Literacy - Sylvia Näger - E-Book

Literacy E-Book

Sylvia Näger

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Beschreibung

Sylvia Näger eröffnet einen besonderen Zugang zur Welt des Erzählens, Lesens, Deutens und Zuhörens und veranschaulicht, welche Lernchancen mit unterschiedlichen Literacy-Aktivitäten verbunden sind und wie diese bei Kindern im Alltag gefördert werden können. Jetzt in überarbeiteter Neuauflage, erweitert z.B, um das Thema Mehrsprachigkeit.

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Sylvia Näger

Literacy

Kinder entdecken Buch-, Erzähl- und Schriftkultur

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung:

Schwarzwaldmädel, Simonswald

Umschlagfoto: © Fotosearch

Fotos im Innenteil: Hartmut W. Schmidt, Freiburg

ISBN (E-Book) 978-3-451-80020-7

ISBN (Buch) 978-3-451-32438-3

Dieses Buch widme ich meiner Mutter.

Sie war die verlässlichste und liebste Vorleserin meiner Kindheit.

Durch ihre Leselust hat sie mir früh vermittelt,

dass Leben und Abenteuer, Fantasie und Weltwissen

in der Literatur zu finden sind.

Inhalt

Vorwort

1 Was ist Literacy?

Zum Begriff Literacy

Entwicklung früher Literacy-Erfahrungen

Welche Wege führen zu Literacy?

