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Jeder kennt die Erfahrungen des Anfangens, des Dabei-Bleibens und des Loslassens. Sie bilden zusammen die wichtigste Grundbewegung unseres Lebens. Gelingt es uns, sie in eine harmonische Einheit zu bringen, werden sie sich fruchtbar ergänzen. Sie können sich gegenseitig aber auch furchtbar blockieren. Der Autor findet in den Gestalten der Bibel und unter den frühen Mönchen wichtige Ratgeber, wie wir die unvermeidlichen Bewegungen des Loslassens und Neuanfangens als Quelle neuen Lebens nutzen können.
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Seitenzahl: 100
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Printausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2020
ISBN 978-3-7365-0338-0
Neuausgabe des erstmals 2000 erschienenen gleichnamigen Titels.
E-Book-Ausgabe
© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024
ISBN 978-3-7365-0622-0
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher
Lektorat: Marlene Fritsch
Covergestaltung: Finken und Bumiller
Covermotiv: © ZverevaKA/shutterstock.com
www.vier-tuerme-verlag.de
Basilius Doppelfeld
Loslassen und neu anfangen
Edition Münsterschwarzach Band 6
Vier-Türme-Verlag
Vorwort
Anfangen, Bleiben, Lassen sind drei Stadien einer Entwicklung, die Abschnitte eines Weges im übertragenen Sinn, auch wenn das Bleiben keine Bewegung zu sein scheint, aber doch gerade in der Spannung von Anfangen und Lassen etwas Dynamisches hat. Im Anfangen, Bleiben und Lassen findet der Mensch sich wieder und sieht sein Leben umschrieben, ja gedeutet – dieses eigenartige Hin und Her von Bewegung und Stillstand, von Wechsel und Beharren, das durchaus nicht immer sein eigenes Werk und Wollen ist.
Diese drei Stadien oder Stufen sind nicht beliebig angeordnet und deshalb in ihrer Reihenfolge auch nicht beliebig austauschbar. Sie gehören zu einem Prozess, der sich ungezählte Male im Leben eines Menschen vollzieht, durchaus nicht immer bewusst gemacht oder bewusst vollzogen. Manchmal hat es vielmehr den Eindruck, als würde der Mensch diesen Weg geführt und erst im Nachhinein – wenn überhaupt – erkennen, dass es um ihn, um seinen persönlichen Lebensweg geht; ja dass er es ist, der da geht; der auf einem Weg voranschreitet und sich dabei entwickelt. Unser ganzes Leben können wir in diesen drei Schritten oder Stadien erkennen und deuten, unseren gesamten persönlichen Lebensweg im Anfangen, Bleiben und Lassen wiederfinden und unseren momentanen Zustand mehr oder weniger treffend mit einem dieser drei Schritte bezeichnen und erfassen.
Dieses einfache – vielleicht auf den ersten Blick zu vereinfachende – Schema ist mir persönlich eines Tages aufgegangen, und zwar als ich mich mit dem »Anfangen« beschäftigt habe, konkret beim Schreiben des Büchleins »Christsein heißt anfangen«, das 1990 erschienen und mittlerweile vergriffen ist. Gelegentlich habe ich dieses Thema in Wochenendkursen und als Teil von Exerzitien aufgegriffen und bin dabei bereits auf die beiden anderen Themen, auf das Bleiben und das Lassen zu sprechen gekommen. Daraus entstanden zwei Bändchen in der Reihe der »Münsterschwarzacher Kleinschriften«: 1996 die Kleinschrift Band 96 mit dem schlichten Titel »Bleiben« und noch im gleichen Jahr die Kleinschrift Band 101 mit dem Titel »Lassen«.
Was hier in der Folge zu diesen beiden Themen ausgeführt wird, ist aber nicht einfach eine Wiederholung oder Kurzfassung des an anderer Stelle bereits Gesagten beziehungsweise Geschriebenen, sondern führt dieses weiter und stellt es in den Kontext der drei Schritte oder Stadien »Anfangen – Bleiben – Lassen« als Ganzes, als Bewegung, in der sich unser Leben vollzieht, ja in der wir lebendig werden und uns immer mehr die Vielgestaltigkeit des Lebens, auch unseres persönlichen Lebens, aufgeht. Jeder dieser drei Schritte stellt eine eigene Herausforderung an uns dar; jeder dieser drei Schritte muss bewusst getan werden, um zum nächsten Stadium voranzukommen: im persönlichen Leben wie im Miteinander von Menschen, mag es sich um ein Ehepaar handeln, vielleicht auch um eine Familie oder um eine religiöse Gemeinschaft. Schon darin zeigt sich, dass es sich bei dieser Bewegung in und mit den Stationen »Anfangen, Bleiben und Lassen« um eine allgemein menschliche Aufgabe handelt, die sich – bewusst oder kaum bewusst – jedem Menschen und jeder Gemeinschaft irgendwann und in irgendeiner Form stellt.
