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Würde gerne im Voraus den Lesern mitteilen, dass Litzo Tschikos seit mehreren Jahren schon in Haft sitzt. Er hat schon viele Wege gesucht, um auf seinen Fall aufmerksam zu machen. Alle Instanzen der Justiz hat er bereits hinter sich. Doch die Göttin Justicia schenkt ihm keinen Glauben. Litzo Tschikos hat sich auch an mich gewendet. Ich nahm mir die Zeit und habe ihn mir angehört. Habe mir während der Gespräche Notizen gemacht und auch seine Gedichte und Zeichnungen an mich genommen.
Litzo Tschikos und ich beschlossen gemeinsam, ein Buch zu veröffentlichen. Und das ist das Buch. Ich selber habe keine einzige Silbe dazu gefügt oder weggelassen.
Litzo Tschikos wartet darauf, dass ihm Gerechtigkeit gewährt wird. Und ich habe mir vorgenommen, mich für ihn einzusetzen, da ich ihm glaube.
Es bleibt zu hoffen, dass auch Justicia das Buch liest und sich selber gesteht, im Falle Litzo Tschikos, ein Fehlurteil gefällt zu haben.
Erdinç Aydin
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Erdinç Aydın's neue Veröffentlichung wird nicht die Welt ändern.
Doch wird sich Aydın zufrieden geben, wenn sie nur eine Welt verändern kann.
Nämlich, die Welt von Litzo Tschikos.
Aydın ist bestrebt, diesen Mann, der seit Jahren in Haft sitzt, raus aus der Zelle zu holen und ins Rampenlicht zu setzen.
Erdinc Aydm
Wieder war er, er, ein Mann um die vierzig Jahre, alleine unterwegs, in der Stadt, wo er zu Hause war. Seine Heimatstadt im Rheinland. Die frische Luft zeugte vom endenden Winter, hier und da lagen Reste vom Schnee. Dunkel und schmutzig. Es war gegen Mittag, die Stadt lebte, wie um diese Jahreszeit, alles wieder und wieder lebte. Die Klarheit des Tages lag in der Luft. Wie so oft war er unterwegs zu der Bibliothek, die sich unmittelbar in der Fußgängerzone befand. Richtung Bibliothek, Mitten durch die Stadt, über die Fußgängerzone, kam er an den zahlreichen Cafe`s vorbei, die Stühle und Tische auf die Steige ausgebreitet hatten. In der Bibliothek wartete sein Nachhilfeschüler auf ihn. Doch als er auf die Uhr sah, stellte er fest, dass er noch Zeit hatte. Irgendwo noch, in den zahlreichen Cafe´s eine Tasse Kaffee trinken, das würde noch gehen. Die Auswahl war groß. Freie Stühle und Tische hatten sie alle noch vor den Läden.
Oben am Markt, etwas oberhalb des großen Denkmals, nahm er bei einem Italiener Platz und bestellte sich eine Tasse Kaffee, ohne Zucker und ohne Milch. Ein paar Minuten später schon, brachte ihm der Kellner den Kaffee. Leute saßen an den Nachbartischen. Links neben ihm saß eine Familie mit drei kleinen Kindern. Vor ihm saß ein Liebespaar und rechts der Tisch war noch frei. Auf das, wer hinten am Tisch sitzt, war er nicht neugierig, so dass er sich nicht die Mühe machte und den Kopf drehte. Sie interessierten ihn nicht. Auch die Menschen links, rechts und vorne am Tisch interessierten ihn nicht. Doch blieb ihm ihr Anblick nicht erspart. Im Kopf hatte er seinen Nachhilfeschüler, mit dem er sich gleich in der Bibliothek treffen wollte, um für seine anstehende Mathearbeit zu üben. Leute gingen die Fußgängerzone hoch, runter; einige in eiligen Schritten, einige ganz in Ruhe, als würden sie nur schlendern wollen.
