Lost Island - Annika Kastner - E-Book

Lost Island E-Book

Annika Kastner

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Beschreibung

"Du und ich - das ist für immer." Als die Medizinstudentin Hazel Zeugin eines Mordes wird, verändert das ihr Leben radikal, von jetzt auf gleich. Sie muss fliehen, alles und jeden hinter sich lassen. Nur wem soll sie vertrauen, wenn selbst die Polizei mit den Tätern unter einer Decke steckt? Nach langer Flucht findet sie auf einer kleinen Insel einen Unterschlupf und will nur eins: Einsamkeit, Ruhe und Abgeschiedenheit - um zu überleben. Nick genießt sein Dasein in vollen Zügen. Er liebt seinen Job als Polizist auf der kleinen Insel mitten im Meer, wo die Uhren langsamer laufen und ein ganz eigener Rhythmus waltet. Jeder kennt jeden, vor allem weiß jeder über alles Bescheid. Doch wer ist die mysteriöse Frau, die plötzlich das Haus auf den Klippen bezieht? Wie kann es sein, dass sie im Sturm sein Herz erobert, wo sie ihn doch ständig abweist? Wird er es schaffen, Hazels Vertrauen zu gewinnen? Kann sie vor ihrer Vergangenheit davonlaufen oder werden sie die Albträume, die sie jede Nacht quälen, einholen?

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Lost Island

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Roman

Annika Kastner

Booklounge Verlag

Erstausgabe im November 2020

Alle Rechte liegen beim Verlag

Copyright © November 2020

Booklounge Verlag

Johann-Boye-Str. 5

23923 Schönberg

Coverbild: @ Korionov - Can Stock Photo Inc.

978-3-947115-20-4

Inhalt

Widmung

Kapitel 1 - Hazel

Kapitel 2 - Hazel

Kapitel 3 - Nick

Kapitel 4 - Hazel

Kapitel 5 - Nick

Kapitel 6 - Hazel

Kapitel 7 - Nick

Kapitel 8 - Hazel

Kapitel 9 - Nick

Kapitel 10 - Hazel

Kapitel 11 - Nick

Kapitel 12 - Hazel

Kapitel 13 - Nick

Kapitel 14 - Hazel

Kapitel 15 - Nick

Kapitel 16 - Hazel

Kapitel 17 - Nick

Kapitel 18 - Hazel

Kapitel 19 - Nick

Kapitel 20 - Hazel

Kapitel 21 - Nick

Kapitel 22 - Hazel

Kapitel 23 - Nick

Kapitel 24 - Hazel

Kapitel 25 - Nick

Kapitel 26 - Hazel

Kapitel 27 - Nick

Kapitel 28 - Hazel

Kapitel 29 - Nick

Kapitel 30 - Hazel

Kapitel 31 - Nick

Kapitel 32 - Hazel

Kapitel 33 - Nick

Kapitel 34 - Hazel

Kapitel 35 - Nick

Kapitel 36 - Hazel

Kapitel 37 - Nick

Kapitel 38 - Hazel

Kapitel 39 - Nick

Kapitel 40 - Hazel

Nachwort

Hazel und Nick

Playlist

Die Autorin

Weitere Bücher der Autorin

Widmung

Die Ge­schich­te von Ha­zel und Nick geis­tert schon lan­ge in mei­nem Kopf he­rum und ich freue mich, dass sie end­lich die Chan­ce ha­ben, euch ih­re Ge­schich­te zu er­zäh­len.

Wie immer sind die Fi­gu­ren frei er­fun­den. Auch die Or­te und Ge­scheh­nis­se, doch macht es sie nicht we­ni­ger le­ben­dig für mich. Immer wenn ich ein Buch be­en­de, ist es so, als wür­de ich gu­ten Freun­den Le­be­wohl sa­gen. Es macht mich glü­cklich und trau­rig zu­gleich.

An die­ser Stel­le ein Dan­ke­schön an je­den ein­zel­nen mei­ner Le­ser. Dan­ke, dass du mei­ne Ge­schich­ten liest, den Fi­gu­ren Le­ben ein­hauchst, re­zen­sierst und mich ver­linkst – das be­deu­tet mir sehr viel. Ich wid­me dir die­ses Buch, denn oh­ne dich wür­de es mei­ne Bü­cher nicht ge­ben! Außer­dem mei­nem Mann, Phi­lipp, und mei­nem Sohn, Jos­hua. Ich lie­be euch bei­de sehr, Jungs. Ich glau­be, es ist nicht immer ein­fach mit mir, wenn ich in ei­ner Schreib­pha­se bin, in mei­ner ei­ge­nen Welt he­rum ti­ge­re, oder von un­ter­wegs an­ru­fe, dass du, Phi­lipp, mal eben schnell ein Post-it an mei­nen PC hän­gen sollst – mit Stich­wor­ten, die du eigent­lich über­haupt nicht ver­stehst. Aber du lachst mit mir da­rüber und da­für lie­be ich dich noch mehr.

 

Dei­ne An­ni­ka

Kapitel 1 - Hazel

1 Jahr vor­her

 

Ich la­che herz­haft über Dr. Con­ners Witz. Er ist mit Ab­stand mein Lie­blings­kol­le­ge, denn ich mag sei­ne freund­li­che, humor­vol­le und väter­li­che Art. Wo­bei, Kol­le­ge ist gut, eigent­lich ist er mein di­rek­ter Vor­ge­setz­ter, das ver­ges­se ich nur oft, weil es eher freund­schaft­lich zwi­schen uns zu­geht. Gut ge­launt lau­fe ich ne­ben ihm über den kar­gen Kran­ken­haus­gang, wo­bei un­se­re Schrit­te von den Wän­den wi­de­rhal­len und un­se­re Soh­len quiet­schen­de Ge­räu­sche ver­ur­sa­chen.

»Ha­ben Sie sich schon über­legt, wo Sie nach Ih­rem Stu­di­um ar­bei­ten möch­ten? Nicht mehr lan­ge und Sie ha­ben es ge­meis­tert – mit Bra­vour, wie ich ver­mu­te.« Er schiebt sei­ne leicht schief hän­gen­de Ni­ckel­bril­le auf dem Na­sen­rü­cken hoch. Ei­ne Ge­ste, die mir ziem­lich ver­traut ist, weil er dies alle paar Mi­nu­ten wie­der­holt. Sei­ne grau­en Augen, die von Lach­fal­ten um­ge­ben sind, schau­en mich eben­so neu­gie­rig wie er­war­tungs­voll an. Er war­tet auf ei­ne Ant­wort. Das ist et­was, was ich wirk­lich an ihm schät­ze – er ist an mir als Mensch in­te­res­siert, hört ge­spannt zu. Et­was, was viele vor lau­ter Stress ver­lernt ha­ben. Bei ihm füh­le ich mich ernst ge­nom­men.

»Nein, ich ha­be noch kei­ne Idee«, ge­be ich zu, rei­be mir da­bei ver­le­gen über den Na­cken. Das ist nicht die Ant­wort, die er ger­ne ge­habt hät­te, denn er fragt mich schon zum zwei­ten Mal nach mei­nen Plä­nen. Ich weiß, dass ich die Ant­wort nicht ewig hin­aus­schie­ben kann, aber was will ich über­haupt? Wo will ich mich nie­der­las­sen? Hier? Oder möch­te ich noch mehr von der Welt se­hen? Ich ha­be immer viel rei­sen wol­len, die Er­de ent­de­cken, statt­des­sen bin ich seit Jah­ren nicht im Ur­laub ge­we­sen. Das Stu­di­um ist hart und for­dert über­durch­schnitt­li­chen Ein­satz, mit Un­men­gen an Über­stun­den. Ir­gend­wie ist da­durch alles an­de­re auf der Stre­cke ge­blie­ben. Bin ich be­reit, gleich in die Vol­len zu ge­hen, oder neh­me ich mir ei­ne klei­ne Rei­se­aus­zeit?

»Nun, es ist kein Ge­heim­nis, dass wir hier alle sehr an­ge­tan von Ih­rer Ar­beit sind. Wenn Sie sich vor­stel­len kön­nen, zu un­se­rem Te­am zu ge­hö­ren, wür­de ich ein gu­tes Wort für Sie ein­le­gen. Ha­zel, Sie kön­nen hier viel er­rei­chen. Ich wer­de nicht jün­ger und Sie könn­ten ei­nes Tages mei­ne Nach­folg­erin sein, wenn Sie Ih­re Kar­ten rich­tig aus­spie­len. Die Fä­hig­kei­ten ha­ben Sie, was wir bei­de wis­sen.« Ich spü­re, dass ich er­rö­te. Väter­lich legt Dr. Con­ner mir die Hand auf den Arm, nickt auf­mun­ternd. »Nun, mein Kind, Sie wer­den ja ganz rot. Neh­men Sie das Lob an, Sie ha­ben es sich ver­dient. Sie sind flei­ßig, die Kol­le­gen und Pa­tien­ten schät­zen Sie sehr, auch ich schät­ze Sie, aber das wis­sen Sie.«

»Dan­ke, Dr. Con­nor«, stamm­le ich deut­lich ver­le­gen. Ich kann ein­fach nicht mit Kom­pli­men­ten um­ge­hen.

