Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Du musst kämpfen. Für mich, für uns." Grace´ Leben ist von vorne bis hinten durchgeplant. Sie weiß, welchen Platz sie einzunehmen hat und wie ihre Zukunft aussehen wird - zumindest denkt sie das, denn erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Durch eine fatale und ebenso absurde Wette ihres Freundes gerät ihre Welt völlig aus den Fugen. Das Blatt wendet sich und ihr Dasein verläuft in ganz andere Bahnen, als sie ursprünglich angedacht hat. Aber will sie das, die Sicherheit verlassen und sich in ein Abenteuer stürzen? Ray ist ein Bad Boy, wie er im Buche steht – jedenfalls nimmt er das bis zu dem Tag, als er Grace das erste Mal in die Augen sieht, an. Dieser Moment ändert alles für ihn: Andere Frauen sind plötzlich uninteressant und haben keinerlei Chance, denn seine volle Aufmerksamkeit schenkt er ausschließlich ihr. Eine egomane Wette mit ihrem Freund erweist sich als perfekte Gelegenheit. Nicht nur, dass er seinem Ziel näher kommt, auch kann er dadurch seine wohl größte Lüge aufrechterhalten.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Ray & Grace
Annika Kastner
Erstausgabe im Februar 2020
Copyright © 2020
Alle Rechte beim Booklounge Verlag
Booklounge Verlag, Sabrina Rudzick
Johann-Boye-Str. 5, D-23923 Schönberg
www.booklounge-verlag.de
Coverfoto: @artfotoss
978-3-947115-16-7
Kapitel Eins - Grace
Kapitel Zwei - Ray
Kapitel Drei - Grace
Kapitel Vier - Ray
Kapitel Fünf - Grace
Kapitel Sechs - Ray
Kapitel Sieben - Grace
Kapitel Acht - Ray
Kapitel Neun - Grace
Kapitel Zehn - Ray
Kapitel Elf - Grace
Kapitel Zwölf - Ray
Kapitel Dreizehn - Grace
Kapitel Vierzehn - Ray
Kapitel Fünfzehn - Grace
Kapitel Sechzehn - Ray
Kapitel Siebzehn - Grace
Kapitel Achtzehn - Ray
Kapitel Neunzehn - Grace
Kapitel Zwanzig - Ray
Kapitel Einundzwanzig - Grace
Kapitel Zweiundzwanzig - Ray
Kapitel Dreiundzwanzig - Grace
Kapitel Vierundzwanzig - Ray
Kapitel Fünfundzwanzig - Grace
Kapitel Sechsundzwanzig - Ray
Kapitel Siebenundzwanzig - Grace
Kapitel Achtundzwanzig - Ray
Kapitel Neunundzwanzig - Grace
Kapitel Dreißig - Ray
Kapitel Einunddreißig - Grace
Kapitel Zweiunddreißig - Ray
Kapitel Dreiunddreißig - Grace
Kapitel Vierunddreißig - Ray
Kapitel Fünfunddreißig - Grace
Epilog - Ray
Epilog - Grace
Widmung
Die Autorin
Playlist
Liebe Leser
»Na, wo bleibt dein Prinz Charming?« Ella schaut mich herausfordernd an. In ihrer Stimme liegt deutliche eine Spur Verärgerung und sogar Missbilligung. »Er hat dich vergessen, oder? Mal wieder. Oh mein Gott, wie ich diesen Kerl hasse.«
Ich beiße mir auf die Innenseite meiner Wange, ehe ich etwas erwidere, denn ich mag die Antwort, die ich ihr geben werde, absolut nicht. »Nein, er verspätet sich sicher nur einen Moment«, antworte ich geübt locker und bin stolz auf meine schauspielerische Leistung, obwohl es mir wehtut, dass sie vermutlich recht hat. Erneut, nebenbei bemerkt. Aber, wie pflegt meine Mutter immer zu sagen: Zeige nie deine wahren Gefühle, setze eine Maske auf – und das versuche ich, tagtäglich. Ich bin eine Meisterin darin, vor anderen die perfekte Freundin und Tochter zu spielen, der Welt das Gesicht zu zeigen, welches sie sehen wollen oder sollen.
Mein Lächeln ist eine Sekunde minimal verkrampft, sitzt dann jedoch perfekt auf meinen leicht geschminkten Lippen. Wir wissen allerdings beide, dass es nur aufgesetzt ist. Ella kennt mich einfach zu gut, um sich wirklich täuschen zu lassen, doch sie versteht die Welt, aus der ich komme, nicht mal ansatzweise. Liam ist eben … tja … wahnsinnig vergesslich in letzter Zeit, jedenfalls wenn es um mich geht. Genau, so ist es, entschuldige ich meinen Freund vor anderen – wie schon viele Male zuvor, dennoch glaube ich meine Lüge selbst nicht. Ein Versuch ist es immerhin wert gewesen. Ella nennt es zwar Desinteresse, meine Variante gefällt mir dagegen besser. Er ist vergesslich, Punkt. Außerdem ist es nichts, über das ich ausgiebig diskutieren möchte. Vor allem, da wir diese Diskussion beinahe wöchentlich führen. Mir ist bewusst, dass er mich nicht gut behandelt, ändern kann es hingegen nicht, obwohl ich es mehrmals versucht habe.
»Wenn er in den nächsten fünfzehn Minuten nicht auftaucht, kommst du mit uns zur Party der Betas. Der Film hat ohnehin schon angefangen, Süße. Du würdest die Hälfte verpassen … Shit happens!« James ist Ellas Zwillingsbruder und wirkt ebenso verärgert wie sie über das Fernbleiben meines Freundes. Beide können Liam nicht leiden, daraus machen sie kein Geheimnis. Im Gegenteil, sie lassen mich jegliche Abneigung spüren. Sie verstehen unsere Beziehung nicht, das kann wohl kaum einer, aber dafür müsste man auch dort aufgewachsen sein, wo ich mein Leben vor dem College verbracht habe und in den Kreisen verkehren, in denen ich meine Freizeit verbringe – dort, wo andere Werte zählen.
Ich mustere die Zwillinge mit ihren feuerroten Haaren, dem Meer an Sommersprossen und ihren leuchtenden grünen Augen. Sie nehmen wirklich kein Blatt vor den Mund, sind verflucht temperamentvoll und die absolut besten Freunde, die man sich wünschen kann. Auf sie ist immer Verlass und sie passen so gar nicht zu meinem anderen Leben, wie ich es heimlich nenne, was ich total an ihnen liebe. Wir würden gegenseitig füreinander über Scherben laufen, und das will was heißen. Leider ist es manchmal mehr als beschissen, dass sie meinen Freund nicht mögen, was jedoch auf Gegenseitigkeit beruht. Die wichtigsten Menschen in meinem Leben hassen sich. Man kann sich nie einfach treffen, da es stets in Zickereien oder in wilden Wortgefechten ausartet. Wenn Ella und Liam einen richtig guten Tag haben, sogar in wüsten Beschimpfungen, die mich mehr verletzen als sie. Diese Tage hasse ich besonders, denn ich stehe ständig zwischen den Stühlen. Insbesondere, weil Liam automatisch erwartet, dass ich auf seiner Seite stehe, was ich gar nicht will, aber muss. Es wird nun mal von mir erwartet und ich sehe keinen Weg, aus dieser Situation herauszukommen. Versucht habe ich es etliche Male, positiv ist es nie ausgegangen. Meine Eltern sind sehr einfallsreich, was ihre Strafen betrifft oder ihre Mittel, sich durchzusetzen. Als ich mich in der Schule mit der Tochter der Putzfrau angefreundet habe, hat ihre Mutter den Job verloren. Habe ich zu einer Party gehen wollen, die in ihren Augen nicht angemessen gewesen ist, bin ich plötzlich wieder ausgeladen worden. So geht es bereits mein ganzes Leben.