Nach einigen Minuten erst, wo er seine Tasse schon halb leer getrunken hatte, nahm er hinten am Tisch Stimmen wahr. Es waren zwei Männerstimmen, rauh, reif, alt und leicht kratzig. Auch wenn er es nicht beabsichtigte, er bekam mit, worüber sich die zwei Herren, der Stimme nach beide um die achtzig Jahre, unterhielten. Sie sprachen sehr ruhig, als hätten sie die ganze Welt der Zeit für sich. Ihre Unterhaltung war anspruchsvoll und wirkte auf Litzo immer interessanter, so dass er auf die beiden hellhörig wurde. Der eine war Jahrgang vierunddreißig, der andere ein paar Jahre älter. Zwei Männer, zwei Kameraden, zwei dicke Freund, sagte sich Litzo und begann der Unterhaltung der beiden greisen Herren beizuwohnen. Sie sprachen, sie sprachen; doch sehr ruhig und sehr gelassen, ohne Eile und ohne Hektik. Man könnte meinen, sie haben sich getroffen, um sich gegenseitig etwas zu erzählen und hätten für diese Unterhaltung auch reichlich Zeit mitgebracht. Die beiden alten Herren erweckten immer mehr Litzos Interesse. Er wurde auf die Unterhaltung immer hellhöriger. Sie sprachen, wie es war mit der Männerkameradschaft beim Bund, sie erzählten, wie es war, als nach dem Kriege die gleichen Leute in der Politik sahen, wie vor dem Krieg. Litzo hatte schon seine Kaffee ausgetrunken; er sah auf die Uhr und stellte fest, dass er noch Zeit hatte, für eine zweite Tasse Kaffee. Er winkte dem Kellner zu, der Kellner schaute auf ihn herüber. Litzo machte ein Zeichen und zeigte auf seine Tasse. Wieder nach ein paar Minuten hatte er eine zweite Tasse Kaffee auf dem Tisch. Eigentlich wollte er nur der Unterhaltung der beiden Greisen beiwohnen. Aber am Tisch sitzen bleiben, ohne Verzehr, wollte er auch nicht. Irgendwann landeten die zwei Herren bei der Monika, in die wohl beide verliebt waren, sie aber weder den einen noch den anderen, sondern einen Mann aus Jena heiratete. Den hässlichen Siegfried. Litzo hatte seine Ohren gespitzt und lauschte aufmerksam. Wieder irgendwann fragte der Jüngere der beiden Greise den älteren, ob er wisse, wie oft er sich im Leben geprügelt habe. Der Ältere gab als Antwort, dass es einige Male waren, aber er keine Zahl im Kopf hätte. Nun drehte sich die Unterhaltung ums Prügeln, die die beiden Herren im Laufe ihres Lebens hinter sich hatten. Litzo musste leicht schmunzeln und hörte noch aufmerksamer zu. Es war nicht zu überhören, dass die beiden Greise sich schon seit Ewigkeiten kannten. Die Unterhaltung war so vertraut, so innig, so offen und so ehrlich, dass Litzo bereit wäre, eine dritte Tasse Kaffee für sich zu bestellen, um dieser Unterhaltung weiterhin beizuwohnen. Beide kannten die Anzahl ihrer Prügeleien nicht, doch gaben beide zu, dass es etliche Male gewesen sein mussten. Während sie so am erzählen waren, fragte der Ältere der beiden Herren, ob der Jüngere sich an die Prügelei erinnert, wo er am meisten verhauen wurde. „Nein" sagte dieser. Er schwieg eine Weile. Beide schwiegen eine Weile. Litzo ahnte, dass sich da etwas angestaut hatte und noch etwas kommen würde, kommen müsste. Seine Hellhörigkeit steigerte sich. Er hörte den beiden viel aufmerksamer zu, als in den Anfängen der Unterhaltung. „Du musst mir die Frage anders stellen", sagte der Jüngere. „Wie habe ich Dir denn die Frage zu stellen?" fragte der Ältere. „Ob ich mich an den schmerzhaftesten Prügel erinnern kann, solltest Du mich fragen, darauf habe ich nämlich eine genaue Antwort", sagte der Jüngere. Also stellte ihm der Ältere die Frage, ob er sich an den schmerzhaftesten Prügel erinnern kann, die er je kassiert hat. „Ja", sagte der Jüngere, „ an diese Prügel werde ich mich erinnern, auch wenn ich noch weitere hundert Jahre leben sollte". „Welche war es denn?" , fragte der Ältere. „Habe mich einige Male schon geprügelt im Leben und auch so ziemlich viel eingesteckt", sagte der Jüngere, „aber am schmerzhaftesten war der Prügel von meinem eignen Sohn. Es ist so schmerzhaft. Wurdest Du schon mal vom eignen Sohn verprügelt?" „Nein", antwortete der Ältere. „Es tut so weh", sagte der Jüngere, „dass Du den Schmerz selbst nach hundert Jahren in den Knochen spürst. Der Prügel vom eigenen Sohn, es tut weh, es tut weh".