2 Mit offenen Ohren – Zuhören und Wahrnehmen

Sprachverstehen und Sprachbewusstsein

Akustische Wahrnehmungsspiele

3 Reim und Rhythmus – Speichermedien für Sprache

Rhythmus und Klang in Versen, Reimen und Gedichten

Reime in Bewegung

Gedichte in der Kita

4 »Noch eine Geschichte bitte!«

Vorlesen: erste Begegnungen mit Schrift- und Buchkultur

Die Stimme: das Kostüm des Vorlesers

Worauf es beim Vorlesen ankommt

5 Ein Bild vor Augen, eine Geschichte im Ohr

Lernchance Bilderbuch

Bilderbücher dialogisch lesen und betrachten

Bilderbücher als Texterfahrung

Textfreie Bilderbücher

Allererste Bilderbücher für Kinder unter drei Jahren

Wortlos sprachintensiv: Das Wimmelbuch

Sachbücher

Bildwörter-Bücher

Bilderbücher in zwei oder mehreren Sprachen

Illustrierte Liederbücher

6 »Und dann traf der Kobold das kleine Huhn«

Erzählimpulse im Kita-Alltag

Erfahrungen mit dekontextualisierter Sprache sammeln

Die Struktur einer Geschichte erfassen

Exkurs: Die Sprache der Märchen

Sprachanregende Rituale, Aktionen und Spielideen

Methodische Hilfsmittel für kleine Geschichten

7 Bilderbuchkino, auditive Medien, CD-ROM und Apps

Literale Anregungen durch audiovisuelle Medien

Wie Tonträger zum Sprechen motivieren können

CDs und Hörbücher selbst gestalten

Bilderbuchkino

Bilderbuch-Verfilmungen

Ein Film, der zum Erzählen anregt

CD-ROMs

Bilderbuch-Apps

8 »Ich bin der Kasper und du das Krokodil«

Spiel und Theater mit Bilderbuch, Buchstaben und Worten

Szenische Sprach-Spiele

Figurentheater, Finger- und Reimspiele

Ein Gedicht als Drehbuch

Literacy-Aktivitäten im Rollenspiel

9 Logos, Piktogramme, Bilderschriften …

Von Zeichen umgeben

Zeichen entdecken und erforschen

Eigene Zeichensysteme entwickeln

Noten – das Geheimnis schwarzer Punkte

Brailleschrift – Zeichen mit den Fingerspitzen lesen

Bilderschriften alter Kulturen

Experimentieren mit Bliss-Symbolen

Schriftzeichen unterschiedlicher Kulturkreise

10 Buchstaben, Worte und Sätze …

Kinder auf dem Weg zur Schrift

Die Stufen des Schreiblernprozesses

Für eine positive Fehlerkultur

Die Schreibmotorik erproben

Buchstaben entdecken

Den eigenen Namen schreiben

Worte schreiben und lesen

Anders schreiben

Schreibimpulse in Bilderbüchern

Schriftsprache als Thema im Bilderbuch

Comic-Figuren zum Sprechen bringen

Briefkultur

11 Ein literarisierendes Klima in der Kita schaffen

Der Buch- und Medienbestand

Nutzung und Präsentation

Die Rucksackbibliothek

Gemeinsame Rituale

Der Welttag des Buches

Die Buchausstellung

Die öffentliche Bibliothek

Literacy-Projekte

12 Auswahlbibliographie

Bücher und andere Medien für Kinder

Bücher zum Vorlesen

Kommunikativ sprachanregende Bilderbücher

Lyrik im Bilderbuch

Wimmelbücher

Sachbilderbücher

Bildwörter-Bücher

Bilderbücher in zwei oder mehreren Sprachen

Illustrierte Liederbücher

CDs:Hörspiele – Kino im KopfHörbücher – Vorlesen lassen

Lyrik für Kinder: Anthologien und CDs

Bilderbuchkino

Bilderbuch-DVDs

CD-ROMs – Softwaretitel für Kinder

ABC-Bücher

Brief- und Buchkultur in der erzählenden Kinderliteratur

Fachliteratur

Vorwort

mein ABC

Ich lernte lesen auf Leibnitz Keksenund füttertedie Lieblingspuppemit warmerGroßbuchstabensuppe.Ich schrieb deinen Namenaus Russisch-Brotund aß dich auf.Aus Hungersnot.

la_paula

Diese Lyrik, verfasst von einer jungen Frau, vermittelt: Literacy hat ihre Wurzeln tief in den Tagen unserer Kindheit.

Ein literarisches Klima in der Kita weist Kindern den Weg zu Sprache, Schrift und Lesen – das Aufwachsen mit Geschichten, Büchern und intensiver sprachlicher Interaktion trägt maßgeblich dazu bei, Kinder in ihrer Sprach- und Literacy-Kompetenz zu stärken. Erzieherinnen und Erzieher sind die Lotsen auf dem Weg zur Sprache und in die Bücherwelt.

Kinder brauchen anregende Begegnungen mit Schrift und Zeichen, die die Welt bedeuten; sie brauchen alle Arten von Büchern und Printmaterialien. Und vor allem brauchen sie zuverlässige Vorleserinnen und Vorleser, die für sie die schriftliche Sprache in eine mündliche zurückverwandeln und sie motivieren, die Bedeutung von Geschichten gemeinsam sprachlich auszuhandeln.

Kindern frühzeitig eine literarisch anregende Umgebung zu bieten, sie zu Lesefreude und Lesemotivation zu führen bedeutet, ihre Bildungschancen mitzugestalten und stellt einen Beitrag zur Sprach- und Lesekultur unserer Gesellschaft dar.

Vor diesem Hintergrund vermittelt dieses Buch das Wesen des Begriffs Literacy, indem es aufzeigt, dass ein sprachlich reflektiertes und literal geprägtes Klima in der Tageseinrichtung Kinder unterstützt, die Struktur der Sprache zu lernen und erfolgreich anwenden zu können. Es zeigt die Verbindungswege zwischen der gesprochenen Sprache und der geschriebenen Sprache auf und unterstreicht die Bedeutung, Kindern früh den Zugang zur Schrift- und Buchkultur zu eröffnen. Dabei wird deutlich, dass die Ermöglichung einer frühen Begegnung mit Schriftsprache Bestandteil sprachlicher Bildung ist und keine Frühalphabetisierung bedeutet.

Da drei- bis sechsjährige Kinder auf ihre Art großes Interesse an Lesen und Schrift zeigen und der Schriftspracherwerb ein Entwicklungsprozess ist, der bereits lange vor der Einschulung beginnt, ist es wichtig diese frühe Motivation aufzugreifen. Im Vordergrund stehen dabei das individuelle Interesse an Zeichen und Schrift und der kreative und spielerische Zugang zum Schreiben.

