philipp, dessen darfst du sicher sein. Dein Onkel sorgt für dich, aber auf andre Weise, — durch ehrlich verdientes Geld.“
Es schien, als sei ein Schatten auf die ruhige, edelgeformte Stirn herabgesunken. Der Squire schüttelte leicht den Kopf. „Sonderbar,“ sagte er, „es ist nun heute schon zweimal von meiner Hinterlassenschaft gesprochen worden! Schickt mir der Tod seine Sendboten?“
„Torheit!“ rief hastig der Vetter. „Bist du abergläubisch, Freund Charles? Es tut mir leid, dich verstimmt zu haben. Es geschah unabsichtlich.“
Philipp bot seinem Verwandten herzlich die Hand. „Auch von mir, Onkel!“ sagte er mit einem offenen Aufblick der schönen blauen Augen. „Doch da kommt Lionel! Der Glückliche, er ist gesund und voll jugendlicher Kraft! Wahrhaftig, ich könnte ihn beneiden!“
Der Günstling des Hausherrn kam über den breiten Kiesweg dahergegangen und begrüsste schon von weitem durch ein fröhliches Kopfnicken die auf der Veranda versammelte Gesellschaft. „Nun, Onkel Charles,“ rief er, „hast du den Ajax bewundert? Wirklich, ich möchte ihn, wenn die Ferien zu Ende sind, nach Richmond mitnehmen!“
„Welch ein Unsinn!“ rief heftig Mr. Manfred Trevor.
Der Squire begütigte ihn. „Lionel soll das Pferd haben,“ sagte er, „und auch einen Schwarzen als Knecht dabei. Er ist jetzt kein Knabe mehr, sondern muss sich beizeiten auf den dereinstigen Plantagenbesitzer vorbereiten.“
Lionel flog dem väterlichen Freunde entgegen und umfasste ihn stürmisch mit beiden Armen. „Onkel Charles,“ rief er, „ach du goldener Onkel Charles, — den Ajax soll ich wirklich haben? Aber — aber ja, siehst du, auch einen Neger dabei? Der mein Eigentum wäre? Mein Sklave? Das kann nicht geschehen. Ich entsetze mich vor dem Gedanken, dass ein Mensch das Eigentum des andern sein könnte — ich mag an dieser Schmach meines Landes keinen Teil haben. Lieber, guter Onkel, bezahle für mich in Richmond einen freien Neger, willst du das?“
Der Squire nickte. „Du sollst den alten Ralph mit dir nehmen, Lionel. Er hat deine Eltern gekannt, hat dich selbst als kleines Kind auf den Armen getragen und ist mir mit Leib und Seele zugetan. Seinen Freibrief erhält er vor eurer Abreise.“
„Charles!“
„Nun, Manfred, was wolltest du sagen?“
„Bitte, bitte, — es war nur so ein unwillkürlicher Ausruf. Der Sklave Ralph, ein Mann in den besten Jahren, ist fünfzehnhundert Dollar unter Brüdern wert. Willst du diese grosse Summe der Laune eines Knaben opfern?“
„Ich kann mir diese Freude gestatten,“ antwortete der Hausherr ruhig. „Fünfzehnhundert Dollar haben für mich einen weit geringeren Wert als die Zuneigung treuer, ergebener Herzen.“
Lionel war während dieser Rede wie der Blitz davongesprungen. „Ich wette, er sucht den alten Ralph,“ lachte Philipp, „er will ihm die Freudenbotschaft brühwarm hinterbringen!“
„Um das übrige schwarze Gesindel rebellisch zu machen!“ setzte mit giftigem Tone sein Vater hinzu. „Fürchtest du nicht, dass sie dir das Haus über dem Kopfe in Brand stecken, mein guter Charles?“
Der Squire lächelte. „Meine Neger?“ sagte er. „Nein, Manfred! ich will den Kopf mit grösster Ruhe jedem einzelnen unter ihnen in den Schoss legen und so sanft schlafen, als wache bei meinem Lager ein Regiment Bewaffneter. Diese armen Leute sind grosse Kinder, wie man sie behandelt, so geben sie es zurück. Du darfst mir sicherlich glauben, dass diejenigen, welche von ihren Sklaven verraten oder bestohlen wurden, eine solche Züchtigung vollständig verdient hatten.“
Mr. Manfred Trevor blieb die Antwort schuldig. Vom Stall her kam Lionel mit einem grossen, kräftig gebauten Neger. „Onkel Charles,“ rief er, „der unkluge Ralph hat sich förmlich entsetzt, denke dir, er will gar keinen Freibrief haben! Er will unter keiner Bedingung dein Haus und deinen Dienst verlassen.“
Der Neger schüttelte den Kopf. „Ralph geht mit nach Richmond,“ sagte er, „o ganz gewiss, er geht mit, aber der Freibrief soll hierbleiben. Ralph mag keinen andern Herrn haben als Mr. Charly, den guten Squire.“
„Das sollst du auch nicht, törichter Bursche! Aber wäre es denn nicht besser und angenehmer, gar keinen Herrn zu haben?“
Der Neger sann nach. „Bei Mr. Charly will ich bleiben!“ Das war alles, was er auch diesmal zu antworten wusste.
„Siehst du wohl, Manfred!“
Der Squire entliess lächelnd den Riesen mit dem einfältigen Kinderherzen. Die beiden Knaben schlossen sich ihm an, und so kam es, dass die Herren einen Augenblick auf der Veranda allein blieben.
Charles legte zutraulich seine breite Hand auf die Schulter des Vetters. „Manfred, alter Junge, „begleitest du mich? Ich möchte einige Forellen fangen!“
„Danke, danke, — Stillsitzen ist mir ein Greuel.“
Er winkte mit der Hand und schlenderte langsamen Schrittes davon, um dann in der Nähe des Gutes an einem jäh abfallenden Felsen stehenzubleiben und starr ins Leere zu sehen. Bittere, hasserfüllte Gedanken mochten es sein, die hinter der bleichen, in tiefe Falten gelegten Stirn einander drängten und überstürzten, bittere, hasserfüllte Gedanken, die sich in dem Zucken der zusammengekniffenen Lippen aussprachen. Er murmelte halb abgebrochene Laute, er ballte die Faust, als wolle er schlagen.
„Warum andern alles und mir nichts?“ — — — —
Während er so, in Groll und Zorn versunken, allein und ungesehen am Rande des Felsens stand, waren Philipp und Lionel auf den grossen Hof des Gebäudes hinausgegangen und befanden sich nun unter der ganzen Schar der von ihrer Arbeit heimkehrenden Neger. Rechts und links umfassten die hübschen, sauberen Wohnungen den weitgedehnten Platz, überall auf steinernen Herden flackerte lustig das Feuer, und aus Töpfen und Pfannen drang der Duft dieser verschiedenen Mahlzeiten hinaus in die helle, warme Abendluft. Schwarze Frauen hantierten singend in den Küchen oder kamen mit ihren Krügen auf den Köpfen zum Brunnen, um Wasser zu holen, schwarze Kinder spielten im Sande.
Auch von den Feldern kamen die Leute nach Hause, und mehr als einer dieser schwarzen Gesellen näherte sich dem Knaben mit der Krücke, um ihm irgendeinen Gegenstand in die Hand zu drücken, grosse Käfer und Fliegen, Schmetterlinge und Vogeleier, seltene Blumen und sogar hie und da eine Schlange, die aber durch einen Messerstich in den Nacken getötet worden war. Sie alle wussten, ein wie eifriger Naturaliensammler Philipp war, und machten ihm gern Freude, indem sie ihm so oft wie möglich Insekten und Pflanzen von den Feldern mitbrachten.