Un­se­re Schu­he ver­ur­sa­chen er­neut ein lau­tes Quietsch­ge­räusch, wäh­rend wir in den näch­sten Kor­ri­dor ein­bie­gen. Nach­denk­lich runz­le ich die Stirn, als ich den lee­ren Gang vor uns er­bli­cke. »Soll­te der Pa­tient nicht von ei­nem Poli­zis­ten rund um die Uhr be­wacht wer­den?« Dr. Con­ner spricht mei­ne Ge­dan­ken aus, ehe ich selbst Ge­le­gen­heit da­zu ha­be.

Ich blät­te­re in mei­nen Un­ter­lagen, che­cke die vor­hand­enen No­ti­zen. »Ja, Per­so­nen­be­wa­chung. Es hat sich nichts an der Si­tua­tion ge­än­dert, des­we­gen liegt er von den an­de­ren Pa­tien­ten iso­liert. So ist es der Wunsch der Staats­an­walt­schaft ge­we­sen«, le­se ich vor. Merk­wür­dig. Aber es ist auch das er­ste Mal, dass ich ei­ne Pa­tien­ten­be­wa­chung durch die Poli­zei er­le­be. Ir­gend­wie auf­re­gend und be­äng­sti­gend zu­gleich. »Viel­leicht ist er in ei­ner Un­ter­su­chung, die kurz­fri­stig an­geord­net wor­den ist?« Ich zu­cke mit den Schul­tern, es wird schon sei­ne Grün­de ha­ben, hat es immer. Hier wer­den so oft Un­ter­su­chun­gen fest­ge­legt, die erst im An­schluss ver­merkt wer­den. »Immer­hin sind wir ei­ne Stun­de zu früh dran«, wer­fe ich noch hin­ter­her. Es ist al­so nicht un­mög­lich.

»Oh, das wä­re wirk­lich är­ger­lich. Ma­ry freut sich so auf un­se­ren Hoch­zeit­stag und dass ich et­was eher kom­me. Wir wol­len zum Es­sen ge­hen, so rich­tig schick«, seufzt der Mann ne­ben mir. Ich weiß ge­nau, was er meint. Er macht so viele Dop­pel­schich­ten, dass Ma­ry sich si­cher nach et­was ex­tra Zeit sehnt. Der Ge­dan­ke, dass sie nach all den Jah­ren noch roman­tisch es­sen ge­hen, ein­an­der so wich­tig sind, er­wärmt mein Herz. So­was wün­sche ich mir auch. Je­man­den, der mich liebt – in gu­ten und schlech­ten Zeiten, bis ich alt, grau und fal­tig bin. Lei­der gibt es sol­che Ver­bin­dun­gen heut­zu­ta­ge äu­ßerst sel­ten, und bei der vielen Ar­beit wer­de ich ver­mut­lich nie je­man­den ken­nen­ler­nen. Noch ein Grund mehr, der fürs Rei­sen spricht.

Ich schie­be die­se Ge­dan­ken bei­sei­te, schaue mich um. Der Flur ist leer und still. Die Pa­tien­ten sind auf an­de­re Eta­gen auf­ge­teilt wor­den, da­mit die Poli­zei Über­sicht über das Kom­men und Ge­hen be­hält, aber jetzt ge­ra­de wirkt es gru­se­lig, wie in ei­nem die­ser Zom­bie-Hor­ror­fil­me, als bricht je­de Se­kun­de das Cha­os aus. Okay, mei­ne Fan­ta­sie geht mit mir durch, hier wird si­cher­lich kei­ne Zom­bie-Ar­mee durch­ren­nen. Auf die­ser Sta­tion liegt ein ehe­ma­li­ges Gang­mit­glied ei­nes gro­ßen Dro­gen­rin­ges. Er ist an­ge­schos­sen und we­gen Be­sitz il­le­ga­ler Sub­stan­zen ver­haf­tet wor­den. Er hat ei­nen De­al mit der Poli­zei aus­ge­han­delt, wird ge­gen sei­ne Leu­te aus­sa­gen, um nicht ins Ge­fäng­nis zu müs­sen, und in den Zeugen­schutz über­führt. Das macht ihn aller­dings zu ei­ner Ziel­schei­be für sei­ne al­ten Kol­le­gen und zu ei­nem wich­ti­gen Zeugen für die Staats­an­walt­schaft, die seit Ewig­kei­ten nach solch ei­nem Glücks­fall ge­sucht hat, um den Ring end­lich zer­schla­gen zu kön­nen – wie im Fern­se­hen, wirk­lich ver­rückt. Ich be­wun­de­re sei­nen Mut, denn so wie ich ge­hört ha­be, ist die­se Ver­ei­ni­gung ge­fähr­lich und skru­pel­los. Wie kann man sich nur auf so et­was ein­las­sen? Es ist letzt­lich sei­ne eige­ne Dumm­heit ge­we­sen, die ihm das hier ein­ge­brockt hat.

»Nun, dann se­hen wir doch ein­fach nach.« Dr. Con­nor drückt die Tür­klin­ke hin­un­ter und tritt vor mir ins Zim­mer ein. Ich stol­pe­re über mei­ne ei­ge­nen Fü­ße, wo­bei mein Kugel­schrei­ber vom Klemm­brett rutscht, an­schlie­ßend klim­pernd zu Boden fällt. Wäh­rend ich mich bü­cke, hö­re ich den Ober­arzt über­rascht ru­fen: »Was ist hier …«, doch weiter kommt er nicht, ver­stummt plötz­lich. Ich ver­neh­me ein lei­ses Zi­schen, et­was Feuch­tes be­netzt mein Ge­sicht. Ich rich­te mich auto­ma­tisch auf, star­re ins Zim­mer un­se­res Pa­tien­ten. Ein wei­te­res Zi­schen er­klingt, wo­nach mein väter­li­cher Kol­le­ge vor mir zu Boden geht. Sei­ne Augen bli­cken mir leer ent­ge­gen, in sei­ner Stirn prangt ein Loch, aus dem Blut auf den Boden rinnt. Mein Herz bleibt ge­fühlt ste­hen, als ich den Kra­ter in sei­nem Kopf se­he. Ich ver­ste­he nicht, was ich da ge­ra­de er­bli­cke oder was pas­siert ist. Wa­rum …? Was …? Ich wi­sche mir über das Ge­sicht, schaue mei­ne Fin­ger an. Sie sind rot – von sei­nem Blut, wel­ches mir ins Ge­sicht ge­spritzt ist. Käl­te und Angst brei­tet sich in Wel­len in mir aus, als lang­sam durch­si­ckert, dass Dr. Con­nor mit ei­ner Kugel im Kopf vor mir liegt. Er ist tot, ver­su­che ich das Bild, wel­ches sich mir bie­tet, zu ver­ste­hen, wi­sche mir aber­mals über die Wan­gen und rei­be mein Ge­sicht. Blut, sein Blut. Mein Herz schlägt wie­der, häm­mert nun wild ge­gen mei­ne Brust. Es sind erst we­ni­ge Se­kun­den ver­gan­gen, seit er vor mir zu­sam­men­ge­sackt ist, für mich fühlt es sich je­doch wie Stun­den an. Die Zeit scheint lang­sa­mer zu lau­fen. Ich schaue schlep­pend hoch, se­he nun den Poli­zis­ten, der den Zeugen be­wachen soll­te, an des­sen Kop­fen­de ver­har­ren, mit der Waf­fen­mün­dung auf mich ge­rich­tet. Mein Ge­hirn steht un­ter Schock, kann die Si­tua­tion nicht rich­tig er­fas­sen, aber weiß, hier läuft et­was falsch. Un­se­re Bli­cke tref­fen sich für ei­ne Se­kun­de, sei­ne Vi­sa­ge brennt sich in mei­nen Schä­del ein. Das blu­ti­ge Bild des­sen, was er an­ge­rich­tet hat, eben­falls.