Große Bedeutung kommt dabei der entwicklungsgemäßen Gestaltung dieser im Alltag integrierten Bildungsaufgabe zu. Erlernen Kinder Deutsch als Zweitsprache, brauchen sie eine Sprach- und Literacy-Bildung, die ihre Situation mit einbezieht. Wie dabei mit intensiven lyrischen Erlebnissen und erstsprachlichen Literaturerfahrungen eine Wertschätzung der Erstsprachen vermittelt werden kann, wird ebenfalls in den Blick genommen.

Frühe Erfahrungen mit unterschiedlichen Facetten von Lese-, Erzähl- und Schreibkultur fordern Kinder heraus, sich selbst als sprechende, zuhörende, erzählende, lesende und schreibende Person zu erleben. Das Buch vermittelt die Vielfalt der Methoden und die Bedeutung qualitativ hochwertiger Materialien, die Kindern anregende Erlebnisse mit Sprache und Literacy ermöglichen.

Wenn sich Kinder und Erwachsene gemeinsam mit Freude und Forschergeist auf den Weg zu Sprache und Schrift machen, sind dies beste Voraussetzungen dafür, dass sprachliche Bildung und Literacy in allen Bildungsbereichen gelebt und erlebt wird.

Freiburg, im April 2013

Sylvia Näger

In diesem Kapitel erfahren Sie

welche Grundfertigkeiten und Fähigkeiten unter Literacy zu verstehen sindwie sich frühe Literacy-Erfahrungen entwickelnwelche Aspekte Literacy-Erziehung in Kindertageseinrichtungen beinhaltet

Zum Begriff Literacy

Eine Schlüsselqualifikation, die auch im Zeitalter der elektronischen Medien unverzichtbar ist, ist die Fähigkeit, durch Sprache und Schrift zu kommunizieren. In der aktuellen Diskussion wird diese Kompetenz als »Literacy« bezeichnet.

Der englische Begriff »Literacy« meint im engeren Sinne die Kompetenz, lesen und schreiben zu können. Im weiteren Sinne gebraucht, bezieht er alle Erfahrungen und Grundfertigkeiten rund um Erzähl-, Sprach- und Schriftkultur mit ein. Was sind das für Grundfertigkeiten? Nach Ulich (2008) handelt es sich dabei um Fähigkeiten »wie Textverständnis und Sinnverstehen, sprachliche Abstraktionsfähigkeit, Lesefreude, Vertrautheit mit Büchern, die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken, die Vertrautheit mit Schriftsprache oder mit ›literarischer‹ Sprache oder sogar Medienkompetenz.«

Diese Fähigkeiten entwickeln sich in den ersten Lebensjahren. Manche Kinder hören schon früh eine Gutenachtgeschichte, leben aber (vielleicht als Einzelkind) in einem relativ schweigsamen Haushalt. Andere Kinder sind stets von Sprache umgeben, Geschichtenerzählen gehört zum familialen Alltag. Schriftsprache hat dagegen allerdings keine Bedeutung –, dass man Botschaften und Nachrichten auf Zetteln oder in Briefen notieren kann, gehört nicht zu ihrer Erfahrungswelt. In anderen Familien kommt täglich eine Zeitung ins Haus, aber über diese Buchstabenseiten wird nicht gesprochen. Ankommende E-Mails oder eine SMS prägen die Stimmung in einigen Familien, ohne dass die Kinder wissen, warum. Wenn ein Kind mit drei Jahren fröhlich das McDonald’s Logo erkennt, sind einige Eltern erfreut, andere nicht. All dies sind Literacy-Erfahrungen, die Kinder in der frühen Kindheit machen. Erfahrungen mit Sprache, Schrift und Bildern – und jede dieser Erfahrungen bildet einen Mosaikstein bei der Entwicklung der Schreib- und Lesefähigkeit.

