Lord Byron, der erste Anti-Byronist - Richard Schuberth - E-Book

Lord Byron, der erste Anti-Byronist E-Book

Richard Schuberth

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Beschreibung

In zwölf Essays nähert sich Richard Schuberth dem Dichter Lord Byron an und setzt dessen innere Widersprüche in Beziehung zu den Widersprüchen seiner Zeit sowie zu Problemen und Diskursen der Gegenwart. Wie niemand sonst polarisierte Lord Byron (1788–1824), »der erste Popstar der Geschichte«, schon zu Lebzeiten und entzauberte selbst den Mythos vom düsteren Helden, Libertin, Bürgerschreck und Freiheitskämpfer. In einem thematisch vielseitig angelegten Essayband rekonstruiert Richard Schuberth die Umbruchzeit zum sittenstrengen Viktorianischen Zeitalter und rehabilitiert »Byron, den ersten Anti-Byronisten« als entspannten Kritiker von Identität, Starkult und des eigenen Narzissmus. Schuberth befragt den Byron'schen Antihelden Byron zudem zu Orientalismus, Raubkunst und Postkolonialismus, der Erfindung des modernen Ich, zur »Byromania« und frühen Popkultur, zu Feminismus, Antisemitismus, seiner Körperbehinderung, seiner Bisexualität, zu Dandyismus, seinem Platz in den politischen Strömungen seiner Zeit und seinem Stellenwert als Dichter im Zwiespalt zwischen Aufklärung und Romantik. Abgerundet wird der Band durch Essays zu den »Byronisten« Michail Lermontow, Emily Brontë und Petar II. Petrović-Njegoš.

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Richard Schuberth

Lord Byron, der erste Anti-Byronist

Essays und Erkundungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2024

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Wallstein Verlag, unter Verwendung eines Stichs aus William Parry, The Last Days of Lord Byron (1825)

ISBN (Print) 978-3-8353-5688-7

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-8699-0

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-8700-3

Inhalt

Erster Teil

Byronische Paradoxe – nur eine Einleitung

Lord Byron und die Erfindung des bürgerlichen Ichs

Byron auf dem Diwan, Postkolonialismus auf der Couch

Der Fluch der Minerva – Lord Byron und die Elgin Marbles

Gaylord Byron – Homosexualität zwischen Identität und Laster

Byron und die Frauen – Plädoyer für einen misogynen Frauenversteher

Lord Byrons rechter Fuß

Byron und die Juden

Wo stand Byron noch mal politisch?

War Byron ein Dandy?

Byron als Dichter und Darsteller

Zweiter Teil

Petar Petrović Njegoš – der erste Byron’sche Held, der aus der Wildnis kam

Lermontow – müder Mann und tapferes Tier

Emily Brontë, Byronistin ohne Prätentionen

Dritter Teil

Vier Epiloge

1. Wie ich zu Byron kam

2. From the Age of Cunt to the Age of Cant

3. Byron’scher Humanismus

4. Und noch einmal Cant – oder: Lernen von Byron

Bibliografie

Danksagung

Abbildungsverzeichnis

Anmerkungen

Erster Teil

Hochmut, Unnahbarkeit, genialischer Weltschmerz? – Für Marianne Hunt sah Byron auf dieser Porträtskizze von George Harlow (1816) bloß so aus wie »ein großer Schuljunge, der statt eines Pflaumenplätzchens nur eines ohne Belag abbekam«

Byronische Paradoxe – nur eine Einleitung

»Wer verlangt Konsequenz? Der Dummkopf und der Doktrinär, diese langweiligen Leute, die immer an ihren Prinzipien festhalten bis zum bitteren Ende, bis die Praxis sie ad absurdum führt.«

Oscar Wilde

»Die Idiosynkrasie des lyrischen Geistes gegen die Übergewalt der Dinge ist eine Reaktionsform auf die Verdinglichung der Welt, der Herrschaft von Waren über Menschen, die seit Beginn der Neuzeit sich ausgebreitet, seit der industriellen Revolution zur herrschenden Gewalt des Lebens sich entfaltet hat.«

Theodor W. Adorno

Zuerst die gute Nachricht: Dieses Buch hat nur ein Vorwort. Aber vier Nachworte. Was mich persönlich mit Lord Byron verbindet, erfährt man in einem davon. So viel sei am Anfang schon verraten: Vorrangig verbindet mich mit ihm, dass ich wie er nie Byronist war. Aber, auch das will ich nicht verbergen, ich stehe auf vertrautem Fuß mit ihm.

Dies ist keine Biografie. Auch keine Einführung in Byrons Denken, Fühlen und Werk, es offeriert keinen Anekdotenschatz und will auch nicht das letzte Wort haben im unermesslich riesigen Feld der Byron-Forschung, deren Buchrücken aneinandergereiht ein Bücherbord von Aberdeen bis Mesolongi füllen könnten.

Es ist sogar nur bedingt ein Buch über Byron; in ein, zwei Essays dient er als Medium, Moderator und Vorwand für ganz andere Belange. Doch kommt es einem Werk über Byron bereits näher als mein letztes im Wallstein Verlag erschienenes, das verwirrenderweise seinen Namen im Titel führte: Lord Byrons letzte Fahrt. Dabei handelt es sich aber um eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges (1821-1829), bei welcher seine Lordschaft in nur fünf der 72 Kapitel auftreten durfte. Doch der illustre Name hat dem Buch bestimmt größere Aufmerksamkeit verschafft, als es etwa Franz Liebers letzte Fahrt oder Jakob Meyers letzte Fahrt getan hätten, um nur zwei philhellenische Freiwillige aus deren großer Schar herauszugreifen. Schwacher Trost für die Genannten: Das deutschsprachige Publikum kennt sie ebenso wenig wie Byron, wohl kennt es aber dessen Namen, der im kollektiven Gedächtnis abgespeichert ist und allerhand Assoziationen von Romantik und Verwegenheit evoziert. Ich habe mit meiner Titelwahl also am Byron-Kult mitgenascht und mich wenigstens keinen lebenden Celebritys angebiedert.

Das vorliegende Buch setzt einiges voraus. Von Byron ist im deutschsprachigen Raum kaum mehr bekannt als sein Mythos und bestenfalls die üblichen biografischen Eckdaten: Romantiker – bad boy – starb für Griechenland. Wer dieses Buch zur Hand nimmt, wird es nicht nur wegen des ansprechenden Covers getan haben, sondern ein spezifisches Interesse an Byron und seiner Zeit, möglicherweise auch einiges Vorwissen mitbringen. Er oder sie wird bald bemerken, dass es darin nicht nur um Byron geht, sondern dieser als diskursive Webachse einer Menge von Themen dient, deren Fäden sich in die Gegenwart fortspinnen. Ich werde also auf interessierte Leser vertrauen, die das Internet zu bedienen wissen, sodass ich mich davon befreie, meine ohnehin langen Sätze durch erläuternde Appositionen noch länger zu machen: Childe Harold muss reichen – »Byrons Debütwerk« braucht nicht hinzugefügt zu werden. Regency? – Gefällt sich der Autor in seinen englischen Fachtermini? Nein. Von Anchorage bis Capetown, von Lima bis Yokohama weiß die gebildete Menschheit ungefähr, wer Lord Byron war, und welche historischen Perioden als Regency und Empire bezeichnet werden, aber nur auf einem winzigen Teil der Erdoberfläche gab es Biedermeier und Vormärz und Goethe, den man im Rest der Welt bestenfalls als »Gööß« kennt. Vorab einige Empfehlungen.

Ich empfehle meinen Lesern und Leserinnen, deren Interesse größer als ihr Vorwissen ist, zum Beispiel André Maurois’ Byron-Biografie aus dem Jahr 1936. Das war mein Einstieg in dieses unerschöpfliche Thema. Ein etwas idealisierendes, gut recherchiertes und schön geschriebenes Buch. Von den jüngeren Biografien hat sich als Standardwerk Fiona McCarthys Buch durchgesetzt. Dieses idealisiert mitnichten, ist auf dem neuesten Stand, macht sein Sujet aber um eine Spur schwuler, als es war. Auch die dünne Bildmonografie aus dem Rowohlt-Verlag von Hartmut Müller taugt als solide Einführung. Der Vielschichtigkeit von Byrons Charakter können Filme kaum gerecht werden. Nicht schlecht gelungen ist es Julian Farino mit seinem BBC-Zweiteiler Byron aus dem Jahr 2003. Obwohl die Szenen aus Byrons letztem Lebensabschnitt in Griechenland lachhaft sind, spielt ihn Johnny Lee Miller hinreißend. Byron war natürlich anders, Miller aber schafft die realistischste Fiktion.

Der überwiegende Teil der Byron-Mythografie dreht sich um seine Person, sein Leben, seine Resonanz. Doch obwohl er das als Aristokrat gerne von sich wies, ging er auch einem Beruf nach. Er lebte und bediente seine Schulden nicht nur durch die Pacht seiner Herrensitze (die ihm noch mehr Schulden bescherten), sondern auch durch Einkünfte als Bestsellerautor. Er war Dichter. Und er ist lesbar. Von seinen poetischen Werken empfehle ich Don Juan, Beppo, The Vision of Judgement und das Fragment The DeformedTransformed. Wem die lyrische Form weniger liegt, der wird sich bestimmt für die im Fischer Verlag erschienene Blütenlese aus Byrons Briefen und Tagebucheinträgen erwärmen und ein Kompendium von Überraschungen vorfinden, zumindest die denkbar unterhaltsamste Briefliteratur, deren Duktus und Witz die wenigsten der Zeit von Weimarer Klassik und Romantik zutrauen würden. Ein interessantes Psychogramm und mitunter geistvolle Reflexionen beinhalten Lady Blessingtons Conversations with Lord Byron.

