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Ralf Adelmann

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Beschreibung

Bestseller, Blockbuster, Top 100 - Listen und Rankings sind zentrale Ordnungs- und Wissensstrukturen der Populärkultur. Auf Internetplattformen und in Sozialen Medien machen sie populärkulturelles Wissen sichtbar, verfügbar und tauschbar. Ralf Adelmann geht der flüchtigen und heterogenen Wissenskultur dieser Taxonomien des Populären nach und zeigt: Sie arrangieren und strukturieren als mediale Formen populärkulturelle Produkte und deren Rezeption. Sie bieten ebenso kommunikative und mediale Anschlusspunkte für Subjektivierungen und soziale Formationen.

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Ralf Adelmann ist Professor für Medientheorie und Medienkultur am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn.

Ralf Adelmann

Listen und Rankings

Über Taxonomien des Populären

Diese Publikation wurde im Rahmen des Fördervorhabens 16TOA002 mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Open Access bereitgestellt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird. (Lizenz-Text: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de)

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Erschienen 2021 im transcript Verlag, Bielefeld © Ralf Adelmann

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Umschlagabbildung: Alexandra Falken / photocase.de

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-4311-4

PDF-ISBN 978-3-8394-4311-8

EPUB-ISBN 978-3-7328-4311-4

https://doi.org/10.14361/9783839443118

Buchreihen-ISSN: 2569-2240

Buchreihen-eISSN: 2702-8984

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Vorwort

Startpunkte: Taxonomien des Populären

Gegenstandsfeld: Listen und Rankings in der Populärkultur

Methodischer und theoretischer Pluralismus

Aufbau des Buches

Thesen

Listen und Rankings in der Mediengeschichte

Listen aus anthropologischer Perspektive

Listen und Rankings als mediale Formen

Listen und Rankings in der Populärkultur

Subjektivierungen und soziale Formationen

Das doppelte Subjekt: Medialisierung einer Subjektkonstituierung

Formationen der Freundschaft

Plattformen und Mobilisierungen

Plattformen zwischen Top-Down und Bottom-Up

Mobilisierungen

Populärkultur als Wissenskultur

Flüchtigkeit

Nachbarschaften

Empfehlungen

Listen und Rankings als Wissens- und Ordnungssysteme

Literatur

Vorwort

»Il y a un vertige taxonomique.«

(Perec 1982: 11)

Das vorliegende Buch basiert auf meiner Habilitationsschrift von 2016 und umfasst einen längeren Zeitraum meiner medienwissenschaftlichen Überlegungen zu Listen und Rankings, die vereinzelt auch schon an anderer Stelle veröffentlicht wurden. Das Ziel dieser Überlegungen war nie, eine kohärente Mediengeschichte oder eine umfassende Medientheorie zu Listen und Rankings zu verfassen. Stattdessen skizzieren die Thesen Perspektiven für eine medienwissenschaftliche Betrachtung von Ordnungs- und Wissenssystemen der Populärkultur, die aus meiner Sicht auch heute, 2021, noch interessante Erkenntnispfade eröffnen. Da es schon 2016 um Denkanstöße für weitreichend veränderte Medienlandschaften ging, die uns in gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Debatten noch länger begleiten werden, habe ich die ursprüngliche Fassung des Textes und dessen Literaturgrundlage nur an wenigen Stellen verändert und aktualisiert.

Auf dem Weg zu diesem Buch habe ich von so Vielen große Hilfe und Ermunterung erhalten, die ich an dieser Stelle nicht alle in einer langen Liste aufzählen kann. Allen, die dieses Projekt unterstützt haben, möchte ich dafür herzlich danken. Von der ersten Idee bis zur Publikation begleiteten mich Kolleginnen und Kollegen an vielen medienwissenschaftlichen Standorten. Besonders sind natürlich die Mitglieder des Instituts für Medienwissenschaften und die Mitforschenden am DFG-Graduiertenkolleg Automatismen an der Universität Paderborn zu nennen.

Genauso wenig wie eine Namensliste möchte ich eine Rangfolge des Dankes aufstellen. Trotzdem möchte ich Christina Bartz, Rolf F. Nohr und Hartmut Winkler für die präzisen und inspirierenden Gutachten zu meiner Habilitationsschrift hervorheben. Ohne die langjährige Unterstützung von Hartmut und den gemeinsamen, intellektuellen Austausch über Medien und ›den ganzen Rest‹ wäre das Buch nie geschrieben worden: Herzlichen Dank.

Am Ende sind es nicht nur die beruflichen Netzwerke, sondern auch die sozialen, die ein solches Projekt ermöglichen. Ein tief empfundener Dank geht an meine Freundinnen und Freunde, die immer nachgefragt haben und interessiert waren. Im besonderen Maße gebührt meiner Familie mein allergrößtes Dankeschön für die nie endende Unterstützung, Ermunterung, Liebe und – als Korrektiv zum akademischen Betrieb – Ablenkung.

Düsseldorf, August 2021

Ralf Adelmann

Startpunkte: Taxonomien des Populären

Als ich die ersten Ideen zu dem Projekt hatte, das letztlich nach vielen Überlegungen über einen längeren Zeitraum zu diesem Buch geführt hat, kam mir die Formulierung »Taxonomien des Populären« gleich zu Beginn in den Sinn. Mit »Taxonomien« sind bei mir erstens Vorstellungen von naturwissenschaftlicher Systematik verbunden und zweitens beinhaltet für mich der Begriff »Taxonomien« eine direkte Referenz auf Michel Foucaults wissenschaftshistorische und epistemologische Untersuchungen und Fragestellungen. Diese beiden Referenzen möchte ich einleitend etwas näher erläutern, da sie immer wieder Denkanstöße bei meiner Arbeit mit dem Thema populärkultureller Wissens- und Ordnungssysteme ausgelöst haben.

