Literatur und Kunst - Prof. Dr. Alfred Biese - E-Book

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Prof. Dr. Alfred Biese

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Beschreibung

Die 1914 im Original veröffentliche Reihe "Deutschland unter Kaiser Wilhelm II." gehört zu den umfangreichsten historischen Abhandlungen über die Entwicklung und den Aufbau des Kaiserreiches. Hier in einer Wiederauflage von insgesamt acht Bänden vorliegend, umfasst das Werk auf fast 2000 Gesamtseiten Beiträge der wichtigsten Koryphäen ihrer Zeit zu relevanten Themen. Dies ist Band 4, der die Literatur, die schönen Künste (Baukunst, Malerei, Kunstgewerbe), Musik und Theater behandelt.

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Literatur und Kunst

 

Deutschland unter Kaiser Wilhelm II.

 

Band 8

 

 

 

 

 

 

 

Deutschland unter Kaiser Wilhelm II., Band 8

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

 

ISBN: 9783849663216

 

Quelle: https://de.wikisource.org/wiki/Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II. Der Text folgt dem 1913/1914 erschienen Werk und wurde in der damaligen Rechtschreibung belassen.

 

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

 

 

INHALT:

Die Literatur1

Malerei und Plastik. 25

Das Kunstgewerbe. 49

Deutsche Musik. 65

Theater82

Das öffentliche Leben. 117

Rückblick und Ausblick. 167

 

Die Literatur

 

Von Prof. Dr. Alfred Biese, Direktor des Kgl. Kaiser-Friedrichs-Gymnasiums in Frankfurt a. M.

 

Wir wollen 25 Jahre überschauen. Was ist ein Vierteljahrhundert im Strome der Jahrtausende? Eine Welle, die auf und nieder sinkt. Aber auch eine Welle ist eine Welt für sich, aus Milliarden von Wasserteilchen zusammengesetzt und Tausende von Lebenskeimen und Lebenswesen in sich bergend. Und auch die Welle spiegelt die Sonne, spiegelt Mond und Sterne wider.

 

Kunst und Leben.

 

Kunst ist Form, Kunst ist Seele; Seele aber ist nicht bloß Anschauung und Gefühl und Phantasie, sondern auch Wille und Charakter, der sich auf eine Weltanschauung, auf eine ethische Stellungnahme des einzelnen zum Weltganzen gründet. Denn so sehr die Kunst auch ihre Selbständigkeit gegenüber den anderen geistigen Mächten wahren muß, so geht sie doch in die Irre, wenn sie sich voraussetzungslos auf sich selber stellt und den Mittelpunkt des ganzen Lebens bilden will; das schränkt nicht nur das Leben ein, sondern verflacht auch die Kunst; diese muß der Welle gleich die ewigen Sterne der Ideale widerspiegeln; sie darf nicht zu einer mechanischen Nachbildung, nicht zu einer bloßen Bewegung der Kräfte, zu einem Spiel von Eindrücken werden, die man ohne Hinblick auf ein Ganzes des Lebens empfängt und gestaltet, und das Leben selbst darf nicht in einzelne Augenblicke zerflattern und zerstieben, sondern es erheischt geistige Zusammenfassung und Bewältigung. Das künstlerische Schaffen muß ein Niederschlag des ganzen Menschen, nicht des bloß künstlerischen Vermögens sein, eine Erhöhung des Lebens aus allen Kräften der Seele heraus. Wenn nur die eine oder die andere, wenn bald die sinnliche Erfassung der Umwelt, bald die Schwingung der eigensten Innerlichkeit vorwaltet, dann wird sich ein Vollendetes, ein Dauerndes nicht gestalten.

Die Dichtkunst als der mehr oder weniger getreue Abdruck des äußeren und inneren Lebens einer Zeit wird der Einheitlichkeit entraten, wenn diese selbst in ihrer ganzen Kulturbewegung unausgeglichen und brüchig, nervös und problematisch ist. Wie ein wirres Chaos mag dem oberflächlichen Beobachter das Schaffen der Gegenwart erscheinen, das keine Richtung, sei es vom Idyllischen bis zum Barocken, vom Schlicht-Gesunden bis zum Perversen und Pathologischen, vom Impressionismus bis zum romantischen Symbolismus unvertreten sein läßt. Hier wird die Beziehung zum Volk und die Verjüngung der Kunst durch die innigste Berührung mit dem Volkstümlichen gepflegt, und dort stellt sie sich nur auf ihr eigenes, frei schwebendes, aus eigenen Mitteln schöpfendes Vermögen. Auf der einen Seite sehen wir Dichter aus dem Born heiterer Lebensfreude trinken, aus den Tiefen deutschen Gemütes voll Sinnigkeit und Glaubensinnigkeit schürfen, auf der anderen werden unsere Sinne und Nerven gepeitscht, wie von Straußscher Musik oder Reinhardts Bühnenkunst oder dem Hexensabbat der Kinos. Talente erblühten allüberall in den verschiedensten Formen und Abstufungen der Dichtung, aber das erlösende, bahnweisende Genie fehlt ebenso wie auch sonst die harmonisch geschlossene, geistige Erfassung der Weltzusammenhänge. Brennende Sehnsucht durchzieht die Fülle all der rastlosen Arbeit und die Fülle spielerischer Träume, in denen dekadentes, sich selbst genießendes Ästhetentum sich wiegt. Gewannen Wissenschaft und Technik immer mehr die Herrschaft über Raum und Zeit und Naturkräfte, so eroberte die Poesie doch nicht minder neue Stoff-Gebiete. Die Welt der Großstadt in allen ihren Licht- und Schattenseiten, die Welt der Industrie, der Maschine, aber auch der Natur in ihren geheimsten Licht- und Farbenreizen und in der winterlichen Pracht ihrer Berge, die Seelenwelt des Kindes, die feinsten Abstufungen des Bewußten und Unbewußten, ja des Unter- und Überbewußten, die dunklen Trieblabyrinthe, eine Unzahl von Problemen sozialer und ethischer Art. Wer möchte bei der Fülle anstürmender Fragen, von denen die Dichter überwältigt wurden, schon so bald Sieg und Klarheit erwarten und fordern? Wer möchte andrerseits den Fortschritt verkennen, der in der Wandlung der Sprache, in der Kunst, sie jeder Stimmung anzugleichen und den tiefsten Empfindungen Ausdruck zu leihen, sich kundgibt? Man sucht Eigenstil und ringt damit, auch die Sprache als eigene Macht in sich zu erleben.

