Fegoria - Annika Kastner - E-Book

Fegoria E-Book

Annika Kastner

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Beschreibung

"Ich bin Alice – in meinem ganz persönlichen Wunderland. Weiße Hasen habe ich keine, aber einen kleinen Drachen. Mein Hutmacher ist ein sturer Prinz, der mir das Leben gerettet hat, und zudem heißer ist, als es erlaubt sein sollte." Alice ist von ihren Freundinnen, denen es wichtiger scheint, perfekte Fotos für ihre Blogs und Selfies für Instagram zu inszenieren, genervt und führt die gemeinsame Wanderung alleine fort. Als sie den Eingang eines Berges ausfindig macht, lässt sie sich von ihrer Neugierde treiben und betritt das märchenhafte Fegoria. Umgeben von Orks, Trollen, Drachen und Lichtelben, die ihr Leben gewaltig auf den Kopf stellen, versucht sie mit aller Macht, zurück in ihre Welt zu gelangen. Nachdem sie jedoch mit der wohl größten Lüge ihrer Existenz konfrontiert wird, begibt sie sich mit Crispin, Thronfolger im Nebelwald, auf die Suche nach sich selbst.

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Fegoria

Roman

Annika Kastner

Booklounge Verlag

Überarbeitete Ausgabe

Copyright © 2018

Alle Rechte beim Booklounge Verlag

Booklounge Verlag, Sabrina Rudzick

Johann-Boye-Str. 5, D-23923 Schönberg

www.booklounge-verlag.de

978-3-947115-09-9

Inhalt

Widmung

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Kapitel Achtundzwanzig

Kapitel Neunundzwanzig

Kapitel Dreißig

Kapitel Einunddreißig

Kapitel Zweiunddreißig

Kapitel Dreiunddreißig

Kapitel Vierunddreißig

Kapitel Fünfunddreißig

Kapitel Sechsunddreißig

Kapitel Siebenunddreißig

Danksagung

Orte und Personen in Fegoria

Widmung

Für mei­nen wun­der­vol­len Sohn Jos­hua und mei­nen Mann Phi­lipp. Dan­ke, dass ihr mich un­ter­stützt und euch die un­zäh­li­gen Notiz­zet­tel zu mei­nen Bü­chern nie stö­ren. Ich lie­be euch über alles.

Für mei­ne Eltern, die mei­ne Le­se­sucht immer ge­för­dert ha­ben, mir viele Bü­cher ha­ben kau­fen müs­sen, und den Rest mei­ner ver­rück­ten Fa­mi­lie.

Kapitel Eins

Ich schul­te­re den Ruck­sack und ver­su­che, das Bren­nen mei­ner Na­cken­mus­ku­la­tur zu ig­no­rie­ren. Da es nicht mei­ne er­ste Wan­de­rung ist, und auch nicht die Letz­te, könn­te man mei­nen, dass mein Körper dies mit Leich­tig­keit wegs­teckt, was aller­dings nicht der Fall ist. Viel­leicht soll­te ich ver­mehrt trai­nie­ren, statt über Bü­chern zu ho­cken, oder ein­fach we­ni­ger ein­pa­cken. Ja, das wä­re ei­ne Al­ter­na­ti­ve. Lei­der schei­ne ich es nur vor je­dem Fuß­marsch er­neut zu ver­ges­sen.

Be­reit, mei­ne Rei­se fort­zu­set­zen, wip­pe ich auf den Fuß­bal­len auf und ab. »Leu­te, seid ihr bald so weit?« Ich dre­he mich un­ge­dul­dig mei­nen bei­den Freun­den zu, die das tausend­ste Sel­fie von sich und dem rie­si­gen Berg­hang ma­chen. Ein Foto kann ich ver­ste­hen, zwei oder gar drei eben­so, aber muss man es so über­trei­ben? Von den ge­fühlt ein­hun­dert Bil­dern wer­den sie so­wie­so nur ei­nes für ih­re Blogs neh­men. Ein Hoch auf das di­gi­ta­le Zeit­al­ter. Als sie mich ge­fragt ha­ben, ob ich Lust hät­te, zu wan­dern, ha­be ich nicht da­mit ge­rech­net, dass sie je­den ih­rer Schrit­te bei In­stag­ram, oder sonst wo, pos­ten wür­den. Mal ganz im Ernst: Man sieht sich oh­ne­hin zu sel­ten und an­statt die Zeit zu nut­zen, so et­was? Hier spielt das rea­le Le­ben und nicht die vir­tu­el­le Welt, ver­damm­te Axt. Außer­dem ist es su­per un­höf­lich. Punkt.