Taxonomien in der Naturwissenschaft und insbesondere in der Biologie lassen sich mit dem von mir untersuchten Gegenstandsfeldern in der Populärkultur auf den ersten Blick nicht in Deckung bringen. Deshalb war eine erste Ausgangsthese in der Frühphase des Projektes: Die Ordnungs- und Wissenssysteme der populären Kultur unterscheiden sich von anderen (zum Beispiel politischen oder wissenschaftlichen) Wissenssystemen. Meine erste Vorstellung war, dass naturwissenschaftliche Taxonomien in Top-down-Prozessen entstehen: Ein Modell oder ein Klassifizierungsschema wird auf empirische Artefakte und Befunde angewandt wie beim wohl bekanntesten Beispiel – der hierarchischen Systematik von Lebewesen in der Biologie von »Domäne« bis »Unterart«. Die damit verbundenen epistemologischen Praxen und ihre Rationalität passen in das Top-down-Schema der Entstehung und Diskussion von Taxonomien:

»Die Kodierung als Opferung unwesentlicher Wahrnehmungen, die Wahl der richti-gen Variablen, die Technik der Konstruktion von Äquivalenzklassen, der Realismus der Kategorien und schließlich die Historizität der Diskontinuitäten.« (Desrosières 2005: 266)

Dagegen entwickeln sich die Taxonomien des Populären in einer Gemengelage von Top-down- und Bottom-up-Prozessen. Die Taxonomien des Populären sind auch zeitlich nicht so stabil, haben eventuell nur einen begrenzten Wirkungs- und Geltungsbereich. Durch diese Einschränkungen und der damit verbundenen Instabilität der Systematiken in der Populärkultur wird die Angemessenheit des Begriffs »Taxonomien« zumindest in Frage gestellt. Die Entwicklung solcher Taxonomien des Populären ist insbesondere mit Medien und deren epistemologischer Produktivität, wie zum Beispiel bei der Verdatung der Lebenswelt durch den Computer oder der Mobilisierung des Internets durch das Smartphone sowie der Pluralisierung von Wissensformen und der Demokratisierung des ästhetischen Urteils, verknüpft.

Zweitens liefert der Begriff »Taxonomien« eine direkte Referenz auf Michel Foucaults wissenschaftshistorische und epistemologische Fragestellungen, die meine Vorstellungen der Produktivität von übergreifenden Wissensstrukturierungen und -ordnungen geprägt haben. In Die Ordnung der Dinge macht Foucault im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Buches noch einmal seine »vergleichende Methode« (Foucault 1974: 10) im Unterschied zur Untersuchung von wissenschaftlichen Einzeldisziplinen stark. So reichen seine Untersuchungsfelder von der Biologie bis zur Ökonomie, in denen

»ein Netz von Analogien deutlich werden, das die traditionellen Nachbarschaften überschritt: in den Wissenschaften der Klassik findet man zwischen der Klassifikation der Pflanzen und der Geldtheorie, zwischen dem Begriff des gattungsmäßigen Merkmals und der Analyse des Handelns Isomorpheme, die die außerordentliche Vielfalt der in Betracht gestellten Objekte zu ignorieren scheinen.« (Foucault 1974: 11)

Das »Netz der Analogien« und die »Isomorpheme« lassen sich auch in den Taxonomien der Populärkultur finden, indem ich übergreifende Prinzipien und die spezifische Ausbildung von medialen Formen in Listen und Rankings thematisiere, die das populärkulturelle Wissen strukturieren und ordnen. Dazu bemerkt Philip Sarasin in Bezug auf Die Ordnung der Dinge:

»Entscheidend für das Wissen ist die ihm zugrunde liegende Ordnungsstruktur, d.h. die Art und Weise, wie mögliche Elemente von Wissen klassifiziert, gruppiert, auf-gereiht und miteinander in Beziehung gesetzt werden.« (Sarasin 2005: 96)

Die Praktiken des Klassifizierens, Gruppierens, Reihens und Miteinander-Verbindens spielen in Die Ordnung der Dinge noch nicht die große Rolle, die sie unter dem Begriff »Diskurspraktiken« in den späteren Werken von Foucault einnehmen (vgl. Fink-Eitel 1989: 43). Die Wissensordnungen und -strukturierungen der Populärkultur sind ohne die vielfältig damit verknüpften Praktiken nicht denkbar. Listen und Rankings basieren auf bewussten und unbewussten Praxen der Subjektivierung, der Vergemeinschaftung oder der Wissenskonstruktion. Deshalb werde ich in diesem Buch nicht nur Listen und Rankings als mediale Formen, sondern auch als Elemente von Subjektivierung und Vergemeinschaftung ansprechen. Schon 1957 untersuchten John Johnstone und Elihu Katz den Zusammenhang von Freundschaft unter weiblichen Teenagern mit dem gleichen Musikgeschmack anhand der Hitparade, die ein zeitlich eingegrenztes Verkaufsranking repräsentiert (Johnstone/Katz 1957). Populärkulturelle Praxen lassen sich demnach nicht einfach in soziale Interaktionen auf der einen Seite und Ordnungsstrukturen der Musikindustrie auf der anderen Seite aufteilen. Sie sind immer schon durch Kauf- oder Bewertungsakte miteinander verwoben oder sie generieren Orientierungswissen, das teils unbewusst in den Praxen verarbeitet wird.

Selbstverständlich existieren in diesem Zusammenhang gleichsam festere und losere Verbindungen zu Wissens- und Ordnungsidealen in der Wissenschaft, der Politik oder der Wirtschaft. In diesem Buch wird bewusst aus der Perspektive auf Populärkultur argumentiert werden, die bei Foucault aus dem historischen Zeitrahmen und dem Erkenntnisinteresse fällt. Mit der Fokussierung auf die Medialität populärer Wissensformationen in Bezug auf Rankings und Listen besteht nicht der Anspruch, eine historische Poetik der Epistemologie solcher medialen Formen zu entwerfen. Stattdessen wird das Argument der medienwissenschaftlichen Cultural Studies strategisch eingesetzt und aktualisiert, dass das populäre Wissen paradoxerweise seine Eigenheiten in Abhängigkeit zu dominanten Wissensformen aus Ökonomie, Politik und Wirtschaft entwickelt (vgl. Fiske 2010: 153). Strategisch ist in dem Sinne gemeint, dass ich einen Schritt weitergehen werde und dieses Abhängigkeitsverhältnis auf das »Netz der Analogien« reduzieren sowie die Eigenheiten des populären Wissens stärker betonen möchte. Populäres Wissen ist in meiner Sicht durch die Brille der medienwissenschaftlichen Cultural Studies gleichberechtigt zu anderen Wissensformen, gerade weil es eigene Elemente oder Funktionalitäten ausbildet.