In einer Zeit, wo alles in die Weite und Breite, weniger in die Tiefe strebt, wo die Daseinsbedingungen soviel schwieriger und verwickelter geworden sind, werden die Menschen seltener, die abseits von dem wilden wirtschaftlichen Kampfe und allem Hasten und Jagen stehen, die sich bei bescheidenem Auskommen den höchsten Luxus gönnen, eine dem Ideal dienende Seele zu haben, ja man möchte manchmal wähnen, es werde kälter und unwirtlicher auf unserer Erde, seit ihr diese beseelteren Angesichte zu fehlen beginnen. Und doch; wer sie sucht, wird sie auch im Leben, auch in unserer Dichtung finden.

 

Die 80er Jahre.

 

Einen Grenzstein bedeutet für diese das Dreikaiserjahr 1888 gerade nicht, aber sehr wohl scheiden sich jene, die als Knaben die ruhmvolle Zeit Wilhelms I. und Bismarcks verlebten, von den Älteren, die in einer politisch matten Epoche wurzelten. So war es ein begeisterter Idealismus und hocherhobener Vaterlandssinn, der in der Seele der beiden Brüder Heinrich und Julius Hart glühte, die aus dem stillen, engumhegten Frieden von Münster in die Großstadt Berlin einzogen, von ihren mächtigen Wogen sich umbrausen ließen und in dem Bewußtsein, eine neue Zeit müsse auch für die Literatur sich anbahnen, einen großen Kreis gleichstrebender junger Genossen (wie Bölsche, Dehmel, Halbe, Hartleben, Gerh. Hauptmann, Hegeler, v. Polenz usw.) um sich sammelten, Zeitschriften gründeten und wider Scheingrößen des Tages ihre kritischen Waffengänge richteten. Überall lag Zündstoff genug, und bald loderte er auch in München auf, wo eine kernig-fränkische Kraftnatur in Michael Georg Conrad erstand, der „Die Gesellschaft“ als Sammelplatz der jungen Stürmer und Dränger gründete.

 

„National und modern!“

 

Von sozialem und naturwissenschaftlichem Geiste war die Bewegung getragen, die bis in die Gegenwart hinein nachwirkt. „National und modern!“ war der Wahlspruch der Harts, voll frischer Lebensbejahung; die germanische Seele schien ihnen berufen, von dem verblassenden, kaltakademischen Ideal des klassischen Altertums sich frei zu machen und aus eigener Fülle des Reichtums warmes, wirkliches Leben zu spenden; eine innere Größe solle mit der politischen sich verbinden und das Theater zu einer Stätte schaffen, die Freiheit und Tiefe widerspiegele und die sittliche Kraft des jungen Geschlechts befruchte und pflege. Der Mittelmäßigkeit ward der Krieg bis aufs Messer erklärt. Nur schade, daß man die Genies nicht aus der Erde stampfen konnte, denn im geistigen Schaffen bedeuten Gewalt und Tendenz und Theorie nur wenig und vermögen das Wachsen und Bilden von Persönlichkeiten nicht in ein schnelleres Zeitmaß umzusetzen. Auch sie selbst, die Harts, blieben als Kritiker hervorragender denn als Künstler, so hohe Ziele sie sich als solche auch steckten und in tapferem Ringen zu erreichen suchten. So heilsam es war, wider die altertümelnde Dichtung eines Ebers, wider all das Konventionelle und Spielerische und Seichte auf der Bühne (Blumenthal), wider falsches Pathos und ungesunde Lüsternheit zu streiten, so bleibt doch Verneinen leichter als Bessermachen. Man entdeckte eine neue Stoffwelt, das Großstadtelend, doch damit war die neue Kunst, die jene bewältigte, noch nicht gewonnen. Die Romantik der Bohème wurde von den keckfröhlichen Studentenseelen ausgekostet und sensationell verarbeitet; es fehlte auch nicht an Energie und Leidenschaft des Gedankens und des Strebens, Zustände und Einrichtungen in Staat und Wissenschaft und Kunst umzuformen, doch jenes für den Künstler notwendigste Bestreben, ohne äußeren Zweck an sich selber zu bauen und das persönliche Verhältnis zu Zeit und Ewigkeit zu klären, war nur bei wenigen wach und rege. Die das einzelne bindenden Ideen kamen bei dem Tatsachenkultus zu kurz. So sehr man die Augen manchem öffnete, der bisher die Schattenseiten des Lebens[1] nicht hatte sehen wollen, so stieß doch die brutale Absicht ab, nun einmal zur Abwechslung das Gemeine und Niedrige in der Menschennatur, das Häßliche und Abscheuliche im Triebleben hervorzukehren. Haß ist nimmermehr so fruchtbar wie Liebe.

Das künstlerische Vermögen war weniger an der Arbeit als der Verstand. Die Theorie setzte überhaupt in dem ganzen Zeitabschnitt die Federn schaffender Dichter merkwürdig stark in Bewegung, und das bedeutet nicht – selbstbewußte Stärke. Angewandte oder umgeformte Wissenschaft erschien den einen, die besonders auf Zola fußten, die Kunst; die anderen wollten die beiden Reiche strenge sondern. So vaterlandsliebend auch die jungen Stürmer und Dränger zunächst waren, die mit Stolz auf ihre Vorgänger vor hundert Jahren, auf den jungen Goethe und Klinger und Lenz zurückgriffen, so glaubten sie doch bald, in heimischen Dichtungen nichts zu finden, was ihnen den Antrieb zur Bewunderung und Nachbildung geben könnte, denn leider fühlten sie sich selbst zu eigener idealbildender Kraft als zu schwach.

 

Internationalismus.

 

So warf man sich–wie es überhaupt der Bewegung an Geschlossenheit fehlte–Franzosen und Russen (Dostojewski und Tolstoi) und Norwegern (Ibsen) und Schweden (Strindberg) in die Arme, um bei ihnen Gesellschaftskritik und Elenddarstellung zu lernen. Auf solchem Sumpfboden erwuchsen Romane wie „Die Betrogenen“, „Die Verkommenen“ (Kretzer), „Das Leben auf der Walze“ (Kirchbach), „Fallobst“ (Tovote), „Adam Mensch“ (Conradi), „Stiefkinder der Gesellschaft“, „Die am Wege sterben“ (Land), „Schlechte Gesellschaft“ (Bleibtreu). Kunstwerke waren diese zumeist ins unermeßlich Breite ausschweifenden Erzählungen nicht; der ungemein bewegliche, immer in Fieberhitze der „Revolution der Literatur“ glühende Bleibtreu brachte den „Größenwahn“ sogar auf 1200 Seiten; Kneipe, Spelunke und Kaffeehaus sind Ort der Handlung bzw. des langsamen Verfalles. Denn die Décadence ist der wesentliche Gegenstand, und sie beherrschte in mannigfachen Verästelungen, wie Neurasthenie, Blasiertheit, pathologischer Überreiztheit, auch viele Gemüter der ganzen Zeit. Die „furchtbar schönen und gefährlichen Zeitprobleme“ und „Schrankenbrüche“ waren M. G. Conrad eine Wonne, und er lugte sehnsüchtig nach „zukunftträchtigen Genialitäten“ aus. Zola war für ihn wie für Max Kretzer das Ideal; dieser stellte in „Meister Timpe“ (1888) die Vernichtung des Handwerks durch die Industrie, den Haß der Enterbten wider das Kapital, kurz das ganze Proletarierelend erschütternd dar; die scharfe Beobachtung des einzelnen, genaue, lückenlose Wiedergabe der Sinneseindrücke und der Seelenmartern ward angestrebt, wie Herm. Heiberg sie in „Apotheker Heinrich“ und in Erzählungen erreichte, die den Dämon Weib in dem blutsaugerischen, spinnen- und vampyrhaften Wesen, oft peinlich verzerrt, oft wunderbar helläugig gesehen, darstellen.