Litzo hatte schon die zweite Tasse leer getrunken. Er legte das Geld auf den Tisch und ging Richtung Bibliothek, zu seinem Nachhilfeschüler. Doch mied er es, sich die beiden Herren anzusehen, deren Unterhaltung er beinahe schon eine halbe Stunde beigewohnt hatte. Er war nicht neugierig auf ihr Aussehen. Litzo verließ den Tisch, ohne zu wissen, wie die beiden Herren aussehen. Zwei alte, reife, kratzige Stimmen und die Erkenntnis, dass die Prügel vom eigenen Sohn für einen Mann am schmerzhaftesten ist, nahm er mit.
Die Sonne schien. Die Stadt lebte wieder auf, alles lebte wieder auf. Doch irgendwie wurde Litzo traurig, doch irgendwie wurde Litzo bekümmert und verfiel in eine leichte Melancholie.
Die Sache mit dem Geld ist eine Sache für sich. Mal hat man es, mal hat man es nicht. Heute ist es da, das Geld. Morgen aber schon nicht. Oder heute ist es nicht da, doch morgen wieder da, das Geld. Das ewige hin und her, die Sache mit dem Geld. So ging es zumindest Litzo, damals ein junger Mann, um die dreißig Jahre, der in einer Partnerschaft lebt, aber noch nicht verheiratet ist. Zu Hause gab es die letzten Monate nur noch Ärger, so dass Litzo von heute auf den morgen auf der Straße landete. Frauen könne manchmal gemein sein. Und seine Frau war gemein zu ihm und hat ihn einfach vor die Tür gesetzt. Litzo ist verzweifelt und sucht bin dieser Verzweiflung seinen Freund Arne auf. Er sucht seinen Freund Arne auf und Arne nimmt ihn bei sich auf. Litzo darf vorerst bei ihm übernachten. Doch die Sache mit dem Geld, die hat es in sich. Arne ist zwar freundlich und nett, doch in Sachen Geld ist er die Knauserigkeit in Person. Litzo ist verzweifelt. Seine Freundin hat auch schon sein Konto leer geräumt. Diesen Seitensprung will sie ihm nicht verzeihen und rächt sich fürchterlich bei Litzo. Litzo geht es dreckig. Litzo geht es elend. Litzo braucht Geld. Zwar braucht er keine Millionen, doch Litzo braucht Geld. Jedoch erklärt sich niemand bereit, ihm etwas zu leihen, geschweige denn etwas zu schenken.