In der Populärkultur lassen sich Phänomene wie die ›Selbstorganisation‹ über Listen, Rankings und Cluster, denen eine prozessuale kulturelle Ökonomie der Wahrnehmung und des Wissens zugrunde liegt, nur über mediale Verfahren und Effekte erklären. Medienprodukte, die sich über Mundpropaganda in die Bestsellerlisten ›schleichen‹, die Geschmacksurteile in Form von Sternen oder die Ordnungskategorie ›Kult‹ als Emergenzeffekt der Populärkultur sind hierfür Beispiele.

Dazu korrespondieren medienökonomische Prozesse auf Seiten der Medienproduktion, die solche Organisationsformen populären Wissens herstellen, etablieren, forcieren und übernehmen. Ein historisch bedeutsames Beispiel ist die Music Hit Parade der US-amerikanischen Musikindustrie, die im Magazin Billboard seit 1936 veröffentlicht wird; ein weiteres Beispiel ist das Data Mining von Empfehlungssystemen im Internet. Über diese Akkumulierung und Repräsentation von Konsum und Konsumentenverhalten werden Kollektive konstruiert, die strategisch wiederum als Legitimation kultureller Praxen eingesetzt werden.

Letztlich trifft man in der Populärkultur häufig auf Mischphänomene, die nicht eindeutig einem Wissensmodell zuzuordnen sind. Am Beispiel der Internetsuchmaschinen werden diese komplexen Austauschprozesse besonders deutlich. Ihr ökonomischer Erfolg hängt von der Erstellung der Rankings von Wahrnehmungen der Nutzerinnen und Nutzer in Form hierarchisierter Ergebnislisten ab. Die Qualität der Listen (und damit der Suchmaschine) wird wiederum durch die Nutzerinnen und Nutzer unter anderem an einer weitgehenden Unabhängigkeit und Korrektheit der Treffer gemessen.

Durch die Taxonomien des Populären wird nicht nur populärkulturelles Wissen akkumuliert, denn mit dem Kauf eines Bestsellerbuches geht es zwar um Anschlüsse an ›Massengeschmack‹ im Sinne einer Normalisierung (vgl. Link 1997). Trotzdem entsteht mit der Bestsellerliste eine instabile Hierarchie, die jeweils in Anschlusskommunikationen zu ihrer Validität und Reichweite diskutiert wird. Damit etablieren diese populärkulturellen Praxen eine differenzierte und segmentalisierte Wissenskultur mit unterschiedlichen Formaten hierarchischer und nicht-hierarchischer Aufzählungen, Listen, Rankings usw., die gemeinsame Effekte populärkultueller und medialer Prozesse sind.

Aufgrund der vielfältigen Kontexte sowie inhaltlicher und formaler Diversität der populärkulturellen Phänomene kann die vorliegende Untersuchung nur Stichproben entnehmen und einordnen. Somit liegt hier keine umfassende Mediengeschichte von Listen und Rankings vor, sondern eine medienwissenschaftliche Einschätzung von Listen und Rankings in der digitalen Populärkultur.

GEGENSTANDSFELD:LISTEN UND RANKINGS IN DER POPULÄRKULTUR

Schon mit den einleitenden Überlegungen wird deutlich, dass das Gegenstandsfeld Populärkultur nicht ganz einfach abgrenzbar gegenüber anderen Gegenstandsfeldern ist. Die Definitionsversuche reichen von einer weitgefassten Alltagskultur (vgl. Storey 2014) bis zu einer engeren Definition von Thomas Hecken, der statistische Verfahren wie Listen und Rankings als zentrale Instanzen der Bestimmung dessen, was populär ist, versteht:

»Populär ist, was viele beachten. Populäre Kultur zeichnet sich dadurch aus, dass sie dies ständig ermittelt. In Charts, durch Meinungsumfragen und Wahlen wird festgelegt, was populär ist und was nicht. […] Wenn man von dieser Beschreibung ausgeht, ist populäre Kultur inhaltlich nicht festgelegt.« (Hecken 2006: 85)

Diese Einschränkung des Gegenstandsfeldes Populärkultur ist mir – trotz ihrer Nähe zu Listen und Rankings – zu radikal. Gerade die semantischen Kontexte oder qualitativen Wertzuschreibungen in populärkulturellen Praxen sind für meine Argumentation wichtig. Populärkultur schließt Nischenkulturen ebenso ein, wie sie ihre Inhalte als Teil ihrer Praxen behandelt. Mit dem Begriff »Praxen« werden alle Arten bewusster und unbewusster Aktivitäten beschrieben. Eine Verengung nur auf veröffentlichte Charts und Bestsellerlisten oder nur auf die sichtbaren Effekte soll explizit in meinen Überlegungen vermieden werden. Im Fokus meines Gegenstandsfeldes stehen dabei nicht sozialwissenschaftliche Auswertungen von empirischem Nutzungs- und Rezeptionsverhalten. Stattdessen werde ich vorliegende sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu Medienpublika mit Bezug zu Listen und Rankings heranziehen und zum Teil auch als Argumentationsgrundlage und Diskursmaterial nutzen. Ihre Beliebtheit bei Fankulturen zeigt, dass Listen und Rankings nicht nur mediale Formen des Mainstreams in der Populärkultur sind. Sie tauchen in vielen spezifischen Kulturen des Populären auf und überbrücken als mediale Formen die Heterogenität des in ihnen repräsentierten populärkulturellen Feldes. Deshalb verdienen sie als verbindende strukturelle Elemente der Populärkultur eine besondere Aufmerksamkeit.

