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Fünf Jahre ist es her, dass Silvia von Schönberg zuletzt auf Gut Schönberg war. Fünf Jahre, in denen sich die starke junge Frau ein eigenes Leben aufgebaut hat und mittlerweile ein Luxushotel in der Schweiz ihr Eigen nennt. Doch jetzt ist ihr letzter Verwandter, ihr lieber Onkel Eduard von Schönberg, verstorben und Silvia die Erbin eines mittlerweile heruntergekommenen Gutes. Heruntergekommen, weil ihr einsamer Onkel Menschen vertraut hat, die ihn am Ende betrogen und ausgenutzt haben, sodass Gut Schönberg jetzt nichts mehr wert ist. Für Silvia ist klar: Anwälte sollen die Außenstände eintreiben, ein Makler das Gut verkaufen, denn ihre Zukunft liegt in der Schweiz. Dass alles immer zwei Seiten hat, macht ihr ein treuer Freund aus Jugendtagen klar: Nachbar Thomas Neufelder hat einen ganz anderen Vorschlag für das Gut und bietet Silvia seine Hilfe an. Doch auch er handelt nicht ohne Hintergedanken, und es kommen schwere Entscheidungen auf die junge Frau zu ...
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Seitenzahl: 149
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Ein Mädchen kehrt heim
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Impressum
Ein Mädchen kehrt heim
Die junge Herrin von Schönberg und ihre große Liebe
Von Cora von Wendt
Fünf Jahre ist es her, dass Silvia von Schönberg zuletzt auf Gut Schönberg war. Fünf Jahre, in denen sich die starke junge Frau ein eigenes Leben aufgebaut hat und mittlerweile ein Luxushotel in der Schweiz ihr Eigen nennt. Doch jetzt ist ihr letzter Verwandter, ihr lieber Onkel Eduard von Schönberg, verstorben und Silvia die Erbin eines mittlerweile heruntergekommenen Gutes. Heruntergekommen, weil ihr einsamer Onkel Menschen vertraut hat, die ihn am Ende betrogen und ausgenutzt haben, sodass Gut Schönberg jetzt nichts mehr wert ist. Für Silvia ist klar: Anwälte sollen die Außenstände eintreiben, ein Makler das Gut verkaufen, denn ihre Zukunft liegt in der Schweiz. Dass alles immer zwei Seiten hat, macht ihr ein treuer Freund aus Jugendtagen klar: Nachbar Thomas Neufelder hat einen ganz anderen Vorschlag für das Gut und bietet Silvia seine Hilfe an. Doch auch er handelt nicht ohne Hintergedanken, und es kommen schwere Entscheidungen auf die junge Frau zu ...
»Such die Chefin, Willi!«, trug die Geschäftsführerin des Berghotels dem Pagen auf. »Fräulein von Schönberg wird dringend am Telefon verlangt!«
»Sofort, Frau Kegele!«
Willi eilte über die langen Korridore, schaute in den Speisesaal und in die Küche, aber niemand hatte die Besitzerin des Hotels gesehen.
Dann rief ihm ein Dienstmädchen zu: »Geh doch auf die Sonnenterrasse. Ein paar Leute sitzen schon draußen.«
Silvia von Schönberg unterhielt sich dort mit einem Großkaufmann aus Zürich.
Als sie den Pagen sah, entschuldigte sie sich: »Man sucht nach mir. Die Pflichten!«
Willi richtete ihr aus: »Frau Chefin, Sie werden am Telefon verlangt. Sehr dringend.«
Silvia meldete sich vom Empfang aus und ließ sich das Gespräch dorthin legen.
Es war die Marianne vom Postamt im Dorf, die anfragte: »Ein Telegramm ist für Sie eingetroffen. Soll ich es gleich durchsagen? Geht schneller, und der weite Weg hinauf zum Hotel ...«
»Selbstverständlich, Marianne. Sagen Sie mir den Text durch, ich schreibe mit.«
Eine kleine Stille entstand, ehe das Postfräulein vorsichtig fragte: »Soll ich's wirklich vorlesen? Ich fürchte, es ist eine schlechte Nachricht.«
Silvia von Schönberg ahnte nicht, worum es sich handeln könnte.