Nach zehn Tagen teilt ihm sein Freund Arne mit, dass er nun Ärger mit seinem Vermieter habe, da er schon seit circa zwei Wochen jemanden bei sich unterbringen würde. Nach zwei Wochen zeigt Arne Litzo die Tür. Wohin? Wenn er das nur wüsste. Die Freundin, die ihm das Konto leer geräumt hatte, hatte auch alle seine Dokumente, wie zum Beispiel Ausweis, Führerschein, Versichertenkarte und so weiter vernichtet. Seine Kleider wanderten vom Kleiderschrank in den Müllcontainer. Ob er es wollte oder nicht, ob es ihm passte oder nicht, er gestand sich selber, dass er nun ein Obdachloser wurde. Er zog sich zurück auf die abgelegenen Plätze der Stadt. Zum Glück spielte auch nicht das Wetter gegen ihn, so dass er auf den Bänken außerhalb der Stadt schlafen konnte. Sein Freund, Hans, der in der Stadt eine Imbissbude betrieb, gab ihm ein paar male etwas zum Essen. Doch nach drei vier Mahlzeiten, sagte auch er ihm, dass sein Limit an Wohltätigkeitsausgaben erreicht sei. Ein anderer Freund, der einen Kiosk betrieb, tat das Gleiche, nach dem er ihm einige Male Zigaretten zugesteckt hatte. Seine Situation verschlechterte sich. Freunde hin Freunde her. Doch spielt das Geld die Musik, schweigen selbst die dicksten Freundschaften. Er war verzweifelt, wusste nicht wohin, wusste nicht was. Litzo wühlte in seine Taschen herum, um doch etwas Geld zu finden. Nach dem er alle Taschen gründlich durchsucht hatte, fand er in der Innentasche seines Sakkos eine zwei Euro Münze. Na ja, viel ist damit nicht zu machen. Was bitte soll er damit nur anfangen? Einfach aus Protest wegwerfen? Nein. Verschenken? Nein. Er steckte die Münze wieder zurück in die Innentasche seines Sakkos. Übrigens war der Sakko von Boss. Hugo Boss und hatte schon einiges gekostet. Nun war er aber nicht mehr so schön und hing ihm wie ein Sack am Körper. Ein paar Male war er in den Hallenbad der Stadt gegangen, doch nicht um dort zu schwimmen, sondern sich in den Duschräumen gründlich zu waschen. Das war vor ein paar Wochen. Er kam immer mehr herunter und sah so aus wie Obdachlose halt so aussehen. Einige Male ging er auch in den Kaufhäusern klauen, um überhaupt etwas zwischen den Zähnen und im Magen zu haben. So vergingen die Wochen. Er schlief mal hier auf der Bank, mal dort auf der Bank.
An einem Freitag, es war gegen Mittag, ging er die Fußgängerzone herunter. Vorbei an der Spielhalle, die sich links vom Marktplatz befand. Trotz, dass Litzo ein Mann von circa dreißig Jahren war, hatte er noch nie in seinem Leben an irgendwelchen Spielautomaten gespielt. Ehrlich gesagt war er nicht mal fähig, diese Automaten zu bedienen. Noch nie in seinem Leben, aber auch noch nie hatte er vor einem Automaten gestanden und an diesen auch nur ein Cent eingeworfen. In der Nähe von Spielautomaten fühlte er sich eher unwohl. Vielleicht daher, weil er als junger Mann schon mehrmals Zeuge wurde, wie diese Automaten ganze Familien in den Ruin getrieben haben, wie diese Automaten das Glück einer ganzen Familie ruiniert hatten. Sie flößten ihm eher Angst ein. Als er unten am Markt an der Spielhalle vorbei ging, stand ein Mann vor der Tür der Spielhalle und winkte Litzo zu. Litzo erkannte ihn nicht und ging seinen Weg weiter. Als er ein paar Schritte entfernt vor der Spielhalle ging, rief der Mann ihm seinen Namen zu: „Hey Litzo". Litzo drehte sich um und sah den Mann an. Erkannte ihn aber dennoch nicht und ging weiter. „Hey Litzo", rief ihm der Mann wieder zu. „Komm doch