Ebenso sind Listen und Rankings nicht auf die Populärkultur beschränkt und haben als mediale Formen eine Vor- und Parallelgeschichte, die in die Bestimmung ihrer Medialität sowie die Analyse ihrer Funktionen und Eigenschaften miteinfließen werden. Im Laufe der Argumentation wird es immer wieder notwendig sein, Listen und Rankings in einen Zusammenhang mit den Praxen zu bringen, in denen sie für die Populärkultur Relevanz erhalten. Das Gegenstandsfeld muss deshalb Subjekt- und Gesellschaftsprozesse berücksichtigen. Die Medialität von Listen und Rankings in einer digitalen Populärkultur situiert sich im Umfeld von Datenbanken und Internetplattformen, die ebenfalls ausführlich thematisiert werden.

Vor diesem Hintergrund setzt sich das Gegenstandsfeld der vorliegenden Arbeit aus Listen und Rankings in der digitalen Populärkultur und aus der Theoriearbeit an den Thesen dieses Buches zusammen. Daraus ergibt sich gleichsam die zweifache Vorgehensweise, konkrete Beispiele als Ausgangspunkt der theoretischen Überlegungen zu nehmen und einzelne Argumentationsstränge mit Beispielen zu konkretisieren. Übergreifende Definitionen oder generelle Aussagen sind somit nicht die Ziele des Buches. Statt dessen werden Thesen zu bestimmten Teilaspekten von Listen und Rankings in der Populärkultur erprobt. Vor diesen Hintergründen soll keinesfalls eine umfassende Analyse der Populärkultur entstehen (soweit dies überhaupt möglich wäre), sondern eine exemplarische theoretische und analytische Arbeit in diversen Teilgebieten des Gegenstandsfeldes.

METHODISCHER UNDTHEORETISCHER PLURALISMUS

Auf dem Cover einer der vielen Ausgaben von Raymond Williams kanonischem Werk Keywords stehen die Begriffe aus dem Buch in einer Ordnung zueinander, die aus heutiger Sicht am besten mit einer alphabetisch geordneten Begriffswolke (tag cloud) beschrieben werden kann (Abb.1). In seiner Einleitung reflektiert Williams über den Beginn seiner Überlegungen und über erste Ideen zu seinem Buch:

»My starting point, as I have said, was what can be called a cluster, a particular set of what came to seem interrelated words and references, from which my wider selection then developed.« (Williams 1983 [1976]: 22)

Abbildung 1: Titelgestaltung von Raymond Williams »Keywords«

Quelle: Williams 1983 [1976]

Demnach hatte Williams als Ausgangspunkt ein Cluster aus miteinander verbundenen Worten und Referenzen, die ihn zu weiteren Begriffen und Vernetzungen geführt haben. Dabei prallt er gegen eine Medialitätsgrenze des Buchdrucks, der Schrift linear ablaufen lässt, während Williams doch gerne den komplexen Vernetzungen seiner Argumentation eine entsprechende mediale Form gegeben hätte:

»In writing about a field of meanings I have often wished that some form of presentation could be devised in which it could be clear that the analyses of particular words are intrinsically connected, sometimes in complex ways. The alphabetical listing on which I have finally decided may often seem to obscure this, although the use of cross-references should serve as a reminder of many necessary connections.« (Williams 1983 [1976]: 25)

Die von Williams gesuchte »form of representation« gab es zumindest als mediale Utopie schon lange vor Williams Keywords – beispielsweise in Form der Hypertext-Idee bei Ted Nelson (1965) oder noch früher bei Vannevar Bush und seiner Vision einer vernetzten Datenbank für die Wissenschaften (Bush 1945). Spekulativ ist anzunehmen, dass Williams von diesen Utopien nichts wusste und sie deshalb nicht als alternative Medialisierungen seiner Keywords erwähnt.

In seiner Problemschilderung steckt meines Erachtens aber auch ein grundlegendes Kennzeichen der Cultural Studies, die Williams mit seinen Keywords als wissenschaftlichen Ansatz präsentieren und strukturieren möchte. Aus einer Reihe von Theorien zu unterschiedlichen Aspekten der Kultur entwickelt sich ein heterogener und in Teilen in sich widersprüchlicher Ansatz, der zudem noch das (politische) Ziel verfolgt, Populärkultur als gleichberechtigten und gleichwertigen Gegenstand der Kulturwissenschaften zu etablieren. Ein Cluster aus verschiedenen Theorien und Methoden wird zu einem Ansatz gebündelt, der die vielfachen Vernetzungen, aber auch Widersprüche aushalten muss. Über diese Widersprüche reflektiert gleichsam Stuart Hall, wenn er über den Projektcharakter der Cultural Studies schreibt:

»Obgleich die Cultural Studies als Projekt offen sind, können sie nicht in dieser simplen Weise pluralistisch sein. […] Sie sind ein ernsthaftes Unternehmen oder ein Projekt, und was dies bedeutet ist eingeschrieben in den Aspekt von Cultural Studies, der zuweilen als ›politisch‹ bezeichnet wird.« (Hall 2000: 36)

Das ›Politische‹ der Cultural Studies liegt unter anderem darin begründet, »daß eine Analyse des Populären in der Gegenwart die soziale Alltagspraxis der Konsumenten angemessen berücksichtigen muss« (Winter 1999: 47). Darüberhinausgehend werden in dem meinem Buch zugrundeliegenden Rahmenwerk die medialen Praxen und Formen als Politiken begriffen. Listen und Rankings etablieren keine ›neutralen‹ Ordnungssysteme, sondern sind mediale Formen, in denen Bottom-up- und Top-down-Prozesse zusammentreffen, die durchaus anderen politischen und kulturellen Zielen verpflichtet sind.