 

Der konsequente Naturalismus im Drama.

 

Auf der Bühne bedeutete die Aufführung der „Quitzows“ (1888) von Wildenbruch ein Ereignis: diesen hatte studentische Jugend zu Anfang der 80er Jahre auf den Schild erhoben, und in dem Hohenzollerndrama gab er ein treues Bild von Zeit und Volk jener fernen Zeit; wollte er mit der Strömung schwimmend soziale Bilder der Gegenwart bieten, so ergab sich ein unerquicklicher Widerstreit zwischen aufgepeitschtem Pathos und dem Mangel an Gestaltungskraft; Bleibendes leistete Wildenbruch in kleineren Erzählungen voll Farbenfrische und Seelenkunde. Den „konsequenten Naturalismus“ mit jener photo- und phonographischen Treue, die wie ein Sekundenzeiger der Handlung folgt, setzten der vielgewandte Arno Holz und der weit echter und tiefer veranlagte Joh. Schlaf in Szene; ihre Novellensammlung „Papa Hamlet“ begeisterte einen jungen Schlesier, Gerhart Hauptmann, so sehr, daß er ihnen huldigend sein erstes Drama „Vor Sonnenaufgang“ widmete. Es war die erste Tat der Revolution. Häckel und Ibsen und Tolstoi haben Pate gestanden. Auf Ibsens „Gespenster“ folgte es auf der „Freien Bühne“, die glänzende Kritiker, Brahm, Schlenther, Harden, gegründet hatten. Die Vererbung, das „Mileu“ ist das Schicksal, das auf der Säuferfamilie lastet; die Angst vor ihr wirft den unklaren, willensschwachen Schwärmer nieder und zerstört ein Liebesglück, das neben all der häßlichen Wirklichkeit entzückend geschildert ist Niemand konnte verhehlen, daß in dem Werk ein großes Talent sich ankündige. „Familienkatastrophen“ nach Ibsenschem Muster folgten, 1892 das erschütterndste: Zeitdrama „Die Weber“; ein großer gedrückter Volksstand ist hier der „Held“, das Schicksal[2] die furchtbare Not, die im Wutschrei die Hände zum Himmel reckt, Gerechtigkeit heischend. Die Höhe hat Hauptmann kaum wieder erreicht; mehr episch-lyrisch als dramatisch begabt, stärker in der Anschauung als im Gedanken schwankte er zwischen symbolischer Traum- und Märchendichtung („Hannele“, „Versunkene Glocke“) und naturalistisch-psychologischer Zustands- und Menschenzeichnung hin und her, er schuf eine der besten unsere Komödien („Biberpelz“), verriet jedoch in Dramen wie „Fuhrmann Henschel“ und „Rose Bernd“ die Unmöglichkeit, auf Biologie und Naturmechanismus eine Tragödie zu gründen, die, modern und großzügig zugleich, Ewigkeitswerte enthielte, gleichsam der Zeit die Zunge lösend, so daß sie ihr eigenes Geheimnis kundtue. Die Größe der Einzelbeobachtung und der Seelenkunde ist freilich unverkennbar („Kollege Crampton“, „Michael Kramer“, „Einsame Menschen“). Der Theatermann jedoch, der geschickt auf die Instinkte der Masse seine Stücke berechnete und so den Erfolg dauernd an sich heftete, war Hermann Sudermann („Ehre“ 83, „Heimat“ 93), der von Franzosen geschulte, neuerstandene „Kotzebue“. Halbes „Jugend“ und Rüderers „Fahnenweihe“ ragen aus der unübersehbaren Fülle des im einzelnen oft wirkungsvollen, im ganzen aber verfehlten dramatischen Schaffens jener Jahre hervor, so heiß um die Palme gerungen wurde von Hirschfeld, Rosmer, O. Ernst, Hartleben, Bahr und Schnitzler; die Berührung mit dem Volk suchte eigentlich nur einer, Fritz Stavenhagen, und der sank zu früh dahin.

 

Soziale Lyrik.

 

Die herrschende Lyrik vor der „Literatur-Revolution“ bewegte sich zumeist in glatten Spielmannsweisen und Schelmenliedern, in saft- und kraftloser Lebensverhimmelung, die nichts ahnte von der wirklichen Welt, wo das Arbeitervolk der Industriestädte in heißem Fron seufzte und der Proletarier in Elend verkam. In dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erstand aber eine Lyrik, voll leidenschaftlichen sozialen Empfindens, wie es der Zeit der Kaiserlichen Erlasse, der Aufhebung des Sperrgesetzes, der großartigen Arbeiterschutzgesetzgebung, des evangelisch-sozialen Kongresses, des Wirkens von Männern wie Egidy, Stöcker, Göhre, Naumann entsprach. Großstadtleben mit Blumenhändlerinnen, Kellnerinnen und Dirnen, die als „Perditae“ mit Glorienschein umgeben wurden, bot die neuen Stoffe, und viel Proletarierschmutz wurde aufgewühlt, doch auch hier waltete ein Mißverhältnis zwischen Zorn, Entrüstung, Mitleid und dem Unvermögen, die neuen Probleme in eine entsprechende neue Form zu gießen. Von den Dichtern der „Modernen Dichtercharaktere“ (1885) mauserten sich die bedeutendsten; es sind jedoch nur wenige; andere gingen unter wie Hermann Conradi, ein Typus der Zeit in der Mischung von Pathologischem und leidenschaftlicher Aufrichtigkeit, von Zynismus und edlem Ringen, sein Inneres zu ergründen und in voller Nacktheit dazustellen.

 

Los vom Naturalismus!

 

Man suchte impressionistisch zu sehen und ging zum Telegrammstil über, indem Holz auch eine „Revolution der Lyrik“, vor allem im Technischen, vollführte und einmal wieder den Reim für abgeschafft erklärte. Doch die Toten reiten schnell! Überraschend früh (1891) war schon der erste Ruf erschollen: „Los vom Naturalismus!“ Immer eindringlicher setzte selbst in der „Gesellschaft“ die Kritik ein. Freilich spürten überhaupt nur wenige unter den Gebildeten etwas von den heißen Literaturkämpfen, noch dazu, da die „Richtungen“ sich mit Autogeschwindigkeit ablösten.