Liam und ich sind seit drei Jahren offiziell ein Paar und ich bin ihm hierher auf diese Uni gefolgt, weil es der Wunsch unserer Eltern gewesen ist, wie auch unsere Beziehung wohlgemerkt. So ist das in unseren Kreisen – dort werden die besten Verbindungen geschlossen. Ein guter Name zählt. Zwei Häuser zu verbinden, ist für viele ein Glücksfall. Gerne wäre ich weiter in die Welt hinausgezogen, aber nur auf diese Weise haben sie, oder eher Liam, mich im Blick. Als ich mir ein Ticket gebucht habe, um vor dem Semesterstart nach Europa zu reisen, sind meine Konten eingefroren worden. Zack, so einfach geht das und schon kann ich kein Ticket zahlen. Ich kann nichts anstellen, was ihrem Ruf oder Ansehen schaden würde. Nicht mal die Sachen kaufen, die mir gefallen, weil mir dann ein Einkaufsberater mit deutlichen Instruktionen an die Seite gestellt wird. Nichts wandert in die Tüten, was meiner Mutter missfallen könnte. Vertrauen ist gut, Kontrolle besser – ein Motto meiner Eltern. Sie beherrschen es wie Weltmeister. Liam und ich kennen uns unser ganzes Leben, wir kommen aus gleichen Verhältnissen und sind von jeher darauf getrimmt worden, dass wir eines Tages das Ehebett miteinander teilen werden. Wobei, das muss man dazu sagen, er deutlich mehr Freiheiten hat als ich. Unsere Eltern haben diesen Plan für uns geschmiedet, wir spielen mit. Ich, weil ich es muss und Liam, weil es am bequemsten für ihn ist und er sowieso machen kann, was er will. Er ist ein Mann, steht somit in unseren Kreisen über mir. Altmodisch, aber wirklich wehren kann ich mich dagegen nicht, wie man merkt, immerhin ist es meine Familie und ich habe noch nichts vorzuweisen. Kein Abschluss, keinen Job … Nach einem einzigen Anruf meiner Eltern stellt mich ohnehin niemand ein. Was mich angeht, bin ich das schöne Vorzeigepüppchen an Liams Seite. Die Frau, die nette Teegesellschaften halten, Kinder in die Welt setzen und kuschen wird. Das wird mein Leben werden und ich habe mich damit abgefunden. Was habe ich auch für eine Wahl? Früher habe ich versucht, für mehr Freiheit und Rechte zu kämpfen, aber gleichzeitig lernen müssen, dass es sinnlos ist. Sie drängen uns in die Richtung, die für sie am besten scheint, und jeglicher Widerspruch wird hart bestraft. Nicht, dass ich es je offen aussprechen würde, doch ich glaube, Liam sieht mich als selbstverständlich an, wie ein Accessoire. Er hat gewusst, dass er sich bei mir niemals großartig anstrengen muss, weil unsere Eltern eben wollen, dass wir uns zusammen tun. Dabei hätte er sich trotz allem etwas Mühe geben können, oder? Immerhin werden wir unser Leben zusammen verbringen und das sind noch viele Jahre. In meiner Welt zählt einzig materieller Wert. Liebe ist ein Luxus, den man mir nicht gönnt. Liebe, ein Wort, mehr nicht – verpönt und belächelt von den Reichen und Mächtigen. Die Antwort auf ein »Ich hab dich lieb« an meine Eltern ist immer gewesen: Liebe macht schwach. Vielleicht täusche ich mich auch in Liam, wer weiß. Er gehört zu den Männern, die nicht über ihre Gefühle reden. Optisch ist er der typische Surferboy: blonde – immer perfekt gestylte – Haare, frische Solariumbräune, Waschbrettbauch und zudem ziemlich bekannt an der Uni, was daran liegt, dass er im Footballteam spielt. Klar, er ist sexy und ich habe Glück, einen solch attraktiven Mann an meiner Seite zu wissen, doch mir fehlt … mehr Gefühl – ein Kribbeln im Bauch, Sehnsucht. Das Gefühl, nicht ohne ihn leben zu können. Manchmal fühle ich mich innerlich wie tot. Abgestumpft, einsam und verloren, aber darüber kann ich ebenfalls niemals offen sprechen – wie würde meine Mutter sagen: Gefühle zeigen Schwäche. Wir, mein Kind, sind nicht schwach! Sie nicht, ich anscheinend schon, denn ich habe nie gelernt, ihre Regeln zu befolgen.
Tausend Gefühle toben in mir und lassen sich nicht abstellen. Ich schaue seufzend auf mein Smartphone. Er ist seit vierzig Minuten überfällig, und noch nicht mal eine Nachricht von ihm. Auch das ist so typisch Liam. Blöder Arsch! Er weiß genau, dass ich mit Ella und James unterwegs bin, und bietet ihnen damit nur mehr Zündstoff, ihn zu verabscheuen. Mich regt das innerlich maßlos auf, doch ich versuche, gelassen zu wirken. Zwar wollen wir ins Kino, aber das ist nun eh egal, denn die reservierten Karten werden sicherlich bereits abgelaufen sein, da sie dreißig Minuten vor Beginn hätten abgeholt werden müssen. Ich schlucke meinen Ärger runter, zähle langsam bis zehn, lege ein charmantes Lächeln auf. Die Wut landet wie ein Stein in meinem Magen, aber es bringt nichts, wenn ich mich jetzt weiter darüber aufrege – irgendwann wird daraus bestimmt ein Magengeschwür werden. »Ich sollte heimfahren und lernen«, brumme ich, trommle dabei mit den Fingern auf dem Tisch herum. Eine Angewohnheit, die immer durchkommt, wenn ich gestresst bin.
Die Zwillinge sehen erst sich an, ehe sie sich mir, mit diesem speziellen Blick, den nur sie drauf haben und der nichts Erfreuliches verspricht, zuwenden. Sie planen wieder etwas, das sehe ich am Glitzern ihrer Augen. Manchmal sind sie schon ein wenig unheimlich, wenn sie sich ganz ohne Worte miteinander verständigen. Mir ist klar, dass ich, sobald dieser Blick auftaucht, schnell die Beine in die Hände nehmen und rennen sollte, was das Zeug hält, da es meist Ärger bedeutet, doch ich habe mich mittlerweile damit abgefunden. »Nichts da! Du solltest Prinz Charming abschießen und dir einen Mann suchen, der dich zu schätzen weiß.« Ella angelt sich einen Eiswürfel aus ihrem Glas, schiebt ihn sich zwischen die Lippen, um ihn dann lautstark zu zerkauen. Das Geräusch jagt mir einen Schauer über den Rücken. Alleine die Vorstellung, in das kalte Eis zu beißen, lässt meine Zähne schmerzen.