In diesem Büchlein werden deshalb auch keine fertigen Rezepte angeboten, keine Modelle, wie man sich in dieser oder jener Situation verhalten muss, um nicht stecken- oder stehenzubleiben auf seinem Lebensweg, in seiner persönlichen Entwicklung. Diese Kleinschrift ist kein Rezeptbuch, in dem man nachschlagen kann und fertige Antworten oder Verhaltensmuster findet. Sie will vielmehr anleiten, die Struktur des Anfangens, Bleibens und Lassens im eigenen Leben und Verhalten zu entdecken, den persönlichen Standpunkt zu bestimmen und den nächsten Schritt, ja den weiteren Weg zu erkennen und zu tun. Deshalb sollte sich der Leser und die Leserin – wenigstens am Anfang – auf sich selbst beschränken, das heißt lernen, sich selbst zu erkennen, richtig einzuschätzen und entsprechend zu reagieren. Nur was man selbst erfahren, an sich selbst erlebt und verändert hat, kann vielleicht für jemand anderen Anstoß und Hilfestellung sein, den eigenen Weg weiterzugehen und sich dabei selbst zu vergewissern über das persönliche Anfangen, Bleiben und Lassen.
Diesen Weg zu gehen, setzt Mut voraus. Denn das, was man an und bei sich selbst erkennt, was einem in der Anwendung dieses Drei-Schrittes auf das eigene Leben bewusst und deutlich wird, ist nicht nur angenehm, sondern wie Selbsterkenntnis überhaupt auch manchmal schmerzlich, weil es desillusionierend ist. Doch gerade dann ist es wichtig, nicht aufzuhören oder aufzugeben; nicht dieses Büchlein mit seinen Fragen und Anregungen zuzuklappen und wegzulegen, sondern sich ihm zu stellen, weil es versucht, uns mit uns selbst zu konfrontieren: mit unserer bisherigen Entwicklung, mit unseren Schwächen ebenso wie mit unseren Stärken, mit dem, was gelungen ist, und mit dem, womit wir nicht weiterkommen, ja wovor wir uns vielleicht drücken.
Es empfiehlt sich, dieses Büchlein von vorne bis hinten ganz zu lesen. Es ist aber auch möglich, dass eine Überschrift, ein Thema oder ein Gedanke bereits beim Durchblättern die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dann kann man ruhig an dieser Stelle mit der Lektüre beginnen – vorausgesetzt, man stellt den Zusammenhang mit dem Ganzen her, betrachtet die drei Schritte oder Stadien als Ganzes. Denn sie bilden so etwas wie den persönlichen inneren Weg, den man zurücklegen muss, um bei sich selbst anzukommen; das bedeutet: um der oder die zu werden, der oder die ich werden soll, um ein ganzer Mensch zu sein, um reif mein Menschsein verwirklicht zu haben.
Einführung: Drei einzelne Schritte – ein gemeinsamer Zyklus
Drei Schritte auf einem Weg, die einen Kreis bilden, eine einzige Bewegung darstellen, kommen unausweichlich zum Anfang zurück. Bei den drei Schritten des Anfangens, Bleibens und Lassens handelt es sich nicht um eine lineare Bewegung, die auf- oder absteigt, sondern um einen Kreis, dessen Stationen mehrmals gegangen, ja wiederholt oder wieder aufgegriffen werden können und wohl auch müssen. Das muss bedacht und im Hinterkopf behalten werden, wenn in der Folge nacheinander von den drei Schritten die Rede ist und erst später die Beziehungen und Zusammenhänge aufgezeigt werden.
Dem aufmerksamen Leser werden sich schon im ersten Durchgang Zusammenhänge zeigen, ja aufdrängen, vor allem wenn die folgenden Ausführungen nicht nur mit einem akademischen Interesse, sondern im persönlichen Kontext gelesen, aufgenommen und dadurch verlebendigt und verinnerlicht werden. Die drei Schritte bilden einen persönlichen inneren Weg, meinen Weg, den ich zurücklegen muss, um bei mir anzukommen; das bedeutet: um der Mensch zu werden, der ich werden soll – und auch kann.
Ich muss diesen Weg gehen; und ich muss ihn mehrmals gehen: Bei einem einzigen Gehen ist noch nicht alles erfahren, noch nicht alles erforscht. Es ist ein Weg, ein Kreis, in dem die Schritte aufeinander folgen. Es ist der innere Weg, der persönliche Weg, mein Weg, den ich gehe.