mal". Litzo blieb stehen, sah den Mann an und sagte sich:" Erinnert mich etwas an meinen ehemaligen Klassenkameraden Dirk" und ging auf ihn zu, Richtung Spielhalle. „Dirk?" „Ja, man, ich bin es. Dir geht es nicht gut, wahr Litzo?". „Nein, man, mir geht es miserabel und beschissen". „Willst Du ein Kaffee?". „Habe kein Geld". „Nein, man, ich spendiere Dir einen Kaffee. Guten Kaffee. Komm rein". So gingen sie rein in die Spielhalle und Litzo setzte sich an die Theke. Dirk machte ihm einen Kaffee und legte die Tasse auf die Theke. Litzo trank und sie erzählten sich aus den alten Zeiten, aus den alten Jahren, wo sie noch gemeinsam in der gleichen Klasse waren. Für Litzo war es die Unterhaltung seit langer Zeit überhaupt. „Kann ich Dir irgendwie helfen? Du siehst nicht gut aus." Litzo schwieg. Dirk wiederholte seine Frage:"Kann ich Dir irgendwie helfen?" Und wieder schwieg Litzo. „Du brauchst Geld, stimmt es?" Litzo nickte ganz leicht mit dem Kopf. „Litzo, Geld habe ich selber viel zu wenig. Aber trotzdem will ich Dir helfen. Hör zu", sagte er und zeigte auf einen Automaten, der in einer Ecke der Halle an der Wand hing. „Siehst Du diesen Automaten, dort an der Ecke?" Litzo nickte wieder ganz leicht mit dem Kopf. „Hör zu, Litzo, der Automat ist voll beladen und hat schon seit mehreren Wochen nicht gespuckt". „Und?", fragte Litzo. Dirk kam etwas nah an Litzo heran und sagte, beinahe schon im Flüsterton:"Bin mir sicher, dass er bei dem nächsten Spieler reichlich spucken wird". „Und?" „Na, was, und? Schmeiss eine kleine Münze darein. Du hast doch bestimmt eine Münze bei Dir. Ein Euro, zwei Euro, von mir aus fünfzig Cent. Schmeiß sie in den Automaten. Ich sage es Dir doch, der platzt gleich und wird beim nächsten Spieler viel spucken". „Habe kein Geld". „Verdammt Litzo, Du wirst doch irgendwo in den Taschen fünfzig Cent haben. Man, höre auf mich". Litzo wühlte seine Taschen ab und in der Innentasche seines Sakkos fand er die zwei Euro Münze, mit dem er nichts anzufangen wusste, noch vor ein paar Tagen. Er holte die Münze aus der Tasche und zeigte sie Dirk. „Ja, man, schmeiß sie in den Automaten" . Litzo stand vom Hocker auf, verließ die Theke und ging mit langsamen Schritten auf den Automaten zu, der in der Ecke an der Wand hing und den Dirk ihm gezeigt hatte. „Bitte", sagte er vor sich her, als würde er den Automaten darum bitten und warf die Münze in den Schlitz. Die Lämpchen begannen zu leuchten, das Skala hoch und runter, hoch und runter. Er sah auf Dirk und Dirk lächelte. Schon nach ein paar Sekunden begann das Apparat zu spucken. „Ooohhh Gott", sagte sich Litzo. Es hörte gar nicht auf. Mehrere Minuten dauerte dieser Vorgang der Auszahlung. Litzo konnte es einfach nicht fassen und nicht glauben. Der Automat spuckte und spuckte. Unten staute sich das Geld und bildete schon ein ordentliches Haufen. Alle anderen Spieler, es waren immer hin noch vier oder fünf, die an den Automaten standen und zockten, sahen auf Litzo und den Automaten, der nicht mehr aufhörte, zu spucken. Erst nach mehreren Minuten war der Vorgang der Auszahlung abgeschlossen. Litzo war sprachlos und konnte sein Glück nicht glauben. Dirk gab ihm einen Behälter, wo Litzo all die Münzen rein tat. Später wurden die Münzen gezählt und Dirk gab ihm dafür Scheine. Es waren um die sechshundert Euro. Er hätte Dirk am besten geküsst. Das Geld half ihm, die nächsten Wochen seiner Obdachlosigkeit etwas humaner und etwas würdevoller zu verbringen.