Philipp und Lionel kehrten in das Haus zurück, um all diese neuen Dinge in die Sammlungen einzuordnen, und erst als Philipp den Katalog vornahm, in welchen er alles sorgsam einschrieb, griff Lionel zu seinem Hute. „Ich gehe noch in die Stadt, Philipp, willst du mit, dann soll Ralph meine Ponies vor den Wagen spannen!“
Der Krüppel schüttelte den Kopf. „Ich danke dir, Lionel, heute abend nicht mehr. Du reitest auch gewiss lieber deinen Ajax, du glücklicher Mensch mit den Muskeln und Nerven von Stahl!“
Lionel lächelte. „Wenn du je in Not oder Gefahr bist, Philipp, dann werde ich dich verteidigen, — meine Kräfte sollen immer auch die deinigen sein.“
Philipp nickte ihm freundlich zu. „Danke, danke! Spring’ nur davon, du, ich weiss ja ohnehin, dass du den Büchern nicht gerade das wärmste Interesse entgegenbringst.“
„Wahrlich, nein! Ich will ein Farmer werden und draussen in Wald und Feld meine Tage verleben, immer mit der Kugelbüchse auf der Schulter, halb Squire, halb Trapper, das ist’s, was ich mir wünsche.“
Philipp lächelte. „Was dir jedenfalls auch zuteil werden wird, Lionel. Du erbst doch unter allen Umständen dereinst diese Farm.“
Der andre schien betroffen. „Ich?“ sagte er gedehnt. „Aber ich bin nur ein Pflegesohn, kein Blutsverwandter des Onkels, — wie sollte ich also erben? Nein, nein, du wirst der Squire, und ich muss dann sehen, wo für mich der Tisch gedeckt ist.“
Die milden Züge des verkrüppelten Knaben trugen in diesem Augenblick einen sinnenden, beinahe trüben Ausdruck. „Lass uns nicht in die ferne Zukunft hinein unsre Pläne bauen wollen, Lionel! Wer weiss, was der nächste Morgen bringt? Es gibt viele Leute, die da behaupten, datz sich der Krieg gerade hier entscheiden müsse und dass die Nordstaaten den Sieg behalten werden.“
„Das sollen sie ja auch! Ich wünsche den Konföderierten alles Böse! Aber lieber wäre mir doch der ungestörte Friede.“
„Master Lionel!“ rief von unten her die Stimme des Sklaven Ralph, „wollen Sie mitfahren, Sir? Ich muss noch zur Stadt.“
„Gleich! Gleich! — Adieu, Philipp, ich will nur einen Freund begrüssen, in etwa zwei Stunden sehen wir uns wieder.“
Er nickte nochmals und sprang dann davon, um mit dem Sklaven zur Stadt zu fahren. Dort herrschte reges Leben und Treiben. In allen Strassen lungerten Haufen von Soldaten, nicht selten lärmend und betrunken, in Zank begriffen und grob gegen die Bürger, deren Häuser sie besetzt hielten, zerlumpte Gestalten mit den Ueberresten einstiger Uniformen, dazwischen Gesindel, heruntergekommene Subjekte, die, aus allen Teilen der Erde zusammengelaufen, den Truppen folgten, um, wo diese ihre Erpressungen vornahmen, unter irgendeinem Vorwande einen Teil der Beute zu erhaschen. Selbst Frauen waren darunter, Strassensängerinnen, Wahrsagerinnen, bettelnde Weiber, die vielleicht in ihrer Heimat das Zuchthaus verwirkt hatten und nun hinter den Regimentern herzogen.
Hie und da sah man prunkhaft gekleidete Offiziere hoch zu Ross, Equipagen, in denen über Nacht zu Millionären gewordene Spekulanten sich blähten. Das zuchtlose Treiben des Krieges machte überall seine schlimmen Einwirkungen geltend, hie und da gähnte in den Strassen die Lücke einer kürzlich entstandenen Brandstätte, schwarze Balken und zerborstenes Mauerwerk starrten empor, ohne dass sich eines Menschen Hand gerührt hätte, um die Trümmer wegzuschaffen und wieder aufzubauen, was bei Gelegenheit eines Streites oder in trunkenem Mute zerstört worden war.
„Wohin fährst du, Ralph?“ fragte Lionel.
„Zum Obersten Smith, Sir. Mr. Charly muss zehn Ochsen liefern und hundert Bushel Mais, — ich soll fragen, zu welcher Stunde das morgen geschehen kann.“
„Bekommt mein Onkel dafür keine Zahlung, Ralph?“
„O Massa Lionel, wohin denken Sie denn? Fünfzehn Schwarze, die jüngsten, kräftigsten Männer hat er schon zur Armee stellen müssen, — ohne einen Cent Ersatz! Puh! man weiss nicht, ob einer davon wieder nach Hause kommt. Wenn sie Hunger verspüren, die Herren Offiziere, oder wenn sie für ihre Pferde Futter brauchen, dann erhalten die Plantagenbesitzer ganz einfach den Befehl: So und so viel musst du bringen!“
Er versetzte im Aerger dem Braunen einen Hieb, welcher diesen zum schnellsten Laufe anspornte; nach wenigen Minuten hielt der Wagen vor dem Kommandanturgebäude, und nun verabschiedete sich Lionel für den Augenblick von seinem Begleiter. „In zwei Stunden bin ich wieder da, Ralph, willst du mich um diese Zeit in der ‚Blauen Traube’ erwarten?“
„Well, Sir, well, ich bin da!“
Lionel ging schnellen Schrittes durch die Strassen bis zu einem Hause, dessen Schaufenster das Eisenwarengeschäft verrieten. Die Tür war geschlossen und von innen mit einer Kette gesperrt.
„Wer ist da?“ fragte aus dem halbdunkeln Hintergrunde eine Frauenstimme.
„Guten Abend, Frau Neubert! Ich bin es, Lionel Forster von Seven-Oaks!“b)
„Ach — das freut mich ja sehr! Hermann, komm rasch herauf!“
Die Kette wurde entfernt und die Tür geöffnet; eine blasse, vergrämt aussehende Frau liess unsern Freund eintreten, indem sie gleich hinter ihm den Zugang wieder versperrte und dann erst beide Hände ausstreckte, um ihn zu begrüssen. „Wie Sie gewachsen sind, Lionel! Beinahe schon ein junger Mann zu nennen! — Ach, das ist eine traurige Zeit, in der wir uns wiedersehen!“
„Hoffentlich geht es Ihnen und den Ihrigen gut, Frau Neubert?“
Die blasse Frau trocknete die Tränen, sie führte den Gast in das Wohnzimmer, wo zwei Kinder von acht und zehn Jahren still und scheu in der Ecke spielten. „Gesund sind wir gottlob bis jetzt alle, mein lieber Lionel, aber die bittere Not steht vor der Tür, man weiss nicht mehr, wo aus noch ein.“
Ehe unser Freund zu antworten vermochte, erklangen draussen Schritte, und ein kräftiger, schlank gewachsener Knabe von Lionels Alter trat in das Zimmer. Selbst dieses jugendliche Antlitz zeigte einen Schatten des Grames auf der freien, edelgeformten Stirn, aber trotzdem brach kein Anblick des früheren Spielkameraden ein lauter Freudenruf von seinen Lippen. „O Lionel, Lionel, wie gut von dir, dass du kommst!“
Die beiden umarmten einander auf das zärtlichste. Bis zur Konfirmation waren sie Seite an Seite durch alle Klassen einer Privatschule der Stadt gegangen, bis dann Lionel nach Richmond zog, um sich dort weiter auszubilden, während Hermann als Lehrling in das Geschäft seines Vaters trat. Jetzt sahen sie einander seit dieser Trennung zum erstenmale wieder, und die Freude war auf beiden Seiten gleich gross. „Was für lange Gesichter ihr alle habt!“ rief Lionel. „Bei uns auf Seven-Oaks sind wir fröhlich und guter Dinge, an den Krieg denkt niemand.“
Frau Neubert seufzte. „Mr. Charles Trevor ist ein reicher Mann,“ sagte sie, „er kann die Verluste dieser schlimmen Zeit leichter ertragen.“
„Geht es denn wirklich mit den Geschäften so übel?“ fragte Lionel.
Ein leises: „Ach!“ war die einzige Antwort. Die beiden Kinder schlichen zur Mutter, während Hermann die Faust ballte. „Lass uns von etwas anderm sprechen,“ sagte er rasch. „Durch Klagen und Aechzen wird ja doch nichts besser, man macht sich nur selbst das Herz schwer.“
„Ich wollte dich bitten, mit mir nach Seven-Oaks hinauszukommen,“ rief Lionel. „Philipp Trevor ist auch da, — während der Ferien könnte dich dein Papa wohl entbehren!“
Frau Neubert und ihr Sohn sahen einander an. „Es geht unmöglich!“ sagte die Mutter. „Aber du könntest ja deinen Vater auf einen Augenblick herbeirufen, Hermann. Lass ihn selbst entscheiden!“
Hermann sprang davon. Nach einigen Minuten erschien er wieder und sagte, dass der Vater bitten liesse, ihn zu entschuldigen, Mr. Forster möge einen Augenblick mit zum Lager hinüberkommen
Frau Neubert schloss rasch hinter den beiden jungen Leuten die Tür. Lionel und Hermann gingen durch den Laden und dann über einen halbdunkeln Gang zum Hofe, wo sie im Gewirr hoher Speicherräume verschwanden und nach zwei Minuten in einen Schuppen traten, den bei ihrer Annäherung eine Hand von innen öffnete und ebenso schnell wieder versperrte. Vor den beiden Knaben stand Hermanns Vater, ein kräftiger, hochgewachsener Mann in der Mitte der vierziger Jahre mit einem entschlossenen, ausdrucksvollen Gesicht und lebhaft blitzenden braunen Augen. Er begrüsste treuherzig und freundlich den jungen Knaben, dessen Züge das Erstaunen, welches seine Seele empfand, unwillkürlich widerspiegelten.