Auf der Grundlage dieser Prämissen des Cultural Studies-Ansatzes und mit dem Ausgangspunkt, die medialen Formen stärker einzubeziehen, lassen sich weitere Theorieelemente hinzufügen, in denen sich die Produktivitäten und Widersprüche von Listen und Rankings thematisieren lassen. Damit nutze ich die theoretische und methodische Flexibilität der Cultural Studies, die nach Douglas Kellner »multiperspektivisch« sein sollten, auch wenn er selbst den Begriff als »hölzern« und »unschön« bezeichnet (Kellner 2005a: 20). Der methodische und theoretische Pluralismus der Cultural Studies erlaubt beides: Absprungbrett zu anderen Ansätzen und zugleich ein theoretischer Rahmen für die Perspektivierung von Listen und Rankings in der Populärkultur zu sein. Aufbauend auf den medienwissenschaftlichen Untersuchungen der Cultural Studies zum Zusammenhang von Populärkultur und (Massen-)Medien werde ich medientheoretische Argumentationslinien breiter ziehen.

Während die Cultural Studies für meine Überlegungen einen theoretischen und methodischen Grundstock bilden, werden sie zusätzlich durch weitere theoretische Ansätze ergänzt. Mit Konzentration auf die Rezeption und die Medienpublika existieren relativ wenige medientheoretische Überlegungen zur Populärkultur. An dieser Stelle setzt meine Argumentation zu Listen und Rankings als mediale Formen an, welche die damit verbundene Medialität als produktives Element zwischen Strukturen und Praxen betonen wird.

Dazu kommen Überlegungen aus dem Kontext der Konturierung von Zugangsweisen zwischen Top-down- und Bottom-up-Prozessen, wie sie im Graduiertenkolleg Automatismen an der Universität Paderborn (2008-2017) entwickelt wurden. Die Prozesse der kollektiven Produktion von populärkulturellen Listen und Rankings sind Beispiele für Automatismen als ein »Entwicklungsmodell, das in Spannung zur bewussten Gestaltung und zu geplanten Prozessen steht« (Bublitz et al. 2010: 9). Diese emergenten Momente von Strukturentstehung schließen dann insbesondere die unbewussten, unsichtbaren oder unsagbaren Prozesse mit ein, die in den Cultural Studies durch den Fokus auf Bedeutungsgenerierung und aktive Rezeption etwas zu kurz kommen. Hier ergänzen sich beide Ansätze, denn mit dem Fokus auf Automatismen lassen sich jene Prozesse theoretisch fassen, die den Übergang von Quantität in Qualität bedingen (Bublitz 2010: 23). Somit wird eine Brücke zwischen der durch Medien und Technologien induzierten, unsichtbaren und unbewussten Verarbeitung der Quantitäten und der Bedeutungsgenerierung an den daraus resultierenden Qualitäten wie Ranglisten errichtet. Automatismen finden sich sowohl in Subjektivierungs- als auch in Vergemeinschaftungsprozessen und berücksichtigen die jeweiligen Kontexte, wie beispielsweise die paradoxale Doppelstruktur eines sich stetig auflösenden und neubildenden Subjekts (Bublitz 2010: 33).

Neben den Beiträgen aus dem Automatismen-Projekt fließen eine Reihe weiterer Ansätze aus der Medienwissenschaft ein, soweit sie zu populärkulturellen Listen und Rankings sowie den damit verbundenen Praxen anschlussfähige Thesen entwickeln. Das Entscheidungskriterium für die Aufnahme in dieses Buch ist immer, inwieweit der Ansatz etwas zu meiner Argumentation beiträgt und nicht welcher theoretischen Provenienz er entspringt. In diesem Sinne versucht die vorliegende Arbeit eine »theoretisch verankerte Kulturanalyse« (Grossberg 1997: 14) medialer Praxen und Formen zu entwickeln.

AUFBAU DES BUCHES

Beim Schreiben des Buches hatte ich immer wieder ähnliche Vernetzungswünsche wie Raymond Williams in seinen Keywords. Beispielsweise hätte ein späteres Argument parallel zu einem früheren Kapitel gepasst oder ein Argument müsste durchgehend ›unter‹ der gesamten Argumentation des Buches liegen, aber jeweils einem anderen Teilaspekt angehören. Letztlich ist aus diesen wiederkehrenden Überlegungen zur Strukturierung der Argumente der Aufbau des Buches entstanden, ohne dass die Vernetzungswünsche alle erfüllt werden: Das Grundgerüst der Argumentation sind die Thesen des anschließenden zweiten Kapitels, denen sich dann jeweils ein Kapitel des Buches widmet. Die Thesen pflegen untereinander sehr viele Beziehungen. Beispielsweise lassen sich die Überlegungen zu Plattformen im Internet nicht ohne die Ausführungen zur Datenbank und deren Subjektivierungseffekte verstehen. Oder aus anderer Sichtweise formuliert: Ohne ihre sozialen Funktionen können Listen und Rankings kaum als Wissens- und Ordnungssysteme thematisiert werden. Selbstverständlich sind die einzelnen Kapitel untereinander vernetzt, aber nicht zwangsläufig aufeinander aufbauend. Deshalb ist es durchaus vorstellbar, die einzelnen Kapitel auch außerhalb ihrer Reihenfolge im Inhaltsverzeichnis zu lesen.

Thesen

Die Thesen bilden in ihrer Reihenfolge das Argumentationsgerüst der folgenden Kapitel des Buches. Sie sind jeweils inhaltlich untereinander vernetzt und aufeinander bezogen. Bestimmte Aspekte der Taxonomien des Populären wie ihre mediengeschichtliche Einordnung, ihre medialen Bedingungen, ihre populärkulturellen Subjektivierungsformen usw. werden in den einzelnen Thesen fokussiert. Die Thesen sind als Kondensate der ausführlichen Argumentationen in den einzelnen Kapiteln zu verstehen.

Die jeweils nachfolgenden Kapitel des Buches nehmen die Thesen des vorherigen wieder auf und versuchen sie im Kontext des gesamten Anliegens weiterzuführen. Dadurch werden einzelne Argumentationsstränge und deren Grundlagen stärker in den Vordergrund gestellt. Zur größeren Verständlichkeit einzelner Argumentationsschritte werden die Verflechtungen mit anderen Kapiteln des Buches wiederholt hervorgehoben.