Die akademische Literatur zu Byron ist ein Fass ohne Boden. Von den neueren diskursiven Annäherungen stechen aus meiner Sicht Tom Mole und Ghislaine McDayter hervor. Spät, auf halbem Weg sozusagen, aber rechtzeitig entdeckte ich den 2015 verstorbenen Byron-Spezialisten Peter Cochran, der solidere Wegweiser bereitstellte als so viele bemühte Aufsätze des Byron-Diskurses, welche sich zu oft darauf beschränkten, am Verständnis des Sujets vorbei dieses ihren je neuesten Epistemen einzupassen und die übliche Referenzgymnastik zu betreiben. Cochran knows no cant (zum Verständnis von cant, dieser fürs Verständnis Byrons wichtigen Vokabel [zum Text]): Höchste fachliche Autorität, reflexive Eigenständigkeit und ein Humor, der den Byrons nicht bloß verdoppelt, geben das Beispiel einer knappen, dichten akademischen Prosa, die zu viel Substanz hat, um sich hinter Jargons zu verstecken. Zu den besten zeitgenössischen Texten über Byron zählt der Essay seines Kritikers William Hazlitt.

Noch interessanter als Lord Byrons Lebensgeschichte, seine vieldokumentierten Eskapaden, Skandale und Schicksalsschläge ist seine Funktion als Spiegel seiner Zeit, die eine Zeit des Umbruchs war am Morgen dessen, was wir heute retrospektiv als Moderne bezeichnen – Byron als Zerrissener zwischen Aufklärung und Romantik, zwischen Witz und Schwärmerei, zwischen den Zeitaltern des Hedonismus (Regency) und der sittlichen Repression (Victorian Age), zwischen Feudalismus und Kapitalismus, Kosmopolitismus und Nationalismus, zwischen der verspielten Gesellschaftlichkeit des 18. Jahrhunderts und einem emotional aufgeladenen Subjektivismus …

So möchte ich ein Buch, eine lose Sammlung von Essays vorlegen, worin es um nichts weniger geht als die Erfindung des bürgerlichen Ichs, Byromania als den ersten Popkult und Byron als den ersten Popstar, Homosexualität und Orientalismus, einen Einspruch gegen Theorien des Postkolonialismus durch Darstellung der reichhaltigen Tradition eines Byron folgenden europafeindlichen Kulturrelativismus, die Frage von kolonialer Raubkunst (anhand von Byrons Kritik an Lord Elgins Plünderung der Akropolis), Byrons Verhältnis zu Frauen zwischen Misogynie und Feminismus, Byrons Verhältnis zu Juden zwischen Philo- und Antisemitismus, den Dandyismus und die exzentrischen Sozialtypen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, eine Annäherung an Byrons Dichtung, den behinderten Lord Byron als geistigen Ahnen der »Krüppelbewegung«, Byron als politischen Denker, Dilettanten und Akteur. In einem zweiten Teil werde ich anhand dreier exemplarischer Porträts die Folgen des Byronismus herausarbeiten: Texte über Petar Petrović Njegoš (den »ersten Byronisten, der aus der Wildnis kam«), Michail Lermontow (»müder Mann und tapferes Tier«, wie ihn James Joyce nannte) und Emily Brontë (als »Byronistin ohne Prätentionen«). Alle Zitate in diesem Buch wurden, so sie nicht in deutscher Übersetzung verfügbar waren, von mir aus dem Englischen ins Deutsche übertragen.

Ich will die geneigten Leserinnen und Leser nicht negativ beeinflussen, aber es bleibt nach getaner Arbeit das Gefühl zurück, überhaupt nur die Einleitung zu einem größeren Buch geschrieben zu haben. Wo manche eine erdrückende Fülle an Fakten und Reflexionen gewärtigen mögen, sehe ich kratergroße Auslassungen.[1]

Um Byron wurde so viel mythisierender Glitter geschichtet – mit seiner Assistenz zumal –, dass es allerhand zu dekonstruieren gäbe (verwendet man dieses Verb außerhalb des Journalismus überhaupt noch?). Meine persönliche Verbeugung vor diesem ersten Popstar, der mir zunächst nicht sonderlich sympathisch war, liegt darin, die Dekonstrukteure in Schach zu halten, um ihm selbst die Gelegenheit zu geben, deren Arbeit zu leisten. Und das macht er wirklich gründlich.

Oft entscheidet die Berühmtheit eines Menschen, ob dessen Denkfehler nun als »faszinierende Widersprüchlichkeit« oder Dummheit gelten. Erstere setzt ganze Akademiker-Communitys in Lohn und Brot. Die Strecke der Buchrücken zwischen Aberdeen und Ravenna sowie unzählige Symposien versuchten der Systematik von Byrons Sprunghaftigkeit auf die Spur zu kommen, und jemand, der am Sonntag das und am Dienstag jenes sagt, der liefert den Hermeneutikern reichlicher Futter als die Langeweiler folgerichtigen Denkens und des Ethos der Konsequenz. Die Seriosität, mit welcher die gebildete Nachwelt Byrons geistige Schnellschüsse zu Artilleriedonnern der Epoche hypostasieren würde und überall interessante Aporien aufspürte, wo er selbst sich bloß von den Launen des Tages treiben ließ, all dieser akademische Cant hätte ihn wohl sehr amüsiert.

Interessant wird es, wo er seine Inkonsistenz bewusst (oder halbbewusst) als Provokation inszenierte – als Provokation von Systemen, Dogmen, Reglementierungen. Der nach eigenem Dafürhalten hochmoralische und rationalistische Dichter erkannte wie kein anderer den nivellierenden Zusammenhang von Moralismus und Positivismus, die sich vermählen würden im Geiste sozialer Kontrolle. Zu einer Zeit, als sich alle erstmals finden wollten, propagierte er die Romantik des heiteren Sichverlierens. Die Kultivierung des empfindsamen Ichs allerdings erkannte er als Sackgasse, zumindest als prätentiöse Wichtigmacherei. Als Improvisateur im Leben wie in der Dichtung widerstrebte er jeglicher Substanzialität, seine Dichterexistenz war nichts als eine unablässig vagierende Versuchsanordnung. Keiner seiner Reime und Gedanken drückte wirklich eine Wahrheit aus, dennoch näherten sie sich ihr stets auf Sichtnähe. Das hatte positiven Formulierungen von Wahrheit voraus, dass Byrons ungelenkere Versuche, während jene sich auf der Richtigkeit ihrer Momentaufnahmen ausruhen, der Wahrheit in rastloser Bewegung auf den Fersen blieben. Ganz im Geiste nüchtern-ironischer Distanz, den er am 18. Jahrhundert so bewunderte, macht es ihm Spaß, Romantik als Nervenkrankheit zu disqualifizieren; davon zeugen schon seine kindischen Wortspiele: Enthusiasmus nennt er ethuzymuzy, Melancholie lemancholy, Poesie poeshy und das Mysterium des Liebesaktes fluff-fluff-fluff. Infantilität ist ihm eine der Strategien, neben Sachlichkeit, Sarkasmus und gespielter Banalität, die hochtrabenden Ideale des Bürgertums, an welchen er die Lüge spürt, zu verhöhnen. Zu diesen zählt auch die Harmonisierung der Klassenwidersprüche, entweder durch die Einbildung eines abstrakten Subjekts oder aber der Volksgemeinschaft. Mit seiner aristokratischen Arroganz gemahnt Byron das Bürgertum stets an das Klassengefälle, das dieses so gern hinter seinen Erzählungen vom wertschaffenden Individuum und der an einem Strang ziehenden Nation verschwinden lassen will. Er wird zum Anwalt der Unterdrückten, sobald sich die bürgerlichen Unterdrücker mit diesen gleichstellen und deren Kultur verklären, er verteidigt seine Privilegien, sobald sie sich als die neuen Adeligen in Sitte und Kultur aufspielen. Karl Marx nennt einen solchen immerhin noch »aristokratischer Sozialist«, der Marxist Bertrand Russel nur mehr »aristokratischer Rebell«.

Byron hat der Kulturindustrie eine Kunstfigur beschert, die diese schon vor ihrer Geburt davor bewahrte, an Langeweile einzugehen: den romantic villain (nicht jeder Byronic hero ist ein solcher, aber solch einer ist immer ein Byronic hero). Und eben dass der romantische Bösewicht vieles sein kann, ein Provokateur herrschender Pseudomoral, ein Opfer der Verhältnisse oder die leibhaftige Affirmation des Bösen, ist das Geheimnis seiner ungebrochenen Faszination. Bei Byron selber ist die Ambivalenz dieser verdüsterten Seelen ziemlich scherenschnitthaft, und ihre Kritik äußerte sich nicht nur im Ton moralischer Entrüstung, sondern mitunter auch in den Tonlagen der Ironie, auf die Byron sich selbst so gut verstand. Thomas Love Peacock, ein enger Freund Percy Shelleys und als satirischer Romancier unbedingt wiederzuentdecken, hat die Klischees des Byronismus in seinem Roman Nightmare Abbey (1818), in dem er so ziemlich alle modischen Stränge der Romantik aufs Korn nahm und Byron in der Figur des misanthropischen Poeten Mr. Cypress seinen Auftritt hat, wohl am kompaktesten persifliert. Den »ehrenwerten Mr. Listless« lässt er darin bekennen: »… moderne Bücher üben eine sehr trostreiche und angenehme Wirkung auf mein Gemüt aus. Sie sind gewissermaßen von einem herrlichen Nordostwind durchatmet, ein intellektueller Pesthauch. Von einer köstlichen Menschenfeindlichkeit und Unzufriedenheit, welche die Nichtigkeit von Tugend und Energie bezeugen und mich in gutes Einverständnis mit mir selbst und meinem Sofa versetzen.«[2] Mr. Flosky indes weiß, dass der edle Übeltäter Byron’scher Prägung eine Chimäre ist:

»… und nun besteht das Vergnügen unseres Geistes darin, bei allen Lastern und den dunkelsten Leidenschaften unserer Natur zu verweilen, herausgeputzt in einer Maskerade des Heldentums und der enttäuschten Güte, deren ganzes Geheimnis darin liegt, Kombinationen zu bilden, die allen unseren Erfahrungen widersprechen. Und so wird just jenen Charakteren der Purpurstreif einer bestimmten Tugend angeheftet, bei denen wir sie im wirklichen Leben mit Sicherheit nie antreffen würden, und diese eine und einzige Tugend soll nicht nur alle wirklichen und offenkundigen Laster wettmachen, sondern diese werden sogar zu notwendigen Anhängseln und zu unerläßlichen Eigenschaften besagter Tugend erklärt.«[3]

Wir sehen: Es führt kein direkter Pfad von Lord Byron zu Adolf Hitler, wie Bertrand Russell behauptete, sehr wohl aber einer von Lord Byron zu Quentin Tarantino.