I. Anfangen
»Aller Anfang ist schwer«, sagt das Sprichwort, und darin steckt zweifellos eine tiefe Weisheit, die durch vielfältige Erfahrung belegt ist. Es gibt aber auch die gegenteilige Erfahrung: »Nichts ist leichter, als anzufangen.« Können wir noch anfangen? Stecken wir nicht schon längst drin: in unserem Leben mit seinen Verbindungen und Verstrickungen, mit seiner Geschichte, die zugleich Last ist und uns nicht selten die Lust zum Anfangen, zum Probieren von etwas Neuem nimmt oder madig macht? Zudem setzen wir selbst ja gar nicht den Anfang; das haben andere vor uns getan, sonst gäbe es uns gar nicht. Unsere Eltern haben uns in die Welt gesetzt; wir wurden nicht gefragt – und mancher hat mit seinem Schicksal darunter zu leiden und stößt sich daran, dass er da ist und so ist, ohne gefragt worden zu sein.
Aber irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem wir uns unserer selbst bewusst geworden sind und verstanden haben, dass wir für uns selbst verantwortlich sind, dass wir anfangen müssen, bewusst zu leben, unser Leben selbst zu gestalten. Wir mussten uns – und müssen uns immer wieder neu – selbst entscheiden und selbst bestimmen. Wir mussten – und das ohne uns dessen ganz bewusst zu sein und die Folgen abschätzen zu können – die Weichen für unser zukünftiges Leben stellen, wohl mehr ahnend als wissend, dass wir hinter diese Entscheidungen und Erfahrungen nie mehr ganz zurück können. Nicht alles, was wir begonnen haben, konnten wir durchhalten und weiterführen: manches war es wohl auch nicht wert. So machten wir mit dem Bleiben und auch schon mit dem Lassen Erfahrungen, mussten uns korrigieren oder wurden korrigiert. Daraus entstand dann auch schon ein Neuanfang.
Wir sind also diesen humanen, pädagogischen und spirituellen Drei-Schritt schon gegangen, ohne dass wir uns dessen wohl bewusst wurden. Wir hatten schon Erfahrungen mit der Treue, mit dem Aufgeben und dem Verzichten gemacht. So nahe liegen schon bei den ersten Erfahrungen die drei Schritte nebeneinander beziehungsweise folgen schnell aufeinander. Mit jedem neuen Schritt in der Gestaltung unseres persönlichen Lebens haben wir die Erfahrung des Anfangens gemacht, aber eben nicht nur diese Erfahrung.
Mit diesen Schritten und Erfahrungen stehen wir nicht allein. Allen Menschen zu allen Zeiten – soweit wir das im Blick auf die Geschichte der Menschheit sagen können – geht es im Grunde gleich: auch sie sind oder waren Anfänger. Als Beispiel können uns die Menschen gelten, die Jesus begegnet sind. Mit ihnen gemeinsam haben wir das Suchen und das Ringen um den Glauben. Was wir an ihnen bestaunen und worauf wir vielleicht sogar neidisch sind, ist die Tatsache, dass die Begegnung mit Jesus in ihnen etwas aufgebrochen hat; dass sie hinterher nicht mehr dieselben waren wie zuvor. Jesus hat in ihnen etwas geweckt, etwas bewirkt, das zur Entscheidung und Scheidung geführt hat. Das zeigt sich am dichtesten dort, wo auf Jesu Wort und Wirken hin sich die einen abwenden und die anderen umso gefestigter sind.
Der Evangelist Johannes berichtet in den Versen 6,60–69 von solch einer Begebenheit der Scheidung unter den Jüngern. Viele von ihnen stellen fest: »Was er sagt, ist unerträglich.« (Johannes 6,60) Die Übriggebliebenen, die ›Zwölf‹, werden von Jesus geradezu provoziert: »Wollt auch ihr weggehen?« (Johannes 6,67) Der neue Anfang des Glaubens, der zum Bleiben, zur Gemeinschaft mit Jesus führen soll, ist plötzlich in Frage gestellt, und Hals über Kopf verlassen einige der Jünger Jesus.
Es ist tröstlich, dass auch die Jünger, die Menschen, die Jesus am nächsten standen, ja die er sich selbst ausgesucht hatte, Anfänger waren, mit allen Vor- und Nachteilen, die solche Menschen zu haben pflegen.
Die spontanen Menschen
Zu ihnen gehören zweifellos viele der ersten Jünger. Das Markusevangelium schildert sie uns anschaulich: »Als Jesus am See von Galiläa entlang ging, sah er Simon und Andreas, den Bruder des Simon, die auf dem See ihr Netz auswarfen; sie waren nämlich Fischer. Da sagte er zu ihnen: Kommt her, folgt mir nach. Ich werde euch zu Menschenfischern machen. Sogleich ließen sie ihre Netze liegen und folgten ihm.« (Markus 1,16–18) Das klingt zu gut, ja unwahrscheinlich. Vielleicht hat der Evangelist Markus ja nur das Wesentliche herausarbeiten wollen: die Unbedingtheit des Rufes und der Antwort, die Bereitschaft dieser jungen Männer, sich ganz auf etwas Neues einzulassen, ohne alle Folgen abschätzen und wägen zu können. Diese spontane Entscheidung hat ihr ganzes Leben verändert; nichts war mehr wie vorher.