Dunk­les Rot be­su­delt das ehe­mals wei­ße La­ken, der Zeu­ge blickt mich aus eben­so lee­ren Augen an, wie der gut­mü­ti­ge Dr. Con­nor, des­sen La­chen ich nie wie­der hö­ren wer­de und des­sen Frau heu­te ver­geb­lich auf ihn war­ten wird. Ich ver­su­che, all das zu be­grei­fen, doch mein Kopf spielt nicht mit – ich ver­lie­re da­durch wert­vol­le Se­kun­den. Der Po­li­zist vi­siert mich an, lä­chelt leicht, was nicht zu dem Drum­he­rum, wel­ches sich mir of­fen­bart, passt. Ich fol­ge sei­nen Be­we­gun­gen mit den Augen. Dann setzt mein Ver­stand end­lich wie­der ein, Adre­na­lin durch­flu­tet mei­nen Körper. Nein, ich wer­de hier nicht ster­ben. Nie­mals. Über­lebens­wil­le packt mich: Ich schleu­de­re ihm mein Klemm­brett mit Schwung ent­ge­gen, denn es ist das Ein­zi­ge, was ich ge­ra­de ha­be, um mich zu schüt­zen. Er hebt den Arm, will es ab­wen­den, und drückt gleich­zei­tig ab. Die Kugel streift mei­nen lin­ken Ober­arm. Ich schreie hei­ser auf, mer­ke den Schmerz aber kaum, zu sehr bin ich mit Adre­na­lin voll­ge­pumpt. Das Klemm­brett lan­det pol­ternd auf dem Boden, wo­rauf­hin ich die Gunst der Stun­de nut­ze, her­um­wir­be­le und mei­ne Bei­ne in die Hand neh­me, denn ich muss hier raus – und zwar so­fort. Wenn ich le­ben will, was ich de­fi­ni­tiv möch­te, soll­te ich hier weg. So schnell es geht.

Mei­ne Fü­ße set­zen sich wie von selbst in Be­we­gung, flie­gen förm­lich über den Boden, Schmer­zen spü­re ich noch immer kei­ne. Mein Körper hat die Kon­trol­le über­nom­men, hilft mir, alles zu ge­ben. Ich hö­re Schrit­te hin­ter mir, und ein lei­ses Flu­chen, doch ich bin schnel­ler, nut­ze den Vor­sprung, den ich mir er­ar­bei­tet ha­be. Schon immer bin ich ei­ne gu­te Läu­fe­rin ge­we­sen, ei­ne sehr gu­te so­gar. Auch wenn ich lan­ge nicht mehr beim Trai­ning ge­we­sen bin, mei­ne Mus­keln ha­ben es nicht ver­ges­sen. Ich rei­ße ei­nen Me­di­ka­men­ten­wagen, der ver­las­sen im Gang steht, um. Schep­pernd ver­tei­len sich die klei­nen Do­sen und Fla­schen hin­ter mir auf dem Boden, wo­durch ich ihm für ei­ni­ge Se­kun­den den Weg ver­sper­re und mir mehr Puf­fer ver­schaf­fe.

Ei­ne weite­re Kugel fliegt an mir vor­bei. Ich schreie auf, als sie die Wand links ne­ben mir trifft und sich dort in den Putz bohrt. Ich schla­ge ei­nen Ha­ken wie ein Ha­se, ver­su­che da­bei, ihm kein gu­tes Ziel zu sein. Der Mann hin­ter mir flucht nun laut und un­ge­hal­ten, tritt oben­drein den Me­di­ka­men­ten­wagen aus dem Weg. Schlit­ternd blie­be ich an ei­ner Tür zu ei­nem der ver­las­se­nen Pa­tien­ten­zim­mer ste­hen, ren­ne hin­ein und wer­fe sie mit ei­nem lau­ten Knall hin­ter mir zu. Erst mal aus dem Schuss­feld sein, das ist gut.

»Oh Gott«, flüs­te­re ich schluch­zend, sper­re mit zit­tern­den Fin­gern die Tür ab. Je­der von uns hat ei­nen Ge­ne­ral­schlüs­sel, den ich zu­vor nie be­nutzt ha­be, aber es gibt schließ­lich für alles ein er­stes Mal. Kon­zen­trie­re dich, herr­sche ich mich selbst an und end­lich dreht sich der ver­damm­te Schlüs­sel im Schloss. Lang­sam ent­ferne ich mich von der Tür, mein Brust­korb hebt und senkt sich hek­tisch, mein Herz hüpft mir fast aus der Brust.

Nur we­ni­ge Se­kun­den spä­ter trom­melt es laut ge­gen die Tür, lässt sie in den An­geln er­zit­tern, wo­rauf­hin ich ei­nen wei­te­ren Satz nach hin­ten ma­che. Die Klin­ke wird hoch und run­ter ge­drückt, Trä­nen ver­ne­beln mir die Sicht. Das kann nicht wahr sein. Das ist ein Alb­traum! Bit­te, fle­he ich, lass mich auf­wachen, doch lei­der ist es kein Traum. Es ist bit­te­re Rea­li­tät und ich sit­ze fest. Ich muss ei­nen Aus­weg fin­den. Mei­ne Taschen sind leer, mein Han­dy steckt zum Auf­laden im Schwes­tern­zim­mer an der Steck­do­se. Die Tele­fo­ne im Zim­mer sind ab­ge­stellt. »Bit­te nicht«, flüs­te­re ich er­stickt, tre­te weiter nach hin­ten, bis mein Rü­cken die kal­te Wand trifft. Ich sin­ke da­ran hi­nab, be­ge­be mich in die Ho­cke, fah­re mir mit bei­den Hän­den über das Ge­sicht. Wa­rum kommt denn nie­mand? Je­mand wird mei­ne Schreie ge­hört ha­ben. Es muss mir doch je­mand hel­fen. Dr. Con­ner, er …

»Mach die­se be­schis­se­ne Tür auf«, flucht mein Ver­fol­ger auf der an­de­ren Sei­te. »Dir wird nie­mand glau­ben, Mists­tück. Nie­mand, hörst du? Wir ma­chen dich fer­tig. Ich bin Po­li­zist. Wir ha­ben über­all Män­ner. Ich wer­de dich tö­ten oder ih­nen weis­ma­chen, dass du mit uns un­ter ei­ner De­cke steckst. Hörst du? Dein Wort ge­gen meins. Du bist so oder so tot«, zischt er. Ich hö­re die Wut in sei­ner Stim­me, glau­be ihm je­des Wort. Sie alle sind ge­fähr­lich, er ge­hört zu der Gang. Sie ha­ben die Poli­zei un­ter­wan­dert und wer weiß, wen noch. Ich wer­de schnel­ler tot sein, als ich aus­sa­gen kann – da hat er recht. Wenn nicht er, wird je­mand an­de­res da­für sor­gen, soll­te ich hier raus­kom­men. Wenn je­mand wie er hilft, wem soll ich dann trauen? Wem kann ich über­haupt trauen? Das er­schüt­tert mich bis in die tief­sten Win­kel mei­nes Ver­standes. Ich will kei­nes­wegs ster­ben.

Blut rauscht durch mei­ne Oh­ren. Ich ha­be das Ge­fühl, nicht ge­nü­gend Luft zu be­kom­men, zer­re an mei­nem Kra­gen, um mir Platz zu er­zwin­gen. Ei­ne Pa­ni­kat­ta­cke, ich ken­ne je­des Sym­ptom, nur hilft mir die­ses Wis­sen ge­ra­de nicht. Mein Ver­such, ru­hig und gleich­mä­ßig zu at­men, ge­lingt mehr schlecht als recht. Du musst nach­den­ken, er­mah­ne ich mich selbst, wäh­rend ich mich hoch­stem­me und mich, auf der Su­che nach ei­nem Aus­weg, im Kreis dre­he. Mein pan­is­cher Blick bleibt am Fens­ter hän­gen, als er sich aber­mals ge­gen die Tür wirft. Lan­ge wird sie nicht mehr hal­ten, das Holz split­tert be­reits.

Mit wild klop­fen­dem Her­zen und zit­tri­gen Fin­gern öff­ne ich das Fens­ter, schaue hi­nab zu Boden. Alles läuft wie in ei­nem Film ab – han­deln oder kampf­los auf­ge­ben. Ich muss wäh­len. Er­ste Eta­ge, das kann ich pa­cken. Die Zim­mer auf die­ser Sei­te lie­gen mit den Fens­tern zum Wald. Ich muss es nur bis da­hin schaf­fen. Sprin­gen und lau­fen, da­bei hof­fen, dass mir beim Sturz nichts pas­siert. Das klingt nach ei­nem ak­zep­ta­blen Plan. Was ha­be ich auch für ei­ne Al­ter­na­ti­ve? Hier­blei­ben und re­si­gnie­ren? Lie­ber bre­che ich mir, bei dem Ver­such mein Le­ben zu ret­ten, den Hals, als es ihm so leicht zu ma­chen.