Peacock wusste 1818 freilich noch nicht, dass sich Byron spätestens unter italienischer Sonne in einen aufrichtigen Anti-Byronisten verwandelt hatte. Shelley, der als die eigentliche Hauptfigur des Romans, Scythrop, selbst sein Fett wegbekam, war begeistert. Leider ist nicht übermittelt, ob er ihn Byron zu lesen gab und ob diesen das eigene satirische Porträt amüsierte oder verärgerte. Beides ist möglich (bei Byron sogar simultan).

Als lebensphilosophischer Ratgeber taugt Byron am besten für den biografischen Umschlag in eines jeden Leben, wenn das idealisierende Selbstbild endlich in sich zusammenbricht. Da ist und bleibt er ein trostreicher Trinkkumpan, mit dem es sich gut auf die eigenen Schwächen anstoßen lässt.

Letztlich konnten und können wenige von sich behaupten, was er kurz vor seinem frühen Tod schrieb: »Es ist mir ein großer Trost, dass die vorübergehende Berühmtheit, die ich der Welt abgerungen habe, dem Zahn der Zeit mit all seinen Meinungen und Vorurteilen entzogen wurde. Ich habe keiner herrschenden Macht geschmeichelt; ich habe keinen einzigen Gedanken verschwiegen, der mich reizte.« Ausdruck der Selbstmystifikation oder doch eines unkorrumpierbaren Individualismus? Beides ist möglich (bei Byron sogar simultan).

Falls Ersteres zutrifft, geschah dies nur durch ein ausgefuchstes Versteck- und Rollenspiel. Doch wer sich so zersplittert, wo andere nach der einen Identität, nach dem vermarktbaren Eigen-Brand, nach dem stabilen Gefäß suchen, in das sich dann Honigströme der sozialen Bestätigung ergießen können, der verkörpert doch trotz all der Anwürfe von Selbstverliebtheit und Egoismus den vollkommenen Anti-Narzissmus. Nun, so einfach ist es, wie wir sehen werden, dann doch nicht. Im Mai 1823 verriet Byron Lady Blessington bei einem ihrer gemeinsamen Ausritte:

»Die Menschen nehmen alles, was ich sage, für bare Münze und gehen ständig mit falschen Eindrücken davon. Mais n’importe! Die Feststellungen meiner künftigen Biografen werden dadurch nur amüsanter werden; denn ich schmeichle mir, dass ich mehr als einen haben werde. Je mehr, desto lustiger, meine ich wirklich. Einer wird mich als eine Art von sublimem Misanthropen mit Augenblicken freundlicher Empfindungen darstellen. Das ist, par exemple, meine Lieblingsrolle. Ein andrer wird mich als einen modernen Don Juan porträtieren; und ein dritter […] wird mich hoffentlich, wenn auch nur aus Widerspruchsgeist, als einen liebenswerten, schlecht behandelten Gentleman hinstellen, gegen den ›mehr Sünden begangen wurden, als er selbst beging‹. Soweit ich mich selber kenne, möchte ich behaupten, dass ich überhaupt keinen Charakter habe […] Doch Scherz beiseite, was ich von mir selber denke, ist, dass ich so veränderlich bin, alles abwechselnd und nichts für lange – eine so seltsame Mischung aus Gut und Böse, dass es schwerfallen dürfte, mich zu beschreiben.«[4]

Man kann bei Byron noch so Kurs zu halten versuchen zwischen Idealisierung und Ablehnung, es lässt sich einfach nicht verhindern, ihn charmant und dann wieder lächerlich zu finden, unverschämt geistreich und peinlich banal, zynisch und empathisch, selbstlos wie selbstgefällig, politisch engagiert und nur sein eigenes Süppchen kochend, feig und mutig, abschätzig und respektvoll, energisch und träge, und ewig ließen sich diese Wortschatzübungen der Paradoxien weiterführen … ehe man sich dabei ertappt, doch wieder nur in den Spiegel geschaut zu haben.

Charles Williams: An English Dandy in Paris, 1818

Lord Byron und die Erfindung des bürgerlichen Ichs

Selbstverlust durch Authentizität

»Die Geselligkeit des Spiels beruht nicht auf der gegenseitigen Selbst-Offenbarung. Menschen werden vielmehr dann gesellig, wenn sie voreinander Distanz wahren. Die Intimität zerstört sie dagegen.«

Richard Sennett

Byron wandelte nicht nur an der Bruchkante zweier Zeitalter. Der Riss verlief mitten durch ihn hindurch. Was die Welt an ihm interessant fand, war – niemand wusste es besser als er – Schall und Rauch, Täuschung und Projektion. Dass er diesen Riss erkannte und beredt machte, ist sein bleibendes Verdienst, sein wahrer Heroismus. Der verächtliche Individualismus des Childe Harold, mit dem der adoleszente Lord sich selbst mystifizierte, lieferte eines der reizvollsten Identifikationsmodelle für seine eigene und folgende Generationen, eine prächtig-schöne, einsame Raupe, aus deren Verpuppung indes außer ihm kein Schmetterling schlüpfen würde. Das Ich ist eine Falle. Die Sozialen Medien am Beginn des 21. Jahrhunderts sind die aktuellen Friedhöfe dieses unerlösten Wiedergängers. Byron gelang es dennoch, die Verpuppung zu sprengen, nur um aus der von ihm mitgeschaffenen Romantik ins geliebte Augusteische Zeitalter zurückzufliegen, zurück in die Zeit von Alexander Pope, Jonathan Swift, Henry Fielding und Mary Montagu, von Vernunft, Witz und Spiel. Doch die Flugbahn in die Vergangenheit existierte nicht, der aparte, heimatlose Kohlweißling wurde als Schädling empfunden, und so blieb ihm nichts, als seine Zeitgenossen zu umflattern und zu necken.

Die Entwicklung des modernen, bürgerlichen Subjekts vollzog sich allmählich. Modelle der Periodisierung sind nicht mehr als Modelle. Wollte man aber einen abrupten psychohistorischen Umschlag postulieren, so könnte man den zum Beispiel auf den 2. Mai 1824 datieren. An diesem Tag sprach Johann Peter Eckermann zu Goethe: »Ich trage in die Gesellschaft gewöhnlich meine persönlichen Neigungen und Abneigungen und ein gewisses Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden. Ich suche eine Persönlichkeit, die meiner eigenen Natur gemäß sei; dieser möchte ich mich ganz hingeben und mit den andern nichts zu tun haben.« Darauf versetzt ihm der alte Goethe, der noch einer anderen Zeit angehörte, folgenden Rüffel:

»Diese ihre Naturtendenz ist freilich nicht geselliger Art; allein was wäre alle Bildung, wenn wir unsre natürlichen Richtungen nicht wollten zu überwinden suchen. Es ist eine große Torheit zu verlangen, daß die Menschen zu uns harmonieren sollen, ich habe es nie getan. Dadurch habe ich es dahingebracht, mit jedem Menschen umgehen zu können, und dadurch allein entsteht die Kenntnis menschlicher Charaktere, sowie die nötige Gewandtheit im Leben. Denn gerade bei widerstrebenden Naturen muß man sich zusammennehmen, um mit ihnen durchzukommen. So sollten Sie es auch machen. Das hilft nun einmal nichts, Sie müssen in die große Welt hinein. Sie mögen sich stellen, wie Sie wollen.«[1]

Goethe, der an anderer Stelle auch schrieb, wer in Gesellschaft vergesse, den Schlüssel von seinem Herzen abzuziehen, sei ein Narr, hatte gegenüber Eckermann, diesem Prachtexemplar kleinbürgerlicher Selbstfindung, freilich leichtes Spiel, sich als aristokratischer homme du monde in Kontrast zu setzen. Doch tadelte er auch den Eckermann in sich selbst, dessen Bedürfnisse ihm nicht fremd waren.

Viel wurde über Goethes Verliebtheit in die 50 Jahre jüngere Ulrike von Levetzow geschrieben, sein beständiger Altersschwarm aber war Lord Byron. Vom Beginn der Karriere des Engländers 1812 bis zu dessen Tod 1824 leuchtete ihm dieser westliche Stern ins Bewusstsein, in dem er eine jüngere, wildere, weniger affektkontrollierte Version seiner selbst erkannte und der weit genug von ihm entfernt war, um ihn neidlos bewundern zu können. Von Byrons übrigen Zeitgenossen unterschied Goethe, dass er nicht nur Byrons schwächere Werke, sondern auch den Don Juan zu schätzen wusste.