Darum wiederholte sie: »Lesen Sie mir das Telegramm ruhig vor.«
Die Stimme im Telefon sagte: »Eduard von Schönberg gestern gestorben. Begräbnis übermorgen. Anninger Hannes, Bürgermeister. Mein herzliches Beileid. Also, das herzliche Beileid stammt von mir.«
»Danke«, antwortete Silvia von Schönberg automatisch und legte den Hörer auf. Erst eine Viertelstunde später kam sie zu ihrer Geschäftsführerin ins Büro und erklärte: »Mein Onkel in Deutschland ist gestorben. Ich muss selbstverständlich ... eigentlich sollte ich doch ... Entschuldigen Sie, aber ich bin ganz verstört.«
Frau Kegele sprach ihr das Beileid aus und versicherte: »Ich werde selbstverständlich alles tun, um Ihnen zu helfen.«
»Danke, Frau Kegele. Ab morgen haben wir das Hotel voll besetzt, und da wäre noch so viel zu organisieren!« Silvia ließ sich in einen Sessel sinken und schlug die Hände vors Gesicht. »Onkel Eduard«, flüsterte sie. »Er hat mich sehr lieb gehabt. Selbst hat er nie geheiratet und ist kinderlos geblieben. Ich habe fast jeden Sommer auf seinem Gut verbracht. Nach dem Tod meiner Eltern war ich dort daheim. Er hat mich so gebeten, bei ihm zu bleiben, aber ich wollte mir selbst mein Leben aufbauen. Darum bin ich in die Schweiz gegangen.«
»Heute ist Ihr ›Berghotel‹ international ein Begriff!«, versuchte Frau Kegele, ihr etwas Tröstliches zu sagen.
Silvia nickte, ließ die Hände sinken und schaute um sich. Ringsum die herrliche Bergwelt, blauer Himmel, goldene Sonne. Ein Frühling zum Glücklichsein.
Leise gestand sie: »Arbeit, Erfolg und noch mehr Arbeit für noch mehr Erfolg. Dabei vergisst man nur zu leicht, was man einem alten Mann versprochen hat. Ich wollte zu ihm aufs Gut kommen, mit ihm von den vergangenen, wunderschönen Zeiten träumen. Die Arbeit hat mich nie freigegeben! Glauben Sie mir, Frau Kegele, ich würde viel darum geben ...«
Sie erteilte ihrer Geschäftsführerin genaue Anweisungen für die Arbeit in der nächsten Woche. Wenn sie ihren Gästen begegnete, lächelte sie wie immer. Sie fühlte sich nicht nur als Besitzerin eines erstklassigen Hotels, sondern als Gastgeberin. Mit Charme und Klugheit gab sie jedem Gast das Gefühl, der am höchsten geschätzte zu sein.
Erst als sie sich in ihr kleines Appartement zurückziehen konnte, fiel die Spannung von Silvia ab. Sie kauerte sich auf ihr Bett, zog die Beine an und stützte den Kopf auf die Knie. So hatte sie auch schon als Kind immer gesessen und gegrübelt, wenn sie sich über etwas sehr kränkte.
Manchmal klingelte das Zimmertelefon. Silvia hatte gebeten, sie nur in dringenden Fällen zu stören, aber da waren Entscheidungen zu fällen, die kein anderer treffen wollte.
Zuletzt bat sie: »Frau Kegele, Sie müssen die ganze nächste Woche ohne mich zurechtkommen! Lassen Sie mir ein bisschen Ruhe, denn ich muss wieder zu mir finden.«
Silvia ließ sich auf das Kissen zurücksinken. Tränen perlten über ihre Wangen. Das Weinen half ihr.
»Verzeih mir, Onkel Eduard!«, flüsterte sie. »Ich habe gemeint, wir hätten noch genug Zeit. Dass ich mein Wort nicht gehalten habe, tut mir so leid!«
Sie stand auf und kramte in einer Schublade des Schranks, bis sie ein altes, vergilbtes Foto fand. Es zeigte ihre Eltern, Onkel Eduard und ein kleines Mädchen ...