 

Die 90er Jahre.

 

So wollte man bald sich nicht mehr mit einem engen Ausschnitt aus der Außenwelt begnügen, sondern begann wieder in sich selbst hineinzuhorchen und die Poesie zum Ausdruck des Innenlebens, des Zusammenrinnens von Seele und Welt zu erheben; man wollte fühlen, nicht bloß sehen und abschreiben, man wollte lieben, nicht hassen oder bloß logisch und mathematisch betrachten und messen, man wollte ein Leben in den Dingen suchen, das man nachleben könne, das Geheimnis, das in ihrem Grunde webt, ergründen. So ward alles Sinnliche zum Sinnbilde ewiger Beziehungen. –

 

Symbolismus und Neuromantik.

 

Ein Extrem löste das andere ab; Franzosen (Verlaine) und Belgier (Maeterlinck) und Italiener (d’Annunzio) wurden Führer in die Zauber- und Irrgärten dieser Nervenkunst. Die Maske des Abnormen, Müden, von Krankheitsstoff Belasteten galt als vornehm; war die Milieukunst in die Breite gegangen, so suchte man nunmehr in die Tiefe zu dringen; an Stelle des Demokraten trat der Aristokrat der Lebensführung. Man suchte wieder Pathos und Anmut und Würde, schwelgte in Farben und Tönen[3] und Träumen und Ekstasen, in Naturtrunken- und versunkenheit.

Doch dies tiefe Natur- und Seelengefühl und das Verlangen, davon Kunde zu geben, schärfte zum mindesten das Werkzeug des Geistes, die Sprache, und verfeinerte die Biegsamkeit der Ausdrucksmittel für das Geschaute und Erlauschte.

 

Das „souveräne Individuum“.

 

Und da ging ein Stern über der Jugend seiner Zeit auf, leuchtend und tröstend, verführend und betörend, die russischen und nordischen Revolutionäre in Schatten stellend: Friedrich Nietzsche. Das souveräne Individuum, der „Übermensch“ ward verkündigt. In den nur zu gut bereiteten Boden warf Nietzsche den Samen seiner Umsturzideen, und die Seelen brannten in der Glut seiner Pamphlets wider Christentum und Moral. Was Stirner, Schopenhauer, Hartmann, Nordau gepredigt hatten, das ward nun durch Nietzsche vollendet und gekrönt. Die mechanische Evolution bietet die Grundlage der Welterklärung; alles Geistige ist nur Naturmechanismus, Moral eine Erfindung blöder Geister oder ein Gewohnheitsrecht, freier Wille eine Selbsttäuschung; freie Liebe muß die Schranken der Gesellschaft durchbrechen; Pflicht ist Plage, Vaterlandsliebe ein Wahn, die Welt eine große Lüge; wer die Gewalt hat, ist Herr. Was in der Kunst der Impressionismus, in der Wirtschaftspolitik der Sozialismus, das ward auf sittlichem Gebiet der Immoralismus. „Hinter der blutfarbenen Internationalen taucht ein schwarzer Schemen auf, ihr Kind zugleich und ihr Henker – sein Richtschwert aber heißt: das souveräne Individuum.“ So schließt eine flammende Streitschrift jener Tage, und von solchen Ideen erfüllt waren Maurice v. Sterns „Proletarierlieder“ und „Stimmen im Sturm“, Mackays „Sturm“, „Das starke Jahr“ und Ludwig Scharfs „Lieder eines Menschen“ (1892). Es war eine seltsame Ironie, daß der kranke, machtlose Philosoph zum Propheten des „Willens zur Macht“ wurde und daß die Dékadence-Menschen, die in sein Gefolge sich drängten, zu „souveränen Individuen“ sich stempelten.

 

Nietzsches Größe.

 

Nietzsche war ein Gedanken- und ein Sprachkünstler ersten Ranges. Darin vor allem liegt seine dauernde Bedeutung. Er verfügt über eine Mannigfaltigkeit des Tones, der alle Geistesregungen klar und eindringlich wiedergibt, den leidenschaftlichen Ernst des Denkers, die weiche Empfindung des Dichters, die Innigkeit und Tiefe des Mystikers, Witz, Ironie, Spott, Zorn. Seine Worte sind von Musik getragen; sie läuten Sturm und wirbeln in ausgelassenem Tanze, und man hört bezaubert die Sprache von Psalmen, Propheten und Hymnen. Er spürte es selbst bei seinem „Zarathustra“, wie ihn übermächtige Gewalten zum Reden zwangen, daß es aus ihm hervorbrach wie Lavaströme, in Entzückung und Schauder, in Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als eine notwendige Farbe eines solchen Lichtüberflusses; die weiten Räume von Formen überspannt ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse; alles geschieht wie in einem Sturm von Freiheitsgefühl, von Göttlichkeit; Bild und Gleichnis stellen sich als der nächste, richtigste, einfachste Ausdruck ein! – Ein Gedankenrausch ist der „Zarathustra“, und so hat er befruchtend und verfeinernd, bereichernd, aber auch verführend auf die Lyriker und Erzähler, denen das Leben als Gesamtheit voll Geheimnisse und Rätsel war, gewirkt, wie kein zweites Wert der Zeit. Was er von der Nacht, von der Einsamkeit, der Stille, von Meer und Bergen, von Gottsuchen und Lebensbejahung und Lebensverklärung und Deutschtum („Das Land eurer Kinder sollt Ihr lieben!“) gesungen, das gehört zum Schönsten im Schatze unserer neueren Dichtung.

Nietzsche, den wie Hauptmann hin und herschwankenden Dichter-Philosophen, zu überwinden in Theorie und Tat ist eine der wichtigsten Forderungen der Zeit; die echte, rechte, große Dichtung darf den engen Zusammenhang und Zusammenhalt mit dem Heimatboden, dem Volksempfinden und dem Staatsleben nicht verlieren.

 

Stellung des Kaisers zur Literatur.