Wer den Verdacht der Verliebtheit zerstreuen will, wertet das begehrte Objekt hie und da auch mal ab. Gegenüber Eckermann tadelte Goethe wie ein strenger, aber insgeheim stolzer Vater immer wieder Byrons Lebenswandel und behauptete eines Tages: »Aber Lord Byron ist nur groß, wenn er dichtet; sobald er reflectirt, ist er ein Kind.«[2] Ein vermessenes Urteil von einem, der lediglich Byrons lyrische Dichtung kannte. Nun enthielt sich Goethe selbst in seinen Reflexionen jeglicher Systematik, weshalb ihn der philosophische Kanon auch als philosophierenden Dichter und bestenfalls lebensklugen Aphoristiker abtat. Byron erhob nie den Anspruch, Denker zu sein, und kokettierte fröhlich mit seiner Infantilität, dennoch finden sich in seinen Briefen, Journalen sowie Zeitzeugenberichten scharfsinnige Reflexionen, die seinen älteren Weimarer Bewunderer in Verlegenheit gebracht hätten. Vor allem hatte Byron das Problem mit dem Herzen und dem Schlüssel, also den zeittypischen Konflikt zwischen Selbstdistanz und Selbstoffenbarung, dadurch gelöst, dass er die äußeren Trakte seines geräumigen Herzens stets offen hielt, das Innere aber verschlossen. Das befähigte ihn, je nach Umgang und Laune, zwischen unmittelbarer Herzlichkeit und der Distanziertheit des Dandys zu wechseln, eine Rollenflexibilität, in der die neuen Apologeten des authentischen Ichs nichts als Unaufrichtigkeit sahen. Byron war noch mit den Werten einer Gesellschaft sozialisiert, in der Wahrheit auch in der Travestie gesucht wurde.

Wie der Cowboy, der, die heranrückende Zivilisation im Rücken, gen Westen ausweicht, folgte Byron der untergehenden Zivilisation des Spiels nach Südosten – nach Italien, wo noch die Kultur des Karnevals und der unernsten Großsprecherei herrschte. In England hatte, wie er nicht zu deklamieren müde wurde, der Cant seine Regentschaft angetreten, ein Begriff, der mit Heuchelei nur provisorisch gefasst werden kann, aber den unvermeidlichen Kollateralschaden jeglicher Ambivalenzabwehr ausmacht.

Die Nach- und Vorteile von Geselligkeit und Eskapismus, den Narzissmus, der beiden innewohnen kann, hat Byron stets aufs Neue abgewogen und an sich selbst mit einer erstaunlichen Ehrlichkeit protokolliert, vor der sich Goethe mit der Maske der Contenance schützte. Am 25. Februar 1824 hatte dieser zu Eckermann gesprochen: »So konnte Lord Byron nie zum Nachdenken über sich selbst gelangen; deswegen auch seine Reflexionen ihm überhaupt nicht gelingen wollen …«[3] Nichts falscher als das, und man wundert sich, worauf Goethe dieses Verdikt gründet, und will sich nicht ausmalen, wie seine ohnehin enthusiastische Bewunderung an Intensität gewonnen hätte, wenn ihm je Byrons Reflexionen zu Gesicht gekommen wären.[4]

In seinen Gesprächen mit Lady Blessington (die in jeder Hinsicht reizvoller als Eckermann war) legte Byron genau dar, warum er, nachdem er jahrelang erfolgreich die Rolle des Gesellschaftslöwen gespielt hatte, diese Manege floh: »Ich empfinde die Gesellschaft als meinen Feind, und das mehr als in übertragenem Sinne: Ich bin sie nicht geflohen, ich habe mich zurückgezogen. Und auch wenn mich die Einsamkeit nicht besser machte, so hat sie doch verhindert, dass ich schlechter wurde, und das ist wohl eine Errungenschaft.«[5]

Als Mensch mit der Fähigkeit zur Selbstobjektivierung war Byron vielleicht weniger narzisstisch als die Gesellschaft, die ihren Narzissmus in ihm zu spiegeln versuchte. Doch wusste er alles über den sozialen Narzissmus, der seine Gier nach Gratifikation als Transparenz und Nahbarkeit zu kaschieren weiß, wie er alles über den Narzissmus der stoischen Einsamkeit wusste, den die Psychologie auch als narzisstischen Rückzug bezeichnet:

»Sie hat nur einen Nachteil (sprach Byron), einen schwerwiegenden zumal: Sie lässt uns eine zu hohe Meinung von uns selbst bilden. In der Gesellschaft werden wir gewiss oft an jeden unserer bekannten oder vermeintlichen Fehler erinnert; das hindert uns – es sei denn, wir verfügen über ein überdurchschnittliches Maß an Eitelkeit –, eine allzu hohe Meinung von uns zu bilden, denn wehe dem, der verlauten lässt, mehr von sich zu halten als von seinen Nächsten: ein Verbrechen, das alle gegen einen aufbringt. Das war der Felsen, an dem Napoleon scheiterte; er hatte die amour-propre anderer so oft verletzt, dass die froh waren, ihn von dem Podest zu stürzen, das ihn als Riese und sie als Zwerge erscheinen ließ. Besitzt ein Mann oder eine Frau auffallende Überlegenheit, muss ein Mangel oder eine Schwäche an ihnen aufgespürt werden, um diese auszugleichen, und damit ihre Zeitgenossen sich über ihren Neid hinwegtrösten können […]: ›Nun, wenn ich schon nicht das Genie von Herrn Soundso oder die Schönheit und das Talent von Frau Soundso besitze, so entbehre ich wenigstens des jähzornigen Temperaments des einen oder der überheblichen Eitelkeit der anderen.

Aber, um auf die Einsamkeit zurückzukommen (sagte Byron): Sie ist das einzige Narrenparadies auf Erden: Dort haben wir niemanden, der uns an unsere Fehler gemahnt oder durch Vergleiche demütigt. Unsere bösen Leidenschaften schlafen, weil sie nicht geweckt werden; unsere Werke erscheinen erhaben, weil kein gütiger und verständiger Freund uns dort, wo wir uns am brillantesten wähnen, auf ihre Mängel aufmerksam macht und auf Stil- und Bildfehler hinweist: Das sind die Vorzüge der Einsamkeit, und wer sie einmal gekostet hat, der kann wohl nie wieder in die geschäftige Welt mit der alten Lust an ihren fieberhaften Vergnügungen zurückkehren.«[6]

Eine verkürzte Lesart stellt Goethe als aufklärerischen Kritiker der Romantik und der Romantiker hin. Desgleichen haben er, Schiller, Herder und andere diese vorbereitet, motiviert, mitgetragen. Goethe fühlt sich von Byron auch angezogen, weil er mit ihm ein paar Geheimnisse teilt, die er hinter dem halb höfischen, halb staatsbeamteten Habitus apollinischer Ausgewogenheit zu verbergen weiß. Im Kontrast zu den jüngeren Spießern des deutschen Geisteslebens kann Goethe leicht den frivolen Kosmopoliten geben, doch weiß er zudem, was ihm viele bewunderte Briten, Franzosen und Italiener (die Russen kennt er noch nicht) voraus haben. Weder er noch Byron sind – trotz liberaler Lippenbekenntnisse – Demokraten, und in Napoleon bewundern sie weniger den Verbreiter des Code civile als den Titanen. Beide indes misstrauen den neuen Moden der Hypostasierung des Subjekts. Für den Juristensohn Goethe hat Byron alle Freiheiten, ein Wüstling zu sein und über die Stränge zu schlagen. Weil er ein Lord ist. Was Goethe nicht weiß: dass Byron nicht weniger Parvenü ist als er selbst – zwar einen Titel in die Wiege gelegt bekam wie die Fußverkrümmung, doch mit unsicheren Perspektiven zunächst in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war, ehe er durch den Zufall eines Unfalls in der Nebenlinie seiner Familie in den Hochadel aufstieg. Byrons ganzer aristokratischer Habitus nimmt bereits die Kompensation des bürgerlichen Aufsteigers vorweg. Wie Byron ist Goethe auf den Ossian[7] hereingefallen. Beide haben befunden, dass Kosmopolitismus nicht an den Grenzen der west- und mitteleuropäischen Reiche aufhören darf, und den abendländischen Kanon durch das Studium diverser Volkskulturen und der Literatur des Ostens zu erweitern versucht. Doch wenden sie sich von dieser Tendenz ab, als der romantische Exotismus den Kanon zerstören will. Beide wissen um ihre Zwitterhaftigkeit von Gesellschaftlichkeit und Hybris des solitären Genies; beiden missfällt dieses neue Pathos der von sich selbst trunkenen Ernsthaftigkeit. Zudem mochte Goethe, der in seiner Jugend in Italien homosexuelle Erfahrungen gemacht hat, im jungen Lord sofort die verwandte Seele gespürt haben. Das größte Geheimnis aber, dass die beiden trotz eines Altersunterschiedes von beinahe zwei Generationen teilen: Sie verehren das Genie, und dennoch erkennen sie das genialische Ich auch als Zombiebiss, Verirrung, Deformation, und dass die alte feudale Klassengesellschaft, obwohl sie überwunden werden musste, doch eine Gesellschaft war; während die neuen Individuen in ihrer Hybris und in ihrem Unverständnis ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit nur künstliche Gemeinschaften zustande bringen werden. Das bürgerliche Ich und die Volksgemeinschaft sind der pathologische Januskopf der Moderne.

Byron, der Zerrissene

Temperate I am – yet never had a temper;Modest I am – yet with some slight assurance;Changeable too – yet somehow ›Idem semper:‹Patient – but not enamoured of endurance;Cheerful – but, sometimes, rather apt to whimper:Mild – but at times a sort of ›Hercules furens:‹So that I almost think that the same skinFor one without – has two or three within.

Lord Byron, Don Juan, Canto XVII, 11

If a writer should be quite consistent,How could he possibly show things existent.