»Bei deinem heißen Body, Baby, wird das kein Problem sein.« James mustert mich von oben bis unten ohne jegliche Scham. Weil er mein bester Freund ist, lasse ich es ihm durchgehen. Zwischen uns ist keine sexuelle Anziehungskraft, nie gewesen. Nicht mal annähernd. »In meinem Team gibt es einige, die dich schon abgecheckt haben«, lässt er mich überflüssigerweise wissen, weshalb ich puterrot werde. Vermutlich spornt er seine Kumpels sogar an, das würde zu ihm passen. Ich kann es bildlich vor mir sehen, wie er in der Umkleidekabine steht, Reden schwingt und sie anstachelt, mich anzugraben. Dabei wissen sie genau, dass ich Liam nicht verlasse, egal wie oft sie ihn nieder machen. Leider ist es unmöglich, mit anderen so offen darüber zu reden, wie ich es vielleicht gerne täte. Sie kommen aus einer anderen Familie, leben nach anderen Regeln als ich. Was habe ich demnach für eine Möglichkeit?
Mein Leben ist eigentlich gar nicht so übel, Liam ist eben, wie er ist. Er hat auch seine guten Seiten, ist großzügig, und ich weiß, woran ich bin oder was mich erwartet. Außerdem würde meine Mutter ausrasten, wenn ich ihre Pläne kreuze. Sie würde mir alles nehmen, was ich habe. Wo soll ich denn hin ohne Abschluss und ohne Vermögen? Ist es da nicht besser, das Leben zu nehmen, wie es ist, als verstoßen zu werden und allein zu sein? Für unsere Familien ist in Stein gemeißelt, dass wir nach dem Studium heiraten werden. Darüber gibt es keine Diskussion, kein Wenn und kein Aber, und vor allem gibt es keine Widerworte. Niemals. Das habe ich schmerzhaft lernen müssen. Manchmal glaube ich, dass sie es bereits vor unserer Geburt beschlossen und uns dann in diese Bahnen gelenkt haben – vollkommen gleichgültig, was wir gewollt haben. Vielleicht haben sie obendrein die Schwangerschaften aufeinander abgestimmt, zuzutrauen wäre es ihnen, nur dass sie die Geschlechter schlecht planen haben können. Es ist eben eine fifty-fifty Chance gewesen. Sie haben Glück gehabt, ich nicht.
Seit meiner Kindheit wird mir eingetrichtert, dass ich zum Wohle der Familie handeln muss. Familie über alles. Mein Wohl steht unter dem des Gesamten. Ohne meine Familie bin ich ein Niemand. Wende ich mich gegen meine Familie, bin ich ein namenloser Schandfleck und weniger wert als der Dreck unter den High Heels meiner Mutter. Es ist wie mit meinem Studium. Sie lassen mich nur meinen Kram studieren, weil ich hinterher nie arbeiten werde. Alleine aus diesem Grund darf ich meinen Studiengang selbst wählen. Ziemlich großzügig, oder? Ein klitzekleiner Funke Freiheit, der mein Herz jubeln lässt, denn ich liebe das, was ich studiere. Das Tanzen, die Arbeit mit den Kindern, all das macht mich wirklich glücklich. Nach der Hochzeit allerdings, werde ich wie meine Mutter zu Hause bleiben, Kinder bekommen und Wohltätigkeitsarbeit leisten – ob ich will oder nicht -, deswegen möchte ich meine Zeit hier genießen, so gut ich es nach ihren Regeln kann. Eigenes Geld verdienen? Niemals! Das würde mir zu viel Macht über mein Leben geben.
»Ich stehe nicht auf Schwimmer, zu breites Kreuz«, necke ich James, woraufhin er entrüstet Luft ausstößt und dabei seine Augen verdreht, alte Drama-Queen.
»Du lügst, Baby, das weißt du. Alle Mädchen stehen auf breite Schultern und große …« Er grient breit, als ich ihn augenblicklich unterbreche: »James, sprich es nicht aus. Ernsthaft. Ich will nichts über deinen Penis hören. Never! Das ist selbst für dich ein No-Go. Penis-Geschichten überschreiten meine freundschaftliche Wohlfühlzone um ein Vielfaches.« Er macht eine Handbewegung Richtung Schritt, grinst dann so dreckig, dass ich doch leise lachen muss.
»Wenn du wüsstest, Kleines. Du würdest weinen, weil er perfekt ist.« Ella fängt nun auch an, zu lachen, sodass wir beide kichern wie kleine Mädchen. Die Zwillinge sind schrecklich, aber ich liebe sie wirklich. Sie sind völlig anders als meine sogenannten Freunde von früher. Meine Mutter würde sie verabscheuen, vom Hof jagen und die Tore zum Anwesen verriegeln. Kopfkino pur, was mich noch breiter grinsen lässt. Das wäre ein Spektakel. Und leider hat sie nichts gegen die beiden in der Hand, was sie gegen sie verwenden könnte, damit sie sich von mir abwenden.
Mit spitzen Fingern drehe ich das Schirmchen meines Cocktails, ehe ich einen Schluck nehme. Fruchtige Süße breitet sich in meinem Mund aus. Langsam lehne ich mich wieder zurück und denke nach. Sie haben recht, ich sollte mit zu dieser Feier gehen, ordentlich auf den Putz hauen. Ich bin nur einmal jung, außerdem höre ich eh viel zu sehr auf Liam und meine Eltern. Die rebellische Seite in mir wacht auf, sorgt dafür, dass ich mein Handy ausschalte. Sollte Liam sich noch melden, wird er wenigstens mal merken, wie es ist, wenn man den anderen nicht erreicht. Er kann ja petzen gehen. Heute Abend werde ich Spaß haben. Punkt. Ach was, Ausrufezeichen! »Okay, ich bin dabei.« Ich nehme einen weiteren großen Schluck und stelle das Glas mit Schwung auf dem Tisch ab. Das Schirmchen segelt zu Boden, bleibt unbeachtet liegen.
»Fantastisch! Sehr cool«, jubelt Ella, was ihre roten Locken wippen lässt wie Medusas Schlangen. Sie sieht aus wie ein waschechtes Cowgirl mit ihrer rot karierten Bluse, den engen Jeans, die in dunklen Cowboystiefeln steckt. Mit einem Lächeln nehme ich mir vor, ihr unbedingt einen dieser Cowboyhüte zum Geburtstag zu schenken, damit wird sie jedem Typen den Verstand rauben. Diese Frau ist so verdammt sexy, dass die Männer einem fast leidtun können, aber nur fast. Die Rundungen, die sie zu bieten hat, gönnt man mir nicht mal in meinen Träumen. In meinem Fall ist davon zu träumen schon außerordentlich gewagt. Ich bin eher das Modell: kaum Vorbau, Bohnenstange, was sicherlich auch an meiner Ernährung liegt. Diese ist genau festgelegt, bis auf die kleinsten Vitamine. Alle Makro- und Mikronährstoffe sind optimal abgestimmt. Wenn meine Mutter etwas mehr verabscheut als das Wort Liebe, sind es Kalorien. Sie verachtet übergewichtige Menschen ebenso wie arme, kranke oder weniger attraktive Geschöpfe als sie selbst. Dazu würde sie allerdings niemals stehen, ebenso wenig, dass sie Schönheits-OPs vornehmen lässt. Davon hat sie reichlich gehabt – getarnt als Wellness-Urlaub, versteht sich. Wenn ich ehrlich bin, lasse ich das ganze Kalorienzählen seit der Uni schleifen. Zum Glück hat Liam ein genaues Augen auf mich und steckt es bei Bedarf auch gern meiner Mum, die dann immer kurz vor einem Anfall steht. Ella hingegen tut, was sie will, dafür beneide ich sie. Sie weiß, wie heiß sie ist, und das setzt sie schamlos ein. Sie will keine Beziehung, sondern Spaß und den hat sie in rauen Mengen. Sie genießt das Leben in vollen Zügen. Noch etwas, was die Zwillinge gemeinsam haben. Ihr Motto: Die Uni ist zum Austoben da, nicht für feste Beziehungen.