 

Unser Kaiser, der selbst als hervorragende und charaktervolle Persönlichkeit den Widerstreit in der Seele des modernen Menschen tief empfindet, pries einmal mit warmen Worten die Harmonie der Griechen, bei denen die ästhetisch-ethische Kultur der organische Ausdruck des ganzen Volkstums war, und als ein Mann vielseitigster Bildung und großzügiger Ideen, die eine neue Weltlage dem Vaterlande schufen, würdigt er nur die Dichtung, die den Beziehungen zum Nationalen und Politischen dient; so stellt er Kleist und Hebbel, Wagner und Wildenbruch hoch und wendet dem Naturalismus Hauptmanns ebenso wie dem Nietzscheschen Individualismus und Häckels Monismus den Rücken. Ihn überkommt, wie er es in schönem Idealismus im Dezember 1901 ausgesprochen hat, im Anblick der herrlichen Überreste aus der alten klassischen Zeit das Gefühl, daß in ihnen, wie in der Allmutter Natur, ein ewiges Gesetz walte, das Gesetz der Schönheit und Harmonie, und über dieses dürfe die Kunst sich nicht hinwegsetzen. Er sprach vielen Zeitgenossen aus der Seele mit den Worten: „Wenn die Kunst, wie es jetzt vielfach geschieht, nichts weiter tut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen, als es schon ist, dann versündigt sie sich damit am deutschen Volk. Die Pflege der Ideale ist zugleich die größte Kulturarbeit, und wenn wir hierin den andern Völkern ein Muster sein wollen, so muß das ganze Volk daran mitarbeiten, und soll die Kultur ihre Aufgabe voll erfüllen, dann muß sie bis in die untersten Schichten des Volkes hindurchgedrungen sein. Das kann sie nur, wenn die Kunst die Hand dazu bietet, wenn sie erhebt, statt daß sie in den Rinnstein niedersteigt.“

Der Kaiser, der inmitten des pulsierenden Staatslebens stehende Mann, der das Steuer fest packt, er, der Jäger und Seemann und Soldat, konnte keinen Geschmack an dem femininen Zug vieler Ästhetenseelen oder an den Ausgeburten einer kraftlosen, müden Kunst und ihrer Lebensverneinung und Lebensverachtung finden. Wir müssen es mindestens verstehen, wenn er Hauptmann den Schillerpreis versagte.

 

Große der älteren Generation wurden erst jetzt gewürdigt.

 

Doch gar manche alte wackere Künstler lebten auch noch in dem neunten Jahrzehnt des 19 Jahrhunderts, wenn die heiße Jugend sie auch totgeschlagen zu haben meinte. Auch waren die Stürmer durchaus nicht einig, wer auf der Strecke bleiben und wer noch weiter leben sollte. Nach und nach aber bildete sich die bessere Erkenntnis für das Wahre und Große; wie in der Musik Wagners Schaffen als eine der größten Kulturtaten deutschen Geistes begriffen und empfunden wurde, so schied man auch in der Poesie allmählich mehr und mehr Echtes und Unechtes.

Die Dichtung ist wie das Meer; unablässig kräuseln sich die Wellen, vom Winde leise bewegt, oder die Wogen brausen im Sturm; doch die Tiefe bleibt ungerührt, unergründlich, und der Himmel sendet Sonnenlicht und Sternenglanz am dauerndsten hinab in Frieden und Stille. Die Tagesgrößen führt der Tag herauf, und der Tag nimmt sie wieder hinweg, und ihre Spuren verwischen sich rasch. Die wahrhaft Großen aber sind in der Ewigkeit verankert. Ihr Schaffen kann verkannt, ihr Ruhm verdunkelt werden; sie sterben, vielleicht zu spät gewürdigt, doch die Ewigkeitswerte, die sie in selbstsicherem Stolze in ihrer Brust hegten, verbleiben der Menschheit unverlierbar. Sterne zweiter Größe leuchteten auch noch über dieser Epoche fort, obwohl ihr Hauptwerk getan war (wie etliche „Münchener“, wie ferner Spielhagen, Friedr. Wilh. Weber, der zum Haupte einer sehr lebhaften katholischen Literaturbewegung erhoben wurde). In Wahrheit aber entdeckt wurden auf dem Gebiete des Dramas erst jetzt Hebbel und Ludwig.

 

Friedrich Hebbel.

 

Die herbe Weltanschauung Hebbels ist weit entfernt von Beschönigung und Verhimmelung, wenn er auch als echter Dichter wie die großen griechischen Tragiker den Stoff des Tatsächlichen unter das lebenspendende Licht einer Idee rückt. Er ist durch und durch Dramatiker, eine schroffe nordische Mannesgestalt, ein grübelnder Kopf, der das leidenschaftliche Herz wie bei sich selbst, so auch bei seinen Helden zurückdrängt. Sein „Pantragismus“, d. h. die Überzeugung des tragischen Grundcharakters alles Geschehens in der Welt, ruht auf der philosophischen Idee des Zwiespaltes (Dualismus) zwischen Einzelwillen (Individuum) und Weltwillen (Naturnotwendigkeit, Naturgesetz). Kraft setzt sich in der Tragödie gegen Kraft; die Maßlosigkeit hebt sich selbst auf; der einzelne geht unter, die Idee, für die er stritt, triumphiert. Das Versöhnende liegt darin, daß der einzelne in tapferem Kampfe erliegt und die höhere Macht (nicht der Gegenpartei, sondern) der sich durchsetzenden, die Gegensätze vereinenden Idee anerkennt, ja stolz ist, ihren Sieg vermittelt zu haben. Das Drama – sagt Hebbel in klarem Bilde – stellt die beiden Kreise auf dem Wasser dar, die sich eben dadurch, daß sie einander entgegenschwellen, zerstören und in einem großen einzigen Kreise, der den zerrissenen Spiegel für das Sonnenlicht wieder glättet, zergehen. – Die Alten durchwandelten, so lautet ein anderes, höchst bezeichnendes Wort, mit der Fackel der Poesie das Labyrinth des Schicksals. Wir Neueren suchen die Menschennatur, in welcher Gestalt der Verzerrung sie uns auch entgegentrete, auf gewisse ewige und unvergängliche Grundzüge zurückzuführen. Der Dramatiker soll der Menschheit das Bild ihres edleren Selbst vorhalten und ihr zu klarerem Selbstbewußtsein über sich und das Ewige in ihr verhelfen. – Solche Gedanken brechen sich endlich verheißungsvoll auch bei heutigen Dramatikern allmählich Bahn. Auch die herbe Schönheit, die ernste Weihe und Wucht der Hebbelschen Lyrik ist erst unserer Zeit aufgegangen.

 

Otto Ludwig.

 

Otto Ludwig galt eine Zeitlang als ein gleichberechtigter Nebenbuhler Hebbels. Bei näherer Betrachtung jedoch ergibt sich, daß er als ein wesentlich episches Talent sich vergeblich mühte, über den auf natürliche Enge eingeschränkten poetischen Realismus hinweg zu der „idealen Tragödie“ emporzugelangen. Seine dichterische Natur leistet das Größte in der Verlebendigung und Plastik des einzelnen; die großzügige, einwandfreie Fügung eines dramatischen Aufbaus war ihm nicht gegeben. Er mühte sich, dem „einzigen Shakespeare“ es gleichzutun und „das Poetische und Theatralische innigst mit dem Charakteristischen zu verbinden“, und Herrliches hat er darin geleistet; mehr und mehr jedoch überwucherte auch bei diesem Talent die Erkenntnis (Theorie) die künstlerische Kraft; deren Selbstzersetzung bezeugen die „Shakespearestudien“. In der Dorfidylle feierten Ludwigs poetischer Realismus und sein feiner Humor die schönsten Siege und weckten reichste Nacheiferung.