Entwicklung früher Literacy-Erfahrungen

Kinder lernen lange vor dem Schuleintritt sehr viel über das Schreiben und Lesen, indem sie beobachten, welchen Stellenwert Reden, Schreiben, Lesen, das Festhalten von Informationen in ihrer Umgebung haben. Nach Haug-Schnabel und Bensel (2011, S. 50) handelt es sich dabei um sensible Phasen für bestimmte Entwicklungsvorlieben, in denen Kinder auf der Suche nach Entwicklungsanreizen sind. Es sind vielfältige, frühe Erfahrungen in unterschiedlichsten Bereichen. Bereits im Säuglingsalter sammelt das Baby erste Erfahrungen, z.B. wie die Bezugspersonen auf seine Artikulationen, auf sein Schreien oder Lächeln, reagieren – mit einem Schnuller oder eben mit sprachlicher Zuwendung.

Aus welchem Grund aber werden Schriften und Zeichen im weiteren Entwicklungsverlauf für Kinder so interessant? Haug-Schnabel und Bensel (a.a.O.) verweisen als Antwort auf diese Frage auf den Film »Ins Schreiben hinein« von Donata Elschenbroich. Demnach begeben sich Kinder an vielen Orten auf Spurensuche nach Symbolen und Zeichen:

»Ein Grund wird sein, dass vier bis fünf Jahre Sozialisation dem Kind gezeigt haben, dass es sich lohnt, Informationen festzuhalten, damit sie längerfristig zur Verfügung stehen, auch wenn der Informant gerade nicht präsent ist« (a.a.O., S. 113). Ein weiterer Grund für das starke Interesse an Zeichen und Symbolen besteht darin, dass Kindern die Bedeutung von Schrift, Zeichen und Symbolen als Mittel des Miteinanderkommunizierens deutlich wird. »Schrift wird somit als Möglichkeit verstanden, sich austauschen und etwas weitergeben zu können. Diese Stufe der kindlichen Entwicklung rekapituliert wohl die Entstehung der Schriftlichkeit im Laufe der Menschheitsgeschichte« (a.a.O., S. 51).

Erste schriftliche Begriffe werden von Kindern zunächst bildhaft dargestellt. Zu einem späteren Zeitpunkt wählen sie für ihre Vorstellungen abstrakte Zeichen, die der jeweiligen Kultur entsprechen (a.a.O., S. 50). Die Bezugspersonen sollten in dieser Phase die besonderen Schriftzeichen der Kinder akzeptieren und keine Korrekturen vornehmen, zumal es nicht um starre Lernprogramme oder korrekte Schreibweisen geht, sondern um die Förderung des kindlichen Interesses an Schrift und Sprache. Kinder profitieren von kompetenten Schriftnutzern, die im Alltag selbstverständlich mit Schrift umgehen, die ihnen ermöglichen, ihre Beobachtungen und Feststellungen zu erproben und Gelegenheit geben, die Funktionen und die Struktur der Schrift zu entdecken.

Besonders unterstützend wirken sich auch körperliche Nähe und Zuwendung auf die Lernmotivation des Kindes aus. Das Bilderbuch ist das Medium, bei dem Kinder erste Erfahrungen mit der Lese- und Schriftkultur sammeln, und ermöglicht sensible Zugewandtheit und körperliche Nähe beim Vorlesen und Betrachten der Bilder. Nach Ulich (2003, S. 10) handelt es sich hier um eine besondere Form des Dialogs – vom einfachen Benennen der sichtbaren Gegenstände über Beschreibungen, Umschreibungen, die Herstellung von Zusammenhängen zwischen Bildern und Textstellen bis hin zu Deutungen und der Darstellung persönlicher Sichtweisen. Diese Form des Dialogs zwischen Kind und Erwachsenem ermöglicht eine spezifische Erzählsituation, in der das Zwiegespräch und die Beziehung im Mittelpunkt stehen: Es geht um das Formulieren und das Nachdenken über Zusammenhänge, das Präzisieren von Gemeintem und nicht zuletzt um den kreativen Umgang mit Sprache. Gemeinsam mit anderen die Bedeutung von Texten und Bildern auszuhandeln ist eine Kommunikationsform, die Kinder im Umgang mit Literatur erfahren. Je selbstverständlicher sie erleben, dass Bücher, Zeitungen und alle Arten von Printmedien genutzt werden, dass Schrift und Sprache als Kommunikationsmittel bedeutsam sind, desto mehr werden sie sich für die Welt der Buchstaben interessieren und ihre eigenen Erfahrungen machen wollen.