„Es ist mir lieb, dass Sie kommen, Lionel,“ sagte er. „Hermann und ich vollbringen ein Werk, dessen Verantwortlichkeit schwer auf mir lastet.“
Er deutete auf den Hintergrund des geräumigen Lagerschuppens, wo die Erde bis zur Tiefe von fünfzehn Fuss mit Schaufeln ausgeworfen war. In der weilen Höhlung flimmerte das Licht einer Blendlaterne und warf seine Strahlen auf eine Anzahl grosser, mit Eisenreifen umspannter Kisten, die dicht gedrängt über und nebeneinander standen. „Sehen Sie, Lionel, das ist das Hab und Gut einer Reihe deutscher Familien,“ setzte er hinzu, „viele Tausende an Wert.“
„Aber weshalb vergraben Sie es denn hier im Speicher?“
„Weil man anfängt uns zu beobachten, zu verdächtigen, weil eine förmliche Deutschenhetze ins Werk gesetzt wird. Dieser Stadtteil beherbergt beinahe ausschliesslich deutsche Familien, alle wohlhabend, einzelne sogar sehr reich, das wissen die Amerikaner und haben nun behauptet, der Norden erhalte von uns bare Mittel zur Unterstützung seiner Zwecke. Man konfisziert und drangsaliert uns, man treibt uns auf jede Weise zur Verzweiflung, — das erweckt notwendig den Gedanken der Gegenwehr.“
Lionel lachte. „Sie verstecken die Wertsachen, um Ihr Eigentum zu retten, nicht wahr?“
„Natürlich, mehr als gefunden wird, kann man nicht konfiszieren.“
„Sieh hier, diese schwere Kiste,“ raunte Hermann, „es ist lauter Gold darin, Uhren, Ringe, Ketten, — Hunderttausende an Wert.“
Kiste nach Kiste wurde unter vereinten Kräften in den Schoss der Erde befördert und dann, als vollständig aufgeräumt war, die Grube mit Brettern äusserlich verdeckt. „Morgen kommt der Rest,“ meinte Herr Neubert, „ich will dem Himmel danken, wenn alles glücklich geborgen ist. Sollten dann von meinen deutschen Freunden wirklich einige in das Gefängnis gebracht werden, so ist doch so viel gerettet, dass ihre Familien vor Hunger und Elend bewahrt bleiben.“
Herr Neubert löschte das Licht der Laterne, dann begaben sich alle drei in das Haus, wo Frau Neubert und die Kinder eng aneinandergeschmiegt im Finstern sassen, während der Lärm von der Strasse heraufdrang.
Lionel hatte jetzt die grösste Eile, ihm blieb keine Zeit, das Abendbrot der Familie zu teilen, er musste ungesäumt das Wirtshaus zur blauen Traube aufsuchen, um mit Ralph den Heimweg anzutreten.
Herr Neubert begleitete seinen jungen Gast vor die Haustür; Hermann hatte die Mütze aufgesetzt, um den ehemaligen Schulkameraden bis zur blauen Traube zu bringen, und so gingen denn die beiden jungen Leute schnellen Schrittes davon, wobei Hermann absichtlich in eine Querstrasse einbog und dort verstohlen auf ein grosses, düster aussehendes Gebäude hinwies. „Das ist das Gefängnis, Lionel.“
Ein Grauen durchlief Lionels Seele. Das Dach war zum Teil zusammengestürzt, die Fenster mit Brettern vernagelt, — das Schweigen des Todes schien diese schreckensvolle Stätte zu beherrschen.
„Das war doch, wenn mich nicht alle meine Erinnerungen täuschen, des alten Schaumann Brauerei!“ rief Lionel. „Wie kann es also jetzt ein Gefängnis sein?“
„Das ist es auch erst seit wenigen Monaten. Den braven, ehrenfesten Herrn Schaumann, meinen Paten, haben die Unholde gelyncht, sein Weib und seine Kinder ins Elend gejagt. Dann brauchten sie für die Masse der übrigen ausgeplünderten und gefolterten Opfer einen Ort, der als Zwingburg dienen konnte, und nun wurde die Brauerei notdürftig wieder zusammengeflickt. Es sitzen gegen hundert unbescholtene Männer hinter den schwarzen Mauern gefangen, — die bestgehassten sogar in den Kellern, drei Stockwerke tief unter der Erde.“
„Hermann!“
„Es ist, wie ich dir sage, Lionel. Hast du seit deinem Hiersein schon das Wort, ‚Vigilanzkomitee’ gehört?“
„Niemals!“
Hermann atmete tief, seine Blicke schienen Funken zu sprühen, seine Faust war geballt. „Rowdies sind es,“ flüsterte er, „Schurken und Mordbrenner, sie haben aber die Gewalt in Händen, das Volk läuft ihnen blindlings nach. Da wird denn ein Wort, vielleicht achtlos hingeworfen, bis ins ungeheuerliche verzerrt und verdreht, da wird eine harmlose Handlung mit den Blicken hämischer Spionage betrachtet, und ehe sich’s der Unglückliche versieht, fliegt ihm die Vorladung dieses sogenannten, Vigilanzkomitees‘ ins Haus; er soll sich rechtfertigen, obgleich er nichts verbrochen hat.“
„Und dann?“ flüsterte Lionel, während sein Herz schneller schlug und eine geheime Unruhe ihn erfasst hielt, „und dann, Hermann?“
„Dann wird die Schuld herausgefunden, gleichviel, ob eine vorhanden ist oder nicht. Man sperrt den Verurteilten in die Keller der Brauerei, wenn man es nämlich nicht vorzieht ihn sogleich abzuschlachten. In beiden Fällen ist natürlich sein Eigentum der Konfiskation unrettbar verfallen.“
„Das ist ja entsetzlich!“ rief Lionel. „Und wohin hat sich die arme Frau Schaumann mit ihren Kindern begeben?“
„Das mag der Himmel wissen, — in der Stadt sind sie nicht geblieben. Wahrscheinlich haben alle in den Gebirgen ihren Tod gefunden.“
Lionel erbleichte. „Verhungert!“ sagte er. „In den Wäldern zugrunde gegangen! Und auf Seven-Oaks haben wir mehr Korn, mehr Herden und Obst, als in ganzen Jahren gegessen weroen könnte. — Kostet übrigens wirklich in der Stadt das Mehl achtzig Dollar das Fass?“ setzte er dann hinzu. „Es ist ja doch wohl durchaus unmöglich!“
„Keineswegs. Ich bin überzeugt, dass heute schon hundert gezahlt werden. Die Spekulanten kaufen alle Vorräte auf und machen nun den Preis nach eigenem Ermessen; es kann ja in den Bannkreis der Blockade nichts von draussen her eingeführt werden. Kaffee kostet zwölf Dollar das Pfund, Salz einen Dollar, — Tee gibt es überhaupt nicht mehr.“
Lionel verstummte, er dankte dem Himmel, als das Gasthaus erreicht war und Ralphs schwarzes Gesicht ihm wieder entgegensah. Die Pferde wurden vorgespannt, Hermann und Lionel besprachen noch den Plan der nächsten Tage und schieden dann mit der Hoffnung, einander schon morgen auf der Plantage wiederzusehen. Hermann sollte es nach so vielen ausgestandenen Leiden einmal für eine Zeitlang recht angenehm haben.
Der Wagen fuhr schleunigst davon, wie ein schwarzer Streifen verschwanden rechts und links die Seitenstrassen, dann kam das freie Feld und endlich der Wald, durch dessen grüne, weite Hallen ein Wiesenpfad, wie ihn die Natur erschaffen, hinausführte zur entfernten, am Fusse des Gebirgszuges liegenden Farm.
Bisher hatten Ralph und Lionel geschwiegen, jetzt endlich nahm der letztere das Wort.
„Sage mal, Ralph,“ fragte er, „hast du meine Eltern gekannt?“
„Ja, Sir.“
„Mein Vater war ein entfernter Verwandter des Onkels, nicht wahr?“
„Ich denke wohl, Massa Lionel.“
Unser Freund schüttelte den Kopf. „Weshalb tust du, als sei die Sache ein Geheimnis, Ralph? — Ich selbst war bei dem Tode meiner Eltern ein ganz kleines Kind und kann mich also aus diesem Grunde an nichts erinnern. War meine arme Mutter eine gute Frau, Ralph? Hatten die Schwarzen sie lieb?“
Der Alte nickte. „Mrs. Jane?“ sagte er halblaut. „O, sie war ein Engel, der Tod sass ihr in der Brust, seit Mr. Forster so weit fortgehen musste.“
„Mein Vater?“ rief Lionel. „Weshalb verliess er sie?“
Der Neger erschrak. „Er verliess sie nicht, Master Lionel! Nein, nein, es war nur eine notwendige Reise. Ganz gewiss, nur eine Reise.“
„Wohin denn?“ fragte ungläubig der Knabe. „Weshalb begleitete sie ihn nicht?“
„Das kann ich Ihnen unmöglich sagen. Vielleicht war sie schon damals zu krank, um sich auf die Reise zu begeben, vielleicht hatte sie auch andere Gründe, aber gewiss ist nur, dass Mr. Forster allein fortging.“
„Um niemals wieder zurückzukehren, Ralph?“
„Niemals. Er ist bald darnach gestorben.“
„Und meine arme Mutter wurde vor Gram krank, nicht wahr?“
„Ja, Sir, sie folgte ihrem Manne sehr schnell in das Grab.“
Lionel schüttelte den Kopf. „Eine eigentümliche Geschichte!“ sagte er. „Ich sehe da nie so recht auf den Grund, ich kann nicht erfahren, was mein Vater war, und ob überhaupt noch Verwandte von ihm leben. Onkel Charles ist mir in dieser Beziehung schon mehrfach ausgewichen, und heute machst du es ebenso, Ralph.“
Der Neger trieb die Pferde zu schnellerer Gangart. „Ich weiss nicht mehr, als was ich sagte, Sir, wirklich.“
Jetzt hielt der Wagen, und nach allen den aufregenden Empfindungen der letzten Stunden umgab die traute Stille des Landhauses sanft beruhigend die Sinne des Knaben. In der weiten Vorhalle brannte eine Kugellampe, auf der Veranda stand mit Flaschen und Gläsern der Abendtisch gedeckt, ein grosser Wildbraten dampfte in der Schüssel, frisches Gebäck und lockende Fruchtschalen füllten die Zwischenräume der schweren Gerichte. Vor dem Tische lagen die beiden Jagdhunde und erwarteten geduldig, was für sie abfallen würde.