Wäh­rend die Tür hin­ter mir lang­sam nach­gibt, stei­ge ich aufs Fens­ter­brett, wo­bei mei­ne Bei­ne sich wie Pud­ding an­füh­len. Ich schaf­fe das, ich wer­de es schaf­fen, feu­re ich mich wie in ei­nem Man­tra an. Ich schie­be mei­ne Bei­ne über das Fens­ter­brett, hang­le mich vor­sich­tig hi­nab. Als ich mich hän­gen­las­se, rut­schen mei­ne Hän­de plötz­lich ab. Mei­ne Mus­keln sind nicht stark ge­nug, um mich lan­ge zu hal­ten – ich zit­te­re wie ver­rückt. Mit ei­nem er­stick­ten Schrei fal­le ich in die Tie­fe, ehe ich be­reit ge­we­sen bin. Der Auf­prall dringt schmerz­haft durch mei­nen gan­zen Körper, mei­ne Bei­ne kni­cken un­ter mir weg, so­dass ich kom­plett im Rosen­busch lan­de. Ver­dammt, es tut so un­glau­blich weh. Äs­te so­wie klei­ne Dor­nen ste­chen mir in die Haut, rei­ßen an mir, er­schwe­ren mir zu­sätz­lich die Flucht, doch Adre­na­lin durch­flu­tet mich er­neut, pusht mei­nen Körper. Al­so rap­ple ich mich stöh­nend auf, be­freie mich aus dem Ge­strüpp, ren­ne dann – so schnell ich kann – in den Schutz der Bäu­me. Ich ig­no­rie­re mei­nen po­chen­den Körper, die schmer­zen­den Bei­ne und mei­ne Lun­ge, die höl­lisch brennt. Mein Le­ben wird nie wie­der das glei­che sein. Trä­nen ver­ne­beln mir die Sicht, als ich in die Tie­fen des Blät­ter­werks ein­tau­che und es mich vor Bli­cken ver­birgt.

Er hat sie er­schos­sen. Sie bei­de. Er wird mich tö­ten, wenn er mich in die Hän­de be­kommt. Er darf mich nicht fin­den, nie­mand darf das, denn kei­ner wird mir glau­ben – ich kann ja selbst kaum be­grei­fen, dass das wirk­lich pas­siert ist. Oh mein Gott. Er soll­te ihn be­schüt­zen. Be­schüt­zen! Er ist Po­li­zist und da­für da, Men­schen vor den Bö­sen zu be­wah­ren. Nun sind sie alle tot, ich wer­de die Näch­ste auf sei­ner Lis­te sein.

Kapitel 2 - Hazel

Mü­de schen­ke ich mir ein Glas Weiß­wein ein, tre­te da­mit hin­aus in den Gar­ten, der vom Licht der un­ter­ge­hen­den Son­ne in sanf­tes Rot ge­taucht wor­den ist. Wind spielt mit mei­nen Haaren und ich schaue mich um. Mein Gar­ten, mei­ner. Das Ge­fühl, dass die­ses Fleck­chen mir ge­hört, ist un­be­schreib­lich. Ich las­se mir das Wort auf der Zun­ge zer­ge­hen. Meins! Et­was, das mir ge­hört, nach so lan­ger Zeit – das ge­fällt mir. Es klingt so nor­mal, wo­bei nor­mal et­was ist, was mir seit ei­nem Jahr fremd er­scheint. Al­so ge­nie­ße ich den Augen­blick, blei­be ste­hen, mus­te­re alles ge­nau. Ich schaue, ob ir­gend­was, was zu mei­ner nor­ma­len Rou­ti­ne ge­hört, un­ge­wöhn­lich ist. Ich bin immer auf der Hut. Mir fällt nichts auf. Alles ist ge­nau­so, wie es sein muss, doch das Ge­fühl der Furcht ist all­ge­gen­wär­tig. Wie ei­ne zwei­te Haut ist es ein Teil von mir ge­wor­den, wel­che sich nicht ab­strei­fen lässt, was auch gut ist, denn es macht mich vor­sich­ti­ger. Miss­trauen und Acht­sam­keit be­stim­men mein Le­ben, mein Fort­dau­ern, um ge­nau zu sein. Im Über­le­ben bin ich mitt­ler­wei­le ei­ne Meis­te­rin. Alles ist ru­hig, dem­nach at­me ich er­leich­tert ein, las­se mich auf ei­nem der Holz­stüh­le nie­der, die ich im On­li­ne­han­del un­ter ei­nem fal­schen Na­men be­stellt ha­be, denn mein al­tes Ich ist an je­nem Tag mit Dr. Con­ner ge­stor­ben. Mei­ne Bei­ne le­ge ich auf dem Stuhl ab, der mir ge­gen­über­steht, wo­rauf­hin ein zu­frie­de­nes Seuf­zen mei­nem Mund ent­fährt. Meins! Wann ha­be ich mir zu­letzt sol­chen Luxus ge­gönnt, et­was wirk­lich meins zu nen­nen oder an ei­ne rich­ti­ge Zu­kunft zu den­ken? Ein wag­hal­si­ger Ge­dan­ke.

Ein Jahr auf der Flucht hat vieles ver­än­dert, aus mir ei­ne an­de­re Per­son ge­macht. Kaum sit­ze ich tie­fen­ent­spannt da, legt Storm ih­ren gro­ßen Kopf auf mei­nen Schoß. Mei­ne Mund­win­kel he­ben sich zu ei­nem Lä­cheln. Sach­te strei­che ich mei­nem Hund über das wei­che Fell, ge­nie­ße die Nä­he, je­nes Wis­sens, dass ich trotz al­lem nicht allei­ne bin. Nicht mehr. Seit ich sie vor elf Mo­na­ten in mein Le­ben ge­las­sen ha­be, gibt Storm mir ein Ge­fühl der Si­cher­heit. Sie ist ei­ne Kämp­fe­rin und ge­nau wie ich ei­ne Über­le­ben­de. Ex­akt ei­nen Monat, nach­dem ich mein al­tes Le­ben hin­ter mir las­sen hab müs­sen, ha­ben wir uns ge­trof­fen.