»Perfekt. Ich werde euch beschützen, Ladys, und die neidischen Blicke der anderen Männer voll und ganz genießen.« James lächelt verschmitzt, leert sein Glas mit einem Zug, stellt es sogleich mit einem lauten Knall auf dem Holztisch ab. »Los gehts, Ladys! Auf zur wilden Sause.«
Kurze Zeit später stehen wir vor dem Verbindungshaus der Betas. Laute Musik hallt uns entgegen, während der Bass direkt ins Blut eindringt und dort wild pulsiert. Die ersten Gäste torkeln uns bereits entgegen, einige Raucher sitzen vor dem Haus auf dem Rasen, darüber hinaus kniet ein Mädchen dicht vor uns auf dem Bordstein, übergibt sich geräuschvoll in den Rinnstein. Angewidert rümpfe ich die Nase, als der Geruch von Erbrochenem zu mir weht, dabei den Duft von frischer Nachtluft vertreibt. Schon jetzt habe ich keinen Bock mehr, aber Ella zieht mich weiter, während James fröhlich summt. Er legt eine kleine Tanzeinlage auf dem Weg zu Tür hin, sorgt dafür, dass sich meine Stimmung minimal hebt. So aufgedreht wie er ist, gleicht er einer ansteckenden Naturgewalt.
Der Geruch von Grillfleisch liegt in der Luft, vertreibt den Gedanken an die Schnapsleichen vorm Haus. Mein Bauch knurrt leise, was meine Gemütslage nicht sonderlich erhellt, mir eher in Erinnerung ruft, dass ich eigentlich jetzt eine Tüte Popcorn gefuttert hätte. Wenn ich Hunger habe, bin ich nicht freundlich gestimmt, das gebe ich zu. Man vergleicht mich dann schon mal gut und gerne mit der Dame aus der Snickers Werbung, die zur Diva wird. Ich habe mich dermaßen auf das verdammte Popcorn gefreut, dass ich Liam echt böse bin. Popcorn ist das Highlight eines jeden Kinos. Im Idealfall mit so viel Zucker wie es geht, dann wird es im Mund ordentlich krachen. Liam fragt zwar immer, ob mir klar ist, wie viele Kalorien das Zeug hat, aber … nun ja, Popcorn ist eben Popcorn. Egal, vielleicht ist ja auf dem Grill noch ein Burger für mich über. Bei meinem Glück bezweifle ich das zwar, weil wir ziemlich spät sind und hier eine Horde an Feiernden tobt, doch die Hoffnung stirb bekanntlich zuletzt. Ella lässt meine Hand los, beginnt leicht um uns herum zu tänzeln, zudem singt sie krumm und schief mit und wiegt ihre Hüften zur Musik. Kurz vor der Tür schlingt sie ihre Hand wieder um meine, zieht mich entschlossen mit sich ins Haus, bevor ich auf die Idee kommen kann, umzudrehen.
Wir landen mitten im Getümmel. Der Flur ist so verstopft, dass wir uns nur schleppend durch die Massen schlängeln. Dabei stoßen schwitzende und völlig überwärmte Körper unangenehm gegen meinen. Die Luft hier drin ist dick, von Alkohol getränkt und warm wie im Dschungel, während der Bass die Wände beben lässt. Die Körper um uns herum tanzen im Takt der Musik und schunkeln uns mit sich hin und her. In diesem Moment bereue ich schon, mitgekommen zu sein. Mir ist das deutlich zu viel feuchtfröhlicher Körperkontakt mit fremden Menschen. Das geht weit über meine Wohlfühlzone hinaus.
»Grace. Hallo.« Die ersten Leute erkennen mich, sodass ich mich ihnen zuwende und höflich schmunzelnd winke. Wie gesagt, dieses Spiel beherrsche ich perfekt. Meine innere Abneigung gegen ebendiese Feier lasse ich niemanden erkennen.
»Ella, komm rüber«, ruft es von irgendwo aus dem Raum. Wir lächeln, bleiben jedoch nicht stehen. Ella will tanzen, bahnt sich unnachgiebig ihren Weg – unter Einsatz ihrer Ellenbogen – durch die Massen frei und zieht mich mit sich. Als Cheerleader stehen uns immer alle Türen offen, wir sind auf den Partys gern gesehene Gäste, obwohl Ella eher die Partykanone ist und ich ihre nicht ganz so lustige Begleitung. Damit kann ich dennoch problemlos umgehen. Ich habe eigentlich keine Ahnung, was mich geritten hat, dieser Truppe beizutreten, doch das zusätzliche Training tut mir gut, außerdem macht es zusammen mit Ella meist auch Spaß. Obendrein findet Liam, es nutzt seinem Ansehen, wenn ich Cheerleaderin bin, da er ja im Footballteam spielt. An die knappen Outfits muss man sich gewöhnen, aber ich gebe zu, mein Körper ist nie so fit und trainiert gewesen wie jetzt. Zumindest kann ich dadurch den einen oder anderen Schokoriegel nach dem Training verdrücken, was ich gnadenlos ausnutze. Zwar widerspricht es sich etwas, dass er akzeptiert, was ich währenddessen trage, aber so ist er nun mal. Er mag es, wenn über ihn geredet wird oder Menschen ihn beneiden.
Mir wird ein Becher in die Hand gedrückt. Vorsichtig schnuppere ich dran und rieche warmes Bier. Widerlich. Naserümpfend gebe ich es an James weiter, der es in einem Zug leert, ohne zu murren. Er ist nicht besonders wählerisch. Hauptsache es knallt ordentlich rein. Meine Augenbraue hebt sich leicht, doch er lacht nur, tanzt eine zierliche Blondine an, die noch nichts von ihrem Glück ahnt, seine heutige Auserwählte zu sein. James wird nicht alleine nach Hause gehen, so viel steht fest.
»So viele hübsche Ärsche in einem Raum! Was für eine geile Party.« Liam prostet mir zu, ich proste halbherzig zurück.
Unsere ganze Mannschaft ist hier, feiert ausgelassen, während ich am Rand stehe und die Meute beobachte. Mir ist heute nicht danach, mich ins Getümmel zu stürzen. Ein paar Bier mit den Jungs, ja, mehr nicht. Die Betas sind ein Haufen echt heißer Studentinnen und man munkelt, dass es schwer ist, in ihre Verbindung aufgenommen zu werden, was jedoch nicht gerade an einem hohen Maß an Intelligenz liegt, wenn man manche ihrer Gespräche verfolgt. Du musst überdurchschnittlich hübsch sein, auf Make-up stehen und solch komisches Zeugs. Das glaube ich sogar, wenn ich die ganzen Mädels in Betashirts betrachte. Alle sind bis zu den Haarwurzeln zugekleistert. Natürlich sind auch andere Gäste anwesend, aber ich weiß genau, welche Liam meint. Er pickt sich nur die Sahneschnitten raus.
»Hey, Ray.« Ich schaue die Brünette mit dem knappen Rock an, überlege dabei fieberhaft, wie sie heißt, doch es will mir nicht einfallen. Sie schaut mich erwartungsvoll an. Vermutlich sollte ich ein schlechtes Gewissen haben, habe ich allerdings nicht. Die Frauen wissen, worauf sie sich mit mir einlassen – Spaß, mehr nicht. Was ich suche, finde ich bei ihr wohl kaum.