Es ging durch Lionels Herz wie ein Messerstich. Hier der Ueberfluss, dort unten in der Stadt die bitterste Not! — Er vermochte, als sich die kleine Familie um den Tisch versammelt hatte, kaum zu essen, so sehr beschäftigte ihn das Schicksal der bedrohten Deutschen.
„Onkel Charles,“ sagte er, „du glaubst nicht, wie viel Elend ich in der Stadt mit eigenen Augen angesehen habe! Du solltest mir aus deinen grossen Vorräten von Lebensmitteln möglichst viel schenken, damit ich es den Armen in der Stadt überbringen kann, oder besser noch —“
Mr. Manfred Trevors Augen funkelten, das gelbe Gesicht wurde noch fahler. „Du wirst doch eine so unsinnige Bitte nicht erfüllen, Charles?“
„Ich kann es leider nicht, Manfred, das weisst du sehr wohl!“ sagte der Gutsherr. „Die Besonnenheit verbietet mir aus mehrfachen Gründen jedes Eingreifen in die Verhältnisse der Bedrohten.“
„Natürlich,“ murmelte Mr. Manfred, „natürlich. Du könntest erleben, dass der Pöbel hierherzöge, um Seven-Oaks dem Boden gleichzumachen und uns alle umzubringen.“
Der Gutsherr nickte. „Leider!“ seufzte er. „Leider! — So gern ich deinen Wünschen willfahren möchte, Lionel, es ist undenkbar. Du selbst musst in der Stadt jedes deiner Worte sorgfältig abwägen, mein guter Junge, — für einen Abolitionisten zu gelten, kann dir das Lynchgericht in jedem Augenblick zuziehen, ohne dass sich zu deinem Schutze irgendeine Hand erhöbe.“
Lionel schwieg. Er war mit den Ansichten seines Onkels nicht einverstanden, aber er fühlte, dass es unpassend sein würde, jetzt noch dagegenzusprechen, daher unterhielt er sich mit Philipp, und die beiden beschlossen, wenigstens den Inhalt ihrer Sparbüchsen heimlich zu verteilen. „Ich habe nur einen einzigen Dollar,“ gestand Philipp, „aber ich gebe ihn gern. Du bist gewiss reicher als ich, Lionel!“
„In meinem Kasten befinden sich mehr als hundert Golddollar, die sollen die Abgebrannten haben. Onkel Charles hat schon erlaubt, dass Hermann Neubert die Ferien mit uns verbringt, wir können also morgen zur Stadt fahren, um ihn zu holen und dabei gleich das Geld mitnehmen.“
Am andern Tage brachte Ralph sie im Wagen in die Stadt und vor Herrn Neuberts Haus. Im Nachbargebäude hatte über Nacht das Feuer gewütet und eine klaffende Lücke in die Strassenflucht hineingerissen. Wo waren die Unglücklichen, denen wilde Frevler die Heimat mit allem, was sie ihr eigen nannten, plötzlich und gewaltsam entrissen hatten?
„In dem Warenschuppen des Baumaterialienhändlers drüben hinter der Schenke,“ flüsterte Hermann, als Lionel diese Frage stellte. „Zwischen Kalktonnen und Bretterstapeln hat ihnen der unerschrockene Gastwirt ein Asyl gewährt.“
„Ich will gleich die Abgebrannten besuchen,“ rief Lionel, „ich will ihnen etwas Geld bringen und sie ermahnen, den Mut nicht zu verlieren.“
Er sprang, während sich Hermann zur Reise rüstete, über die Trümmer der verbrannten Häuser bis zu dem Schuppen, welcher ihm bezeichnet worden war, öffnete leise eine Tür und sah in das Innere des Raumes.
Auf einigen alten Wolldecken lag ein Mann, dessen Kopf und Hände verbunden waren, daneben mehrere Kinder mit bleichen Gesichtern, offenbar von Angst und Krankheit verzehrt. Die Unglücklichen hatten sich eng aneinandergeschmiegt, als wollten sie vereint der letzten Stunde entgegensehen; des Vaters verbrannte Hände hielten die Kleinen umfasst, ihre Köpfchen mit den blonden Haaren und den furchtsam blickenden Augen lagen dicht an seinem Herzen.
Vor der elenden Lagerstätte sass eine Frau von etwa fünfunddreissig Jahren; sie stützte den Kopf in die abgezehrte Hand und las mit vom Weinen unterbrochener Stimme den Ihrigen aus der Bibel vor.
„Guten Tag, liebe Frau,“ begrüsste sie Lionel, „fürchten Sie sich nicht, ich komme, um Ihnen meine paar Sparpfennige zu bringen, alles, was ich habe, aber recht von Herzen gegeben. Möchte es Ihre augenblickliche Not ein wenig lindern können.“
Er legte mit leiser Hand das Geld in den Schoss der Frau und wollte sich wieder entfernen, als ihn der Mann bat, doch noch einige Minuten zu bleiben. „Sind Sie ein Deutscher, junger Herr?“
„Nein, Sir, ich bin ein geborener Virginier und ein Verwandter der Familie Trevor auf Seven-Oaks. Glauben Sie denn, dass nur ein Deutscher mitleidig und teilnehmend empfinden könne?“
Der kranke Mann lächelte. „Das gewiss nicht,“ versetzte er, „aber in dieser bösen Zeit hält man unwillkürlich jeden Amerikaner für seinen Todfeind. Ach, junger Herr, vor einem einzigen kurzen Jahre war ich ein wohlhabender Mann, hatte mein blühendes Geschäft und zwei eigne Häuser, — jetzt bin ich ein Bettler, mein armes Weib, meine Kinder sind ruiniert für immer.“
Die Frau kniete neben seinem Lager, sie streichelte das überall verbundene, von Brandwunden bedeckte Gesicht, ihre Tränen fielen heiss auf die unschuldigen Stirnen der schluchzenden Kinder.
„Sieh, wie viel Geld wir jetzt haben, Martin! Gott ist wirklich bei uns, er hat den Retter in der Not hierhergeschickt. Hundert Golddollar, — damit kommen wir hinüber in das Gebiet der Nordstaaten.“
Der Kranke machte den vergeblichen Versuch, sich aufzurichten, er sank matt in die Wolldecken zurück, aber sein Auge glänzte und um die bleichen Lippen zuckte zum erstenmale ein Lächeln voll neuen Mutes.
„Und alles dieses Geld wollen Sie uns armen Verfolgten schenken, junger Herr? — Ach, der liebe Himmel lohne es Ihnen tausendfältig. Geben Sie mir Ihre Hand, Sir! Martin Reuter will zum Schuft werden vor Gott und den Menschen, wenn er diesen Sonntagmorgen jemals vergisst! So, das ist ein Eid wie jeder andere — möchte die Stunde kommen, in der es mir vergönnt ist, Ihnen einen Dienst zu leisten, junger Herr, ich will sie als die schönste meines Lebens betrachten.“
Lionel nahm vorsichtig die verbrannte Hand, er sprach einige freundliche Worte, mit denen er den Kranken zu beruhigen suchte, dann verabschiedete er sich.
„Gottes Segen mit euch allen! Adieu! Adieu!“
„Der Himmel vergelte es Ihnen, Sir! Leben Sie wohl! Leben Sie wohl!“
Jetzt stand er draussen, das Herz voll einer stillen, überschwenglichen Freude. Welch eine Seligkeit ist es doch, fremde Tränen trocknen zu können!
Philipp und Hermann sassen schon auf dem Wagen. Man gelangte glücklich zur Plantage, wo der Hausherr den wohlbekannten Schulkameraden seines Pflegesohnes mit Gruss und Handschlag willkommen hiess; dann wanderte das Kleeblatt zunächst hinab in den Hof, um die Tiere zu besehen.