Mo­men­tan ste­hen wir mehr, als dass wir wan­dern, und mein Rü­cken schmerzt un­heim­lich von die­sem blö­den Ruck­sack. Wenn ich nicht in Be­we­gung blei­be, wird das si­cher­lich kein gu­tes En­de neh­men. Ich wip­pe noch ei­ni­ge Ma­le auf und ab, schaue dann un­ge­dul­dig zu ih­nen hin­über. Die bei­den sind je­doch so ver­tieft in ih­re Foto­ses­sion, dass sie mich gar nicht hö­ren oder hö­ren wol­len. Sie ki­chern und po­sie­ren für ih­re Fotos, wäh­rend ich die Augen ver­dre­he. »Hier spielt das ech­te Le­ben, Leu­te«, brum­me ich und schlen­de­re lang­sam vor­aus. Sie wer­den mich hof­fent­lich ir­gend­wann ein­ho­len, an­sons­ten wer­de ich ih­nen Es­sen von zu Hau­se schi­cken, da­mit sie ei­ne neue Sto­ry, ei­ne Food-Sto­ry, zum Pos­ten ha­ben.

Mein Körper ver­langt be­reits nach ei­ner war­men Du­sche, ei­nem le­cke­ren Stück Kuchen und ei­nem weichen Kis­sen, denn die Son­ne steht mitt­ler­wei­le nicht mehr so hoch am Himmel. Es wird küh­ler und oben­drein sind wir schon ewig un­ter­wegs. Am be­sten wä­re jetzt ein saf­ti­ger Scho­ko­la­den­kuchen mit Ka­ra­mell­gla­sur. Allein der Ge­dan­ke lässt mir das Was­ser im Mund zu­sam­men­lau­fen, mein Ma­gen knurrt lei­se. Ich le­cke mir über die Lip­pen und zie­he ein Kau­gum­mi aus mei­ner Ta­sche, den ich mir schnell in den Mund schie­be, auch wenn er mei­nen Heiß­hun­ger auf Sü­ßig­kei­ten über­haupt nicht be­frie­digt. Wäh­rend ich dicht an der Fels­wand ent­lang­lau­fe und hin­auf in den noch blau­en Himmel schaue, las­se ich Kau­gum­mi­bla­sen plat­zen, die den Duft von Erd­bee­ren ver­sprü­hen. Kei­ne mei­ner cle­ver­sten Ideen – es sorgt nur da­für, dass sich mein Ma­gen nach et­was Ess­ba­ren ver­zerrt.

Er­ste ro­sa Strei­fen brei­ten sich am Himmel aus. Ein Zeichen, dass es nun wirk­lich Abend wird. Ich ha­be kei­ne Lust, beim Ein­bruch der Nacht nach dem Weg zu su­chen. Oder noch schlim­mer, in der Käl­te zu über­nach­ten. Wer weiß, was hier für Tie­re in der Dun­kel­heit um­hers­trei­fen. Wie­der schaue ich kurz zurück, doch das Bild mei­ner Freun­de ist un­ver­än­dert, al­so lau­fe ich lang­sam allei­ne weiter.

Die fri­sche Luft tief in­ha­lie­rend, be­mer­ke ich, dass mir die Ab­len­kung vom Ler­nen sehr gut­tut. Das Stu­di­um ist echt hart und ver­langt mir ei­ni­ges ab, aber das ha­be ich be­reits vor­her ge­ahnt. So ist das mit Wün­schen und Zie­len, es kos­tet manch­mal mehr Schweiß und Dis­zi­plin, als ei­nem lieb ist, den­noch ist Auf­ge­ben kei­ne Op­tion für mich. Was ich be­gin­ne, zie­he ich bis zum En­de durch. Bas­ta!

Ich las­se mei­ne Hand beim Lau­fen über den rau­en, kal­ten Stein des Ber­ges glei­ten. Klei­ne Kie­sel lö­sen sich un­ter mei­nen Fin­gern und kul­lern zu Boden. Wie lan­ge der Berg hier wohl schon steht? Der Ge­dan­ke, dass er seit Di­no­sau­ri­er­zeiten exis­tiert, ist fas­zi­nie­rend. In mei­ner Vor­stel­lung se­he ich ein Mam­mut, wie er an dem Berg­rü­cken schnup­pert, und muss lä­cheln. Ja, Fan­ta­sie ha­be ich immer aus­rei­chend. Mei­ne Ge­dan­ken schwei­fen an ferne Or­te und ich sum­me sanft vor mich hin. Die Mi­nu­ten ver­strei­chen. Ewig kann mich die Tag­träu­me­rei nicht vor der Käl­te schüt­zen, die in mei­ne Klei­der kriecht, al­so dre­he ich mich er­war­tungs­voll seuf­zend um. Zu weit will ich mich schließ­lich nicht von den an­de­ren ent­fer­nen.

»Leu­te«, ru­fe ich ge­reizt und stel­le fest, dass ich ein ge­wal­ti­ges Stück allei­ne zurück­ge­legt ha­be. Was für Bil­der ma­chen sie nur so lan­ge? Das kann doch nicht ihr Ernst sein! War­ten oder ge­hen? Tja, das ist die Fra­ge, mit der ich mich aus­ein­an­der­set­zen muss. Oder soll ich zurück­ge­hen und sie hin­ter­her­schlei­fen? Immer­hin ist das ei­ne Al­ter­na­ti­ve.