Die Thesen als inhaltliche Kondensate geben einen Überblick über die Reichweite meiner Überlegungen und können in ihrer Kürze nicht schon alle Argumente und Begriffe einführen, die in dem jeweiligen Kapitel ausführlich behandelt werden.

Listen und Rankings sind zentrale mediale Formen in der Populärkultur.

Diese erste These bildet den Ausgangspunkt des Buches. Listen und Rankings sind wichtige Elemente der Populärkultur, weil sie ein Wissens- und Ordnungssystem etablieren, dass durch mediale Formen und populärkulturelle Praxen getragen wird. In dieser spezifischen historischen Funktionalität unterscheiden sich die Listen in der Populärkultur von anderen Listen in der Mediengeschichte. Das nachfolgende Kapitel erhellt einige mediengeschichtliche Wurzeln von Listen und Rankings und führt sie als mediale Formen ein.

Listen und Rankings bieten mediale Anschlusspunkte für heterogene Subjektivierungen und soziale Formationen in populärkulturellen Praxen.

Die zweite These beschäftigt sich mit der Vermittlungsebene zwischen der Konstruktion populärkultureller Subjektivierungen und der Entwicklung von temporären Gemeinschaften als Phänomene der Sozialisierung durch Listen oder Rankings. Damit werden sowohl individuelle als auch kollektive Prozesse thematisiert. Auf der Basis der Analyse eines doppelten Subjektivierungsprozesses, der gleichzeitig ein verteiltes als auch ein kohärentes Subjekt ausbildet, dienen Listen und Rankings zur Ausbildung und Organisation typischer sozialer Formationen der Populärkultur, in denen diese heterogenen Subjektivierungsprozesse produktiv werden. Am Beispiel der Freundschaft als ein sich aktuell veränderndes soziokulturelles Konzept werden die zeitlich begrenzten und medial induzierten Vergemeinschaftungsprozesse exemplarisch erörtert.

Plattformen im Internet strukturieren die ›Sichtbarkeit‹ von populärkulturellen Praxen durch Listen und Rankings sowie durch Verstärkung bestimmter populärkultureller Ordnungs- und Wissensformen.

Plattformen im Internet sind die medialen und diskursiven Formationen, welche die ›Räume‹ für die populärkulturellen Praxen und ihre ›Sichtbarkeit‹ bereitstellen. Die dritte These behauptet, dass Plattformen und ihre Mobilisierung in Apps wichtige Orte der Organisation und Strukturierung populärkulturellen Wissens etablieren. Auf Plattformen treffen die Praxen der Nutzerinnen und Nutzer auf Strukturierungsmodelle, die aus den diskursiven und medialen Formationen von Plattformen entstehen. Top-Down- und Bottom-Up-Prozesse prallen aufeinander und verändern Ordnungs- und Wissenssysteme in einem Automatismus, der die Entstehung von Struktur und Inhalt teilweise emergent erscheinen lässt.

Populärkultur entwickelt eine eigene Wissenskultur, die von ihren Medienkontexten abhängig ist.

Daran anschließend erkundet die vierte These die Spezifik des populärkulturellen Wissens. Im Unterschied zu anderen Wissensformen werden Flüchtigkeit, Nachbarschaften und Empfehlungen als wichtige Aspekte und Beispielfelder herausgearbeitet. Insbesondere wird dabei – wie auch schon in den vorherigen Kapiteln – auf die Rolle von Listen und Rankings als mediale Formen eingegangen.

In den Taxonomien des Populären sind Listen und Rankings mediale Ordnungs- und Wissenssysteme.

Das letzte These bringt alle vorherigen Überlegungen noch einmal zusammen, um die zentrale Frage nach der Produktivität von Listen und Rankings als populärkulturelle Ordnungs- und Wissenssystem erneut aufzugreifen.

Listen und Rankingsin der Mediengeschichte

Eine mediengeschichtliche Gesamtdarstellung von Listen und Rankings als mediale Formen liegt noch nicht vor. Die Frage ist auch, inwieweit eine solche Mediengeschichte eine sinnvolle Perspektive auf Listen und Rankings herstellen könnte oder ob Listen und Rankings überhaupt auf eine gemeinsame Geschichte zurückblicken können. Listen sind Teil der Schriftkultur und können über eine ebenso lange Zeit zurückverfolgt werden, in denen sie kulturabhängig jeweils unterschiedliche Funktionen und Verwendungsweisen erfahren haben. Rankings tauchen dagegen erst mit neuzeitlichen Bewertungssystemen und der Mathematisierung von Listen als Wertsysteme auf. Als Grundlage der im Weiteren zentralen Überlegungen soll an dieser Stelle ein kurzer Überblick zur Mediengeschichte von Listen und Rankings präsentiert werden, auf dessen Grundlage die ersten Besonderheiten von Listen und Rankings in der Populärkultur hervorgehoben werden.

In der Populärkultur, so meine These, existieren Zusammenhänge in den Praxen und Verwendungsweisen von Listen und Rankings. In anderen historischen Abschnitten und mediengeschichtlichen Phasen lässt sich diese Nähe nicht immer nachvollziehen. Die Liste ist dabei sicherlich die ältere mediale Form und unmittelbar mit der Geschichte der Schriftentstehung verbunden. Dagegen sind Rankings ein eher neuzeitliches Phänomen, da unter anderem Messbarkeit und andere Formen der Quantifizierung eine entscheidende Voraussetzung für die Erstellung von Rankings sind. Qualitativ begründete Rangfolgen lassen sich aber auch schon früher feststellen, indem beispielsweise die Bedeutung von politischen oder künstlerischen Personen kulturell eingeordnet wird oder eine Liste mit den bedeutendsten Bauwerken, den so genannten »Weltwundern« (Brodersen 2007), erstellt wird.