Eine seltsame Erscheinung kam ihnen dort entgegengeschritten. Ein ledernes Hemd, ebensolche Beinkleider und hohe Schaftstiefel bildeten den Anzug eines schlanken, noch jugendlichen Mannes, dessen Brust mit blitzenden goldenen und silbernen Medaillen geschmückt war. Im breiten schwarzen Ledergurt steckte das Jagdmesser, daneben sechsläufige Drehpistolen, deren blanke Griffe im Sonnenlicht funkelten. Eine Kugelbüchse und ein grauer Filzhut von gewaltigem Umfange vervollständigten diese achtunggebietende Ausrüstung. Zwei Jagdhunde, jedem Blick, jeder Handbewegung gehorchend, begleiteten den hübschen, stattlichen Jäger.
„Jack Peppers, der Trapper!“ rief Lionel. „Willkommen auf Seven-Oaks, Sir!“
Der Fremde dankte höflich. „Ist Mr. Charles Trevor zu sprechen?“ fragte er. „Ich möchte ihm gern eine Mitteilung machen.“
„Ueber eine Jagd, Sir? Sind Antilopen in der Gegend?“
„Besseres! Viel Besseres!“
„Doch unmöglich ein Jaguar?“
Der Trapper nickte. „Ein schwarzer noch dazu, ein Bestie wie ein Königstiger.“
Lionel klatschte vor Freude in die Hände. „Wo? mein guter Jack! Wo? Wird man zu Pferd die Stelle erreichen können?“
„Ganz bequem,“ versetzte der Jäger. „Die Raubkatze ist jedenfalls durch die Truppenbewegungen an der Grenze hierher verschlagen worden; sie hat ihr Lager im Röhricht an den grossen Sümpfen, da wo der Waldsaum den See streift.“
„Onkel Charles ist nur vor Tisch auf ein Stündchen davongeritten, um nach dem Weizen zu sehen. Ganz gewiss nimmt er schon morgen die Jagd auf. Wie glücklich wäre ich, wenn meine Kugel den Jaguar erlegte!“
Wenige Minuten später kam Mr. Charles nach Hause, der Trapper wurde vorgelassen und musste seinen Bericht wiederholen. Auch Manfred Trevor horchte hoch auf. „Ein Jaguar? Und unten in der Wildnis an den unübersehbaren Sümpfen? — sollte das eine Treibjagd geben?“
„Gewiss!“ rief der Gutsherr. „Ich kann fünfzig bis achtzig Schwarze stellen!“
Die Nachricht kam wie eine wahre Freudenbotschaft in das Haus; schon in aller Frühe des nächsten Tages sollte der Jagdzug beginnen, die Dienerschaft musste gleich das Zelt des Gebieters instand setzen, die Pferde auswählen, Vorräte zusammenpacken und Waffen putzen, alle Hände waren in fieberhafter Tätigkeit.
„Hast du eine gute Kugelbüchse für mich, Charles?“ fragte Manfred Trevor. „Ein armer Stadtgelehrter besitzt dergleichen nicht, wie du wohl weisst. Das heisst,“ setzte er schnell hinzu, „wenn du überhaupt gestattest, dass ich dich zur Jagd begleite!“
„Manfred, — welche Frage! Da in der Waffenkammer hängen Dutzende von Büchsen aller Art, suche dir eine aus und behalte sie gleich ein für allemal zum Andenken an mich.“
Die Farbe auf dem Gesicht des andern wechselte unaufhörlich. „Danke! Danke!“ sagte er hastig. „Wenn du es also gestattest, werde ich mich gleich heute nachmittag ein wenig einschiessen, — drüben im Walde. Man muss doch das Ding zu handhaben wissen. Wie ist es denn,“ setzte er gleich darauf hinzu, „nimmst du auch die beiden Knaben mit? Philipp muss natürlich zu Hause bleiben.“
„Das ist wohl leider nicht anders möglich, aber Lionel und Hermann können uns ja sehr gut begleiten.“
Manfred schwieg, indem er aus dem Fenster in den Hof hinabsah; es schien, als tobe in seiner Seele ein Kampf. Endlich ergriff er die im Waffenschrank ausgesuchte Kugelbüchse und begab sich nach kurzem Abschied hinaus in den Wald hinter dem Hofe. Hier befestigte er ein Kartenblatt an den Stamm einer Eiche und lud dann die Büchse.
Er zielte und schoss — aber seine Hand hatte so heftig gezittert, dass die Kugel weit an der Karte vorüberflog.
„Gut, dass du nicht schon den Jaguar vor dir hattest, Onkel!“ rief hinter dem Schützen eine jugendliche Stimme, und Lionel erschien auf der Lichtung, um mit einer Büchse, die er von der Schulter nahm, sekundenlang zu zielen und dann das Herz aus der Karte herauszuschiessen. „Hurra, getroffen! Jetzt bist du dran, Onkel Manfred!“
Dieser sah aus, als sei ihm ein Gespenst begegnet. Dann aber raffte er sich gewaltsam auf, und Hand und Auge waren plötzlich fest geworden. Der Schuss krachte, und die Kugel flog in das Loch, welches die Stelle des Herzens auf der Karte bezeichnete; noch zwei, drei andre folgten, dann sah Mr. Manfred Trevor spöttischen Blickes hinüber zu dem Pflegesohne seines Vetters. „Ich werde den Jaguar, wenn er mir zum Schusse kommt, nicht fehlen,“ sagte er in sonderbar bedeutsamem Tone. „Vorhin mag mir etwas ins Auge gekommen sein.“
Dann wandte er sich ab und schritt ohne Gruss davon.
Lionel sah ihm betroffen nach. „Onkel Manfred hasst mich,“ dachte er, „aber warum nur? Ich habe ihm nie etwas zuleide getan.“
An diesem Abend drehte sich das Gespräch am Herrschaftstische nur um den Jaguar. Erst zweimal während der zehn Jahre seines Hierseins hatte der Gutsherr eine Jagd auf das aus Virginien fast ganz verdrängte Raubtier mitmachen können, aber beide Male war es zufällig einem andern Teilnehmer der Partie zum Schusse gekommen, so dass es auf der Plantage keine Fussdecke gab, die aus einem selbsterbeuteten Pelz angefertigt worden wäre, — morgen vielleicht sollte der scheckige Räuber Mr. Charles Trevor vor die Flinte kommen. Der leidenschaftliche Jäger wollte endlich neben den Geweihen zahlloser Hirsche und Antilopen, neben ausgestopften Vögeln und Schlangenhäuten das bunte Fell des Jaguars sehen.
Mr. Manfred allein schien die freudige Spannung nicht zu teilen, von der alle andern bewegt waren. Bitterer Groll nagte an seinem Herzen, während seine Blicke zwischen Mr. Charles und Lionel verstohlen hin und hergingen. Sein eigener Sohn, der gesetzlich nächste Erbe von Seven-Oaks, schien nichts zu gelten, während dieser Fremde, ein Sohn der verachteten farbigen Rasse, volle Kindesrechte genoss und sich mit der Sicherheit des verwöhnten Lieblings im Hause bewegte. Ihm war Seven-Oaks zugedacht, das unterlag keinem Zweifel. Alle diese endlos gedehnten Fruchtfelder, diese Scharen von Sklaven, die nach Hunderten von Köpfen zählenden Herden und stattlichen Gebäude, — alles sollte Lionel erben.
„Manfred,“ sagte der Gutsherr, „woran denkst du so lebhaft?“
Der Angeredete fuhr auf. „Ich?“ stammelte er. „Ich? — Nichts! Nichts!“
„Du sahst aus, als wolltest du einen Todfeind erwürgen, Manfred!“
Mr. Trevor zuckte die Achseln. „Ich dachte an den Jaguar!“ stiess er hervor.
Am andern Morgen herrschte reges Treiben auf dem Hofe. Jack Peppers erschien mit dem Lederanzug und den beiden steifen ledernen Schutzvorrichtungen gegen Schlangenbisse, wie er sie vom Sattel herabhängend trug. Sein kleines sehniges Pferd, der „Robber“, tänzelte vergnügt, die blanken Waffen blitzten im Sonnenlicht. Zwei Packpferde wurden beladen, die schwarzen Treiber versammelten sich, und zuletzt erschienen auch die Herren, denen sich noch einige eilends aus der Stadt herbeigerufene Offiziere anschlossen. Nur Philipp blieb zu Hause, aber mit dem freundlichsten Gesicht und dem neidlosesten Herzen, er wünschte seinen Freunden eine fröhliche Jagd und glückliche Heimkehr; dem Gutsherrn reichte er noch zuletzt die Hand. „Leb wohl, Onkel Charles, viel Vergnügen!“
„Danke, mein guter Junge,“ klang es zurück. „Morgen nachmittag sehen wir uns wieder!“
Dann ritt er mit den übrigen davon, ein schöner, stattlicher Mann auf der Höhe des Lebens, ruhig in sich und glücklich, geliebt von allen, die ihm nahestanden. Sein vornehmes, das offenste Wohlwollen ausdrückendes Gesicht war leicht gebräunt, zwischen den Lippen dampfte die Zigarette, über den breiten Schultern hing am Lederriemen die Kugelbüchse, und munter und lustig umbellten die Rüden das tänzelnde Pferd.