***
Silvia von Schönberg gab dem Bitten ihrer Geschäftsführerin nach und verschob ihren Flug um einen Tag. Immerhin erwartete man im Hotel das Eintreffen eines Millionärs und eines Mitglieds aus einer königlichen Familie, und Frau Kegele war aufgeregt wie nie.
Immer wieder beteuerte sie: »Ich habe alles genau überrechnet, Sie kommen noch zwei Stunden vor dem Begräbnis nach Neubrücken.«
Am nächsten Morgen fuhren sie beim ersten Sonnenstrahl den Berg hinunter.
Während der Chauffeur den schweren Wagen durch die spitzen Kehren der Straße zog, sagte Silvia sich immer wieder: »Ich bin jetzt in der Schweiz daheim! Hierher gehöre ich und nicht mehr auf Gut Schönberg! Hier habe ich mir eine Existenz aufgebaut!«
Aber ihre Gewissensbisse dem Toten gegenüber wurden dadurch nicht weniger.
»Auf die Minute genau, wie Frau Kegele das vorausberechnet hat!«, bemerkte der Fahrer stolz.
Sie fuhren auf den Flughafen zu. Ein Begräbnistag! Im Tal lag Nebel, Windböen kamen auf, die das Grau nur durcheinanderwirbelten und doch nicht zerteilen konnten.
»Es wird kein besonders angenehmer Flug werden, fürchte ich, aber ich wünsche Ihnen trotzdem einen schönen Aufenthalt in Deutschland!«, setzte der Fahrer hinzu und erschrak gleich, weil seine Chefin immerhin Trauerkleidung trug. »Haben Sie für mich noch Aufträge?«
»Danke, nein, ich melde mich telefonisch. Wahrscheinlich übermorgen. Vor dem Wochenende bin ich zurück.«
Schwere Unwetterfronten verursachten der Linienmaschine Verspätung. Silvia von Schönberg ging im Warteraum nervös auf und ab. Von Zeit zu Zeit vertröstete eine Stimme aus dem Lautsprecher die Reisenden, bis endlich weit draußen ein blinkender stählerner Riesenvogel einschwebte, der mit schrillen Turbinen zum Flughafengebäude rollte. Die Gäste stiegen rasch zu, als könnten sie damit ihre Verspätung wettmachen. Dann dauerte es wieder eine ganze Weile, bis der Flug freigegeben wurde. Silvia schloss die Augen und überrechnete immer wieder die Zeit, die ihr noch bis zum Begräbnis bliebe.
Die Landung in München erfolgte ohne Zwischenfälle. Als Silvia mit ihrem kleinen Koffer energisch an den Reihen der Wartenden vorbeidrängte, wurde der Zollbeamte auf sie aufmerksam. Erst als sie mit Tränen in den Augen flehte, sie müsse noch pünktlich zu einem Begräbnis kommen, ließen die anderen Fluggäste sie vorgehen. Eine weitere Viertelstunde war verloren. Silvia warf sich ins Taxi und versprach dem Fahrer eine Zusatzzahlung, wenn er noch rechtzeitig auf den Friedhof von Neubrücken komme.
»Bei dem Nebel kann das rasch geschehen«, scherzte er. Erst das schwarze Kleid seines Fahrgastes machte ihm das Unpassende seiner Fröhlichkeit bewusst. »Entschuldigung«, murmelte er betreten.
Das war die Stunde, in der die Einsegnung in der Friedhofskirche stattfand. Silvia von Schönberg hatte sich auf den Beifahrersitz gesetzt. Von hier aus konnte sie die Landschaft leichter überblicken. Nach fünf Jahren erkannte sie vieles wieder. Aber sie hätte sich das Heimkommen anders gewünscht. Die Nebel hoben sich, an manchen Stellen brach der blaue Himmel durch.
Auf den letzten fünf Kilometern konnte Silvia dem Chauffeur Abkürzungen zeigen. So erreichte sie den Friedhof doch noch früher, als erwartet. Das Gittertor stand offen, aber schon von dort aus sah Silvia, dass sie zum Begräbnis zu spät gekommen war. Nur ein kleiner ältlicher Mann war noch am offenen Grab. Er stieß die Schaufel ins Erdreich.