Doch blieb es bei diesem einzigen Male in seinem Leben, wo Litzo eine Münze in einen Spielautomaten warf Und er kann sie immer noch nicht bedienen. Und immer noch machen sie ihm eher Angst, als das sie ihm bereiten würden Spaß und Vergnügen. Ist er doch mal in einer Spielhalle zu sehen, dann nur dem guten Kaffee wegen.
Irgendwann, es war vor circa fünfzehn Jahren, lernte Litzo einen Zeitungsverleger kennen. Man kam ins Gespräch über die Medien, über den Journalismus und über die Presse. Man verstand sich gut und tauschte in dieser Begegnung die Nummern aus. Ein paar Tage später rief der Verleger bei Litzo an, und seit dem schrieb er für seine Zeitung, Kolumnen und Berichte aus der Region. Das war irgendwann, vor circa fünfzehn Jahren. Seit dem schreibt er fast wöchentlich und manchmal mehrmals wöchentlich. Der Verleger, Herr Latsch, ist von seinen Kolumnen und Berichten immer wieder beeindruckt, begeistert und äußerst zufrieden. Schon nach sechs Monaten stieg er zum Korrespondenten seiner Region auf und nach weiteren sechs Monaten nahm er an den Sitzungen des Vorstandes teil. Die Zeitung schwor auf ihn, die Zeitung stand zu ihm und die Zeitung hielt zu ihm. Nach einem weiteren Jahr hatte er Leser, die ihn regelmäßig lasen und ihm auch gelegentlich schrieben. Er wuchs auf mit der Zeitung, die Zeitung wuchs auf mit ihm. Schon nach zwei Jahren wurden er und die Zeitung eine Einheit, eine Linie, eine Philosophie. Je wichtiger eine Sitzung in der Zeitung war desto wichtiger wurde auch seine Anwesenheit oder seine Beteiligung an dieser Sitzung. Selbst die größten und populärsten Persönlichkeiten nahmen nach zwei drei Jahren ihn wahr und legten das Augenmerk auf seine Kolumnen und auf seine Berichte. In der Presse war er bereits nach drei Jahren ein wer. Der Verleger zahlte gut und pünktlich. Selbst nach fünfzehn Jahren verstand man sich gut, doch noch nie hatten sie sich erlaubt, sich zu duzen. Auch wenn das Verhältnis sehr freundschaftlich war, blieben sie beim siezen. Bei jeder Gelegenheit, die sich bot, lobte der Verleger Litzo.
Kennen Sie das? Dass man nach Jahren des Erfolges, des Lobes, der Anerkennung und der Zustimmung das Gefühl nicht los wird, bewusst einen Bock abzuschießen. Bewusst einen Misserfolg zu produzieren. Schon seit sechs Monaten suchte ihn dieser Gedanke immer wieder auf. Irgendwo einen Fehler einbauen, irgendwie etwas Falsches produzieren oder erzeugen und das dann für sich behalten und die anderen, auch den Verleger, überlisten. Nach fünfzehn Jahren der seriösen und der ernsten Arbeit, sehnte er sich nach einer Fake-new. Genau, ein Fake-new musste her; als die Krönung seines Schaffens in der Presse. Ein Fake, dessen Geheimnis nur ihm vertraut war und womit er nicht nur die Zeitung, sondern auch die Leser reinlegen konnte und auch wollte. Nach dem er sich dazu entschlossen hatte, ein Fake-new zu produzieren, fing er an, zu überlegen, was er doch für ein Fake produzieren könnte. Er machte sich mehrere Tage Gedanken darüber, was für ein Fake er doch produzieren müsse, um seinem Wunsch, nach fünfzehn Jahren der Seriosität, etwas Falsches herbeizuschaffen, nachzukommen oder, um diesen Wunsch zu erfüllen. Täglich ging er am Rhein entlang spazieren und beschäftigte sich mit seinem Fake-new. Seine Ideen notierte er sich auf einen Zettel, den er nicht einmal seiner Frau oder seinen Kindern zeigte.