Ich pres­se die Lip­pen zu­sam­men. Un­gern den­ke ich da­rüber nach, was ich ver­lo­ren ha­be. Noch viel we­ni­ger an die­sen spe­ziel­len Tag, der Aus­lö­ser für all das ge­we­sen ist. Die furcht­bar­sten Stun­den mei­nes Da­seins. Der Tag, an dem ich mei­ne Freun­de, mei­ne Exis­tenz und mein Le­ben ver­lo­ren ha­be, nur weil ich zur fal­schen Zeit am fal­schen Ort ge­we­sen bin. Was ich hin­ge­gen seit zwölf Mo­na­ten nicht ver­lo­ren ha­be, ist die Angst. Sie sitzt wie ein Schat­ten in mei­nem Na­cken, ver­höhnt und er­mahnt mich zu glei­chen Tei­len. Aber ist es nicht bes­ser, in Angst zu le­ben, als tot zu sein wie Dr. Con­nor? Manch­mal weiß ich die Ant­wort nicht. Je nach­dem, wie der Tag ge­we­sen ist, oder in wel­chem schä­bi­gen Mo­tel ich ge­ra­de auf­ge­wacht bin. Es hat Ta­ge in die­sem Jahr ge­ge­ben, an de­nen ist es de­fi­ni­tiv ver­lo­cken­der ge­we­sen, tot zu sein. Ich bin nie der ängst­li­che Typ ge­we­sen – und jetzt? Der klein­ste Schat­ten jagt mir schre­ckli­che Furcht ein, ich has­se es. Hil­flos … So ken­ne ich mich nicht. Im Ge­gen­teil. Ich bin immer stolz da­rauf ge­we­sen, so eigen­stän­dig zu sein. Ich ha­be alles im Griff ge­habt, bin da­bei ge­we­sen, er­folg­reich durch­zu­star­ten. Wür­den mei­ne Freun­de mich über­haupt wie­der­er­ken­nen? Ich, die einst für je­den Spaß zu ha­ben ge­we­sen ist, ver­steckt sich nun am liebs­ten in ih­rem Haus. Türen und Fens­ter fest ver­schlos­sen. Es wi­ders­trebt mir ja selbst, aber was soll ich tun, wenn die Furcht grö­ßer ist? Ich weiß, dass ich mich in ei­nem Trauma be­fin­de, doch der Schul­di­ge ist auf frei­em Fuß und ich bin nicht be­reit, zu ster­ben. Ich kann kaum zu ei­nem Arzt ge­hen, oh­ne zu viel preis­zu­ge­ben. Wie soll ich das al­so ver­ar­bei­ten? Nein, er wür­de mich fin­den, denn ich weiß nicht, wer noch alles auf der Ge­halts­lis­te die­ser Or­ga­ni­sa­tion steht. Frü­her bin ich auf die Men­schen zu­ge­gan­gen, mit ei­nem brei­ten Lä­cheln im Ge­sicht. Ich bin ge­sel­lig ge­we­sen, kom­mu­ni­ka­tiv, und ha­be Spaß am Le­ben ge­habt, es ge­nos­sen. Heu­te neh­me ich die Bei­ne in die Hand, wenn mir je­mand zu na­he­kommt. Allein, aber si­cher, denn ich kann nie­man­den trauen. Wo­her soll ich letzt­lich wis­sen, wer zu ih­nen ge­hört und dass man mich nicht hin­ter­rücks ver­rät? Ich ha­be mei­ne Kon­ten über Nacht on­li­ne auf­ge­löst, alles, was ins Auto ge­passt hat, mit­ge­nom­men und dann bin ich in­ner­halb kür­zes­ter Zeit ver­schwun­den. Jeg­li­chen Kram, der mir in die Fin­ger ge­kom­men ist, ha­be ich zu Geld ge­macht, um mich über Was­ser zu hal­ten. Das Gu­te an mei­nem vor­he­ri­gen Lebens­stil ist ge­we­sen, dass ich durch das Stu­di­um sehr spar­sam ge­we­sen bin. Da kommt ei­ni­ges zu­sam­men, auch das Er­be mei­ner Eltern. Mit die­sem Geld bin ich vor dem, was ich ge­se­hen ha­be und vor dem Mann, der Dr. Con­nor und eben­so un­se­ren Pa­tien­ten kalt­blü­tig er­mor­det hat, ge­flo­hen. Nie­mand wird mir das je glau­ben. Wem soll ich ver­trauen, wenn so­gar die Poli­zei kor­rupt ist? Ich ha­be immer ge­dacht, so et­was pas­siert nur in Fil­men. Fil­me, die ich frü­her ger­ne ge­se­hen ha­be wohl­ge­merkt, weil ich es für pu­re Fik­tion und nicht für die Rea­li­tät ge­hal­ten ha­be. Jetzt, wo ich selbst mit­ten in ei­nem ste­cke, brau­che ich sol­che Fil­me nicht mehr. Mir ist auch be­wusst, dass nicht alle Poli­zis­ten so sind, aber wie soll ich die Gu­ten von den Bö­sen un­ter­schei­den? Sie ha­ben wohl kaum ein Zet­tel auf der Stirn kle­ben, der mir da­bei hel­fen wird. Ich weiß, dass sie nach mir su­chen. Es ist über­all in den Nach­rich­ten ge­we­sen, auf je­dem Sen­der und in je­der Zei­tung des Lan­des. Sie su­chen mich als wich­ti­ge Zeu­gin, er­hof­fen sich Details, was an je­nem Tag ge­sche­hen ist. Details, die nur ich ih­nen lie­fern kann, aber nicht wer­de. Sie wis­sen, dass ich et­was ge­se­hen ha­be. Wa­rum bin ich sonst ver­schwun­den? Es wird spe­ku­liert, ob ich zu der Gang ge­hö­re, ein Opfer oder be­reits tot bin, ver­gra­ben an ei­nem un­be­kann­ten Ort. Sol­len sie das ru­hig den­ken. Nur er weiß, dass ich es nicht bin, denn nie­mand außer ihm hat das In­te­res­se, mich tot zu se­hen – ich weiß schließ­lich, wer er ist. Ich ha­be ihn im Fern­se­hen er­kannt, heu­chelnd und schuld­be­wusst ge­stan­den, dass er kurz auf der Toi­let­te ge­we­sen ist. Lüg­ner. Sei­ne ver­steck­te Bot­schaft an mich, wie er laut und deut­lich zu der Pres­se ge­sagt hat: »Soll­te sie noch le­ben, wer­de ich sie fin­den.« Ich weiß, er war­tet nur da­rauf, dass ich ei­nen Feh­ler ma­che. Dann wird er vor mei­ner Tür ste­hen, um mich zu ho­len. Aber ich bin nicht dumm und ver­su­che, Feh­ler zu ver­mei­den. Bis zum heu­ti­gen Tag bin ich da­rin sehr er­folg­reich. Dass ich noch le­be, ist der be­ste Be­weis, oder? Schwach­stel­len kann ich nicht ris­kie­ren, da­für le­be ich, wie ge­sagt, zu ger­ne. Selbst in Angst. Außer­dem zählt Storm auf mich.

Ich bli­cke mei­nem Hund in sei­ne brau­nen Augen, die mir treu ent­ge­gen schau­en. Ja, ich wer­de ge­braucht – ein schö­nes Ge­fühl. Eben­so, dass wir hier vor­erst ein Zu­hau­se ha­ben. Zum er­sten Mal seit die­ser lan­gen Zeit gön­ne ich mir die­ses Stück­chen Zu­flucht und ein klei­ner Hoff­nungs­schim­mer, dass mein Le­ben nicht immer so aus­se­hen wird wie die letz­ten Mona­te, er­reicht mich. Wer soll mich hier schon fin­den? Die In­sel ist win­zig. Zum Glück ist die Mie­te für das Haus spott­bil­lig. Ver­mut­lich, weil es klein ist, aber für mich aus­rei­chend. Ich brau­che nichts Gro­ßes oder Auf­fäl­li­ges. Statt­des­sen ha­be ich nach ei­nem Ort ge­sucht, der ab­ge­le­gen und sich weit weg be­fin­det. Hier ha­be ich ihn ge­fun­den. Ei­ne klei­ne In­sel mit we­ni­gen Ein­woh­nern, ab­ge­schot­tet von der rest­li­chen Welt. Die Uhren schei­nen hier lang­sa­mer zu lau­fen, als auf der ver­blei­ben­den Welt. Hin­zu kommt, dass ich die Mie­te bar zah­len kann, so­lan­ge ich dem je­den Monat pünkt­lich nach­kom­me.

Mei­ne Ge­dan­ken schwir­ren wild hin und her. Jetzt, wo ich den Schlüs­sel im Schloss zu der Tür mit den Er­in­ne­run­gen in mei­nem Kopf ge­öff­net ha­be, rau­schen die Bil­der nur so her­aus. Ich schlucke den Kloß in mei­nem Hals run­ter, spü­le mit ei­nem Schluck Wein nach. Dr. Con­ners kal­te Augen ver­fol­gen mich je­de Nacht in mei­nen Träu­men. Ich ha­be das Ge­fühl, ihn durch mei­ne Flucht zu ver­ra­ten. Ma­ry wird wis­sen wol­len, was pas­siert ist, sie hat das Recht da­zu, die Wahr­heit zu ken­nen. Ich wür­de es an ih­rer Stel­le auch er­fah­ren wol­len, doch die­sen Ge­fal­len kann ich ihr nicht tun, ge­schwei­ge denn, mein Bei­leid be­kun­den. Vor sei­nen Bli­cken in mei­nen Träu­men bin ich macht­los, da­vor kann ich nicht weg­lau­fen. Ein so gut­mü­ti­ger Mann und dann die­ser schre­ckli­che Tod. Er hat es kei­nes­falls ver­dient, nie­mand hat das. So sehr ich ver­su­che, die Bil­der zu ver­drän­gen, de­sto prä­sen­ter sind sie.

All das Geld, was für mein Stu­di­um be­stimmt ge­we­sen ist, eben­so all das Geld, was mei­ne Eltern mir ver­erbt ha­ben und das, was ich mir selbst zur Sei­te ge­legt ha­be – es wird ei­ni­ge Zeit rei­chen, da­nach se­he ich weiter. Ich wer­de Gras über die Sa­che wach­sen las­sen, ehe ich mir viel­leicht ei­nen Job su­che. Ein bis zwei Jah­re kann ich so durch­hal­ten, wenn ich spar­sam blei­be. Ich ha­be mein al­tes Auto ver­kauft, an Men­schen, die sich nicht mit Pa­pie­ren auf­hal­ten, und mir ei­nen neu­en Wagen an­ge­schafft, von den­sel­ben Leu­ten, zu­sam­men mit ei­nem neu­en Na­men. Aus Ha­zel Sum­mer ist Ha­zel Smith ge­wor­den. Ich weiß, es ist ris­kant, Ha­zel zu be­hal­ten, aber außer mei­nem Vor­na­men ist mir nichts ge­blie­ben.

Mei­ne da­mals dun­kel­rot ge­färb­ten Haa­re, sind heu­te natur­blond, zu­dem viel län­ger als frü­her. Aus dem mo­di­schen Bob ist jetzt ei­ne lan­ge Mäh­ne ge­wor­den, die weit über mei­nen Rü­cken hin­ab­fällt. Manch­mal er­ken­ne ich mich selbst kaum wie­der und doch bin es ir­gend­wie immer noch ich. Wie kann ich mir so fremd sein?