»Hey«, antworte ich aus Höflichkeit, wende mich dann spielend ab. Auf ein Gespräch mit ihr kann ich getrost verzichten. Ich hasse diese aufgedonnerten Weiber, die einfach nur damit angeben wollen, einen Footballer zum Freund zu haben. Als ob es das ist, was im Leben zählt. Sie werden bitter auf die Nase fallen, wenn die Uni vorbei ist und andere Dinge wichtig werden. Oder sie suchen sich einen reichen Kerl und führen dieses Leben weiter – bei vielen hier ist es wahrscheinlich. So oder so, es soll nicht mein Problem sein. Sie ist uninteressant für mich und ich will ihr keine Hoffnungen machen, wo keine sind. Die ersten Jahre am College ist das ganze Theater noch aufregend gewesen, aber jetzt, wo ich auf meinen Abschluss zugehe, denke ich über vieles anders.
»Liam, ist das nicht deine Kleine?« Einer unserer Teamkameraden stößt ihn an und ich schaue automatisch zur Tür. Meine Augen scannen den Raum ab, mein Herzschlag beschleunigt sich ein kleines bisschen. So uninteressant die Brünette gewesen ist, so interessant wird mein Abend jetzt. Das habe ich nicht erwartet. Dass sie heute hier sein wird, lässt diese Feier sehr viel spannender werden.
»Fuck! Grace und ich wollten ins Kino. Ich wusste, ich habe was vergessen.« Er schlägt sich mit der flachen Hand gegen den Kopf, während die anderen schadenfroh lachen.
»Alter, wie oft versetzt du sie? An ihrer Stelle würde ich dir den Arsch aufreißen«, grölt Ethan und die anderen nicken zustimmend.
Liam ist eine Flachpfeife, und was für eine. Seine Einstellung macht mich wahnsinnig. Ich möchte ihm manchmal echt den Arsch aufreißen. Eigentlich fast täglich, weil er seinen verfluchten Schwanz nicht bei sich behalten kann und seine Freundin regelmäßig bescheißt. Was mich daran stört? Dass seine Freundin Grace ist.
»Grace ist viel zu nett, zudem verdammt süß«, wirft Mason ein, fängt sich daraufhin eine Kopfnuss von Liam, der es hasst, wenn wir so über seine Freundin sprechen. Er dürfte niemals meine Gedanken hören, wenn ich sie sehe. Die wären weitaus schlimmer als das, was Mason in den Raum geworfen hat, und außerdem nicht jugendfrei – alles andere als das. Eigentlich drehen meine Gedanken sich vierundzwanzig Stunden am Tag um seine Freundin, was aus mir wohl einen verdammt schlechten Kumpel macht. Vermutlich ist es auch nicht förderlich für mein Karma und ich werde als Schabe wiedergeboren oder so. Keine Ahnung, was die Götter für mich planen, aber gegen einige Dinge ist man einfach machtlos und bei mir sind es eben meine Gefühle für diese Frau.
»Hey, pass auf, wie du über meine Freundin sprichst«, mahnt er, woraufhin die beiden anfangen, sich zu kabbeln, während ich Grace weiterhin im Blick behalte.
Wie hypnotisiert schaue ich sie an. Mein Herz rast in einem wilden Galopp und ich wünsche mir insgeheim, dass sie wegen mir hier ist, nicht wegen Liam. Sein Verhalten stößt bei mir auf pures Unverständnis, denn seine Freundin scheint von innen heraus zu strahlen, hat etwas an sich, dass die ganze Welt verändert, wenn sie den Raum betritt. Sie schafft es, mich ganz und gar gefangen zu nehmen, dabei für alles andere blind zu machen. Ich kann es nicht beschreiben, aber wenn ich sie sehe, geht die Sonne auf. Sie ist winzig, bestimmt nur knapp einssechzig, mit langen blonden Haaren, die ihr weit den Rücken hinab fallen. Allein ihr Äußeres weckt in mir das Verlangen, sie an mich zu ziehen, um sie mit meinem Körper vor der Welt zu schützen. Grace wirkt so verdammt zerbrechlich mit ihren riesigen hellgrünen Augen. Es ist, als würde ein Neandertaler tief in mir hocken, sich auf die Brust trommeln, und wenn er sie erblickt, brüllen: Meins! Meins! Daraufhin will er die Keule schwingen, alle Männer in ihrer Umgebung KO zu schlagen. Tja, wenn es so einfach wäre, wäre sie bereits meine Freundin und ich hätte Liam den Knüppel über den Dickschädel gezogen – dann gäbe es für mich ein Happy End, so richtig á la Disney, aber leider leben wir nicht mehr in der Steinzeit und Keulen habe ich auch keine. Schade eigentlich.
Sie lacht gerade über etwas, das Ella ihr zuflüstert, wobei ihre weißen Zähne aufblitzen, während ihre Augen vergnügt funkeln. Gott, ihre Augen funkeln, habe ich das wirklich gedacht? Das beste Zeichen dafür, dass ich verrückt werde. Ich klinge wie vom anderen Ufer. Nein, stimmt auch wieder nicht. John, mein Kumpel aus Kindeszeit, hört sich nie so an, und der steht definitiv auf Männer. Dann klinge ich eben wie ein Weichei. Funkelnde Augen, was kommt morgen? Werde ich Poet? Ich weiß genau, dass ihre Augen ein so helles Grün haben, dass ich immer an den Frühling denken muss und an die ersten saftigen Grashalme, die aus dem Boden sprießen. Sie hat einen sportlichen Körper, fast schon zu dünn – ich mag es, wenn ich etwas zum Anfassen habe. Das dunkelblaue, verdammt kurze Kleid schmiegt sich allerdings perfekt ihrem Körper an. Ich muss schlucken und widme mich sodann meinem Bier, weil mein Mund plötzlich ziemlich ausgedörrt ist.
Genau in diesem Moment entdeckt sie ihren Freund und ihr Lächeln verrutscht kurz, ändert sich kaum merklich, doch ich erkenne es. Eben noch herzlich und voller Freude, wirkt es jetzt aufgesetzt und strahlt eine Verletzlichkeit aus, die mich tief berührt. Am liebsten möchte ich Liam meine Meinung geigen, was mir allerdings nicht zusteht. Sie ist seine Freundin und wenn sie sich wie Dreck behandeln lassen will, ist es ihr Ding. Es erschließt sich mir nicht. Jemand wie Grace kann einen weitaus besseren Typen finden. Sie ist wunderschön, sexy und natürlich. Warum gibt sie sich mit Liam ab? Es geht mir nicht in den Schädel, aber fragen kann ich sie wohl kaum.
Er macht sich nicht die Mühe, zu ihr zu gehen, also muss sie sich den Weg zu uns erkämpfen. Mein Kiefer knirscht, als ich sehe, wie sie angerempelt wird, während ihr Freund weiter an seinem Bier nuckelt, dabei mit den Jungs lacht. Was ist er bloß für ein Vollidiot? Es ist ihm gleichgültig, wofür ich ihm eine verpassen könnte. Vermutlich ist er sogar angepisst, weil sie hier ist. So kann er keine Frauen abchecken oder andere Ärsche begrapschen – zwei seiner Lieblingsbeschäftigungen auf Verbindungspartys.