 

Die Ewigkeitswerte der älteren Kunstrichtung.

 

Auf dem Boden der Lyrik und Novelle wurde Eduard Mörike erst von Storm und seinen Freunden auf den rechten Platz hinter Goethe gesetzt, und erst nach ihren 70. Geburtstagen fanden Storm und Groth die verdiente Würdigung; Keller und Meyer und Fontane und Marie v. Ebner, Greif und Heyse schufen rüstig weiter; Spitteler wurde nicht nach Verdienst gewürdigt, voll entfalteten sich Heinrich Seidel und Hans Hoffmann, und Wilhelm Raabe, der ehrwürdige Alte mit dem unverwüstlichen Herzen, empfing auch erst, als sein Tagewerk zur Rüste ging, den längstverdienten Dank der Nation. – Welche Güter nun übermittelten diese begnadeten Geister denen, die in den letzten Jahrzehnten sich mit wahlverwandter Seele oder erst allmählich bezwungen in ihre Dichtung versenkten? Die älteren unter ihnen haben das Erbe einer großen Zeit (Klassizismus und Romantik) in unsere Tage hinübergerettet, sie haben in unverfälschtem Künstlertum nur ihrem Genius gehorcht, unbekümmert um das Tagesgeschrei; der Wirklichkeit gaben sie ihr Recht und beseelten doch den Stoff und prägten der Sprache den Stempel ihres Geistes auf; auch sie haben tiefes soziales Empfinden, und leidenschaftliche Töne der Liebe und des Hasses und des Zornes sind ihnen nicht fremd; manche von ihnen sind arm, von Sorgen umdrängt, durch das Leben gewallt; aber Schmerzen sind Freunde, sie vertiefen die Seele, und so schürften sie, die Reichen, Gold aus ihrem Innern und streuten es aus, in freigebiger, wenn auch leidvoller Wonne; sie sind von heißer Liebe zur heimischen Scholle, zum großen Vaterlande durchdrungen; sie sehen unerschrocken der Sphinx des Lebens ins dunkle Auge; sie kennen die Schwächen der Menschen und freuen sich trotz alledem der Welt und bejahen mit sieghaftem Humor die süße Gewohnheit des Daseins. Denn was ist Humor?

Humor ist Weltanschauung, ja Weltüberwindung durch die Kraft des Gemüts, durch Weltliebe, daher dem Naturalismus fast ganz fremd. Seine Formen sind sehr mannigfach. Am sonnigsten ist er bei Keller ein wahrer Seelentrost, mag er seinen „Grünen“ auch durch Leiden erst zum Ziel führen. In deutscher Sprache gibt es nicht viel Herrlicheres an Sprachgewalt und Süße und Milde und Güte des Herzens als seine „Legenden“. Auch bei Storm spielen überall freundliche Lichter des Humors hinein; auch sein Herz war „nicht umzubringen“; er verzweifelte auch in trübster Zeit nicht an der Zukunft seines Vaterlandes, und was er „für seine Söhne“ schrieb, das kann auch heute noch deutscher Jugend als Leitstern zu echtem Mannestum voranleuchten.

 

Wilhelm Raabe.

 

Raabe ist unter den Großen, die schon im fünften Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zu schaffen begannen, uns am längsten erhalten geblieben, und viele von uns wallfahrteten zu dem Alten in Braunschweig, wie einst mit Tausenden zu dem Alten im Sachsenwalde. Es ist ein Zeichen innerer Gesundheit unseres Volkes, daß unter allen Ständen, Berufsklassen und Parteien die Anhängerschaft für Raabe wächst, daß sich überall Raabe-Gemeinden gebildet haben und somit aus der Erinnerung an ihn noch eine werbende Kraft ausgeht. Er ist wie Storm und Keller zum „Studium“ geworden; nicht bloß auf den Universitäten, sondern allüberall gräbt man in seinen Werken, um in die tiefen Schächte der Raabe-Weisheit einzudringen. Er ward noch alt genug, um die Anfänge davon zu erleben, um beim Abendgang die wärmenden Sonnenstrahlen, nicht eitlen Ruhmes – auf dessen Zeichen pfiff er –, sondern echten Verstehens und tiefer Liebe zu spüren, so daß ihm im Winter seines Lebens doch eine „lichte Weihnachtsstube“ zuteil wurde. Möchte er Recht behalten mit dem Wort: „Wir sind nachdenklich deutsches Volk, und es ist kein anderes, das so gut und ehrfurchtsvoll mit den Toten umzugehen weiß.“ – Bei Raabe ist alles so wundersam einheitlich, weil kerndeutsch: der Sohn des Harzgebirges mit den gewundenen Tälern und Schluchten und Bergwerkkammern, der Schilderer alter Straßen mit ihren krummen Gassen, spiegelt sich auch in der Art wider, wie er seine Geschichten anlegt; da gibt es allerlei Irr- und Abwege, unübersichtlich und kraus; der Stil ist schnörklig wie seine Handschrift, der Rhythmus wird zerhackt. Alles Glatte, Gradlinige, nun gar weichliches Ästhetentum mit Gemache und Getue war ihm, wie dem bärbeißigen Meister Gottfried, ein Greuel. Kommt er aber in Fluß, so rauscht es in vollen Akkorden. Er war spröde, zurückhaltend, verschwiegen und verschämt in seiner Innerlichkeit, bis in die Knochen norddeutsch – und doch wie vieles hat er mit dem knorrigen und knurrigen Schweizer gemeinsam! Alle Schlagwörter waren ihm verhaßt, und als wieder einmal ein neues aufgekommen war, das „Heimatkunst“ forderte, da rief er aus (noch in der letzten Zeit seiner Tage), „Ich will kein ‚Heimatdichter‘, sondern ein deutscher Dichter sein!“ – „Im engsten Ringe, im stillsten Herzen weltweite Dinge“: das kann man über sein Schaffen setzen, oder das Motto zu den „Alten Nestern“ oder deren köstlichen Anfang: „Eine Blume, die sich erschließt, macht keinen Lärm dabei. Auf leisen Sohlen wandeln die Schönheit, das wahre Glück und das echte Heldentum. Unbemerkt kommt alles, was Dauer haben wird in dieser wechselnden, lärmvollen Welt voll falschen Heldentums, falschen Glückes und unechter Schönheit!“ –

 

Wandlungen des Humors bei Raabe.