Wie schon die genannten Beispiele zeigen, müsste eine Mediengeschichte von Listen und Rankings die verschiedenen Kontexte ihrer jeweiligen Erstellung berücksichtigen. Da ich mich auf den Kontext der Populärkultur und ihrer Entstehung seit dem 19. Jahrhundert konzentriere, möchte ich zuerst den bisherigen mediengeschichtlichen Forschungsstand in beispielhaften Schlaglichtern skizzieren. Danach wird die Liste als übergreifende mediale Form charakterisiert, um am Ende dieses Kapitels auf erste populärkulturelle Verwendungsweisen einzugehen.

LISTEN AUS ANTHROPOLOGISCHER PERSPEKTIVE

Wie bei vielen fundamentalen Kulturtechniken1 kann die Geschichte der Erstellung und Nutzung von Listen in Kommunikation und Medien nicht lückenlos dargestellt werden. Mit einigen Hinweisen auf grundlegende Forschungen, die in der Literatur immer wieder zitiert werden, möchte ich erste Perspektivierungen der Liste für die weiteren Überlegungen vornehmen.

Aus den kulturanthropologischen Forschungen von Jack Goody und Ian Watt kann gefolgert werden, dass schon frühe orale Kulturen Listen als mnemonische Muster zur Organisation kollektiver Erinnerung in Ritualen genutzt haben (Goody 1977: 81; Goody/Watt 1986: 69). Dazu passende aktuelle und historische Beispiele sind Genealogien, die im individuellen Gedächtnis als Listen erinnert und weitergegeben werden. Der Abgleich der subjektiven Erinnerung vieler sorgt für die Korrektheit des kollektiven Gedächtnisses und die Liste ist neben Musik oder Erzählungen ein Scharnier zwischen individueller und kollektiver Gedächtnisleistung (Goody/Watt 1986: 68f.). Die Liste hat dann nicht die Funktion historische Ereignisse korrekt wiederzugeben, sondern bildet eine in den oralen Kulturen notwendige Rahmung dessen, was ein Kollektiv aktuell auszeichnet (Goody/Watt 1986: 72). Deshalb sind diese Listen interpretationsbedürftig oder – sogar noch weitergehend – ermöglichen sie Anschlusskommunikationen, in denen sich der Zusammenhang einer Gemeinschaft konstituiert. Die Interpretationsbedürftigkeit und der Kontextualisierungsbedarf einer Liste können somit als ihre stärksten sozialen Funktionen bezeichnet werden.

Neben dieser wenig untersuchten Rolle der Liste in oralen Kulturen tauchen Listen häufig bei der Schilderung einer entscheidenden Schnittstelle der Mediengeschichte auf. In der Entstehung von Schriftsystemen werden sie als ein Zwischenschritt zur Schriftlichkeit angesehen (vgl. Belknap 2004: 8): »Lists […] are deeply embedded and implicated in the history of writing.« (Tankrad 2006: 340) In den meisten Publikationen wird die mesopotamische Keilschrift als Beispiel herangezogen und mit anderen Schriftsystemen verglichen (Goody 1977: 82). In der Archäologie werden mindestens drei voneinander unabhängige Ursprungsregionen erster Schriftsysteme unterschieden: 3200 v. Chr. im Nahen Osten, 1250 v. Chr. in China und 650 v. Chr. in Mittelamerika (Schmandt-Besserat/Erard 2008: 2222).2 Insbesondere die Schriftentstehung im Nahen Osten scheint durch Listen mitgeprägt. Was sich in Mesopotamien im vierten Jahrtausend vor Christus mit der Keilschrift auf Tontafeln entwickelt hat, waren Ziffern und Schriftsymbole, die zuerst Waren und Tiere inventarisierend erfassten. Bei unterschiedlichen Waren erhielten Listen eine buchhalterische Funktion im Handel. Für die Abwicklung des Warenverkehrs erlangten Listen Bedeutung in der Ökonomie der Sumerer. Daraus entwickelten sich abstrakte und konzeptuelle Listen, die Ideen und Begriffe inventarisierten: »a kind of inventory of concepts, a proto-dictionary or embryonic encyclopedia« (Goody 1977, 80). Goody betont die weitreichenden Funktionen von Listen für Ordnungs- und Wissensstrukturen in literalen Gesellschaften. Listen verändern sowohl die kognitiven Fähigkeiten von Individuen als auch die soziale Organisation. Im Anfertigen von Listen sieht auch Cornelia Vismann eine »Grundoperation jeder Verwaltung« (Vismann 2000: 20) In diesem Sinne sind sie mit Akten verwandt, die häufig Listen enthalten (wie zum Beispiel Inventarlisten). Daraus entwickelt Vismann eine Mediengeschichte der Akten als Machttechnologie, die unmittelbar mit der Mediengeschichte von Listen korreliert. Die administrative Funktion der Liste und damit verbundene mediale Formen werden in meiner Argumentation mehr im Kontext populärer Praxen thematisiert als im – ebenso interessanten – aber hier weniger relevanten Bereich von politischen und sozialen Machttechnologien. Das Listen-Machen wird zu einer (alltäglichen) Kulturtechnik, die in jeweils verschiedenen Medienumgebungen jeweils andere Funktionen erfüllt. Die Liste selbst erreicht als Artefakt den Status eines »immutable mobile«, wie es Bruno Latour beschreibt. Die Liste und das Listen-Machen sind Beispiele für ein »immutable mobile« bei Latour (1986: 16 und 20f.), weil sie – ähnlich wie Karten oder Fotografien – leicht zu transportieren sind und beim Transport sich nicht verändern (oder zumindest alles getan wird, dass dies nicht geschieht). Dazu kommt ihre einfache Reproduzierbarkeit. Listen sind zwar nicht das zentrale Beispiel bei Latour, aber sie erfüllen eine weitere Bedingung von »immutable mobiles«: »Since these inscriptions are mobile, flat, reproducible, still and of varying scales, they can be reshuffled and recombined.« (Latour 1986: 21) Listen können vermischt und neu kombiniert werden. Dies scheint bei Listen einfach zu sein, da die bloße Aufzählung oder Aufreihung der Gegenstände einen ersten Zusammenhang in einer Liste schon herstellt. Ihre mediale Form könnte demnach ein Kriterium ihres Erfolges und ihrer Durchsetzung als Kulturtechnik sein.