Es war unsinnig, aber da schrie Silvia auf: »Nein!«
Der Totengräber zögerte, ließ die Schaufel wieder sinken. Silvia rannte zum Grab. Unter Blumen und Erde schaute an manchen Stellen noch das helle Holz des Sarges hervor.
»Onkel Eduard!«, schluchzte sie auf. »Verzeih mir!« Sie ließ ihre Blumen ins offene Grab fallen. Dann ging sie zum Taxi zurück und bat: »Fahren Sie mich noch bis ins Dorf.«
Unterwegs gelang es ihr, das Schluchzen wieder zu unterdrücken, denn das Leben und der Lebenskampf hatten sie Selbstbeherrschung gelehrt.
Neubrücken! In dem schmucken Dorf hatte sich nicht viel verändert, seit sie fortgegangen war. Da war das Haus des Bürgermeisters Anninger. Er hatte Silvia das Telegramm geschickt, mit seiner Tochter war sie einst in die Dorfschule gegangen. Der Bäcker, wo sie Brötchen und Gebäck gekauft hatte! Auch der Krämer hatte seine Waren noch im Schaufenster liegen. Mattgolden schimmerte das Posthorn aus Messing, das noch wie einst über die Tür des Gasthofs »Zur Post« hing. Aus der Gaststube drangen Stimmen. Das erinnerte Silvia daran, dass sie nun nicht einfach umkehren und wieder in ihr schönes Berghotel fahren durfte.
Es kostete sie große Überwindung, in die Wirtschaft zu treten. Der Vorraum roch ein bisschen muffig, und aus der Gaststube drang der Geruch nach Bier, Wein und Tabak. Als Silvia die Tür öffnete, verstummten die Stimmen.
Sie sagte einen Gruß, der murmelnd erwidert wurde, und dann entschuldigte sie sich gleich bei allen, die zu Ehren des Toten gekommen waren: »Tut mir leid, aber ich komme von ziemlich weit her. Das Flugzeug hatte durch das schlechte Wetter Verspätung und ...«
»Silvia!«, rief im nächsten Augenblick eine helle Mädchenstimme durch die Gaststube. »Bist du's wirklich? Ich hab' gewusst, dass du kommen wirst! Weil doch du und dein Onkel ...«
Sie umarmten einander. Es war gut so für Silvia, dass sie jemand herzlich willkommen hieß. Auch wenn sie zum Begräbnis des alten Herrn von Schönberg zu spät gekommen war!
»Gretl«, schluchzte sie auf und schämte sich plötzlich gar nicht mehr ihrer Tränen.
Nun kamen auch die weiteren Trauergäste auf Silvia zu, unter anderem der Bürgermeister Hannes Anninger, der Oberlehrer Franz Biegl und ein paar Großbauern. Alle wollten sie der Nichte des Verstorbenen die Hand drücken und ihr sagen, wie schwer sie der Verlust des Eduard von Schönberg getroffen habe. Silvia nahm jede Hand, die sich ihr entgegenstreckte – bis sie plötzlich vor sich ein rundes, besonders vertrautes Gesicht sah.
»Marie!«, entfuhr ihr erneut ein Aufschrei.
Die alte Köchin schluchzte einmal hart auf, dann schloss sie »ihre kleine Silvia« in die Arme. Sie musste nichts sagen, streichelte nur über das Haar, das durch den Trauerschleier schimmerte. In ihrer alten, abgearbeiteten Hand lag so viel mütterliche Zärtlichkeit.
Silvia von Schönberg flüsterte mit erstickter Stimme: »Und ich bin so lange nicht gekommen. Hat ... er sehr auf mich gewartet?«
Eine fromme Lüge wäre vielleicht besser gewesen, aber die treue Köchin wollte nicht an dem Tag lügen, da sie den alten Herrn zu Grabe getragen hatten. Die Notwendigkeit, manche Wahrheit zu verschweigen, würde ohnehin bald zwingend sein, denn die Wahrheit ... Aber nicht gleich in der ersten Stunde des Heimkommens!