Frühe Literacy-Erfahrungen unterstützen Kinder zudem in der Entwicklung ihrer phonologischen Bewusstheit – nach Kammermeyer (2004) eine wichtige Vorläuferfähigkeit für den Schriftspracherwerb in der Grundschule. »Unter phonologischer Bewusstheit versteht man die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit von der Bedeutung einer Mitteilung abzuwenden und auf den formalen Aspekt der Sprache zu lenken. Sie zeigt sich in der Fähigkeit, Wörter in Silben zu gliedern (z.B. Gi-se-la), Reime zu erkennen (z.B. Kanne–Tanne–Wanne–Wald), Laute herauszuhören (z.B. Michael beginnt mit M).«

Die phonologische Bewusstheit ist somit eine Voraussetzung für den Erwerb der Schriftsprache, denn Schreiben ist die Umwandlung gesprochener Laute in Schriftzeichen, und Lesen erfordert es, Schriftzeichen in Laute umsetzen zu können.

(nach: Nickel 2010)

Welche Wege führen zu Literacy?

Blickt man in die Geschichte der Elementarpädagogik zurück, lässt sich unschwer erkennen, dass es schon immer ein Ziel war, Kindern den Umgang mit Sprache und Schrift zu ermöglichen: Friedrich Fröbels Sicht der frühkindlichen Entwicklung beinhaltet Anregungen zur Sprachpflege. Maria Montessori sieht einen wesentlichen Grundsatz in der Spracherziehung. Sie fordert, Sprache in Verbindung mit konkreten Handlungen zu vermitteln. Die Schreib- und Leseerziehung Montessoris ist bekannt geworden – literale Erziehung ist hier ein selbstverständlicher Bestandteil der Sprachbildung.

Spielerischer und selbstbildender Zugang des Kindes

Bilderbuchbetrachtung, Vorlesen, intensive Kommunikation mit den Kindern – all das gehört heute in vielen Kindertagesstätten ganz selbstverständlich zum Alltag dazu, sodass die Frage aufkommen könnte, ob der Begriff »Literacy« nicht nur ein neuer Name für bewährte und altbekannte sprachfördernde Praktiken ist?

Die Auseinandersetzung mit der sprachlich-literalen Bildung und der Entwicklung der Schriftsprachkompetenz von Kindern ist ein zentraler Aspekt im Bildungsauftrag des Kindergartens. Erkenntnisse der Lernforschung aber auch der Hirnforschung haben deutlich gemacht, wie wichtig es ist, frühkindliche Bildungsprozesse anzuregen. Eine der Schlüsselqualifikationen, die Kinder zukünftig benötigen werden, ist die Lesekompetenz. Als Schlüsselqualifikation wird das Lesen auch in den PISA-Studien bezeichnet. Lesen, so machten die Studien deutlich, ist auch in der multimedialen Welt das Medium, um Ziele zu erreichen, Wissen zu erweitern, Lösungen zu finden und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Deutschlands Schülerinnen und Schüler haben im Bereich der Lesefähigkeit ein schlechtes Zeugnis ausgestellt bekommen – und auch im Bereich der Lesemotivation sind sie auf den hinteren Rängen: 43 Prozent der untersuchten Jugendlichen gaben an, nicht aus Freude zu lesen, sondern nur, wenn es denn eben sein muss.

Doch wann geht diese Freude verloren? Denn Kinder zeigen bereits ab dem dritten Lebensjahr enormes Interesse an Zeichen, Schrift und (Vor-)Lesen. Die Bildungspläne und -empfehlungen, die die Umsetzung des Bildungsauftrags im elementarpädagogischen Bereich festschreiben, greifen dieses kindliche Interesse auf und formulieren Ziele der sprachlich-literalen Grundbildung.