Ich bin bis auf die­se klei­ne In­sel ge­flüch­tet, hier kann ich für mich sein. Nur zum Ein­kau­fen muss ich mein Grund und Boden ver­las­sen. Seit drei Wo­chen bin ich jetzt hier, hof­fe, dass ich mich ir­gend­wann hei­misch füh­len und mir wie­der ein we­nig mehr Le­ben auf­bauen kann. Es ist so schwer ge­we­sen, et­was zu fin­den, wo ich mich auch nur an­satz­wei­se si­cher füh­le. Si­cher? Lach­haft. Aber hier, Meilen um Meilen von dem Ort mei­ner Alb­träu­me ent­fernt, schaf­fe ich es mög­li­cher­wei­se, ein we­nig zu mir selbst zu fin­den. Storm und ich. Du bist nicht allei­ne, er­in­ne­re ich mich. Mit ei­nem mü­den Lä­cheln pro­ste ich Storm zu: »Wir bei­de meis­tern das!« Er hebt den Kopf von mei­nen Bei­nen an, legt ihn schief zur Sei­te. Sei­ne treu­en Augen mus­tern mich auf­merk­sam. Was mei­ne Grand­ma wohl macht? Sie fehlt mir am meis­ten, immer­hin ist sie mei­ne allei­ni­ge noch le­ben­de Ver­wand­te. Ein­zig durch mein Ver­schwin­den ist sie eben­falls in Si­cher­heit. Das ist alles, was zählt, egal wie sehr sie mir fehlt. Storm brummt, stupst mir mit der Na­se auf­for­dernd ans Bein. »Du hast schon wie­der Hun­ger, was?« Er dreht sich auf­ge­regt im Kreis, wo­rauf­hin ich ki­chern muss. »Okay, ver­stan­den.«

Mo­ti­viert ste­he ich auf. Ab jetzt wird alles an­ders, und da­mit fan­ge ich direkt an – ich wer­de mal wie­der et­was Le­cke­res für mich ko­chen. Mei­ne Klei­dung ist viel weiter ge­wor­den, zu weit. Kum­mer und Angst ha­ben mir den Ap­pe­tit ge­nom­men. Das Es­sen an den Rast­stät­ten hat den Rest da­zu beige­tra­gen. Kum­mer schlägt mir auf den Ma­gen, seit eh und je. Das liegt jetzt hin­ter mir, er­in­ne­re ich mich aber­mals. Ich trin­ke den Rest Wein auf Ex, neh­me das lee­re Glas mit in die Kü­che, die schon bald nach fri­schen Kräu­tern, Knob­lauch und To­ma­ten­sau­ce duf­tet. Mei­ne Vor­rä­te, die ich mit­ge­bracht ha­be, ge­hen lang­sam zu Nei­ge, al­so wer­de ich in ab­seh­ba­rer Zeit über mei­nen Schat­ten sprin­gen müs­sen und das er­ste Mal den Super­markt der klei­nen In­sel auf­su­chen. Das wird wohl mein größ­ter Test wer­den: Ein­kau­fen ge­hen wie je­der nor­ma­le Mensch, auch wenn es mir Un­be­ha­gen be­schert. Kei­ne gro­ße Sa­che, das kann ich schaf­fen, den­ke ich, wäh­rend ich ei­ne Ker­ze an­zün­de und mich an den Tisch set­ze. »Will­kom­men in dei­nem neu­en Le­ben«, murm­le ich, ehe ich es mir schme­cken las­se.

Vogel­ge­zwit­scher weckt mich am näch­sten Mor­gen, wäh­rend ein paar Son­nen­strah­len vor­wit­zig durch die Roll­lä­den schei­nen, dem Boden so ein neu­es Mus­ter ver­pas­sen. Gäh­nend schaue ich zum We­cker, hal­te über­rascht in­ne. Es ist fast neun Uhr. Wow, wenn das mal kein gu­tes Zeichen ist! Sonst wa­che ich immer viel frü­her auf. Wenn die Träu­me mich quä­len, ist an weiter­schla­fen nicht zu den­ken, aber so spät? Wahn­sinn. Ich füh­le mich so­gar ziem­lich aus­ge­ruht und er­frischt. Was ein Gläs­chen Wein und gu­tes Es­sen so be­wir­ken kann! Ich stre­cke mich, ge­nie­ße das Zie­hen mei­ner Mus­keln, schaue ne­ben das Bett. Fei­xend mus­te­re ich mei­nen Hund, der auf dem Rü­cken liegt, alle Vie­re von sich ge­streckt und lei­se schnar­chend. Die­ser An­blick ist herz­er­wär­mend, ent­lockt mir je­den Tag aufs Neue ein Lä­cheln.

»So ein Wach­hund«, murm­le ich mit er­ho­be­nen Mund­win­keln, schlei­che kopf­schüt­telnd aus dem Zim­mer, um Storm nicht zu we­cken. Die­ser Hund ist die reins­te Schnarch­na­se – ver­mut­lich gibt es ein Faul­tier un­ter sei­nen Ah­nen. Aber er passt zu mir, sein Le­ben ist ge­nau­so hart ge­we­sen wie meins. Er ist ein Kämp­fer. Ich ha­be ihn in ei­nem Stra­ßen­gra­ben ge­fun­den. Ein klei­nes dre­cki­ges Häuf­chen Elend, wel­ches zu stark zum Ster­ben ge­we­sen ist. Sei­ne Ge­schwis­ter ha­ben es nicht ge­schafft, nur er hat über­lebt – ver­ges­sen vom Rest der Welt, weg­ge­wor­fen in ei­ner Kis­te, zurück­ge­las­sen und nicht ge­wollt. Er trägt Spu­ren und Nar­ben wie ich. In­ner­lich so­wie äu­ßer­lich, denn ihm fehlt ein hal­bes Ohr, für mich ist er je­doch per­fekt. Als ich ihn an­ge­se­hen ha­be, ist mir so­fort klar ge­we­sen, er ge­hört zu mir und ich ge­hö­re zu ihm. Das Schi­cksal hat ge­wollt, dass wir uns fin­den und uns ge­gen­sei­tig hel­fen, zu über­le­ben. Viel­leicht ist es al­bern, ans Schi­cksal zu glau­ben, mag sein, aber ich will nicht für immer ein­sam blei­ben. Storm gibt mir das Ge­fühl, nicht mehr allein sein zu müs­sen, er ist mei­ne neue Fa­mi­lie. Vor al­lem liebt er mich, wie ich bin.

Tie­fe Trau­er über­kommt mich, als ich an mei­ne Freun­de und mei­ne Groß­mutter den­ke. An Sil­vi, mei­ne be­ste Freun­din, die hoch­schwan­ger ge­we­sen ist, als ich ver­schwun­den bin. Ich wer­de ihr Kind nie ken­nen­ler­nen, da­bei soll­te ich die Patent­an­te wer­den. Das ist nun ein an­de­res Le­ben. Ich un­ter­drü­cke die Trä­nen, be­gin­ne da­mit, mir Früh­stück zu ma­chen. Nach­ein­an­der schla­ge ich die Ei­er in ei­ne Schüs­sel, fü­ge Voll­korn­mehl hin­zu und et­was Milch, ei­nen Hauch Va­nil­le und ei­ne Mess­er­spit­ze Back­pul­ver, ehe ich lang­sam Pfann­kuchen in der guss­eiser­nen Pfan­ne aus­backe. Der Duft lässt mei­nen Ma­gen knur­ren, mir das Was­ser im Mund zu­sam­men­lau­fen, und hellt die trü­ben Ge­dan­ken auf. Nicht da­ran den­ken, sa­ge ich mir immer wie­der. Neu­es Le­ben! Nicht da­ran den­ken, denn das macht alles viel un­er­träg­li­cher. Ei­ne De­vi­se, die ich wie­der­ho­le, um sie zu fes­ti­gen.

Ich hö­re Kral­len über das La­mi­nat krat­zen, gäh­nend trot­tet mein Hund in die Kü­che, als hat er ge­ahnt, dass mir ge­ra­de die De­cke auf den Kopf zu fal­len droht. »Hal­lo, Schlaf­müt­ze.« Ich stel­le Storm das Fut­ter hin, wo­rauf­hin er wie ein aus­ge­hun­ger­ter Lö­we, der seit Wo­chen nichts ge­fres­sen hat, da­rüber her­fällt. Ich las­se mich auf dem Kü­chen­stuhl nie­der, be­streue ei­nen der Pfann­kuchen mit Zu­cker, ehe ich ge­nüss­lich hin­ein­bei­ße. Ver­dammt, wie le­cker! Ich bin ein Pfann­kuchen-Jun­kie. »Was hältst du da­von, wenn wir nach dem Früh­stück zum Strand ge­hen?«

Storm hebt kurz sei­nen Kopf, sein Ohr wa­ckelt. Ein klei­nes »Wuff« ent­fährt ihm, was ich als Zu­stim­mung wer­te. Immer­hin woh­ne in nun auf ei­ner In­sel, das soll­te ich ge­nie­ßen, so­lan­ge es geht.

Kapitel 3 - Nick

Ich lie­be freie Ta­ge. Was gibt es bes­se­res, als aus­zu­schla­fen, da­zu das Wis­sen, dass man den lie­ben lan­gen Tag das ma­chen kann, wo­rauf man Lust hat? Ich ge­nie­ße die Mor­gen­son­ne, ge­paart mit der fri­schen Bri­se, die mir ent­ge­gen­weht, wäh­rend ich am Strand durch den Sand jog­ge. Mei­ne Fü­ße ver­sin­ken da­bei im weichen Sand, wäh­rend mei­ne Schu­he an mei­nem Hals hin und her baum­eln. Es ist an­stren­gen­der hier zu lau­fen als auf der Stra­ße, aber ich lie­be das Meer, die un­end­li­che Wei­te. Ein Grund, wie­so ich nach mei­ner Aus­bil­dung und mei­nem Dienst auf dem Fest­land wie­der hier­her zurück­ge­kom­men bin. Ich lie­be die­se In­sel, je­den­falls jetzt.