Also sagte sie nur: »Ja, Silvia, er hat sehnsüchtig darauf gewartet, dich noch einmal zu sehen.«
»Ach Marie, es tut mir so schrecklich leid!«
Der alte Gärtner drängte sich vor, griff nach der Hand der jungen Herrin und versuchte, einen Kuss darauf zu drücken. Sie litt das nicht, sondern streichelte über seine welken Wangen.
»Wie schön, Franz, dass du ...« Beinahe hätte sie gesagt: ... noch lebst!
Da war dann noch eine junge Magd, die Anni. Ein Diener namens Oskar schaute forschend in das Gesicht von Silvia von Schönberg, die so plötzlich aufgetaucht war. Von ihr hatte er immer nur reden gehört. Einige Angestellte vom Gut hatten nicht eben freundlich über diese Nichte des Herrn, die in der Schweiz lebte, gesprochen.
Silvia musste auch noch die Beileidsworte vieler Bauern über sich ergehen lassen, aber im Wirtshaus klangen sie nun schon viel fröhlicher als an einem offenen Grab. Joachim Neufelder bewies seine Lebensart als stolzer Großbauer und führte rasch Silvias Hand an die Lippen.
»Liebe Nachbarin, ...«, sagte er, »... du wirst ... darf ich überhaupt noch ›Du‹ sagen?«
»Selbstverständlich!«, erlaubte ihm Silvia sofort. »Ich bin doch aus dem Dorf! Ich bin eine von euch geblieben, auch wenn ich lange ...«
»Das Leben!«, unterbrach sie Joachim Neufelder schnell. Er sah mit seinem silberweißen Haar noch immer sehr gut aus und wusste das. »Du erinnerst dich noch an meine beiden Söhne? Anton und Thomas!«
»Vor fünf Jahren ... Wir haben uns wahrscheinlich alle ein bisschen verändert«, antwortete Silvia unsicher. »Jetzt weiß ich es wieder: Du bist Anton, du bist Thomas!«
Der groß gewachsene Mann im dunkelgrauen Jägeranzug verbesserte sie lächelnd: »Sehr gut hast du uns nicht in Erinnerung behalten. Der blonde Draufgänger da drüben ist mein Bruder Anton. Ich bin der Thomas, dem du nie Beachtung geschenkt hast.«
Sie fand ihn sehr nett, aber der Anlass des Zusammentreffens war zu traurig, als dass sie auf seinen leichteren Ton eingegangen wäre. Außerdem drängten sich andere Menschen um sie und versicherten ihr, wie sehr sie alle der Verlust des guten Freundes Eduard von Schönberg getroffen habe.
Es gehörte zu den Verpflichtungen einer Verwandten des Toten, dass sie beim Totenmahl dabei war. Nur darum setzte Silvia sich noch eine halbe Stunde an den Tisch des Bürgermeisters. Aber plötzlich spürte sie eine bleierne Müdigkeit. Eine Hand schob sich auf ihre.
Gretl Anninger, die Tochter des Bürgermeisters, sagte leise zu ihr: »Bevor du umfällst, schlage ich dir vor, du schläfst heute bei uns. Der Vater lässt dir eine Kammer richten.«
Erst wollte Silvia diese Freundlichkeit nicht annehmen, denn sie meinte, im Gasthof wäre bestimmt ein Zimmer frei.
»Du kommst nicht heim?«, fragte die alte Köchin betroffen.
Oskar, der Diener des Verstorbenen, setzte ein spöttisches Lächeln auf.
Zu Marie sagte Silvia von Schönberg: »Heute noch nicht, Marie. Nicht böse sein, aber ... Ich habe Angst, Marie.«
Kurt Mailing, der Wirt von der »Post«, zeigte ganz offen seine Enttäuschung und meinte: »So schön wie in einem Schweizer Hotel sind meine Zimmer freilich nicht. Aber dafür vielleicht gemütlicher. Wenn du aber nicht willst ...«
»Ein andermal!«, vertröstete sie auch ihn.