Zunächst führte der Weg durch die Felder und Wiesen von Seven-Oaks, dann über eine steinige Ebene und zuletzt in den Wald hinein, dessen tausendjährige Stämme, von Ranken und Blumen umflochten, hoch in die Luft emporragten.
Es dämmerte bereits, als der Platz erreicht war, den Peppers für das Nachtlager bestimmt hatte. Hohe Felswände umgaben im Halbkreis ein kleines Tal, das mit laubreichen alten Bäumen bestanden war; hier konnten die Zelte aufgeschlagen werden, hier sollten Pferde und Gepäck bleiben, bis die Jagdgesellschaft mit dem Fell des erbeuteten Jaguars zurückkehrte, man liess sich häuslich nieder und errichtete zum Schutz gegen die Moskitos ein Feuer aus grünem Holz, an dem die Neger Kartoffeln in der Schale brieten.
„Denken Sie nicht, dass das Raubtier hierherkommen könnte?“ fragte Mr. Manfred Trevor den Trapper. „Es wäre doch möglich, wie?“
„Ganz unmöglich, Sir,“ versicherte Jack. „Der Jaguar begibt sich nicht in die Tiefe der Wälder, er bleibt am liebsten da, wo hohes Schilf steht.“
Mr. Trevor antwortete keine Silbe, er nahm seine Wolldecke, hüllte sich hinein und schien zu schlafen, während die übrigen um das Feuer sassen und von der bevorstehenden Jagd plauderten.
Bald aber verstummte jedes Gespräch, Jack Peppers und auch Mr. Charles Trevor schienen zu schlummern, nur Lionel lag noch wachend und sah mit hellen Augen zum Sternenhimmel empor. Seine Phantasie beschäftigte sich noch immer mit dem Jaguar. Wenn es ihm möglich war, auf irgendeine Weise die Bestie dem geliebten Onkel in die Schusslinie zu treiben, so sollte das sicherlich geschehen, — Mr. Trevor wollte so gern die Jagdbeute selbst erobern!
„Lionel!“ flüsterte neben ihm eine Stimme.
Er wandte den Kopf. „Onkel Charles?“
„Wachst du noch, mein Junge? — Komm, rücke ein wenig näher, aber lass die andern schlafen, — ich möchte einen Augenblick mit dir plaudern.“ Und der Gutsherr von Seven-Oaks legte den Arm um die Schultern seines Pflegesohnes und zog ihn voll Zärtlichkeit nahe zu sich heran. „Eigentlich bin ich ein ganz leichtsinniger Mensch,“ sagte er flüsternd, „ich mache mir deinetwegen heute abend heimliche Vorwürfe, Lionel.“
„Mein Gott, Onkel Charles, — aus welchem Grunde?“
Der Gutsherr wiegte den Kopf. „Hm, schon mancher Mann ist gesund und fröhlich aus dem Hause fortgegangen, um niemals wiederzukehren, — das könnte auch mir geschehen, und dieser Gedanke macht mir Sorge, Lionel, deinetwegen. Du wärest verloren, ein unglücklicher Mensch! — Ob wohl alle unsere Genossen schlafen?“
„Ich glaube es,“ versetzte der Knabe, seltsam durchschauert von dem Tone seines Wohltäters. „Was wolltest du mir sagen, Onkel Charles?“
„Als meine Frau und meine beiden Kinder in einem einzigen Jahre starben, da warst du ein kleines Bürschchen, — so recht eigentlich das letzte menschliche Wesen, welches mir Gott noch gelassen. Ich habe mein ganzes Herz an dich gehängt, Lionel, ich erziehe dich zum Gentleman und hinterlasse dir, wenn mich Gott abruft, meine Farm mit allem, was dazu gehört.“
Lionel fuhr auf. „Nein, Onkel Charles,“ flüsterte er, „nein, das darf nicht geschehen. Philipp ist dein gesetzlicher Erbe.“
Der Gutsherr lächelte. „Philipp bekommt sechzigtausend Dollar, das ist ein Vermögen, von dessen Zinsen er leben kann. Seven-Oaks dagegen bleibt dein, unter Brüdern wäre es schon seine halbe Million wert, aber wenn die Konföderierten den Sieg behalten und das Land im Preise steigt, so kannst du getrost noch hunderttausend hinzurechnen.“
Lionel schüttelte den Kopf. „Philipp würde mich nicht mehr liebhaben!“ sagte er. „Onkel Charles, bitte, vermache uns beiden die Farm, ihm und mir, wie es geschehen würde, wenn wir z. B. Brüder und deine eigenen Söhne wären.“
Mr. Trevor hob die Hand. „Dein Vorschlag zeugt von einem grossmütigen Herzen, mein guter Junge, er macht dir alle Ehre, aber zwei Gebieter für dasselbe Eigentum — nein, nein, das geht nicht, Lionel. Philipp würde überhaupt gar nicht dauernd auf dem Lande leben wollen, und endlich ist auch mein Testament in aller Form Rechtens vorhanden, — eben daher bin ich ja heute abend so unruhig. Mr. Mason, der Notar, ist als Offizier in den Krieg gezogen, die beiden Zeugen gleichfalls; vielleicht kommt keiner von ihnen jemals zurück.“
„Und darüber wolltest du dir heute schon Sorgen machen, Onkel Charles? Du, der noch dreissig und mehr Lebensjahre vor sich hat?“
Mr. Trevor schüttelte den Kopf. „Niemand kennt die Stunde, in welcher er abberufen wird,“ versetzte er in ruhigem Tone. „Und nun höre, was ich dir sagen will, mein Junge! Das Testament ist in meinen Händen geblieben, anstatt bei dem Friedensrichter niedergelegt zu werden, Mr. Mason hielt es so für besser, weil die Freibriefe sämtlicher Sklaven mit darin enthalten sind, — etwas, das in unseren Tagen böses Blut machen könnte. Sobald ich gestorben bin, muss das Dokument den Behörden vorgelegt werden, es darf um keinen Preis in eine andere als nur deine Hand gelangen, mein Junge! Darum sollst du erfahren, an welchem Orte ich es geborgen habe. Vorher versprich mir, keinem Menschen von dem, was ich dir jetzt sagen werde, eine Mitteilung zu machen!“
Lionel reichte ihm stumm die Hand, er war unfähig zu sprechen.
M. Trevor hob den Kopf. Ehe er dem Knaben an seiner Seite die bedeutungsschwere Mitteilung machte, beugte er sich ein wenig nach links hinüber, um in Manfreds blasses Gesicht zu sehen. Schlief der Mann mit dem ruhelosen Blick und dem scheuen, sonderbar verstörten Wesen?
Eine Sekunde nur, dann wandte sich der Gutsherr plötzlich ab. Mr. Manfred Trevor, sein Vetter, lag ohne Bewegung, wie ein Mensch, der fest schläft, aber dennoch war diese äussere Ruhe nur Schein, die Augen standen weit offen, und unversehens, ganz unerwartet hatte Charles Trevor ihren glühenden, leidenschaftlich erregten Blick aufgefangen. Zwar fielen die Wimpern augenblicklich herab, aber trotzdem wusste der Gutsherr, dass sein Vetter sich jedes gesprochenen Wortes erinnern würde, dass er auch jetzt noch unter der Maske des Schlafenden angestrengt lauschte, — ein unangenehmes Gefühl durchfröstelte sein Herz.
„Jetzt nicht,“ flüsterte er in das Ohr seines Pflegesohnes. „Schlafe, Lionel, schlafe, — wir sprechen uns morgen.“
Noch stand die Sonne nicht völlig am Himmel, der Tau lag auf den Grasspitzen, die Blumen schimmerten wie mit einem Silberschleier bedeckt; es war ein warmer, herrlicher Morgen, kirchenstill dehnte sich der Wald, nur leises Vogelsingen klang zuweilen durch die grüne Wildnis.
Jack Peppers ordnete den Vormarsch der Treiber, die das Unterholz von allen Seiten durchstreifen und so das kostbare Wild zwingen sollten, im dichten Schilf eines Sees Schutz zu suchen.
„Wie ist die Gegend beschaffen?“ fragte Mr. Manfred Trevor. „Eine offene Fläche?“
„Ein See, der in einen Sumpf ausläuft, Sir, dahinter die Gebirgskette. Ich bin überzeugt, dass uns die Katze nicht entkommen kann.“
Manfred hielt sich ständig an seines Vetters Seite, er verliess ihn keinen Augenblick, er machte es ihm ganz unmöglich, dem Knaben unbemerkt auch nur ein einziges Wort zuzuflüstern. Lionel dachte nicht mehr an die Unterredung dieser Nacht, er kümmerte sich wenig um Geld oder Erbschaft, sein Auge blitzte hell und fröhlich.