Frü­her, als ich jün­ger ge­we­sen bin, ha­be ich weit weg ge­wollt – viel er­le­ben, Par­tys fei­ern, bloß nie mehr zurück­kom­men. Und jetzt? Jah­re spä­ter sind wir fast alle wie­der hier und glü­cklich da­mit. Wir ha­ben ge­merkt, was uns die In­sel gibt – wie groß der Zu­sam­men­halt ist, wie viel so et­was wert ist. Drau­ßen auf dem Fest­land bist du ein na­men­lo­ser Frem­der, du kannst dich auf nie­man­den ver­las­sen, zu­min­dest nicht so wie auf die­sem win­zi­gen Fleck­chen. Hier hält man zu­sam­men! Lei­der mischt sich auch die hal­be In­sel in dein Le­ben ein, doch sie ste­hen dir eben­so bei. Sel­ten zie­hen Frem­de her, was den meis­ten Ein­hei­mi­schen so ge­fällt. Nicht, dass wir un­ge­sel­lig wä­ren, im Ge­gen­teil, den­noch schät­zen wir un­se­re Ru­he. Der ei­ne oder an­de­re fin­det ei­nen Part­ner auf dem Fest­land, das schon, aber so rich­tig neue Be­woh­ner sind ei­ne Sel­ten­heit – ab­ge­se­hen von den Som­mer­tou­ris­ten.

Ich bin ge­ra­de von ei­nem vier­wö­chi­gen Lehr­gang in der Stadt zurück, und ver­damm­te Schei­ße, das Meer hat mir ge­fehlt. Der sal­zi­ge Ge­ruch, das Schrei­en der Mö­wen, das Rau­schen der Wel­len. All das ver­mittelt mir das Ge­fühl von Frei­heit und Ru­he wie sonst nichts auf die­ser Welt. Der Strand ist aus­ge­stor­ben, denn es ist kei­ne Tou­ris­ten­zeit mehr. Der Hoch­som­mer ist vor­bei, die Saison neigt sich dem En­de zu. Die paar Tou­ris, die sich hier noch tum­meln, sind nicht der Re­de wert. Es gibt immer ver­ein­zel­te Ganz­jah­res­tou­ris­ten, die lie­ber im Herbst und Win­ter am Meer sind, har­te Fi­scher, Se­nio­ren, die ei­ne oder an­de­re Fa­mi­lie, aber das ist nur ei­ne Hand­voll. End­lich ge­hört der Strand wie­der uns, Ru­he kehrt mit dem Herbst ein. Es hat Vor- und Nach­tei­le, wenn Tou­ris­ten kom­men, wie eben alles im Le­ben. Man lernt in­te­res­san­te Men­schen ken­nen, doch sie ver­stop­fen das Dorf und den Strand. Diebs­täh­le, Schlä­ge­rei­en, all das sind Din­ge, mit de­nen wir meist nur in der Saison zu kämp­fen ha­ben. Eben­so der Müll, der oft­mals acht­los lie­gen ge­las­sen wird und den wir Ein­hei­mi­schen be­sei­ti­gen, weil wir un­se­re In­sel lie­ben. Manch­mal ist es auch et­was lang­wei­lig, wenn die Saison zu En­de geht – man kann eben nicht alles ha­ben. Soll­te es mir doch ir­gend­wann zu öde wer­den, was ich be­zweif­le, steht mir die Welt of­fen, doch bis es so weit ist, ge­nie­ße ich das Meer und die Ge­sel­lig­keit.

Ich bin so in mei­nen Ge­dan­ken ver­sun­ken, dass ich nicht mer­ke, wie ein wei­ßer Blitz auf mich zu­ge­schos­sen kommt. Hin­zu fliegt ein klei­nes ro­tes Ding an mei­ner Na­se vor­bei, so­dass ich stop­pen muss, und oben­drein in ein Loch tre­te, weil ich ab­ge­lenkt bin. Ich taum­le. Ei­ne Se­kun­de spä­ter wer­den mei­ne Bei­ne ge­rammt und ich kann nichts mehr un­ter­neh­men, um den Sturz zu ver­hin­dern. Mei­ne Ar­me ru­dern, auf der Su­che nach Gleich­ge­wicht, wild in der Luft he­rum. Ich rol­le mich ge­übt am Boden ab, be­kom­me aller­dings ei­ne La­dung Sand ins Ge­sicht, wäh­rend ich ei­nen Pur­zel­baum schla­ge. Wü­tend spu­cke ich die Kör­ner aus, trotz­dem knirscht es in mei­nem Mund, als ich ge­nervt die Zäh­ne auf­ein­an­der­bei­ße.

Ich schaue nach rechts, um zu er­fah­ren, was mich ge­ra­de mit Ge­walt um­ge­ris­sen hat, ent­de­cke da­bei ei­nen Dal­ma­ti­ner, der vol­ler Freu­de in die Flu­ten springt, um nach ei­nem ro­ten Ball zu schnap­pen, der mir zu­vor knapp an der Na­se vor­beige­flo­gen ist. Emp­ört ste­he ich auf, klop­fe mir da­bei zor­nig den Sand von der Ho­se und mei­nem T-Shirt. Immer die­se Hun­de­be­sit­zer, die kei­ne Kon­trol­le über ih­re Tie­re ha­ben. Es muss ein Tou­ri sein, der Hund kommt mir nicht be­kannt vor und wie ge­sagt, hier kennt je­der je­den, selbst je­den ver­damm­ten Hund. Wä­re ich im Dienst, dürf­te die­se rück­sichts­lo­se Per­son ein fet­tes Buß­geld ab­drü­cken. Und was für eins, der wür­de sich grün und blau är­gern. Die­se Tou­ris, die den­ken, sie kön­nen ma­chen, was sie wol­len. Das kommt auf mei­ne Nach­teil­lis­te, so viel ist klar. Na, war­te!

Auf­ge­bracht dre­he ich mich um, er­star­re augen­bli­cklich, als ich mich Na­se an Na­se mit ei­ner wirk­lich nied­li­chen Blon­di­ne wie­der­fin­de. Na ja, Na­se an Na­se kann man nicht sa­gen, denn sie ist win­zig. Ich muss ziem­lich weit nach un­ten schau­en, um in ih­re Augen, die wun­der­schön sind, zu bli­cken – ein tie­fes Braun, was mir ei­ne Gän­se­haut be­schert.

»Oh mein Gott, sind Sie ver­letzt? Es tut mir so leid. Ich bin in Ge­dan­ken ge­we­sen und hät­te bes­ser auf­pas­sen müs­sen, wo­hin ich wer­fe. Storm ist wie ein Ramm­bock. Alles was zwi­schen ihm und sei­nen Ball kommt, wird mit­leids­los weg­ge­fegt. Oje, Sie blu­ten. Ich … ich … War­ten Sie, ich schau mir das an.«

Ehe ich auch nur ei­nen Ton sa­gen kann, geht sie vor mir in die Ho­cke und ich fol­ge ihr sprach­los mit den Augen, wäh­rend sie be­ginnt, mich mit ge­schick­ten Fin­gern ab­zu­tas­ten, und mir da­bei sehr na­he­kommt. Hit­ze steigt in mir auf, ob ich will oder nicht. Ein Pri­ckeln brei­tet sich ge­nau dort aus, wo sie mich be­rührt. Die­se Frau haut mich to­tal um – im wahr­sten Sin­ne des Wor­tes. Erst rennt ihr Hund mich über den Hau­fen, dann re­det sie oh­ne Punkt und Kom­ma, oh­ne Luft ho­len zu müs­sen, auf mich ein und tas­tet mich zu­dem oh­ne Scham ab. Das über­for­dert mich ge­ra­de. Sie schaut so schuld­be­wusst aus ih­ren lan­gen Wim­pern nach oben, dass mei­ne Wut ver­pufft, ehe sie sich den An­schiss ih­res Lebens an­hö­ren muss – da­bei wä­re ich so gut in Fahrt ge­we­sen. Sie nagt an ih­rer Un­ter­lip­pe, zieht sie zwi­schen die Zäh­ne und tas­tet mein Knie ge­wiss­en­haft ab, wel­ches ei­ne leich­te Schürf­wun­de auf­weist. Die­ser Krat­zer ist ein Hauch von nichts, ich ha­be wei­taus Schlim­me­res er­lebt. Aber … Ir­gend­wie möch­te ich sie noch schmo­ren las­sen. Wie sie so an ih­rer Lip­pe saugt, vor mir auf den Knien, weckt ver­dammt schmut­zi­ge Ge­dan­ken in mir. Ich muss drin­gend et­was Ab­stand schaf­fen, um mich zu ord­nen, und zwar schnell­stmög­lich.