»Hey, Grace. Hey, Ella.« Mason nimmt beide in seine kräftigen Arme, um sie zu begrüßen, und der Rest der Jungs kommen ihm auf die gleiche Art und Weise nach. Sie sind die Cheerleader unseres Teams, wir trainieren oft im gleichen Raum, fahren mit demselben Bus zu Auswärtsspielen und irgendwie hängen wir auch andauernd zusammen ab. Das schweißt zusammen. Zur Begrüßung nehme ich Ella in den Arm, ehe Grace sich mir zuwendet. Ich muss weit nach unten sehen. Als unsere Blicke sich treffen, durchzieht Wollust meinen Körper und ich will viel mehr, als sie nur in den Arm nehmen. Sie an mich reißen und küssen, bis uns der Atem stockt, wäre eine Idee, die mir sehr gefällt. Sie lächelt mich fast schüchtern an, mein Herz stolpert kurz.
»Hey, Ray.« Ich liebe es, wie sie meinen Namen ausspricht. Er dringt heiß durch jede Zelle meines Körpers. Meine Arme schließen sich um sie, was das Verlangen, meine Lippen auf ihr duftendes Haar zu pressen, in mir auslöst, doch ich komme rechtzeitig zur Vernunft … unter anderem weil sie mir entrissen und in Liams Arme gezogen wird. Sofort rebelliert alles in mir und der Neandertaler brüllt lautstark in meinem Kopf. Ungehalten schwingt er seine Keule, während ich mit starrer Miene daneben stehe, und versuche, mein Herz zu beruhigen. Eigentlich müsste ich einen Oskar für diese Leistung erhalten. Vielleicht sollte ich in den Schauspielkurs wechseln, eine Überlegung ist es wert.
»Hey, Baby. Sorry, Kino habe ich gar nicht mehr auf dem Schirm gehabt. Die Jungs wollten feiern und zack, du weißt ja, wie das ist. Gegen diese Horde bin ich machtlos.« Liam macht sich nicht mal die Mühe, schuldbewusst zu wirken. Man merkt, dass ihm das vergessene Date vollkommen am Arsch vorbei geht. Diese elendige Ratte. Ich sehe, wie sich ihre Lippen missmutig aufeinanderpressen, ehe sie sich dann zu einem Lächeln zwingt, aber nichts sagt. Tapferes Mädchen, bloß keine Schwäche zeigen. Das würde Liam noch mehr freuen, er steht drauf, und wirkt in der Tat etwas enttäuscht, als möchte er sie unbedingt verletzen.
»Du bist ein Mistkerl, Woods! Eines Tages wird Grace das merken, zack, dann bist du weg vom Fenster«, knurrt Ella. Unwillkürlich grinse ich bei diesen Worten in meinen Becher. Ella und Liam sind wie Hund und Katz, wobei ich gestehe, innerlich feiere ich jedes biestige Kommentar, welches sie Liam an den Kopf wirft.
»Halt deine große Klappe, Pumuckl«, kontert er, wobei ihre Augen wütend funkeln. Sie richtet sich gerade auf, scheint direkt vor uns zu wachsen, und sogar ihre roten Locken wirken geladen. Jetzt geht es los, denke ich amüsiert, lehne mich genüsslich an die Wand, um das Schauspiel mit anzusehen.
»Ich gebe dir gleich Pumuckl, du Großkotz. Grace ist viel zu schade für dich. Du bist ein widerlicher Egomane. Oh, falls dir das Wort nichts sagt, du Matschhirn, erkläre ich es dir sehr gerne. Es bedeutet, du bist ein selbstbezogenes Stück Scheiße, das sich einen Dreck um seine Freundin kümmert und in seiner kleinen Mikrowelt lebt, in der sich alles nur um einen selbst dreht. Ich hoffe, dass du es jetzt verstanden hast. Wenn nicht, schreib ich es dir gerne auf.«
Grace verdreht genervt die Augen, tritt dann zwei Schritte von Liam zurück und beendet den Streit mit einem Blick, ehe er tatsächlich begonnen hat, oder Liam zu einer Antwort ansetzen kann. Schade, ich habe gehofft, Ella verpasst Liam eine dicke Abreibung. Das hätte meine Laune deutlich gehoben. Der Anfang ist so vielversprechend gewesen. Liams Kopf jedenfalls ist purpurrot, er ist richtig sauer. Ich bin froh, dass Grace nicht gehört hat, was er vor knapp fünf Minuten über die anderen Frauen gesagt hat. Dann hätte Ella ihm sicher die Eier abgerissen, um sie ihm in den Mund zu stopfen. Grace hat ihn wirklich nicht verdient und manchmal frage ich mich sogar, ob ich es Ella doch eines Tages stecken soll.
Diese Frau löst einen verdammten Beschützerinstinkt in mir aus, den ich noch nie erlebt habe. Es ist verrückt. Sie schaut auf, merkt, dass ich sie weiterhin ansehe, doch ich halte ihrem Blick stand. Mein Blut scheint zu kochen, mein Körper steht in Flammen und ich fühle mich wie ein verliebter Teenager. Ich bin unfassbar scharf auf die Freundin meines Kumpels. Verdammt, macht das aus mir auch solch einen Mistkerl? Was sie wohl denkt, wenn sie mich ansieht? Ob sie mich attraktiv findet? Eine zarte Röte breitet sich auf ihren Wangen aus. Wahrscheinlich ist es besser, jetzt den Blickkontakt zu unterbrechen, aber es gelingt mir nicht. Alles an dieser Frau ist atemberaubend und bezaubernd. Jedes kleine Detail sauge ich auf, genieße es. Wenn es Liebe auf den ersten Blick gibt, dann ist mir das bei Grace passiert. Ihr bin ich hilflos ausgeliefert. Ich bin schon mit vielen Frauen zusammen gewesen, doch keine hat mich je so berührt wie sie.
»Und wie geht es dir, Ray? Nervös wegen dem großen Spiel?« Sie lächelt und tatsächlich ist dieses Lächeln echt. Eines von denen, die warm und freundlich sind, und ihre Augen dabei strahlen lassen. Das Beste daran: es gilt mir. Nicht Liam, ausschließlich mir. Fuck, diese Frau ist wie Kryptonit für mich. Sie macht mich total fertig und weiß es nicht mal. Es ist die Hölle auf Erden, darüber hinaus ist sie mit einem Kerl wie Liam zusammen, der sich durch die Weltgeschichte poppt.
»Wenn ihr uns anfeuert, kann nichts schiefgehen, oder?« Ich zwinkere ihr zu, wodurch sie noch röter wird, was mir durchaus gefällt, denn immerhin bedeutet es, ich lasse sie nicht kalt.
»Oho, Ray flirtet mit deiner Lady, Liam. Pass bloß auf.« Ethan wirft mir einen Bierdeckel an den Kopf, der direkt an meiner Stirn abprallt, doch ich fange ihn schmunzelnd auf, ehe er zu Boden fallen kann.
»Lass das, du Spinner.« Ich werfe den Deckel zurück, treffe allerdings nicht, weil er sich duckt und mir den Mittelfinger zeigt. Er meint seine Sprüche nie wirklich ernst, er ist der Spaßvogel von uns. Damit kann ich gut umgehen. Er ist der, der alle zum Lachen bringt. Dabei ahnt niemand, wie nahe er damit an meine echten Gefühle herankommt. Gefährlich nahe.