Zusammenfassend lassen sich aus den kulturanthropologischen Forschungen zur Liste folgende Perspektiven für die Liste und für das Listen-Machen festhalten: Listen sind Elemente oraler und literaler Erinnerungskulturen, sie verbinden kollektive und individuelle Erinnerungspraxen. Damit erlangen sie tragende Funktionen für individuelle und kollektive Wissens- und Ordnungssysteme, indem sie zum Beispiel als »immutable mobiles« Wissen und Ordnung speicher- und transportfähig sowie rekombinierbar machen. Da aktuelle Populärkulturen durchaus einen hohen Anteil an oraler Kultur aufweisen, die unter anderem individuelle Erinnerungen mit dem kollektiven Gedächtnis verbindet, lassen sich diese allgemeineren kulturanthropologischen Erkenntnisse an meine weiteren Überlegungen anschließen. Zuerst möchte ich aber auf einen Punkt zu sprechen kommen, der unmittelbar mit den vorherigen Ausführungen zusammenhängt: Was zeichnet die Medialität einer Liste aus? Diese Frage möchte ich mit Rückgriff auf die Bestimmungen der medialen Form von Listen versuchen zu beantworten.

LISTEN UND RANKINGS ALS MEDIALE FORMEN

Mit der kulturanthropologischen Sicht auf Listen hat sich gezeigt, dass eine essentialistische Bestimmung der Liste keinen Sinn machen würde. Im weiteren Verlauf meiner Argumentation wird sich zeigen, dass Listen und Rankings durch ihre Medialität jeweils spezifische Eigenschaften hervorheben oder eine bestimmte Effektivität für bestimmte Praxen erlangen. Diesem Zusammenspiel möchte ich in der Beschreibung und Analyse verschiedener medialer Formen von Listen nachspüren. Mit medialen Formen sind jeweils empirisch nachweisbare Erscheinungs- und Nutzungsformen gemeint (vgl. Kirwin 2010). Mediale Formen erfassen dann mehr als heuristische Bestimmungen von Listen, wie sie etwa Spufford für seine Suche nach Listen in literarischen Werken nutzt:

»a list was any sequence in which there were more than three items; and in which, as far as syntax was concerned, nothing other than sequence linked the items.«(Spufford 1989: 25)

Da es Spufford in seinem Buch um eine Sammlung von Listen in der Literatur geht, ist ihre mediale Form – in Werken der sogenannten Weltliteratur gedruckt – schon ein Kriterium der Aufnahme in seine Untersuchungen. Spuffords weiteres Kriterium – eine Liste zeichne sich dadurch aus, dass ihre Elemente durch ihre Aufreihung bestimmt sind – findet sich in Überlegungen zu Listen häufig wieder. Andere Definitionen wie die von Tankrad gehen von einem generellen Prinzip der Listenerstellung, einem Mechanismus der Inklusion und Exklusion aus: »A list is a written or printed series of names, dates, numbers, or items, gathered according to some need or principle.« (Tankrad 2006: 339)

Mit der Frage nach medialen Formen werden zwar solche Elemente einer Abgrenzung übernommen, aber auf die jeweiligen Kontexte und Praxen bezogen, so dass die weitere Annahme dieser Herangehensweise ist, dass die Liste nicht allein aus sich heraus erklärt werden kann. Listen-Machen bewegt sich in einem Kontinuum von Sammeln und Aussortieren, das abhängig von den Umwelten und Verwendungsweisen der Listen ist: »Some lists testify to an outcome, others present a process«, bemerkt Liza Kirwin (2010: 11) dazu lakonisch. Das Prozesshafte der Liste betont Kenneth Werbin, indem er auf das Wissen um die Erstellung einer Liste als Kunst des Zusammenstellens rekurriert (Lovink/Werbin 2006).

»The list is not a form easy to pin down«, deklariert Young (2013: 498) in seinem Versuch sie als »material form« zu fassen. Deshalb zählt er ihre vielfältigen Funktionen auf, die über verschiedene zeitliche Indizes von der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft verfügen: Speicher- und Archivfunktionen für vergangene Dinge, Kommunikationselement, kulturelle Formation und operationale Form des Schreibens im Gegenwärtigen sowie die Liste als Programm mit Blick in die Zukunft. Dazu kommen indexikalische, hierarchisierende und vergleichende Funktionen von Listen, die wiederum in Rankings als besondere Formen von Listen einfließen können (Young 2013: 498). Dieser funktionalistische Ansatz von Young umgeht die Frage nach dem Wesen und der eindeutigen Definition, was eine Liste ist. Daran möchte ich meine Überlegungen anknüpfen, aber im Unterschied zu Young nach den jeweiligen medialen Formen von Listen fragen. Dabei bleibt notwendigerweise die Frage offen: »Was ist eine Liste?«. Stattdessen bestimmen spezifische Verwendungsweisen und Medialitäten, die jeweils in beschreibbaren Kontexten wirksam sind, die Form von Listen.

Demnach verstehe ich unter medialen Formen bestimmte formale Besonderheiten und Gebrauchsweisen, die jeweils Listen auf eine spezifische Weise in einem Kontext kennzeichnen. Beispielsweise kennt die Geschichtsschreibung Chroniken seit dem Altertum, wie sie in der »Chronika« von Apollodor im zweiten Jahrhundert vor Christus ausgeführt ist. Chroniken können von einer Liste der Ereignisse über Verse bis zu ausschweifenden Beschreibungen reichen, die anhand von Jahreszahlen geordnet werden. Eine zweite Blütezeit erlebten Chroniken im Mittelalter. In dieser Zeit wurde die mediale Form kontextuell weiterentwickelt, so dass neben dem ›Weltgeschehen‹ auch Chroniken von berühmten Persönlichkeiten oder Familien geschrieben wurden. Diese mediale Form wird mit den ersten bürgerlichen Autobiographien in der Renaissance weitergereicht bis in die heutige Zeit, wenn Facebook ab 2012 die Chronik der jeweiligen Nutzerinnen und Nutzer in seine Oberfläche integriert.