Der Bürgermeister Hannes Anninger genoss sichtlich seinen Sieg und bestimmte: »Dann gehen wir jetzt, Silvia! Erzähl mir morgen, was du in der ersten Nacht daheim in Neubrücken geträumt hast!«
»Ich fürchte, ich bin ziemlich am Ende meiner Kräfte«, gestand Silvia während des kurzen Weges vom Gasthaus bis zum Anninger-Hof. »Die Nachricht hat mich arg mitgenommen. Außerdem habe ich gestern bis spät in die Nacht gearbeitet. Wir haben sehr viele Gäste im Berghotel.«
Für Sekunden blitzten die hellgrauen Augen des Bürgermeisters forschend auf, dann fragte er mit mäßigem Interesse: »Läuft denn so ein Betrieb weiter, wenn die Chefin fort ist? Wenn sie vielleicht für immer auf dem Gut bleiben wird?«
»Das werde ich bestimmt nicht, Herr Anninger. Morgen schaue ich mir das Gut an. Es wird wohl einige Tage dauern, bis ich den Nachlass meines Onkels geordnet habe, aber dann werde ich das gesamte Anwesen einem Makler zum Verkauf übergeben. Mit dem Erlös ...«
»Vorsicht, Silvia!«, warnte sie der Bürgermeister mit einem unsicheren Auflachen. »Erwarte nicht zu viel. Die Zeit ist nicht stehen geblieben, und auf dem Gut liegt vieles im Argen.«
»Ja, Silvia«, bestätigte auch Gretl ernst.
»Morgen«, bat Silvia Schönberg und tastete nach dem Geländer an der Treppe zum Oberstock. Dort hatte ihr der Bürgermeister ein Zimmer richten lassen. »Morgen. Heute kann ich nicht mehr denken.« Und als sich die Tür geschlossen hatte und sie in der kleinen, anheimelnden Kammer allein geblieben war, gestand sie sich flüsternd: »Heute kann ich nicht einmal mehr traurig sein. Ich bin am Ende, ganz am Ende.«
***
Als sie am nächsten Morgen erwachte, schien schon die Sonne durch das kleine Fenster. Es dauerte einige Augenblicke, bis Silvia bewusst wurde, wo sie sich befand und wieso sie nach Neubrücken gekommen war.
Ein schmerzhafter Stich durchzuckte sie, aber dann befahl sie sich: »Du musst das hinter dich bringen! Kummer nützt nichts, das Leben muss weitergehen. Es gibt einiges, was du erledigen musst, ehe du Gut Schönberg verkaufen kannst.«
Nachdem Silvia sich frisch gemacht und ein kräftiges Frühstück in der guten Stube des Bürgermeisters serviert bekommen hatte, erkundigte sich Gretl: »Wann willst du aufs Gut hinausfahren?«
»Am liebsten jetzt gleich«, bat ihre Jugendfreundin.
»So sehr wird's nicht eilen!«, wehrte der Bürgermeister ab. »Ein paar Tage musst du's schon aushalten, wo du endlich einmal daheim bist. Ich habe dir gestern gesagt, dass auf dem Gut nicht alles so in Ordnung ist, wie es sein sollte. Da müssen Fragen geklärt werden, aber das geht nicht zwischen Tür und Angel.«
»Komm, Silvia«, drängte plötzlich Gretl.
Ein strafender Blick aus den hellgrauen Augen ihres Vaters traf sie, dann erklärte der Anninger: »Ich könnte dir vielleicht helfen, im Andenken an deinen Onkel, der mir ein wirklich guter Freund gewesen ist. Aber das weißt du selbst am besten, denn daran hat sich auch in den letzten fünf Jahren nichts geändert. Ich könnte für dich alle Ämterwege erledigen und dir dann die Verträge und den anderen Papierkram in die Schweiz nachschicken! Wäre das ein Vorschlag?«
»Ich wäre dir sehr dankbar, Bürgermeister!«, stimmte Silvia erst einmal zu.
Wieder drängte Gretl zum Aufbruch, woraufhin ihr Vater ärgerlich wurde und einem Knecht recht barsch befahl, das Pferd vor den leichten Wagen zu spannen. Er bot sich noch an, Silvia zum Gut hinauszukutschieren, aber das wollte Gretl nicht zulassen. Also fügte er sich und versicherte, sie würden einander jedenfalls noch vor Silvias Rückreise in die Schweiz sehen.