Liam schaut zu uns herüber, hebt eine Augenbraue, mustert mich kurz von oben bis unten. »Nicht böse gemeint, Ray, aber du bist nicht ihr Typ.« Er haut Grace auf den Hintern, woraufhin sie zusammen zuckt, ehe sie beschämt zu Boden schaut. In mir brodelt es. Das wilde Tier in mir brüllt besitzergreifend, fletscht obendrein die Zähne, bereit, Liam in Stücke zu reißen, wenn sich die Möglichkeit bietet. Er behandelt sie wie ein Stück Fleisch, stellt sie vor uns zur Schau, weil er denkt, dass es cool sei. Sie hasst es, was ihm gleichgültig ist, das sehe ich ihr an. Er spielt den Obermacker, dabei ist es nur lächerlich, wie er sich aufführt. Ich mag mein ganzes Team, doch Liam ist wirklich ein Fall für sich, was vielleicht auch an meiner Eifersucht liegt, wenn es um seine Freundin geht – möglicherweise nicht die ideale Bedingung für eine Freundschaft, obwohl ich bezweifle, dass ich das Ganze anders sehen würde, wenn es nicht so wäre. Mir stößt sein protziges Verhalten einfach auf. Ja, ich sollte mich schämen, auf die Freundin meines Kumpels zu stehen, aber als ich sie das erste Mal gesehen habe, hat es direkt Klick gemacht. Es ist so gewesen, als würde etwas in mir ausklinken und mich meiner Macht berauben. Ich versuche immer wieder, eine Erklärung dafür zu finden, doch es gibt keine. Das besagte Tier in mir hat gebrüllt, geradezu gerufen: diese oder keine. Seitdem haben sämtliche andere Frauen den Reiz für mich verloren, was für einen Typen am College echt mies ist. Sie sind für mich lediglich Ablenkungen, unter Umständen für etwas Spaß, mehr nicht. Keine von denen berührt mein Herz, aber im Gegensatz zu Liam, bin ich ehrlich zu ihnen. Wo wir bei Liebe auf den ersten Blick sind: Seit ich Grace gesehen habe, glaube ich an diesen Mythos. Anders ist nicht zu erklären, was mit mir passiert ist.
»Liam«, zischt Grace leise, wobei man merkt, wie peinlich ihr dieses Spektakel ist. Zu gern möchte ich sie an mich ziehen, Liam dann eine verpassen, doch stattdessen nehme ich einen Schluck schales Bier und lächle leicht. Gute Miene zum bösen Spiel, darin bin ich Profi.
»Sei dir nicht so sicher, Liam, du weißt ja nicht, was ich zu bieten habe«, lasse ich ihn wissen, schaue Grace dabei geradewegs in ihre bezaubernden Augen, die sich sogleich überrascht weiten. So eine Antwort hat wohl niemand erwartet, weswegen Ella mich nun auch neugierig mustert, als wiegt sie meine Worte ab, während sich Liams Blick verfinstert. Jetzt hört der Spaß auf, zumindest teilt mir dies sein Blick mit. In seinen Augen bin ich offensichtlich zu weit gegangen. Ich zwinge mich zu einem aufgesetzten Lächeln, lege Grace spielerisch den Arm um die Schultern, der dort, nebenbei bemerkt, perfekt hinpasst. »Auf jeden Fall bin ich immer pünktlich. Das ist mehr, als du von dir behaupten kannst.« Alle lachen wie auf Kommando, was bedeutet, dass ich glücklicherweise gerade so die Kurve bekommen habe.
Das Training hat längst angefangen, als Ella schnaubend in die Halle stürmt. Da ich es nicht anders von ihr kenne, stretche ich mich weiter, während viele Köpfe sich ihr zuwenden. Das ist typisch und bringt mich dazu, meine Mundwinkel zu einem Lächeln zu verziehen. Ella liebt große Auftritte. So ist sie einfach. Avery funkelt sie wütend an, was meiner Freundin allerdings herzlich egal ist. »Ella, fünf Extrarunden. Du bist schon wieder zu spät, unfassbar. Ich sollte dich aus dem Team werfen! Was glaubst du, wer du bist?« Sie wirft ihr platinblondes Haar zurück, stemmt die Hände in die Hüften und guckt so finster, als wäre ihr Hund gestorben. Mit Avery ist wahrlich nicht zu spaßen. Sie leitet das Team mit harter Hand, würde Ella jedoch nie rauswerfen. Extrarunden laufen lassen, ja, die bekommt sie jedes zweite Mal verpasst, doch es scheint sie nicht zu stören.
»Ja, verdammt. Ich musste was wegen einer Hausarbeit klären«, brummt meine Freundin unseren Team Captain an, bindet sich dabei einen unordentlichen Haarknoten, der danach wie eine Palme von ihrem Kopf absteht. Selbst damit sieht sie scharf aus, während ich mit dieser Frisur den Anschein machen würde, als wäre ich frisch aus dem Bett gekrochen.
»Ach, verarsch wen anderes. Du hast sicher wieder mit den Kommilitonen geflirtet. Genau wie letztes Mal. Maya hat dich gesehen. Du bist und bleibst eine Lügnerin. Dafür müsstest du zehn Runden laufen. Frechheit«, braust Avery sich auf, was mich hinter vorgehaltener Hand kichern lässt. Maya duckt sich und wird feuerrot, als Ella sie ungläubig ansieht.
»Petze«, flüstert sie fast tonlos, woraufhin ich lauter kichere.
»Selbst Schuld! Viel Spaß bei den Extrarunden«, necke ich sie gut gelaunt, setze sodann mein Stretching fort. Ihr Kopf wendet sich mir betont langsam zu.
»Als echte Freundin würdest du mit mir laufen. Was sind schon fünf Runden? Wir könnten quatschen.«
Ich lache nun laut auf, was uns wieder einen bösen Blick von unserem Captain einbringt, die gerade die Playlist fürs Training heraussucht, während wir uns dehnen.
»Vergiss es! Die kannst du schön alleine laufen. Außerdem, waren es nicht zehn?« Ich bin richtig gut gelaunt, lehne mich weit nach hinten und genieße das Ziehen meiner Muskeln.
»Quatsch, sie soll mit fünf zufrieden sein. Sicher, dass du nicht mitlaufen willst? Wir kommen am Footballteam vorbei. Du könntest mit deinem Popo vor Liam hin und her wackeln. Das wird dem Spinner gefallen, wetten? Außer es ist ein Spiegel in der Nähe, dann geilt er sich an seinem Spiegelbild und dem großen Ego auf. Ich wette, das ist das Einzige, was an diesem Idioten groß ist. Habe ich recht? Ja, das habe ich.« Ich verdrehe die Augen, sie ist der Spinner. »Oder ist dir Ray lieber? Was läuft da überhaupt mit unserem sexy Inder? Ich wusste vorher gar nicht, dass da was im Busch ist. Stille Wasser sind tief, meine Liebe. Hast du etwa beschlossen, deinen Egomanen abzuschießen? Das wäre wie Weihnachten und Ostern an einem Tag. Ach, was rede ich, es wäre das Highlight meines Lebens. Ich würde wochenlang feiern und meine Kinder nach dir benennen.«
Mir wird heiß und kalt zugleich bei ihren Worten und ich setze mich ruckartig aufrichtig hin. »Wie kommst du denn auf diesen Mist?«, zische ich und spüre direkt, wie ich richtig rot werde. So etwas sollte sie nicht mal aus Spaß sagen. Hier sind genug Petzen unterwegs, die es Liam stecken würden, nur um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dann geht das Drama erst recht los. Das Brüllen meiner Mutter kann ich beinahe glasklar hören. Sofort fühle ich mich von den anderen Mädchen beobachtet, wobei ich mir sicher bin, dass sie ihre Ohren spitzen. Neugierige Bande.
»Da geht doch was zwischen euch. Er frisst dich mit Blicken auf und sein Kommentar am Wochenende ist auch nicht ohne gewesen. Liams Blick – zu geil. Hab ich total gefeiert. Der ist dermaßen angepisst gewesen. Ich an deiner Stelle würde wissen wollen, was Ray zu bieten hat.« Sie schnippt gegen meine Nase, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Wovon redet sie? Ray hat einen Witz gemacht, mehr nicht.