 

Es lag in der Zeit und in seinen Lebenserfahrungen begründet, daß Raabes Humor Wandlungen durchgemacht hat. Er mußte durch Schopenhauers Pessimismus hindurchgehen, und da zeigt seine Tragik etwas gallig Verbissenes, und etwas von bitterem Lächeln gleitet immer wieder über seine Züge. Ein Klang von Resignation über die Vergänglichkeit und Nichtigkeit des Erdendaseins schwingt bis zu „Altershausen“ (1911) mit. Der Weltschmerz und die Weltfreude sind eben Geschwister, Kinder der Gemütsinnigkeit, die alles mit verstehender Liebe umfaßt: die Weltläufe wie die sonderbaren Käuze und Narren, die um den Platz an der Sonne Betrogenen, die darob aber nicht verzagen, sondern ein stilles Heldentum voll Lebensweisheit und Lebensfernheit führen. – „Tiefer ist unserer Freude Born, tiefer als das Leiden“, sagt der sonnige, in Sinnenfreude vollblühende Keller. Raabe betont mehr das Leiden, weist aber den Sieg auf, den ein starkes Gemüt darüber gewinnt, denn es birgt unsichtbaren Reichtum, das Traumland der Phantasie, und die aufopfernde Hingabe als unversiegbare Glücksquelle in sich. So gehen lächelnd in hartem Kampfe, durch alle Nöte und Wirrsale, diese Lebenshelden frei hindurch, still überlegen – wahrlich eine andere Art als die sich auslebenden, d. h. vielfach an das Gemeine sich ausgebenden „Herrenmenschen“ modernen Wesens.

Fontanes Humor hat eine Beimischung von Skepsis und Ironie und Berliner „Wurschtigkeit“ an sich, ist also mit dem Wasser des Verstandes getauft. Stürmisch hoben die Jungen den Alten auf den Schild, und er zeigte ihnen, wie man Irrungen und Wirrungen, Halbwelt und scheiterndes Eheleben darstellen könnte, ohne ins Gemeine abzugleiten, wie man Berlin W. mit Humor erfasse („Frau Jenny Treibel“) und wie das Leben. Was vom alten Schloßherrn von Stechlin gesagt wird, das gilt von Raabe, Keller, Storm und Fontane selbst: „Er hatte das, was über alles Zeitliche hinausliegt, was immer gilt und immer gelten wird, ein Herz. Er war recht eigentlich frei. Nichts Menschliches war ihm fremd, weil er sich selbst als Mensch empfand und sich eigener menschlicher Schwäche bewußt war. Er war das Beste, was wir sein können: ein Mann und ein Kind.“

Eine im höchsten Sinne durch edles Maß gebändigte, aristokratische Dichternatur tritt in C. F. Meyer uns entgegen, dessen „Angela Borgia“ den Beschluß der reichen Reihe historischer Romane und Novellen bildete (1891); er ward Bahnbrecher einer neuen Kunst, weder dem Klassizismus noch der Romantik huldigend; in seiner Epik und Lyrik ist etwas bis dahin Nichtgewesenes und Nichtwiederholtes gegeben, das bis in die kleinsten Verzweigungen des Stils und der Technik sich kundgibt: ein in schönen, reinen Formen gehaltener, keusch verhaltener Realismus. –

Doch die Schweiz stellte noch einen großen, zeitlosen Dichter über die Kämpfe der Zeit. Als ein Einsamer, der spät zum Schaffen und spät zur Anerkennung gelangte, steht Karl Spitteler da. Er ist einer der wenigen großen Epiker dieser Epoche, in voller Selbstherrlichkeit vor Nietzsche sich behauptend, und auch seine Lyrik ist nur mit eigenen Maßen zu messen. Eine gradezu mythische Phantasie schöpft in den großen Epen aus den tiefen Quellen des Kosmos; die antike Götterwelt ersteht neu in einem ganz modernen Geiste, der unerschöpflich ist in Schönheit, der bald in spöttischem Humor, bald in ernster Gemessenheit, bald in tollen Sprüngen sich bewegt, und die uralten Rätselfragen werden als ewig junge empfunden. Die unvergleichliche Erfindungsgabe reißt mit sich fort. Freilich muß man mit Bedacht lauschen, verweilen können, und das behagt unserer hastenden Zeit nicht; übrigens auch sie sagt ihm selbst nicht zu; er vermißt an ihr Mannesmark und jenen Mut, der im Gewissen sitzt. In tragischer Lebensanschauung hält er es für die Aufgabe des Epikers, durch den Sonnenschein der äußeren Welt in hohle, finstere Tiefen zu schauen; doch auch in seiner Welt sind Lichtkräfte tätig, und in den „Glockenliedern“ klingt auch der Ton jauchzenden Humors.

Eine gewisse epische Kühle und Herbheit in der Technik ist auch Marie v. Ebner eigen, aber ihr Herz ist ganz Güte und Weisheit, voll tiefen sozialen Mitgefühls mit den vom Adel unterdrückten Dörflern, mit dem oft so edlen und reinen Menschentum, das in der Gestalt des armseligen Menschenkindes wohnt und aus seiner Hemmung und Lähmung nur befreit und aus seinem Schlummer nur geweckt werden muß. Ohne Pathos und Feierlichkeit setzt sie Strich für Strich und entwirft düstere Bilder, aber auch sonniger Humor liegt über mancher Erzählung, sowie Liebe zu Kindern und zu Tieren, und in ihren Sprüchen münzt die edle Frau einen Herzensreichtum aus, wie er nur wenigen Zeitgenossen eigen ist. Männliche Kraft zeichnet die Erzählerin Marie Ebner aus; etwas frauenhaft Weiches, liegt wie zarte, melancholische Stimmung über vielen Erzählungen Ferdinand v. Saars, der selbst am Leben zerbrach, wie er so viele zerbrochene schildert.

In der Novellenkunst blieb und bleibt Paul Heyse unerschöpflich, nicht sonderlich tief, doch die goethische Überlieferung in Stil und Reinheit und Plastik der Form festhaltend und dabei die modernsten psychologischen Probleme mit Anmut und Geist behandelnd; heiß rang er um die dramatische Palme, doch seine Natur ist durchaus episch: Andererseits ist das Wesen Martin Greifs rein lyrisch, in Naturbildern zeigt er eine goethische Einfachheit und wundervolle Zartheit; für das Drama fehlte es ihm doch an Wucht, Kraft, Leidenschaft. Klaus Groths Größe war im „Quickborn“ erschöpft. Der wird aber auch ein lebendiger Quell bleiben, und eine reiche plattdeutsche Zeitschriftenliteratur verjüngt sich an ihm unablässig.