Lord Byron, Don Juan, Canto XV, 87

Dr. Millingen, der die letzten Monate in Byrons Leben mit diesem in Griechenland verbrachte, rekapitulierte noch einmal, was auch andere bezeugten:

»Nur jene, die einige Zeit mit ihm verkehrten, konnten die Gewissheit erlangen, dass das Temperament eines Menschen, gleich einem Proteus, zu so vielen Metamorphosen fähig ist. Es lässt sich wörtlich sagen, dass er zu verschiedenen Stunden des Tages die Gestalt von vier oder mehr Individuen annahm, ein jedes im Besitz der gegensätzlichsten Eigenschaften; denn bei jeder äußeren Veränderung trieb ihn sein natürliches Ungestüm in Extreme. Im Laufe des Tages konnte er der verdrießlichste und heiterste, der melancholischste und ausgelassenste; der großzügigste und der geizigste; der wohlwollendste und der menschenfeindlichste; der vernünftigste und der kindischste; der erhabenste und tiefgründigste, der leichtsinnigste und oberflächlichste Geselle sein; das sanftmütigste Wesen, das man sich vorstellen kann, und das jähzornigste. Seine Werke tragen den Stempel seines Charakters, und Childe Harold ist kein weniger getreues Bild an einem Tag, als es Don Juan an einem anderen ist.«[8]

Nicht minder klar hatte ihn eine seiner klügsten Kennerinnen, Lady Blessington, beschrieben, die ihn ein halbes Jahr früher als Millingen in Genua traf:

»Ich bin sicher, dass, wenn zehn Personen Byron beschreiben müssten, keine zwei von ihnen in ihrem Urteil übereinstimmen oder ein Bild vermitteln könnten, das dem jeweils anderen ähnelte, und dennoch könnte die Beschreibung eines jeden nach seiner oder ihrer Meinung richtig sein; aber die Wahrheit ist, dass der chamäleonartige Charakter Byrons und sein entsprechendes Verhalten es schwierig machen, ihn zu porträtieren; und das Vergnügen, das er zu haben scheint, seine Zeitgenossen in ihrer Einschätzung von ihm zu täuschen, macht die Sache nicht leichter.«[9]

Das Gleiche gilt übrigens für seine Abbildungen und Büsten. Dazu später.

Dass die Restbestände der Postmoderne sich um Byron als den Schutzpatron aller fluiden, fragmentarischen, nicht fassbaren Identitäten reißen würden, liegt auf der Hand, doch ließe er sich im Sinne Adornos auch als Heros der Nicht-Identität lesen. Gut könnten sich Byrons Widersprüche auch mit Hegels Phänomenologie der Moral fassen lassen. Ich bin nicht in der Lage, diese Arbeit zu leisten, aber als wahre Hamlet-Natur entspricht Byron sowohl der von Hegel kritisierten Schönen Seele als auch der des realitätsmächtigeren zerrissenen Bewusstseins. Unsystematisch und instinktiv wendet sich Byron gegen die falsche Substantialität des Ichs und lehnt ab, was auch Hegel an den Romantikern missfällt. Er ist selbst der personalisierte Widerspruch seiner Zeit, der nie die dialektische Volte nach vorne schafft und sich durch Travestien der Selbstrelativierung unfassbar, unangreifbar macht, ehe sich ihm die Möglichkeit der Selbstbefreiung durch die politische Tat bietet.

Psychologisierend könnte diese permanente Chamäleonhaftigkeit als die narzisstische Taktik interpretiert werden, fragile Souveränität zu behalten, indem man jedes soziale Bild von sich sabotiert und in der Allmachtsfantasie einer unendlich vielfältigen Persönlichkeit schwelgt. Entgleitet solch einer Person die Regie über ihre Travestien, wird das als Psychose aufgefasst und ist wohl auch eine. Lady Caroline Lambs berühmtes Verdikt hingegen, Byron sei »mad, bad and dangerous to know«, kann als schulbuchtaugliche Projektion überführt werden.

Seine Frau Anne Isabelle Milbanke hielt ihn eine Zeitlang wirklich für verrückt. Byron tat auch einiges, um diesen Glauben in ihr zu wecken. Die Ehe erwies sich als ein einziges Desaster. Lady Byron, eine Frau von mathematischer Intelligenz, hatte Schwierigkeiten, sein Spiel mit den Identitäten kognitiv zu fassen. Byron, mitnichten ein Verächter weiblicher Intellektualität, hatte bei Anne Milbanke vor den Romantikerinnen seiner Zeit Zuflucht gesucht, und war vom Regen in die Traufe geraten, direkt in die Fänge des wissenschaftlichen Positivismus, in heiliger Union mit anglikanischem Moralismus noch dazu. So begann er im Wissen, dass der tote Winkel ihrer Klugheit darin bestand, nicht zwischen Spiel und Ernst unterscheiden zu können, mit unverhohlenem Sadismus ihre Logik und ihre Moral zu provozieren: durch Affektausbrüche, Anspielungen auf vergangene Verbrechen, Sodomie und aktuellen Inzest, aber auch Elogen auf den Islam und das Bekenntnis, während seiner Reise in den Orient beinahe zum Glauben des Propheten konvertiert zu sein. Nicht nur sie nahm dies für bare Münze, sondern auch der Literaturwissenschaftler Bernard Blackstone, der sich in einem längeren Aufsatz[10] auf die These versteifte, Byron sei in Epiros von Ali Pascha in den Bektaschismus[11] eingeführt worden. Ein Ding der Unmöglichkeit, denn Lord Byron schaffte es nicht einmal zum Freimaurer.

Somit wage ich mich vorsichtig an die Behauptung heran, dass Byrons Chamäleonhaftigkeit nicht bloß impulsive Charaktereigenschaft war, sondern teils ein – gleichwohl nicht ausformuliertes – Programm verfolgte. Dieses Programm aber hatte wenig mit einem der Romantik nachgesagten Erkenntnisrelativismus zu tun, noch war es ein antiaufklärerischer Triumph der Inkonsistenz. Byron war ein begeisterter Leser von Voltaire und Diderot und gewiss mit der skeptischen Ich-Philosophie David Humes und dessen Traktat über die menschliche Natur vertraut. Von seinem großen Vorbild Rousseau distanzierte er sich in späteren Jahren, umso mehr vertiefte er sich in die Essais von Montaigne – und hat seine eigenen Gedanken bestimmt in dessen Text Über die Wechselhaftigkeit unseres Handelns wiedergefunden und in aphoristischen Passagen wie: »Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, dass jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will; daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den anderen.«[12]

Byron selbst führte einen teils emotionalen, teils reflektierten Guerillakrieg gegen alle Prätentionen des identitären Denkens, der persönlichen Authentizität und systemischer Eindeutigkeit, und das mit der Rückendeckung eines aufgeklärten Skeptizismus. »Wenn ich ein Narr bin, bin ich, zumindest, ein zweifelnder; und ich beneide niemand um die Gewissheit seiner selbstgefälligen Weisheit.«[13] Kokett behauptet er gegenüber Lady Blessington: »Im Falle dass ich mich selbst kenne, würde ich behaupten, dass ich so etwas wie einen Charakter gar nicht besitze. Übrigens war das schon lange behauptet worden, denn ich hatte meinen, wie ein Ire sagen würde, verloren, ehe ich ihn überhaupt hatte.«[14] Im Don Juan lieferte er einen weiteren Hinweis:

If people contradict themselves, can I

Help contradicting them, and every body,

Even my veracious self? – But that’s a lie;

I never did so, never will – how should I?

He who doubts all things, nothing can deny;

Truth’s fountains may be clear – her streams are muddy;

And cut through such canals of contradiction,

That she must often navigate o’er fiction.[15]

In seinem Journal vermerkte er 1813: »Mich von mir selbst zurückzuziehen (oh verfluchter Egoismus!), das war stets mein einziges, mein ganzes, mein aufrichtiges Motiv, überhaupt zu schreiben.«[16] Und Lady Byron resümierte: »Ich kann immer noch nicht sagen, bis zu welchem Grad er ein Schauspieler war.«

Pop! Goes the Weasle

»Wie bei Byrons eigenen Helden ist die ›Hysterie‹ der Fans nicht Ausdruck unstillbaren Verlangens, sondern eher der Unterdrückung. Ihr Mangel an stabiler Subjektivität ist kein Symptom ihrer neurotischen Deviation, sondern ein Hinweis auf die Instabilität, die aller Identität zugrunde liegt. Eines der Dinge, die uns die Reaktion auf die Byromania lehren könnte, ist der extreme Widerwille der Moderne, sich mit ihren eigenen, wandelbaren Vorstellungen von Identitätskonstruktion und Subjektivität auseinanderzusetzen.«

Ghislaine McDayter

»Ich wachte auf und war berühmt« – ein legendärer Satz in der Byron-Mythografie, der weniger als Ausdruck von Byrons Selbstgefälligkeit denn des kopfschüttelnden Erstaunens über den Anlass seiner plötzlichen Berühmtheit zu lesen ist. Der Vorwurf der Überheblichkeit käme eher von den Unterheblichen, die es als größten Affront empfänden, wenn der begehrte Populäre in unbeeindruckte Distanz zu seiner Popularität tritt, die man ihm neidet. Solche Distanz kann auch von Charakterstärke und Unkorrumpierbarkeit zeugen. Wie üblich traf auf Byron beides zu: Unbestechlichkeit und Arroganz.