»Kannst du bitte leiser reden«, brumme ich verlegen und reibe mir dabei den Nacken. »Das, was du dir in deinem kranken Kopf zusammenreimst, stimmt nicht. Er ist Liams Kumpel«, stottere ich, während sich Hazel vorlehnt. Ihre blauen Augen sind voller Schalk.
»Ich muss Ella recht geben. Ray schaut wirklich oft zu dir, was uns anderen armen weiblichen Wesen ohne Freund echt neidisch macht. Ich meine ernsthaft, habt ihr euch diesen Traum von Mann mal angesehen? Die vollen schwarzen Haare, der Dreitagebart und dann dieser krasse Waschbrettbauch? Da wird man schwach. Dazu verleihen die Tattoos ihm etwas Verwegenes, oder? Er ist verdammt heiß. Gott, da bekomme ich gleich Schweißausbrüche. Er verkörpert den Inbegriff eines Bad Boys, wie er im Buche steht eben und das auf eine verdammt heiße Art und Weise.«
Ella und Hazel kichern leise, klatschen sich ab und nun stimmt Sophia auch mit einem verklärten Blick ein. »Oh ja. Wir anderen müssen sabbernd zusehen, während Grace gleich zwei Spieler für sich reserviert. Richtig unfair. Du musst dich für einen entscheiden. Den anderen kannst du uns überlassen.«
Mein Kopf muss aussehen wie eine Tomate. Mir ist fürchterlich heiß und ich weiß nicht, ob sie mich verarschen oder es ernst meinen. Ich fühle mich in solchen Situationen immer total hilflos. Vor Liam habe ich keinen Freund gehabt, meine Eltern hätten das nie erlaubt, und ich habe nicht solche Erfahrungen wie anderen Mädchen – das macht mich zu einem leichten Opfer für Neckereien. »Ihr seid doch verrückt«, brumme ich, möchte dabei im Erdboden versinken. Wieso sollte Ray mich anschauen? Jeder weiß, dass ich mit Liam zusammen bin. Er und Liam sind Freunde. Ray kann ganz andere Frauen bekommen.
Verstohlen schaue ich zu den Jungs des Footballteams, die zeitgleich an den Geräten im Nebenraum trainieren. Statt meinen Freund, mustere ich Ray. Es ist ja nicht so, als wäre er mir nicht aufgefallen – dann müsste ich blind sein -, er ist einfach unerreichbar für mich. Punkt. Meine Augen wissen das anscheinend nicht, sie blicken ihn weiter an. Riesen Fehler, denn mein Bauch kribbelt leicht, was oftmals in seiner Gegenwart vorkommt. Sein Oberkörper glänzt vor Schweiß, während er sich immer wieder kraftvoll an der Stange hochzieht und einen Klimmzug nach dem anderen absolviert, als wäre es ein Kinderspiel. Aus Erfahrung weiß ich, wie hart es ist, und nicht so leicht, wie es gerade wirkt. Seine Muskeln arbeiten im Einklang und sind wirklich eindrucksvoll, da haben die anderen schon recht. Ich müsste Tomaten auf den Augen haben, wenn ich ihn nicht sexy finden würde – das ist er definitiv. Sein linker Arm ist vom Handgelenk bis über die linke Brust mit Tattoos bedeckt und ich lüge, wenn ich behaupte, dass ich es nicht ebenso attraktiv finde. Es ist rebellisch, was ich jedoch nie vor jemand anderen zugeben werde. Niemals! Meine Mutter duldet solche Schwärmereien nicht. Egal, wie anziehend ich es finde. Er hat etwas Düsteres und Verwegenes an sich, vollkommen anders als mein blonder Freund, der in seiner unmittelbaren Nähe trainiert. Sie sind wie Tag und Nacht. Beachboy und Bad Boy. Da stimme ich Sophia zu. Oh Gott, was hat Ella nur angerichtet, dass ich jetzt darüber nachdenke? Ich muss es im Keim ersticken, sofort.
Ray stammt aus Indien und studiert hier Biotechnologie. Nächstes Jahr wird er seinen Abschluss in der Tasche haben, wie der Rest der Mannschaft. Wenn ich Liam richtig verstanden habe, ist er sogar echt gut. Liam studiert Sport und will danach Lehrer werden, während ich noch zwei weitere Jahre vor mir habe. Ich bin zwei Jahre jünger als Liam, somit vierundzwanzig. Er und Ray müssten gleichen Alters sein, schätze ich, um die sechsundzwanzig. Ob Ray wieder zurück nach Indien geht? Wie sehen wohl seine Pläne aus?
Als würde er meinen Blick spüren, schaut er auf und unsere Blicke treffen sich. Er lässt sich lässig von der Stange fallen, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen. Meine Nervenzellen am Rückrad kribbeln spürbar. Er reibt sich den Schweiß aus dem Gesicht, wobei mein Blick an ihm kleben bleibt. Trocken schlucke ich, als meine Augen zu seinem definierten Bauch wandern. Schnell zwinge ich mich, wieder zur Vernunft zu kommen, als ich erkenne, dass er mir ein schiefes Grinsen schenkt. Ich weiß, dass seine braunen Augen fröhlich blitzen, auch wenn ich sie von hier kaum sehen kann. Verwirrt schaue ich zu Boden, während Ella wissend schmunzelt, aber nichts sagt. Gott sei Dank, diese blöde Nuss pflanzt mir komische Gedanken in den Kopf. Sie dürfen mir nicht so einen Floh ins Ohr setzen. Wenn Liam das hört, brennt die Hölle. Vor allem würde er mir die Schuld daran geben, worauf ich getrost verzichten kann, ganz zu schweigen von meiner Mutter, die meckern würde, bis mir die Ohren bluten.
Die ersten Klänge von Christina Aguilera – Can’t Hold Us Down erklingen. Avery klatscht in die Hände, während wir aufstehen, um uns warm zu machen. Alle, außer Ella, laufen ihre fünf Runden. Da wir an dem Raum mit den Footballspielern vorbei rennen, haben wir einen perfekten Blick auf ihr Training – und sie auf uns, nicht zu vergessen. Ich halte mein Tempo, versuche mich nur auf die Musik zu konzentrieren, was schwer ist. Immer wenn wir an den Jungs vorbei kommen, ertönen Pfiffe, Jubel und, ob ich will oder nicht, frage ich mich, ob die anderen eventuell recht gehabt haben. Schaut Ray mir nach? Gefällt ihm, was er sieht? Und warum interessiert mich das überhaupt? Ella, ich hasse dich! Ich steigere mein Tempo, vertreibe so die Gedanken an braune Augen und einen muskulösen Körper, sehe zu, dass ich meinem eigenen Training nachkomme.
Das Programm ist schweißtreibend gewesen. Müde schleppe ich mich in die Duschen, wo die anderen schon vergnügt schwatzen, doch ich habe keine Lust zu reden. Ich fühle mich völlig ausgepowert, einzig dadurch habe ich diese verrückten Gedanken vertreiben können. Das warme Wasser lockert meine Muskeln, wobei ich genüsslich seufze. Leider habe ich nicht viel Zeit, daher fällt die Dusche ziemlich kurz aus. Zwar liebe ich langes Duschen, aber noch mehr liebe ich es, zu baden. Das fehlt mir hier echt, eine Badewanne und ellenlange Schaumbäder.