Im Norden hielt das Erbe des Reuterschen Humors in seiner naiven Volkstümlichkteit Heinrich Seidel fest, der vom Jahre 1888 ab mehr und mehr Liebe in allen Kreisen gewann, besonders mit seinen Leberecht Hühnchen-Geschichten; mit ihm wetteiferten in Plaudereien, Scherz- und Kindergedichten Johannes Trojan und Viktor Blüthgen. Schwerer wog der Pommer Hans Hoffmann, im Reichtum seines Humors bald Raabs, bald Reuter sich nähernd, ein feiner Künstler, eine harmonische Persönlichkeit, ein echter Freudenbringer und Trostspender; auch an Kraft und Farbe fehlt es seinen Novellen nicht.

Doch in den neunziger Jahren verdunkelte ein Schleswig-Holsteiner, gehoben von der Naturalismus-Bewegung, alle übrigen in Nord und Süd: Detlev v. Liliencron.

 

Detlev v. Liliencron.

 

„Unter flatternden Fahnen“ nannte sich die erste Reihe seiner „Kriegsnovellen“ (1888), doch daß in diesen sich ein sieghaftes Talent von stürmischer Kraft ankündige, ahnten nur die wenigen, die schon die „Adjutantenritte“ (1883) mit Staunen und Bewunderung begrüßt hatten. Denn solche schneidige Frische, solch scharfes Zupacken, solche kecke Freilichtmalerei hatte es in der deutschen Lyrik noch nicht gegeben. Hier war eine Revolution der Lyrik in Wirklichkeit gegeben, so sehr auch Liliencron an die gute alte Überlieferung, an Storm, anknüpft. Radikales und Soziales mischt sich bei ihm mit Königstreue und Junkertum, und Sinnenfreude mit Melancholie. Er hat mit den Dämonen seines Innern gerungen, und aus dem gärenden Most ward klarer Wein. Den „Impressionen“ seiner Heimat gab er sich mit den scharfen Sinnen des Jägers und Soldaten hin, doch auch grausige Visionen wußte er mit packender Gewalt hinzustellen; am höchsten stehen die Kriegsnovellen und Balladen; unausgeglichen wie er selbst, wie seine Zeit, ist das genialste Werk: „Poggfred“; es begeistert und entrüstet, entzückt und ernüchtert zugleich. Liliencrons Geistigkeit enträt der Tiefe. „Irgendein Furchtbares steht über uns, das Schicksal, dem keiner entrinnen kann, der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“ Doch auch er spürte: „Es ist ein unverkennbares Zeichen unserer Zeit, daß die Menschen wieder zur Religion zurück wollen. Wer wird sie führen?“

Für den Dichter, der unter den Mitlebenden allein in die Zukunft fortdauern werde, für den berufenen Kündiger der „Zeitseele" hielt Liliencron mit sicherer Witterung: Richard Dehmel.

 

Richard Dehmel.

 

Die „Gesammelten Schriften“ (seit 1906) enthalten einen geistigen Lebensertrag, der Bewunderung einflößt, auch wenn man nicht immer sogleich versteht oder gar sich abgestoßen fühlt. Dehmel ist in seiner vulkanischen Natur nicht ein Dichter für die Masse; er weiß aber genau, was ihn von l’art pour l’art, was ihn von Nietzsche trennt. Die Kunst ist ihm Lebensäußerung des ganzen Menschen; ihre Wirkung zielt aus Ausgleich des Widerstreites zwischen Ichgefühl und Allgefühl, Selbstbewußtsein und Selbstvergessen, auf die Erringung jenes geistigen Allgemeingefühls, das den vom Schicksal getriebenen Einzelmenschen über sein Schicksal erhaben macht, über inneres und äußeres. Er will Triebleben und Geistesleben, Welt und Herz und Gott zu einem Ringe zusammenschließen, auf der einen Seite das Glück seiner Lust nicht zähmen, auf der anderen sein Selbst erziehen und zügeln. Ein starkes Pathos und ein tiefes Ethos sind in diesem wahrhaft männlichen, energievollen Geiste vereint. Liebes- und Naturlieder von bezauberndstem Rhythmus hat er gesungen, und die sozialen zeigen die Überwindung der Tendenz und den hohen Flug zu reiner Kunst. „Zwei Menschen“ ist ein Epos von großartigem Aufbau, von Sprach- und Bildergewalt; nur schade, daß Romanhaftes und Brutales es entstellt. Hier ringen zwei Menschen, nachdem sie sich gesucht und gefunden haben, aus dem engen Ichgefühl zum Weltgefühl empor, indem sie sich selbst überwinden. Wie überall sucht Dehmel auch im Drama neue Wege; er sucht das Tragische zu läutern, indem er an die Stelle der Frage: Was ist uns das Leben? die andere setzt: Was sind wir dem Leben wert? Und ist das nicht eine herrliche Mahnung für unsere selbstsüchtige Zeit?

 

Moderne Lyrik.

 

Wie Kometen einen langen Sternenschweif ziehen, so hatten auch die bedeutendsten Lyriker der Zeit, Liliencron und Dehmel, eine große Schar begeisterter Jünger. Die einen sangen fröhliche, sonnige Weisen, wie Bierbaum und Hartleben, die anderen sind grüblerischer oder still ironischer oder den Kosmos in Bewegung setzender Art (Chr. Morgenstern, Evers, Hille, Mombert); nur wenige rangen sich zu einem so abgeklärten Künstlertum hindurch wie G. Falke, Herm. Hesse, Schaukal, Ric. Huch, Isolde Kurz. Auch „Satanskinder“ tauchten auf, „Naturalisten der nackten Seele“ (Przybyszewski), und enthüllten das Wesen der Décadence: sie ist die zitternde Nervosität der Überfeinen, eine beständige, schmerzhafte Erregbarkeit bloßgelegter Wunden, ewiges Anschwemmen und Zurückfluten einer trankhaften Sensibilität, ein stetes Unbefriedigtsein des Raffinements, die Müdigkeit der Überempfindlichen. Ein Kultus wird mit der Einsamkeit, mit dem Selbstgenuß getrieben; das zwiespältige Ich wird in allen seinen Regungen mit heimlichem Grausen erlebt, und mit den süßesten Tönen wird das Sterben in Schönheit gefeiert (Hugo v. Hofmannsthal); Trost und Begeisterung gewährt nur die Versenkung in die Natur (Wille, Hille, Flaischlen); Joh. Schlafs „Frühling“ (1893) ist eine Dichtung voll Weltseligkeit, geboren aus heißem Herzen, geflossen von stammelnden Lippen. Mit der Naturmystik verbindet sich das Heimverlangen nach Religion. Wie Hauptmanns „Emanuel Quint“, so sind viele Dichter von schmerzlichsten Sehnsüchten durchglüht und erschauern in Andacht (Rilke, Schüler, Philippi, Knodt, Benzmann).