»Das wird mich nicht um­brin­gen«, schmunz­le ich doch ach­sel­zu­ckend, tre­te ei­nen gro­ßen Schritt zurück, at­me tief ein, sehr tief. Aus Ref­lex fah­re ich mir durchs Haar, mus­te­re mein Ge­gen­über aber­mals, ver­su­che ganz auto­ma­tisch, mir ein Bild von ihr zu ver­schaf­fen. Ich ana­ly­sie­re, wür­de mei­ne Schwes­ter jetzt be­haup­ten und sie hät­te recht, das liegt wohl an mei­nem Be­ruf. Auf dem zwei­ten Blick ent­de­cke ich da­bei ei­ni­ge vor­wit­zi­ge Som­mer­spros­sen auf ih­rer Stups­na­se. Ich ha­be ei­ne Schwäche für Som­mer­spros­sen, ehr­lich. Sie zuckt bei mei­nen Wor­ten, was ich aller­dings nicht sinn­voll deu­ten kann. Ih­re brau­nen Augen bli­cken mich ner­vös an, mus­tert mich ein­dring­lich, fast ängst­lich, und sie nes­telt an der Lei­ne in ih­ren Hän­den he­rum. Sie weicht mei­nem Blick schnell wie­der aus, lässt ihr Haar vor das Ge­sicht fal­len, als will sie sich vor mir ver­ste­cken. Das ist kei­ne nor­ma­le Re­ak­tion oder ist sie ein­fach nur schüch­tern? Nein, das passt nicht zu­sam­men. Ver­wun­dert hal­te ich in­ne, doch sie steht be­reits auf, klopft sich eben­falls den lo­sen Sand von ih­ren nack­ten wohl­ge­form­ten Bei­nen. Ich neh­me mir ei­nen Mo­ment, ge­nie­ße den An­blick, der sich mir bie­tet. Sie scheint kei­nes der Be­ach­bun­nys zu sein, wie wir die Son­nen­an­be­te­rin­nen nen­nen, die im Som­mer den Strand be­völ­kern, denn ih­re Haut ist so der­ma­ßen blass, als hät­te sie ei­ne lan­ge Zeit kei­ne Son­ne ge­se­hen. Mein Blick wan­dert nach oben, über ih­re Hüf­te, die schma­le Tail­le, hin zu ih­ren aus­druckss­tar­ken Augen, die mich an Nu­gat­scho­ko­la­de er­in­nern. Ob ihr das schon mal je­mand ge­sagt hat? Ich lie­be Scho­ko­la­de bei­nahe so sehr wie Som­mer­spros­sen und ir­gend­wie lässt die­se Frau mein Herz ge­ra­de ein we­nig schnel­ler schla­gen. Sie hat ein­deu­tig mein In­te­res­se ge­weckt. Sie blitzt mich leicht ver­är­gert an, die Angst, die ich eben ge­meint ge­se­hen zu ha­ben, ist ver­schwun­den, da­für steht ihr Ver­är­ge­rung deut­lich ins Ge­sicht ge­schrie­ben. Ein woh­li­ger Schau­er glei­tet mei­nen Rü­cken hi­nab. So et­was, dass mir ei­ne Frem­de so un­ter die Haut geht, ist mir noch nie pas­siert. Al­so schie­be ich es la­pi­dar auf den Sturz, mög­li­cher­wei­se hat mein Kopf doch et­was ab­be­kom­men.

»Fer­tig mit der Glot­ze­rei?«, knurrt sie, wo­rauf­hin ich auf­la­che. Sie hat ge­ra­de noch so süß und schüch­tern ge­wirkt, jetzt könn­te man glau­ben, sie will mich gleich in Flam­men auf­ge­hen las­sen – bei den Bli­cken, die sie mir zu­wirft. Okay, ich ge­ste­he ihr zu, dass mei­ne Mus­te­rung zwar nicht höf­lich ge­we­sen ist, den­noch an­er­ken­nend. Sie rümpft ih­re klei­ne Stups­na­se er­bost, lässt da­bei die Som­mer­spros­sen tan­zen, was ein­fach lie­brei­zend wirkt. Fast bin ich in Ver­su­chung, die klei­nen Spren­kel zu zäh­len.

»Al­so, erst rennst du mich um, dann motzt du mich auch noch grund­los an?«, er­wi­de­re ich gut ge­launt. »Außer­dem ha­be ich nicht ge­glotzt. Ich ha­be nur ge­schaut, ob ich klar­se­hen kann, nach­dem ich ge­stürzt bin. Wer weiß, viel­leicht ha­be ich ei­ne Ge­hirn­er­schüt­te­rung? »

»Storm hat dich um­ge­rannt, nicht ich. Im Üb­ri­gen ha­be ich mich ent­schul­digt, mehr­fach. Es tut mir auf­rich­tig leid, aber das ist kein Frei­fahrt­schein, mich so … zu mus­tern. Das ist un­an­ge­bracht und un­höf­lich. Ich bin kei­ne Stu­te auf dem Vieh­markt. Ty­pen wie du, sind ein­fach ät­zend.«

»Ty­pen wie ich? Du kennst mich gar nicht.« Ich muss nun herz­lich la­chen, was sie da­zu auf­for­dert, ih­re Augen noch et­was mehr zu ver­en­gen, da­bei so fins­ter in mei­ne Rich­tung zu schau­en, dass man fast Angst ha­ben könn­te. Sie hat ein klein­we­nig Recht, aber das wer­de ich nicht zu­ge­ben, son­dern strah­le sie ein­fach an. Kei­ne Stu­te auf dem Vieh­markt? Ich mag die­ses Ge­plän­kel wirk­lich, ge­nau rich­tig. Sie hat Feu­er, das ge­fällt mir.

»Ja, Ty­pen wie du. Die den­ken, nur weil sie gut aus­se­hen, kön­nen sie ma­chen, was sie wol­len. Weißt du, das könnt ihr gar nicht. Nur weil man at­trak­tiv ist, ist das kein Frei­fahrt­schein für ein ar­schi­ges Ma­cho­ver­hal­ten, wo­zu dei­ne Mus­te­rung von eben de­fi­ni­tiv ge­hört.«

»Soll ich mich jetzt da­für ent­schul­di­gen, dass du mich at­trak­tiv fin­dest, oder da­für, dass ich dich be­wun­dernd ge­mus­tert ha­be?« Sie steht so dicht vor mir, dass ich run­ter schau­en muss, wenn ich mit ihr re­de. An­griff­slus­tig ver­schränkt sie die Ar­me vor der Brust, schiebt ih­re Lip­pe trot­zig vor. Ei­ne zar­te Rö­te be­deckt ih­re Wan­gen, so auf­ge­bracht ist sie. Es wirkt so herr­lich un­ge­künst­elt, dass sie auf An­hieb noch ein paar Sym­pa­thie­punk­te bei mir sam­melt. Ich has­se es, wenn Frau­en auf­ge­setzt und künst­lich sind. Ihr ist of­fen­bar egal, was ich von ihr den­ke, auch wenn sie ge­ra­de ein we­nig über­treibt. So dra­ma­tisch ist mei­ne Mus­te­rung nun echt nicht ge­we­sen. »Du bist to­tal nied­lich, wenn du sau­er bist. Ich kann das gar nicht ernst neh­men bei dei­ner Grö­ße«, stich­le ich, sie schnaubt statt­des­sen emp­ört.

»Voll­trot­tel. Das ist mir echt zu blöd«, zischt sie, pfeift sog­leich nach ih­rem Hund. Er kommt er­neut wie ein Blitz an­ge­rannt, rem­pelt mich da­bei aber­mals an, so­dass ich ei­nen Schritt nach vor­ne ma­chen muss. Wir wä­ren zu­sam­men­ge­stoßen, wenn sie nicht nach hin­ten hüp­fen wür­de – als wä­re ich die Pest in Per­son. Okay, das ist ver­let­zend. Das bin ich nicht ge­wohnt. Ich bin zwar kein Da­vid Beck­ham, aber auch kein Qua­si­mo­do. Es kratzt et­was an mei­nem Stolz. Sie wirkt fast zu­frie­den, grinst ih­ren trop­fen­den Hund an. »Gu­ter Jun­ge«, lobt sie ihn zu­dem, wo­rauf­hin er er­freut mit dem Schwanz we­delt und mir ei­nen kur­zen Blick zu­wirft.

»An­schei­nend mag dein Hund mich nicht«, mut­ma­ße ich weiter­hin amü­siert über die gan­ze Si­tua­tion. Der Tag ent­wi­ckelt sich bes­ser, als ich an­ge­nom­men ha­be.