Eine Stunde weit führte der Weg durch den Wald, dann wurde das Unterholz seltener, und endlich schimmerte ein Wasserstreif in der Ferne den Jägern entgegen. Wie ein Keil, spitz und langgestreckt, bohrte sich ein Ausläufer des Sees in das Holz hinein, zu beiden Seiten mit hohem Schilf bewachsen.
Jetzt schienen die Hunde unruhig zu werden, sie schnupperten am Boden, ihr Haar sträubte sich, nur die gehorsamen Tiere des. Trappers waren noch zum Vorgehen zu bewegen, während die beiden Rüden des Gutsherrn winselnd zu den Füssen ihres Gebieters um Schutz zu bitten schienen.
Jack Peppers stand still. „Irgendwo im Schilf lauert die Bestie,“ sagte er leise. „Wir müssen uns jetzt trennen, so dass beide Ufer des Wasserarmes besetzt sind. Ich bleibe hier vorn, meine Hunde sollen die Unze heraustreiben.“
Er deutete mit der Hand die Richtung an, — leise schleichend suchten die beiden Männer in Begleitung der Knaben jeder für sich hinter einem dicken Stamm Deckung, und nun begann der Trapper die Hunde in Bewegung zu setzen. „Vorwärts, Happy, mein gutes Tier! Vorwärts, Carry! Sucht die Katze!“
Er selbst hatte das Gewehr an einen Baumstamm gelehnt und dafür vom Gürtel eine schwere Keule aus Eichenholz gelöst. Den Arm mit einem Schaffell umwickelt, stand er da wie ein römischer Fechter der Vorzeit, vollkommen ruhig, bereit, dem gefürchteten Raubtier entgegenzugehen.
Die Hunde drangen in die dichten Schilfmassen hinein, sie suchten mit gesenkten Schnauzen und schienen nach kurzer Frist die Spur gefunden zu haben. Ein wütendes Bellen verriet, dass ihr Todfeind entdeckt war.
Geier kreischten und flogen durcheinander, Hunderte ihrer hässlichen Sippe erschienen zugleich, ein wirres Flügelschlagen und Lärmen begleitete einen Chorus anderer Stimmen, die sich aus der Mitte des Schilfmeeres erhoben. Von rechts und links stürzte aufgeschreckt, in voller Todesangst, ein Rudel Wasserschweine kopfüber in die stille Flut, während aus dem grünen Rahmen derselben ein dicker, plumper Kopf mit glühenden Raubtieraugen zum Vorschein kam. Ein langer Schweif peitschte wütend die Halme, dass sie nach allen Seiten flogen, ein Brüllen erscholl gleich fernem Donner. Der schwarze Kopf sah nach vorn, als suche er den Angreifer, das riesige, einem Königstier an Grösse gleichkommende Tier stand aufrecht in seiner vollen Höhe und schlug herausfordernd mit den Pranken in die Luft, während von allen Seiten die Geier in ganzen Wolken herbeiflogen, um den Körper eines getöteten Wildschweines, das vor den Füssen des Jaguars im Schilf lag, mit ihren scharfen Schnäbeln zu zerhacken und als gute Beute an sich zu reissen.
Wenigstens zehn Schüsse fielen zugleich. Das Tier sprang hoch empor und sank auf alle vier Füsse zurück, es brüllte vor Wut und Schmerz, blutiger Schaum stand vor dem Maule, die Rückenhaare waren gesträubt, die Haltung geduckt, wie zum Sprunge. Noch im Todeskampfe schien es den einzig sichtbaren Angreifer, den Trapper, überfallen zu wollen.
Jack Peppers stand unbeweglich. Die Keule hielt er etwa in der Höhe seiner Augen, die Blicke waren fest auf das brüllende Raubtier gerichtet. Carry und Happy bellten immerfort um die Wette, — es schien, als dränge sich die Entscheidung des ganzen Unternehmens zusammen in diese eine Minute.
Dann wagte der Jaguar den Sprung, welcher ihm so oftmals zum Siege, zur reichen Beute verholfen hatte; er setzte an, um im Fluge den Trapper zu packen und zu Boden zu reissen. Ein breiter Blutstrom drang aus seiner rechten Seite hervor, die grosse Gestalt schien zu wanken, zu taumeln, sie berührte in einigen Fuss Entfernung vor dem kühnen Jäger den Boden, und nun war, ihr Schicksal besiegelt. Ein wuchtiger Hieb mit der Keule — und das Tier brach zusammen.
Aus den nächsten Gebüschen kamen die Neger herbei, um in ihrer kindischen Weise den toten Feind zu umtanzen und ihn zu verhöhnen. Auch die beiden Knaben erschienen, endlich Mr. Manfred Trevor, — wo aber blieb der Gutsherr?
„Onkel Charles!“ rief Lionel.
Keine Antwort.
„Onkel Charles, wo bist du? Wir suchen dich!“
Es blieb wieder alles still, auch der Trapper und Hermann riefen, so laut sie konnten, aber ganz umsonst, nichts regte sich, keine Stimme gab Antwort.
Lionels Herz fing an schneller zu schlagen. „Onkel Manfred,“ bat er, „rufe du doch auch! — Hast du denn nicht gesehen, wo Onkel Charles Stellung nahm?“
Mr. Trevor zuckte zusammen. „Ich?“ rief er. „Ich? Junge, wie kommst du darauf?“
Ehe Lionel antworten konnte, erklang aus einem der entfernteren Teile des Schilfes das laute Geschrei eines Negers, schwarze Hände hoben sich angstvoll in die Luft empor, ein schwarzes Gesicht sah kläglich hinüber zu der Gruppe weisser Männer. „O Mr. Charly! Mr. Charly! — Er ist tot!“
Lionel schrie laut auf. „Tot! — Barmherziger Gott, er sollte tot sein?“
Hermann war sogleich aufgesprungen und zur Unglücksstätte geeilt, ihm folgten Jack Peppers und Lionel, ebenso die übrigen Neger. Leise hoben liebevolle Hände die regungslose Gestalt des Gutsherrn vom Boden, leise trug man ihn auf den freien Platz hinaus und legte den Körper auf das Moos unter den Bäumen.
Jack Peppers bog Rock und Hemd zur Seite. Aus einer kleinen, blauschwarz erscheinenden Wunde in der Brust sickerte das Blut, die Augen waren fest geschlossen, das ganze männlich schöne Antlitz trug den Ausdruck eines tiefen, erschütternden Grames.
Lionel stand mit krampfhaft gefalteten Händen, unfähig zu sprechen, ja auch nur zu denken, — das plötzlich hereingebrochene entsetzliche Schicksal hatte ihn vernichtend getroffen.
Der Trapper untersuchte sorgfältig die Wunde. Sein Kopfschütteln, seine Blicke zeigten den Umstehenden deutlich genug, dass keinerlei Hoffnung vorhanden sei, dennoch sagte Jack Peppers mit leiser Stimme: „Das Leben ist noch nicht ganz entflohen, vielleicht hört uns auch der arme Mr. Trevor noch, also bitte, Gentlemen!“ — —
Und eine Handbewegung vollendete den Satz.
Lionel sank, aufgelöst in den bittersten Schmerz, neben dem Körper seines Wohltäters auf die Knie. „Onkel Charles!“ flüsterte er, halb erstickt von Tränen, „Onkel Charles, sieh mich doch noch ein einziges Mal an!“
Und als habe die Stimme des Knaben den Schleier einer todesähnlichen Erstarrung zerrissen, ging durch die Glieder des Sterbenden ein leichtes Zucken. — Die fest geschlossenen Augen öffneten sich langsam, der Blick suchte voll Zärtlichkeit den des Knaben, sekundenlang, — dann heftete er sich fest auf das blasse Antlitz des Mannes, der seinen Platz an dem alten Baumstamm immer noch nicht verlassen hatte, der die Wimper gesenkt hielt, als wolle er nicht sehen, was um ihn her vorging.
Der Sterbende sah ihn unausgesetzt an. Ueber die erbleichten Lippen kam kein Laut, aber das Auge zeigte klares Bewusstsein. Mit äusserster, letzter Anstrengung hob er die Hand und deutete auf Mr. Manfred Trevor, dann umschleierte sich der Blick, matt sank der Arm in das Moos, und alles war vorüber.
„Er ist tot!“ sagte leise der Trapper. „Friede seiner Seele!“
Lionel schluchzte laut. Er hatte mit beiden Armen die Brust seines Wohltäters umklammert, er konnte nicht glauben, dass so jählings für alle Zeit geschieden sein sollte.
„Wir haben hier nichts mehr zu tun,“ sagte seufzend der Trapper. „Ermannen Sie sich, junger Herr, wir müssen jetzt den Heimweg antreten.“
Er hob zaudernd und mitleidig den weinenden Knaben empor, dann nahm er das seidene Halstuch ab und band es dem Toten über das Gesicht. Vier Neger mussten nach seiner Anleitung aus Baumstämmen eine Bahre anfertigen, und die Leiche wurde behutsam darauf gelegt. Jack Peppers beeilte sich, den Kadaver des getöteten Tieres seiner bunten Haut zu entkleiden. In wenigen Minuten war die Arbeit vollendet, ein Neger erhielt das Fell, um es zu tragen, und nun setzte sich der traurige Zug in Bewegung.