Er kam zu dem Entschluss, dass er einen Komplizen brauchte, um ein paar Photos zu schießen. Sein Freund Walter kam ihm in den Sinn; denn, Walter war für jeden Unsinn zu haben. Vor allem mit Litzo wäre er für jede Schandtat zu haben. Er wollte mit ihm reden, doch zuerst wollte er das Thema, die Nachricht noch fest machen. Worüber ein Fake? Er wusste es noch nicht. Täglich ging er den Rhein entlang spazieren und schaute auf die Schiffe und die Schlepper, den Fluss hoch und runter fahren, die Möwen fliegen und die Enten am Ufer sich ausruhen. Irgendwann nach Tagen am Rhein entlang, kam ihm endlich die Idee, worüber er doch einen Fake machen konnte. Die Idee kam ihm, als er in den Rhein auf die Schiffe schaute, die hoch und runter fuhren. Genau:Über die Schifffahrt auf dem Rhein. Darüber wollte er schreiben. Dazu brauchte er nur ein paar Photos von den Schiffen auf dem Rhein und von Walter, als einen angeblichen Reeder, der mehrere Passagierschiffe auf dem Rhein betrieb. Walter wäre bereit für ein Photo auf der Anlegestelle, vor irgendwelchen Passagierschiffen. Litzo beschloss, schon am nächsten Tag mit ihm darüber zu reden. "Du? Du willst ein Fake-new schreiben? Du? Ausgerechnet Du", wunderte sich Walter, als Litzo ihm sein Vorhaben erzählte, erklärte sich aber dazu bereit, und lachte sogar dabei. Ein paar Tage später schossen sie an der Anlegestelle, unten an der Brücke, neben einem Passagierschiff ein paar Photos. Litzo hatte auch schon den Titel des Berichtes im Kopf:" Die Schifffahrt am Rhein kämpft ums Überleben". Walter sollte in dem Bericht, nicht wie er doch heißt, Walter Cremer heißen, sondern Carsten Schneck. Ein Reeder, der über die Not in der Passagierschifffahrt am Rhein berichtet. Wieder ein paar Tage später verfasste Litzo den Bericht und schickte ihn zusammen mit den Photos an die Redaktion der Zeitung. Niemand schöpfte Argwohn oder List oder Betrug. Zwei Tage später erschien der Bericht auf der zweiten Seite der Zeitung, wo schon seit circa fünfzehn Jahren immer ein Bericht von Litzo Platz hatte. Es war ihm gelungen, ein Fake-new zu veröffentlichen. Wie der wirtschaftliche Zustand der Schifffahrt auf dem Rhein wirklich war, wusste er nicht, hatte keine Ahnung von den Verhältnissen dieser Branche. Irgendwie interessierte ihn das auch wenig. Er wollte nur nach fünfzehn Jahren der seriösen Tätigkeit irgendein Müll produzieren, irgendein Scheiß schreiben, um die Zeitung und die Leser reinzulegen. Und es sah so aus, als wäre ihm das auch gelungen. Alles bleib ruhig. Nichts und niemand meldete sich daraufhin. Der Scherz war ihm also doch noch gelungen. Immer dann, wenn er diesen Bericht mit Walters Photos sah, musste er lächeln.
Erst nach zwei Wochen meldete sich der Verleger der Zeitung, Herr Latsch. Das Telefon klingelte. Litzo hob den Hörer ab. „Litzo, hier Latsch. Was hat das zu bedeuten? Ich meine die Sache mit der Schiffahrt". Litzo verstand sofort, dass die Sache aufgeflogen war und reagierte ohne zu zögern:" Es tut mir leid. Bin wohl falsch informiert worden". „Mensch, Litzo, dass gerade Ihnen so etwas passieren muss". „Ja. Es tut mir leid". Latsch reagierte gelassen: „Schwamm drüber. Machen Sie wie gewohnt weiter. Sonst?" „Sonst ist alles gut". „Machen Sie es gut, Litzo. „Machen Sie es besser, Herr Latsch". Latsch legte wieder auf. Und die Sache von Fake-new war aufgeflogen und schon wieder vergessen, noch im selben Moment.