In Tageseinrichtungen bieten sich viele Möglichkeiten, die sprachliche Bildung und die Heranführung der Kinder an schriftsprachliche Kompetenzen durch vielfältige Arrangements in lustbetonte und angemessene Lernerfahrungen umzusetzen. Ein literales Klima, die Integration literaler Grunderfahrungen und eine sprachlich stimulierende Umgebung sichern Kindern einen spielerischen und selbstbildenden Zugang zu Literacy. Literacy-Erziehung in Kindertageseinrichtungen ist alltägliche Bildungsarbeit und beinhaltet:

Die pädagogische Fachkraft als Entwicklungsbegleiterin

In der Kita gilt es, Methoden und Materialien zu integrieren, die Kinder in der Entwicklung ihrer Sprachkompetenz anregen, das Interesse und die Begeisterung an Zeichen, Schrift und Vorlesen bei Kindern und Eltern zu fördern und damit die Lust an Geschichten und die Liebe zu Büchern zu wecken.

Einige Kinder machen solche Erfahrungen bereits zu Hause, andere erst in der Kindertagesstätte. Literacy-Erfahrungen sind Lernchancen – und je umfassender und vielfältiger sie gestaltet werden, desto besser. Damit Kinder Lust und Spaß an der Kultur rund um Sprache und Schrift und ihre literale Kompetenz von klein auf entwickeln können, ist eine punktuelle Literaturnutzung nicht ausreichend. Für Kindertagesstätten – insbesondere für die Aufgabe der Erzieherinnen und Erzieher – bedeutet das, dass es mit einer wöchentlichen Vorlesestunde nicht getan ist: Literale Erfahrungen müssen vielfältig und alltagsintegriert sein, damit Kinder die Chance haben, ihren individuellen Bedürfnissen entsprechende Sprach-, Schrift- und Lesekompetenzen zu entwickeln. Insbesondere Kinder aus bildungsfernen Milieus oder aus Familien mit Migrationshintergrund sind auf eine Literacy-Erziehung im Kindergarten angewiesen, die der Buchkultur und dem Vorlesen einen zentralen Stellenwert beimisst. »Kinder unterscheiden sich sehr in ihren Literacy Erfahrungen. Je nach Situation in der Familie, sozio-kulturellem Umfeld und Betreuungssituation können Literacy-Erfahrungen für Kinder intensiv und vielfältig sein, während sie für andere Kinder eher beiläufig und sporadisch bleiben. Im Bereich von Sprache und Literacy gibt es eine große Diskrepanz zwischen sogenannten ›privilegierten‹ Kindern und weniger privilegierten Kindern, eine große Chancenungleichheit – bezogen auf das herrschende Bildungssystem« (Ulich 2008, S. 88).

Aufgabe von Erzieherinnen und Erziehern ist es nun, durch die Ermöglichung von Literacy-Erfahrungen, wie z.B. bei Bilderbuch- und Buchbetrachtungen, mit Reimen, beim Erzählen oder bei Schreibaktivitäten, allen Kindern den Zugang zu Sprache und Schrift zu ermöglichen. Bildungs- und Erziehungsaufgaben erfordern, dass pädagogische Fachkräfte über ein weites und vielfältiges Wissen über die Bücherwelten verfügen und lebendige Erlebnisformen von Literacy organisieren können. Wortschatzerweiterung, Sprachgedächtnis und Sprachverstehen mittels Bilderbüchern zu fördern liegt nahe, genauso selbstverständlich muss es allerdings auch sein, die Förderung von Medienkompetenz sowie ästhetische und spielerische Erfahrungen mit dem Bilderbuch und literarischen Texten zu verknüpfen. Impulse und Anregungen dazu möchte ich Ihnen mit dem vorliegenden Buch geben.