Einige Neger wurden vorausgeschickt, um die Pferde und die Zeltstangen herbeizuholen. In der warmen Sommerluft musste der Tote spätestens am dritten Tage beerdigt werden, — man hatte keine Zeit zu verlieren.
Jack Peppers leitete das Ganze, er liess den Knaben still vor sich hinweinen und hörte nicht an, was ihm Mr. Manfred zuweilen sagte. Dieser letztere hatte jetzt seine Besonnenheit wiedergefunden, er schien ruhig und wiederholte wohl zehnmal, dass ihn das Unglück in eine Art von Betäubung versetzt habe. „Mein armer Charles!“ sagte er seufzend. „Ein so biederer Charakter, ein so guter, vortrefflicher Mensch! Wie grossmütig behandelte er das schwarze Gesindel, und doch hat ihn einer dieser Elenden erschossen.“
Der Trapper lächelte seltsam. „Das glaube ich nicht, Sir!“ versetzte er.
„Nein? Aber wer hätte es denn sonst tun sollen?“
„Ob auch kein Menschenauge den Finger gesehen hat, Sir, als er sich gegen den Hahn der Büchse krümmte, um die Mordkugel zu entsenden, so wird doch über diese Geschichte einmal abgerechnet, wenn das Soll und Haben der Menschheit zum Ausgleich kommt. So denke ich wenigstens!“
Damit liess er den Gentleman stehen und schnürte mit eigenen Händen die Leiche in das Leinentuch des Zeltes, dann wurde die Bahre auf den Rücken zweier Pferde befestigt, und mehrere Neger wurden beauftragt, die Tiere zu führen.
Da man mit den Leuten in jeder Stunde wenigstens einmal wechselte und die nötigen Mahlzeiten im Sattel einnahm, so gelang es, gegen Abend Seven-Oaks zu erreichen, — genau zu jener Stunde, in welcher der Gutsherr als glücklicher Schütze zurückzukehren gehofft hatte.
Philipp hatte mit dem Negerknaben Toby und der alten schwarzen Köchin Cassy einen Riesenkranz gewunden und über dem Portal des Hauses befestigt. „Willkommen“ stand mit grosser schöner Schrift darin; überall brannten rings an den Wänden bunte Papierlaternen, die der verkrüppelte Knabe mit eigenen Händen angefertigt hatte.
Da begann im Hof einer der Hunde zu bellen, und Toby horchte plötzlich auf. „Das ist Diana, sie hört auf eine halbe Meile jeden Ton! Die Jäger kommen nach Hause, Massa Fili, sie kommen mit dem bunten Fell! Hurra! Hurra!“
Wirklich erklangen Hufschläge, und wenige Minuten später hielt ein Neger vor dem Portale. Sein Zuruf alarmierte das Haus, binnen Sekunden wussten alle Bewohner, was geschehen war, und klägliches Weinen und Jammern durchschallte die Räume. Mr. Charly tot! Mr. Charly, der gütigste Gebieter in ganz Virginien! O, nun hatte der liebe Gott die armen Schwarzen verlassen, nun brach das Unglück über sie herein.
Wie versteinert stand Philipp. Onkel Charles tot! Der Schmerz betäubte ihn fast.
Und dann hielt, nur von dem Bellen der Hunde empfangen, der Reiterzug. Die weinenden Neger hatten sich vor der Tür zusammengedrängt, es waren Fackeln angezündet worden, und schweigend hoben mit schonender Hand die vertrautesten Diener des Heimgegangenen seine Leiche von der Bahre, auf der sie immer noch lag.
Ralph hatte sich, tapfer seinen Schmerz verbeissend, dem Adoptivsohn des Hauses genähert, er legte sanft die Hand auf Lionels Knie. „Wollen Sie nicht in das Haus kommen, Sir? — Ach bitte, sprechen Sie doch ein Wort, weinen Sie wenigstens, — aber nicht dieses erstarrte, todblasse Gesicht!“
Auch Philipp trat hinzu, er streckte erschüttert beide Hände aus. „Lionel, mein armer Lionel, Gott helfe uns das schreckliche Unglück tragen.“
Lionel schwankte im Sattel, ohne Ralphs kräftige Arme wäre er vielleicht gefallen. „Tot!“ murmelten die bleichen, zuckenden Lippen, „tot! O Philipp, er, der mein einziger Freund war, mein Wohltäter und Beschützer!“
Ein unerklärliches Etwas schnürte Philipps Kehle zusammen, er begnügte sich, Lionels Hand zu drücken und ihn der Fürsorge Ralphs zu überlassen, dann, nachdem die Leiche in das beste Zimmer des Hauses getragen worden war, suchte er seinen Vater, um womöglich über das geschehene Unglück etwas Näheres zu erfahren.
„Wie kam es, dass Onkel Charles erschossen wurde?“ fragte er.
Mr. Manfred zuckte die Achseln. „Einer der schuftigen Neger natürlich! Die Halunken haben niemals Peitschenhiebe geschmeckt, daher sind sie übermütig geworden.“
Philipp schüttelte den Kopf. „Ich wüsste keinen einigen, dem ich eine derartige Schandtat zutrauen möchte, Papa. Die armen Leute hatten alle ihren Gebieter von Herzen lieb.“
Mr. Trevor lächelte spöttisch. „Lassen wir das jetzt, Philipp! Der Verstorbene erwacht nicht wieder, auch wenn wir ihn noch so aufrichtig betrauern, — es ist also an der Zeit, unsere eigene Lage zu überdenken. Du bist der Erbe von Seven-Oaks, mein lieber Junge!“
Philipp sah auf. „Ich, Papa? — O nein!“
„Doch Kind, doch. Ich bin ein Vetter des Verstorbenen, unsere Väter waren Brüder, aber du stehst ihm in der Verwandtschaft noch um einen Grad näher, denn deine Mutter war seine Schwester. Ich wiederhole dir, du bist der rechtmässige Erbe von Seven-Oaks, natürlich mit der Beschränkung, dass ich, als dein Vater, bis zu deiner Majorennität das Vermögen für dich verwalte.“
Philipp schüttelte den Kopf. „Das mag ja alles sein, wie du sagst, Papa, wenigstens dem Gesetze nach, aber doch muss die Farm Lionels Eigentum werden, denn Onkel Charles hätte sie ihm vermacht, wenn —“
Ein flammender Zornblick traf den Knaben. „Unsinn!“ herrschte Mr. Trevor. „Lass mich derartige Worte von dir nicht nochmals hören, Philipp.“
„Sie sind aber doch die Wahrheit, Papa! Du kannst unmöglich beabsichtigen, den armen Lionel jetzt schutzlos in die Welt hinauszustossen.“
Ein höhnisches Lächeln kräuselte Mr. Trevors Lippen. „Schutzlos?“ wiederholte er. „Nein, mein guter Philipp, das wird nicht geschehen.“
Und dann ging er fort. Es gab zahllose Anordnungen zu treffen, man musste einen Boten zum Arzt schicken, einen anderen zum Friedensrichter, die Leiche wurde gewaschen und einstweilen bis auf weiteres im Salon aufgebahrt. Als der Leichenbeschauer kam, unterzog er sämtliche Mitglieder der Jagdgesellschaft einem vorläufigen Verhör, dann schloss man die Haustür, und alle Lichter erloschen. Hermann war nach schneller Uebereinkunft mit Lionel und Philipp in dem Wagen des Arztes zur Stadt zurückgefahren, er wollte aber in den nächsten Tagen wiederkommen und an dem Begräbnis des Gutsherrn teilnehmen.
Alles im Hause war todesstill, die Neger sassen in ihren Hütten und schluchzten, die Hausdiener kauerten stumm, voll Grauen in der Küche. Mr. Trevor hatte im oberen Stock sein Zimmer neben dem Schlafgemache des verstorbenen Gutsherrn, während dieses letztere wieder von einem kleinen, auf den Garten hinausgehenden Arbeitskabinett begrenzt wurde. Mit lautlosen Schritten gehend, erreichte der blasse, scheue Mann die beiden äusseren Türen, welche er verschloss, dann wurde mit der Matratze des Bettes das einzige Fenster im Kabinett sorgfältig verhüllt; Mr. Manfred überzeugte sich vom Schlafzimmer aus, dass kein Strahl der Lampe den Garten erreichen könne.
Ohne Stiefel auf den dichten Teppichen von Ort zu Ort schleichend, untersuchte Manfred Trevor alle Behälter in den Zimmern seines verstorbenen Vetters, um das versteckte Testament zu finden. Dieses Blatt musste er vernichten, ehe morgen die Behörde einschritt und vielleicht alles auf Lionels Aussagen hin unter Siegel legte.
Hier war der Schrank, in dem die Kleider hingen; Manfreds heisse Fingerspitzen tasteten überall umher. Kein Geheimfach? Kein doppelter Boden?
Nichts, gar nichts.