Als dieser im Juli 1811 nach England zurückkehrte, hatte er im Gepäck: einen Schal und Rosenöl für Lady Gordon, seine Mutter, vier Schädel aus Athen, ebenso viele Schildkröten, einige antike Marmorbüsten für seinen Freund Hobhouse, eine Phiole voll attischen Schierlingstranks für sich selbst und zwei Manuskripte für eine unbestimmte literarische Zukunft. Sein alter Mentor Robert Charles Dallas, selbst Dichter, fragte ihn, ob er denn einen Bericht über seine Reisen verfasst habe. Byron, der sich über die Mode des Reiseberichts und die Verwertung authentischer Erlebnisse erhaben fühlte, antwortete, er habe von Anfang seiner Tour an nicht vorgehabt, darüber zu schreiben. Einige Tage vor seiner Rückkehr hatte er an Dallas geschrieben: »Ich glaube nicht, irgendetwas getan zu haben, das mich von anderen Reisenden unterscheidet, ausgenommen vielleicht, dass ich die Enge zwischen Sestos und Abydos durchschwommen habe, eine sehr lehrreiche Erfahrung für einen Modernen.«[17]

Seine Stärke sei die Satire, bedeutete er Dallas und drückte ihm eine Paraphrase auf die Dichtkunst des Horaz in die Hand, ein Stück Gedankenlyrik mit dem Titel Hints from Horace. Selbst wenn die Satire gelungen gewesen wäre, weder Sujet noch Stil entsprachen der Mode der Zeit. Verlegen hakte Dallas nach, ob er nicht auch etwas anderes habe. Etwas verdutzt packte Byron ein weiteres Manuskript aus, das Fragment eines längeren Gedichts, in dem er Eindrücke seiner Reise verarbeitet hatte. Es hieß Childe Harold’s Pilgrimage und war eigentlich nur für den intimen Kreis seiner Freunde aus der Studienzeit in Cambridge verfasst worden. Es verdiene nicht, sprach Byron, gelesen zu werden, aber wenn er, Dallas, es haben wolle, schenke er es ihm. Und es war genau das, wonach der berühmte Verleger John Murray gesucht hatte und wofür sich Byron in gleichem Maße schämte, wie er sich darin gefiel. Ein Schlüsselwerk der Romantik! Childe Harold war der unmittelbare Ausdruck jener schwärmerischen Selbstmystifikation, die er an anderen Dichtern bereits verspottet hatte, aber den Stempel der schwärmerischen Epoche trug, gegen die er sich zeitlebens auflehnte und deren Symptom er doch war. Unverkennbar hatte er sich in der Figur des Harold gespiegelt: adoleszenter Individualismus, Selbstmitleid, Weltschmerz, Menschenhass, die Stilisierung als verfluchte, getriebene Seele, die zu früh versteinert, in exotischen Orten nach stets neuen Sensationen und Erlösung durch Liebe sucht. Es war Byronuncensored; seine spöttische Unbeeindrucktheit indes, die Attitüde, mit der er kaschieren wollte, die Gefühlslagen seiner Zeit zu teilen, ebenso Koketterie wie die Behauptung, nichts anderes als alle anderen Levante-Reisenden erlebt zu haben.

Dallas schrieb an Byron: »Sie haben eines der köstlichsten Gedichte geschrieben, die ich je gelesen habe […]. Ich war so bezaubert von Childe Harold, dass ich es überhaupt nicht mehr weglegen mochte.«[18] Dallas schickte das Manuskript an Murray, und so wurde aus einem jungen Dichter, der so gerne ein neuer Pope, ein neuer Swift, ein neuer Sheridan geworden wäre, die Ikone der europäischen Romantik.

Es ist nicht mehr zu ermitteln, ob Byron den Satz »Ich wachte auf und war berühmt« wirklich gesagt hat. Nichtsdestoweniger demonstriert er schön die Initiation einer angemaßten Individualität in ein System, das weit mächtiger war als er. In der guten alten Zeit des Feudalismus war der Künstler vom Adel abhängig gewesen, von dem er sich befreite, indem er den Schutz des Marktes suchte. Byron aber war adeliger Künstler und verstand sich auch als solcher. In England hatte sich seine Klasse längst mit dem Markt arrangiert. Byron konnte es sich zunächst per Stand leisten, nicht allein Künstler zu sein, das heißt abhängig von Buchverkäufen, dem Wohlwollen der Rezensenten und dem Geschmack des Publikums. Das ihm mitunter verhasste Standesprivileg sicherte seine Autonomie und den Habitus, seine literarische Tätigkeit nur als »Kritzeln« (scribbling) zu betrachten, als zweckfreien Zeitvertreib und kreative Fleißaufgabe. Die fragile Identität des Autors war jederzeit geschützt durch Ausweichen in die Identität des Reiters, Causeurs, Abenteurers, Schlossbesitzers, Globetrotters und Bonvivants. Konsequenterweise lehnte er zu Beginn seiner Karriere jegliches Autorenhonorar ab, übertrug das Copyright von Childe Harold und The Corsair auf Dallas. Mit karitativem Großmut bestand Byron auf der Überweisung seiner Verkaufshonorare an bedürftigere Kollegen wie Samuel Rodgers, Samuel Taylor Coleridge und einmal sogar an den radikalen Dichter und Philosophen William Godwin (womit er zweifelsohne seinen konservativen Verleger ärgern wollte) und gefiel sich darin, von Murray befleht zu werden, das Geld doch anzunehmen. Seine zwei Anwesen Newstead und Rochdale waren mit Hypotheken belastet, er selbst war hoch verschuldet. Zwischen Murray und ihm herrschte alsbald das unausgesprochene Einverständnis, dass Byron in Briefen und Äußerungen weiter Mammon als Dichterlohn von sich wies und dieser dennoch diskret auf seinem Konto landete. Byron, der Kulturmarkt und die Öffentlichkeit, die zwischen beiden vermittelte, waren in ihrem Verhältnis zueinander allesamt noch recht unerfahren. If a star was born, it was a virgin birth.

Die paar Male, als ich in früheren Publikationen über Byron schrieb, titulierte ich ihn stets als ersten Popstar. Pflichtbeflissen zogen Lektorinnen dabei die Augenbrauen hoch, vielleicht auch, weil sie endlich einen, der sich Stil- und Phrasenkritik anmaßt, eines knalligen Anglizismus überführen konnten. Doch meinte ich das wortwörtlich. Lord Byron ist der erste Star des Pop und auch sein erster gefallener Engel.

Die Byromania, die unmittelbar nach der Veröffentlichung des Childe Harold einsetzte, zunächst nur in den Soireen der Society, sich aber sukzessive auf das gesamte Lesepublikum ausbreitete, war ein völlig neues Phänomen, dem kein vergleichbarer Fall vorausging. Als Byron erwachte, um sich als Berühmtheit wiederzufinden, war mit ihm eine neue Gesellschaft erwacht. Natürlich hatte Byron als Pop-Phänomen seine Vorgänger. Die Geburt des politischen Populismus als Personenkult setzt Richard Sennett mit dem Whig-Politiker John Wilkes an. Auch mit Goethes Werther und dessen Auswirkungen auf die europäische Jugend des späten 18. Jahrhunderts ließe sich die Byron-These relativieren. Doch niemand schickte Goethe seine Schamhaare im Billett, und es wollten zwar viele wie Werther, aber noch niemand wie Goethe sein, der zunächst nur als Name über einem berühmten Buchtitel prangte.

Das Spezifikum der Marke Byron, bleiben wir beim Pop, erklärt sich aus der historischen Konfluenz von bürgerlicher Gesellschaft, Säkularisierung bei konstanten religiösen Bedürfnissen, sentimentalem Ich, Genie- und Persönlichkeitskult, dem Siegeszug von Buch- und Medienmarkt – und vor allem der rapiden Zunahme des weiblichen Lesepublikums. Wie diese Bereiche kausal aufeinander bezogen sind, wird immer ein Feld der Spekulationen bleiben, und auch die Geschichte der Ideologiekritik hat ihre Mythologeme: zum Beispiel das von der Erhöhung des solitären Ichs, weil die gesamtgesellschaftliche Freiheit unverwirklicht blieb.

Eine bezeichnende Pointe liegt darin, dass romantische Dichtung, die zu einem Gutteil doch die Flucht aus der Sphäre des Kommerzes, kalter Vernunft und ökonomischer Objektivität verkörperte, ihre Massenwirksamkeit dem Wachstum der Bewusstseinsindustrie verdankte. Der romantische Subjektivismus war einer der erfolgreichsten Verkaufsschlager prosaischer Warenökonomie. Dem wertkonservativen Verleger John Murray, dessen ideologische Toleranz keine Profitgrenzen kannte, bedeutete der Bestseller des liberalen Rebellen Byron die unerwartete Goldquelle, die es ihm ermöglichte, noch im selben Jahr sein Büro von der etwas schmuddeligen Fleet Street in die Abermarle Street im noblen West End zu übersiedeln.

Byrons Freund, der irische Dichter Thomas Moore, hatte die Rationalisierung des Literaturbetriebes und den Warencharakter ätherischer Dichtung mit einem hellsichtigen Gedicht persifliert. Darin schlug er, um der stets wachsenden Nachfrage nach romantischer Dichtung beizukommen, ein Unternehmen zur Beschleunigung des literarischen Produktionsprozesses vor, in welchem bezahlte Ghostwriter am laufenden Band die neuesten Scotts, Wordsworths, Nortons, Southeys und Byrons produzierten. (Kaum eine Generation später sollte Moores Vision Realität werden. Während Balzac, hinter der Tapetentür vor den Gläubigern versteckt, in Büßerkutte und bei Hektolitern schwarzen Kaffees sich die Comédie humaine aus den Fingern sog, stand hinter der Marke Alexandre Dumas père bereits eine lukrative Manufaktur aus bezahlten Schreiberlingen.) Ein mulmiges Gefühl könnte Leser und Leserinnen beschleichen, wenn sie folgende Verse aus Thomas Moores Announcement Of A New Grand Acceleration Company For The Promotion Of The Speed Of Literature in Hinblick auf KI lesen:

Loud complaints being made in these quick-reading times,

Of too slack a supply both of prose works and rhymes,

A new Company, formed on the keep-moving plan,

First proposed by the great firm of Catch-’em-who-can,

Beg to say they’ve now ready, in full wind and speed,

Some fast-going authors, of quite a new breed –

Such as not he who runs but who gallops may read –

[…]

There being on the establishment six Walter Scotts,

One capital Wordsworth and Southeys in lots; –

Three choice Mrs. Nortons, all singing like syrens,

While most of our pallid young clerks are Lord Byrons.

Then we’ve ***s and ***s (for whom there’s small call),

And ***s and ***s (for whom no call at all).

In short, who soe’er the last »Lion« may be …

We’ve a Bottom who’ll copy his roar to a T,

And so well, that not one of the buyers who’ve got ’em

Can tell which is lion, and which only Bottom.[19]

Was aber rechtfertigt für Byron und seine Ära die poppige Vokabel Pop, die man doch spätestens für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg anzusetzen gewohnt ist? Denn wenn Pop so allgemein gefasst wird, dann ließe er sich doch ahistorisch auf die beruhigende Banalität beschränken, dass außergewöhnliche Menschen beziehungsweise Halbgöttinnen und Gottessöhne doch zu allen Zeiten umschwärmt und somit potenzielle Schamhaaradressaten waren.