Literacy-Erziehung benötigt eine anregend gestaltete Umgebung mit vielfältigen Materialien. Wichtig sind natürlich Bücher – in allen Formen, für alle Altersstufen und für die Kinder jederzeit griffbereit. Wichtig sind allerdings auch Anregungen durch kulturelle Materialien, in denen sich Schriftlichkeit in all ihren Funktionen zeigt. Dazu gehören z.B.:

▶  Baupläne, Architekturzeichnungen, Stadtpläne, Landkarten, Atlanten

▶  Plakate von Kunstausstellungen

▶  Brailleschrift-Zeichen, Chinesische Schriftzeichen, Symbolzeichen, Ägyptische Schriftzeichen, Bliss-Symbole

▶  Abbildungen von Wappen, Flaggen, Logos

▶  Schreibutensilien, sinnliche Schreibmaterialien wie Pinsel, Kohlestifte, Gänsefedern und Tinte, chinesisches Tusche-Set, Bambusfeder

▶  Anlauttabelle, ABC-Plakate, Abbildungen unterschiedlichster Schriftzeichen, Bücher über Schrift und Zeichen

▶  ABC-Sätze aus Holz, Schreibmaschine, Buchstabenstempel, Lego-Buchstaben-Set, Magnetalphabet, Alphabet-Sockentiere

▶  Material, das zu graphomotorischen Schwungübungen anregt

▶  Tacker, Locher, Stempel, Stempelkissen, Büroklammern, Memohalter, Magnettafel mit Magneten, Taschenrechner, Lineal

▶  Schreibpapier, Hefte, Notizquader, Klebezettel, Adressaufkleber, kleine Bestellblöcke, Terminkalender, Quittungsblöcke, Formulare, Ordner

▶  Briefkuverts, Luftpostkuverts, Luftpostaufkleber, Briefmarken, Postkarten, Grußkarten

Es ist ein langer Weg vom ersten Interesse an Bildern und Buchstaben über das Lesen- und Schreibenlernen bis hin zum Verstehen unterschiedlicher Texte aus Büchern, Zeitungen oder digitalen Medien. In der Tageseinrichtung können Sie Kinder zu Beginn dieses faszinierenden Wegs begleiten und unterstützen – und das kann ein lustvoller, engagierter und in den Alltag integrierter Prozess sein.

In diesem Kapitel erfahren Sie

welche Teilleistungen Zuhörkompetenz erfordertwie Sie Kinder in der Entwicklung ihrer Hörfähigkeiten unterstützen könnenwas phonologische Bewusstheit ausmachtwie Sie die Aspekte phonologischer Bewusstheit alltagsintegriert im Sprachspiel aufgreifen können

Sprachverstehen und Sprachbewusstsein

Sprache ist der Schlüssel für Kommunikation und Bildung. Der Sprache mächtig zu werden, sie zu erlernen, ist ein äußerst komplexer Prozess, den Kinder in den ersten Lebensjahren enorm schnell durchlaufen. Mit fünf Jahren verfügen sie bereits über einen Wortschatz von 5.000 bis zu 26.000 Wörtern. Der Prozess des Spracherwerbs verläuft bei jedem Kind unterschiedlich – viele kleine Schritte und Etappen sind auf diesem Weg zu meistern. Meistens gelingt dieser Prozess »ganz von selbst«, wenn auch heute immer häufiger Sprechstörungen bei Kindern zu beobachten sind.

Grundsätzlich haben alle Kinder ein natürliches Interesse am Sprechen, an der Sprache. Allerdings weiß man heute, dass Kinder, die in einer »gesprächigen« Umgebung aufwachsen, einen größeren Wortschatz haben als Gleichaltrige mit eher »schweigsamen« Bezugspersonen.

Der Spracherwerb wird angeregt durch kommunikative Situationen in vielfältigen Handlungszusammenhängen. Kinder setzten sich aktiv und neugierig mit ihrer Umwelt auseinander – und zwar von Anfang an, denn die Sprachentwicklung beginnt lange vor dem ersten Wort, das ein Kind spricht. Säuglinge beobachten die Mimik und Gestik ihrer Bezugspersonen und reagieren darauf. Diese nonverbalen Kommunikationsformen, das allmählich wachsende Verständnis von Signalen, die über Körper und Gesicht gesendet werden, sind zentraler Bestandteil der Sprachentwicklung. Ebenso wichtig sind akustische Signale: Die gesprochene Sprache, ihren Klang und Rhythmus nimmt das Kind bereits im Mutterleib wahr. In den ersten Wochen reagieren Säuglinge auf Töne und Geräusche, bevor sie mit drei Monaten selbstständig Laute modulieren. Über das Ohr werden (Sprach-)Laute aufgenommen, zum Gehörnerv weitergeleitet und im Hör- und Sprachzentrum des Gehirns entschlüsselt. So entwickelt das Kind im Dialog mit seiner Umwelt allmählich seine (sprachlichen) Kompetenzen, »ausgestattet mit einem reichen Verhaltensrepertoire zum sozialen Austausch sowie mit einer fast grenzenlosen Lernkapazität – vorausgesetzt, die ›Umwelt‹ bietet die für einen Erfahrungsgewinn nötigen Sinneseindrücke liebevoll zugewandt und angemessen« (Haug-Schnabel/Bensel 2011, S. 34).