Die Plausibilität von Byron als erstem Popstar erhöht sich, wenn man vom gängigen Gemeinplatz ein Stückchen abweicht, dass Pop seine Popularität durch Eingängigkeit und Simplizität erhalte, als Antipode zur exklusiven Hochkultur. Dem widerspricht, dass ab Mitte der 1960er-Jahre Maler und Anstreicher bei der Arbeit nachweislich Bob Dylans surrealistische Texte gesungen haben, in denen zum Beispiel »silberne Saxophone« den Auftrag erteilen, die besungene Frau abzuweisen (I Want You). Doch weder die singenden Anstreicher noch die Jury des schwedischen Nobelpreiskomitees hatten ernsthaft Dylans Poesie studiert, wobei wir bei einem der zentralen Kennzeichen des Pop wären: dem Primat des Künstlers, seiner Persönlichkeit, seiner Biografie über sein Werk. Weitere wären die Erhöhung zum Identifikationsobjekt, eine bis zur Selbstaufgabe emotionalisierte Fangemeinde, imaginäre Authentizität, die Verschmelzung von Künstlerperson und seiner Kunst zu einem auratischen Gesamtpaket, das der Markt in eine Ware transformiert, dessen Fetisch seine Bewunderer in Konsumenten und auf vertrackte Weise selbst in Waren verwandelt.

Die erste Welle der Byromania zeichnete sich noch durch die Rezeption der Lyrik selbst aus, der Identifikation mit ihrer Hauptfigur und den Topoi des Gedichts. Byrons Gedichte waren getrieben von einer nie zuvor gekannten Intensität. In der Tat wäre die Analogie zum Rock ’n’ Roll nicht abwegig. Sobald Byron selbst das Objekt der narzisstischen Begierde wurde, geriet seine Kunst zur Devotionalie, seine Porträts zu tausendfach geküssten Votivbildern, seine Bücher zu bloß hastig angelesenen Talismanen, deren Berührung allein reichte, das eigene ereignislose Leben in einen erotischen Hexensabbat oder eine Enterfahrt in die Levante zu verwandeln. Childe Harold erfüllte ein romantisches Bedürfnis, das forthin auch dessen Schöpfer zu befriedigen hatte, und wäre er nicht in Ungnade gefallen, so wäre auch sein höchst unromantischer Don Juan mit der romantischen Brille gelesen worden, und die Moralisten hätten gegen die konforme Masse enthusiasmierter Byronisten einen schwereren Stand gehabt. Mit der Abkehr von ihrem dämonischen Verführer, nach diesem ersten noch unverstandenen Rausch eines Pop-Exzesses, wurden sie per kollektiver Buße auf den Pfad von Maß und Tugend zurückgeführt. Byron war nicht nur erster Popstar wider Willen, Ahnherr aller Bohemiens mit ironischem Standortvorteil gegenüber naiven Romantikern, sondern auch ein dialektischer Geburtshelfer der Viktorianischen Ära. Deren Muttergeneration, jenes letzte Aufbäumen des derb-fröhlichen 18. Jahrhunderts (einer Regency genannten Epoche), war eine liederliche Bonvivante gewesen, ehe sie Buße tat und mit Triebverzicht, Leistung, Fortschrittsoptimismus und der für Renegaten so charakteristischen moralischen Bestrafungskompetenz die Weltherrschaft des Empires aufbaute.

Das dunkle Geheimnis des Starkults liegt in der narzisstischen Beschaffenheit der bürgerlichen Subjekte, die sich der bewunderten Allmacht der menschlichen Projektionszielscheibe unterordnen, sich bescheiden und lernbereit geben. Es wirkt so, als machten sie ihr Objekt größer, als es ist, und sich kleiner, als sie sind. Doch so wie der Masochist einen größeren Lustgewinn erfährt als der Sadist, ist diese Liaison mit dem Superstar ein raffinierter Trick des verkapselten Selbst. Im Star hat der zur Objektliebe immer unfähigere Mensch ein Scheinobjekt zur Verfügung, in welchem es sich selbst lieben kann. Der Fan will nicht bloß die Aufmerksamkeit, die Gratifikation durch den Star, er will in einer imaginären Hochzeit mit ihm verschmelzen, sich ihn einverleiben, seine schamanische Macht übernehmen. Das ist die Tautologie des Persönlichkeitssubstituts, die von nichts ferner sein kann als idealer Individualität.

»Je weiter der vom Humanismus verklärte abstrakte Begriff des Menschen von ihrer wirklichen Lage entfernt war«, schrieb Max Horkheimer in seinem Essay Individualismus und Freiheitskampf, »desto erbärmlicher mussten die Individuen der Masse sich selbst erscheinen, desto mehr bedingte die idealistische Vergottung des Menschen, die in den Begriffen der Größe, des Genies, der begnadeten Persönlichkeit, des Führers und so weiter sich bekundet, die Selbsterniedrigung, Selbstverachtung des konkreten Einzelnen.«[20]

Die Vergottung des Popindividuums verlangt die Negierung seiner störenden, widerborstigen Eigenheit. Deshalb schnüffelt der Fan so gierig in dessen Privatleben, um jede Abweichung projektiv in das ideale Spiegelbild der eigenen Allmachtswünsche zurückzuscheuchen. Für die nie befriedigte Illusion, eine authentische Persönlichkeit zu verehren, muss diese sowohl ihre Authentizität als auch ihre Persönlichkeit eingebüßt haben, um auch der Entpersönlichung des Fans einen individualistischen Anstrich zu geben. Diese Entwicklung läuft zu dieser Zeit noch gemächlich aus dem Hafen der Geschichte wie die ersten Dampfschiffe, wird aber Fahrt aufnehmen und im 20. Jahrhundert zur hegemonialen Entwicklung synthetischer Subjektivität von der Stange. Guy Debord wird schreiben: »Der als Star in Szene gesetzte Agent des Spektakels ist das Gegenteil, der Feind des Individuums […]. Indem er als Identifikationsmodell ins Spektakel übergeht, hat er auf jede autonome Eigenschaft verzichtet, um sich selbst mit dem allgemeinen Gesetz des Gehorsams gegenüber dem Lauf der Dinge zu identifizieren.«[21]

Wenn es einen Byron’schen Helden gibt und so dieser Byron selbst ist, wird dessen Heroismus vor allem darin bestehen, die Ansprüche seiner Subjektivität einen äußerst brutalen Machtkampf gegen seine Verdinglichung, an der er Mitschuld trägt, führen zu lassen. Er wird in seinem Arsenal recht unterschiedliche Waffen dafür finden – Flucht in die Einsamkeit, Flucht nach Italien, sarkastische Gegenwehr oder aber die ebenso listige wie fatale Taktik, gerade durch Annahme der zugeschriebenen Rolle die Deutungshoheit darüber zu behalten: Wenn ihr Childe Harold haben wollt, dann gebe ich ihn euch.

Byron war 24 Jahre alt, der Erfolg seines anfänglich ironisch gemeinten Rollenspiels ließ ihn alsbald mit der Rolle verschmelzen. Seine natürliche soziale Unsicherheit half ihm bei Empfängen und in Clubs, die Rolle des verdüsterten anämischen Außenseiters hinreißend zu spielen und in eine strategische Stärke zu verwandeln. Seine Freunde wie Hobhouse und Scrope Davies lachten zu Beginn noch über die gelungene Travestie, als aber der Darsteller seines noch jungen Mythos aufhörte, mit ihnen hinter den Kulissen darüber zu lachen, wussten sie, dass ihm die Rolle in Fleisch und Blut übergegangen war, und der erste Popstar bekam die erste Lektion im noch als Versuchsanordnung existierenden Pop-Business erteilt: die Unmöglichkeit, der eigenen kulturindustriellen Verdinglichung die Zügel anzulegen. Der Herrenreiter, sich über alle Konventionen und Dummheiten erhaben fühlend, spürte plötzlich selbst einen Sattel auf dem Rücken, den der junge Markt ihm aufgesetzt hatte, als dem besten Pferd, das sich je den Konventionen und Dummheiten der Gesellschaft widersetzt hat. Mit Markt meine ich natürlich nicht bloß eine ökonomische Instanz, die nach Plan und Wille verfährt, sondern das oft gar nicht bewusste und sehr vielschichtige Verhältnis zwischen Marketing, Institutionen der Distribution (Verlage, Druckereien, Zeitungen, Literaturkritik, Fanartikelhersteller), Konsumenten und menschlicher Ware.

Doch noch gestaltete sich alles burlesk und wie ein amüsantes Spiel. Aus jener Zeit, in der das Leben ein amüsantes Spiel zu sein hatte, weil noch characters und keine Persönlichkeiten aufeinandertrafen, stammte Elizabeth Foster, die Herzogin von Devonshire, der wir das Zeugnis der ersten Symptome von Byromania verdanken:

»Gegenstand der Unterhaltung, der Neugier, der Begeisterung sind im Augenblick weder Spanien noch Portugal, noch der Krieg, noch der Patriotismus, sondern ist einzig Lord Byron! […] das Gedicht liegt auf jedem Tisch, und er selbst wird hofiert, ihm wird geschmeichelt, er wird gelobt, überall, wo er erscheint. Er ist blass, sieht krank aus, sein Körper ist hässlich [sic!], aber sein Gesicht ist schön; kurz und gut, er ist Gegenstand jeden Gesprächs – die Männer sind eifersüchtig auf ihn und die Frauen eine auf die andere.«[22]

Byrons Körper war mitnichten hässlich, der zur Korpulenz Neigende war seit seiner Studentenzeit in Cambridge stark abgemagert. Die Herzogin spricht damit in nicht sonderlich sympathischer Weise auf Byrons Behinderung an, eine Sehnenverkürzung des rechten Fußes. Diese despektierliche Wahrnehmung mag ein Kollateralschaden des klassizistischen Schönheitsideals während Mrs. Fosters Jugend gewesen sein, zu Byrons Zeiten und danach erhöhte das Hinken sogar sein tragisches Flair und wurde Bestandteil des Pop-Baukastens der Byromania.