Kinder brauchen Menschen, die ein ernsthaftes Interesse daran haben, was sie fühlen, denken und sprechen. Sie brauchen Bezugspersonen, die ihnen zuhören, die sie aussprechen lassen. Das heißt: Grundvoraussetzung für alle sprachbewussten Aktivitäten in der Kindertagesstätte sind »offene Ohren« – das gilt für die Kinder genauso wie für die sie betreuenden Erwachsenen.

Der Gehörsinn gehört, neben dem Tastsinn, zu den Sinnen, die am frühesten ausgebildet werden. Die Wahrnehmung und Verarbeitung von akustischen Sinnesreizen umfasst eine Vielzahl relativ komplizierter Vorgänge:

▶  Auditive Aufmerksamkeit: die Fähigkeit, hinzuhören, zuzuhören, zu lauschen – sich konzentriert Hörreizen zuzuwenden

▶  Auditive Lokalisation: die Fähigkeit, zu erkennen, aus welcher Richtung der Hörreiz kommt

▶  Auditive Figur-Grund-Unterscheidung: die Fähigkeit, »wichtige« von »unwichtigen« Hörreizen zu unterscheiden, z.B. in einem Raum mit hohem Geräuschpegel die Stimme der Mutter zu erkennen

▶  Laute erkennen und unterscheiden: Die Sprachentwicklung beginnt nicht mit dem ersten Wort, sondern mit dem Erkennen von Lauten

▶  Gehörtes erinnern: Ein Hörreiz wird nicht automatisch gespeichert, man muss sich an Gehörtes erinnern; ideales und von Kindern viel geliebtes Hilfsmittel ist der Reim

▶  Gehörtes inhaltlich einordnen: Geräusche, Gehörtes können wir erst verstehen, wenn wir es einem Sinn zuordnen können.

Akustische Wahrnehmungsspiele

Im Folgenden möchte ich einige »akustische Wahrnehmungsspiele« – förderlich im Hinblick auf die Sprach- und Sprechkompetenz – vorstellen. Auf eine Altersangabe habe ich hier verzichtet, denn grundsätzlich sind alle Kinder »gute Hörer« (sofern keine organischen Beeinträchtigungen vorliegen). Sie haben Lust, spielerisch zu hören und zu lauschen und mit der Sprache zu spielen. Jedes Kind bringt jedoch unterschiedliche Vorerfahrungen mit, hat unterschiedliche Anregungen oder Herausforderungen in diesem Bereich erfahren. Das bedeutet, dass die Angebote individuell und situativ angemessen zum Einsatz kommen sollten.

Auditive Aufmerksamkeit

Hörmemory

24 kleine, fest schließende Döschen werden paarweise mit sehr unterschiedlich klingenden Materialien gefüllt: z.B. mit zerschnittenen Gummibändern, Reiskörnern, Streichhölzern, kleinen Nägeln, Stecknadeln, getrockneten Erbsen, Zucker, Holzperlen, handgemachtem Papierkonfetti aus dem Locher. Die Kinder ordnen die passenden Geräuschpaare einander zu und können anschließend selbst mithilfe der gleichen Markierung am Dosenboden die Richtigkeit überprüfen. Eine Spielvariante besteht darin, die Geräusche in der Reihenfolge von leise nach laut zu ordnen.

Flüsterrohr