Nach anfänglichem Mitspielen begann sich das reale Vorbild des Pop-Byron gegen diesen zu wehren, und zwar mit der aristokratischen Selbstgewissheit eines Asozialen, der offenbar noch nicht eingesehen hatte, dass er längst öffentliches Eigentum war. Diese Widerborstigkeit kam ihm teuer zu stehen. Nur ein Mensch erlag der Byromania nicht. Stattdessen prägte er diesen Begriff. Anne Milbanke, die Byrons ersten Heiratsantrag abgelehnt hatte, schrieb 1812 das Gedicht The Byromania:

Reforming Byron with his magic sway

Compells all hearts to love him and obey –

Commands our wounded vanity to sleep

Bid us forget the Truths that cut so deep,

Inspires a generous candour in the mind

That makes us to our friend’s oppression kind.[23]

Es half ihr nichts. Anne Milbanke wurde seine Frau. Byron wusste, dass er nicht einmal seinen besten Freunden darin trauen konnte, das notwendig falsche Bild, das sich die Öffentlichkeit von ihm machte, zu korrigieren. Bei einem gemeinsamen Ausritt eröffnete er Lady Blessington, dass ihm seine Freunde das Leben gerettet hätten. Denn bloß die Angst, dass sie seine Biografien verfassen könnten, habe ihn vor dem Selbstmord bewahrt.

»Ich weiß nur zu gut, was sie über mich schreiben würden – ihre Entschuldigungen, so lahm wie ich selbst, die sie für meine Verfehlungen vorbrächten, bloß um diese unnötigerweise bloßzustellen; und all dies mit der erklärten Absicht, zu rechtfertigen, was – Gott helfe mir! – nicht zu rechtfertigen ist, nämlich meinen unpoetischen Ruf, den die Welt nichts angeht. Der eine würde seine Feder in geklärten Honig, der andere in Essig tauchen, um meine vielfältigen Verfehlungen zu beschreiben; und nur weil ich weder will, dass mein armer Ruhm süß konserviert noch sauer eingelegt wird, habe ich weitergelebt und meine Memoiren geschrieben, in denen die Tatsachen für sich selbst sprechen, ohne redaktionelle Ergänzungen wie: ›Wir können diesen unseligen Fehler nicht entschuldigen oder diese Ungehörigkeit verteidigen!‹ In jener Façon also, fuhr Byron fort, in der Freunde ihre eigene Klugheit und Tugend verherrlichen, indem sie deren Mangel bei dem hochgeschätzten Verblichenen aufzeigen. Ich habe meine Memoiren geschrieben, sagte er, um mir die Notwendigkeit zu ersparen, dass sie von einem oder mehreren Freunden geschrieben werden, und ich kann nur hoffen, dass sie keine Anmerkungen hinzufügen werden.«[24]

Byrons Memoiren wurden am 17. Mai 1824 im Büro seines Verlegers Murray verbrannt.

The Old English Baron

»Aber die Zeiten der Rittersitte sind dahin. Das Jahrhundert der Sophisten, der Ökonomisten und der Rechenmeister ist an ihre Stelle getreten, und der Glanz von Europa ist ausgelöscht auf ewig. Niemals, niemals werden wir sie wiedersehen, diese edelmütige Ergebenheit an Rang und Geschlecht, diese stolze Unterwürfigkeit, diese Dienstbarkeit der Herzen, die selbst in Sklavenseelen den Geist einer edlen Gleichheit erzeugte.«

Edmund Burke, Betrachtungen über die Revolution in Frankreich

»Goorn, goorn, goorn – what a woody sort of word.«

Graham Chapman als »gentleman of leisure« in einem der besten Monty-Python-Sketches

Ein hemdsärmeliger Name wie George Herbert Byron wäre im kulturellen Gedächtnis weniger hängen geblieben als ein Lord Byron. Sowohl George als Herbert taugten als Empfehlung nicht, in den Salon vorgelassen zu werden. Der Lord aber saß Byron wie angegossen; ein Gutteil des dunklen Zaubers, der dem Produkt Byron auratisch innewohnt, verdankt sich dem einsilbigen Adelsprädikat, das schon für sich allein riesige Felder kultureller Assoziationen aufschließt. Affichiert an die Person des Dichters erhielt dieser den Glanz, der seine Verehrung wie seine Verachtung zu Lebzeiten maßlos machte und ihn in der Mythografie des Pop zur Rechten von Queen und Lady Gaga sitzen lässt.

In allen nachfolgenden Generationen bis zum heutigen Tag, da das Gedächtnis an das literarische Werk, für das er eigentlich hätte berühmt sein sollen, verblasst ist, glüht in einem kollektiven Unbewussten sein Mythos wie eine dunkle Flamme nach – Schlagworte wie Düsterkeit, Skandal, Verlorenheit und Exzess haben sich um seinen Namen sedimentiert, doch stellten sie allesamt nur verwitterndes Treibgut dar, wenn sie nicht durch diese eine Silbe nobilitiert und versilbert wären.

Nicht nur hat die Literaturgeschichte wenige Aristokraten aufzubieten, sie ist selbst ein Bach, der erst mit dem bürgerlichen Zeitalter zum breiten Strom anschwillt: Literatur ist Ausdruck und Mittel der Selbstbehauptung des Bürgertums. Der Status, den Literatur verschafft, ist der Inbegriff der Meritokratie; im Gegensatz zum erblichen muss Geistesadel erworben werden. Literarische Betätigung in der Feudalklasse ist Hobby und Spleen, neben Tanzen, Bogenschießen, Reiten, Konversation – eine Fleißaufgabe, um dem unangreifbaren Status eine Geistesblüte aufzusetzen und der Welt zu beweisen, mehr zu können als bloß zu repräsentieren.[25]

Das Bürgertum aber, bereits in der Romantik nach dieser imaginären Noblesse schielend, verbeugt sich scheu vor der Hocharistokratie und zeigt sich devot und dankbar, wenn diese sie an ihren Tischen essen lässt.

Die meisten Aristokraten der Literaturgeschichte – und es sind nicht besonders viele – führten ihren Titel nicht. In der bürgerlichen Sphäre der Kunst könnte der soziale Standortvorteil zum Nachteil gereichen. Wie in der schottischen Ballade The Beggarman der König als Bettler durchs Land wandert, um Frauen durch andere Qualitäten als seinen Status zu erobern, will auch der adelige Künstler vor dem neuen Souverän des bürgerlichen Zeitalters, dem Markt, bestehen. Dass sich die Bürgerlichen nach eben seiner Aristokratie sehnen wie nach dem entscheidenden Fluidum, das ihrer Persönlichkeit noch fehlt, setzt ihn einem Doublebind aus, für das es nur zwei Lösungen gibt: die eigene Aristokratie zu verheimlichen, oder die Rolle zu spielen, nach welcher das bürgerliche Publikum sich sehnt.

Selbst ein wertkonservativer Dichter wie Chateaubriand und 150 Jahre vor ihm La Rochefaucauld wären nicht auf die Idee gekommen, auf ihren Büchern als Duc und Vicomte zu posieren. Die nichtenglischen Sprachen bieten die Möglichkeit, durch ein dezentes Adelsprädikat (de, di, von, van) darauf zu verweisen, dass man doch mehr zu bieten hat als brillante Literatur, für den Fall, dass deren Brillanz nicht erkannt wird.

Im angelsächsischen Raum sind es auffällig viele Frauen, deren Schriftstellernamen mit ihrem Adelstitel verwachsen sind, und auffällig oft kommen sie aus Irland (und haben sich ihren Titel erheiratet): Lady Blessington, Lady Malory, Lady Gregory … Um als Frau auf dem Literaturmarkt ernst genommen zu werden, war dieser Standesausweis von Vorteil.

Im bürgerlichen Zeitalter, dem Zeitalter der invented traditions, mit seinen regressiven Fantasien einer heilen ständischen Vergangenheit, werden viele Zeremonielle, Dresscodes und Gepflogenheiten einer würdevollen Kontinuität überhaupt erst erfunden, und zwar vom Bürgertum. Anstatt den Adel auf die Guillotine zu schicken, hat ihm die Bourgeoisie in England ein großzügiges Angebot gemacht, das er nicht ablehnen konnte: Er dürfe seine Privilegien behalten und seine Arroganz sei sogar erwünscht, wenn er als Komparse in ihrer Märcheninszenierung einer statischen Gesellschaft den Adel gebe. So in etwa sind auch die Windsors zu ihrer anstrengenden, aber schlösserreichen Position gekommen. Bedingung war aber, dass die etwas degenerierte und oft raubeinige landed class bei Bürgerlichen Kurse in Gentlemanship belegte. Sie musste lernen, sich wie Aristokraten zu benehmen.

Diese Ausführungen sind natürlich Übertreibungen, ihr wahrer Kern ist schlimm genug. Beispiele finden sich trotzdem viele. Berühmt ist Sir Walter Scotts Inszenierung alter Hochlandherrlichkeit (»The Gathering of the Gaels«) im Jahr 1822 beim Besuch Georges IV. in Edinburgh. Das war die Zeit, als sich jeder schottische Baronet, der seine Pächter vom einst kollektiven Clanland vertrieben hatte und bis zu den neuesten romantischen Moden die gälische Herkunft als einen Makel wie dunkle Hautfarbe empfand, bei der Firma Wilson and Son anstellte, um sich sein jeweiliges uraltes Clanmuster, seinen Tartan, entwerfen zu lassen. Normannische und südschottisch-englische Familien, die bislang auf ihre gälischstämmigen Standesgenossen wie auf gar nicht edle Wilde heruntergesehen hatten, versuchten nun, gälische Seitenlinien zu erwerben.