In die­sem Mo­ment er­regt et­was an der Berg­wand mei­ne Auf­merk­sam­keit, wes­halb ich mich der Ni­sche zu­wen­de. Wie­so ist mir das nicht eben auf­ge­fal­len? Sie ist nicht rie­sig, aber ich könn­te even­tu­ell so hin­ein­pas­sen, wenn ich Kopf und Bauch ein­zie­he. Neu­gie­rig bei­ße ich mir leicht auf die Un­ter­lip­pe. Die Lang­ewei­le ver­lei­tet mich da­zu, dich­ter her­an­zu­ge­hen.

Ein kur­zer Blick zu mei­nen Freun­den zeigt mir, dass sie weit hin­ter mir end­lich ih­re Ru­cksä­cke schul­tern und laut über et­was la­chen. Na ja, zu­min­dest kom­men sie nun in Wal­lung. »Leu­te, ich schau mir das hier mal an«, ru­fe ich, wo­rauf­hin sie win­ken und direkt wie­der in die an­de­re Rich­tung schau­en. An­schei­nend hat sie et­was ab­ge­lenkt, aber sie ha­ben mich we­nigs­tens ge­hört und ge­se­hen, was mich ein we­nig be­ru­higt. Das heißt schließ­lich, sie mer­ken noch, dass ich da bin, den­ke ich leicht ver­är­gert.

Die Ni­sche ist wirk­lich nicht son­der­lich breit. Ich leh­ne mich vor, um zu schau­en, was ge­nau mei­ne Auf­merk­sam­keit er­regt hat. Der Stein scheint un­ter mei­nen Fin­gern zu pul­sie­ren, was ich ganz klar mei­ner Fan­ta­sie zu­schrei­be. Es wirkt fast so, als drängt Licht aus der Ni­sche, was aller­dings un­mög­lich ist und mei­ne Neu­gier­de noch stei­gert. Der Berg ist viel zu klo­big, dass Licht von der an­de­ren Sei­te durch­drin­gen könn­te. Ich na­ge kräf­ti­ger an mei­ner Lip­pe – ei­ne Ge­ste, die ich immer ma­che, wenn ich ner­vös oder auf­ge­regt bin. Mei­ne Neu­gier­de wächst von Se­kun­de zu Se­kun­de und ich ver­su­che, mich durch den schma­len Schlitz zu drü­cken, was mir je­doch nicht ge­lingt. Mein Ruck­sack ist ein­deu­tig zu breit und stör­risch. Kurz zö­ge­re ich, tre­te noch mal zurück. Mei­ne Ge­dan­ken dre­hen sich nur da­rum, dass ich wis­sen will, was in die­sem Fels­spalt steckt. Was soll schon pas­sie­ren? Nur ein kur­zer Blick, die an­de­ren ha­ben ge­nü­gend Zeit, mich ein­zu­ho­len. Außer­dem kann ich so die Käl­te ver­trei­ben, mich be­we­gen, oh­ne vor Lang­ewei­le zu ster­ben.

Ich set­ze den Ruck­sack auf dem Boden ab und zie­he die Was­ser­fla­sche an den Mund, um ei­nen Schluck zu trin­ken. Das Was­ser schmeckt durch die Fla­sche leicht me­tal­lisch, mein Mund ver­zieht sich. Da­nach las­se ich die Schul­tern ei­ni­ge Ma­le krei­sen und stöh­ne vor Ent­zü­cken auf. Es tut so gut, die Last end­lich los zu sein. Mei­ne Freun­de hal­ten mich oft für wag­hal­sig, weil ich stän­dig allen Din­gen auf den Grund ge­hen muss. Das liegt ein­fach in mei­ner Natur. Mich in­te­res­siert, was hin­ter Din­gen ver­bor­gen liegt oder wel­che Ge­schich­te sie zu er­zäh­len ha­ben. Ge­nau des­we­gen will ich, seit ich den­ken kann, Ge­schich­te stu­die­ren. Und nun, mit vier­und­zwan­zig Jah­ren, ha­be ich mein Stu­di­um fast be­en­det und schon viel von der Welt ge­se­hen. Mei­ne Fa­mi­lie nennt mich lie­be­voll Tomb Rai­der, was völ­li­ger Schwach­sinn ist. So läuft es im ech­ten Le­ben nie ab. Den­noch lie­be ich die­se Fil­me. Ich bin ja nun kei­ne Ar­chäo­lo­gin oder so, aber manch­mal er­tap­pe ich mich bei dem Wunsch, ein we­nig mehr Aben­teu­er zu er­le­ben.

Mei­nen Ruck­sack las­se ich ste­hen und be­gin­ne, mich lang­sam, Stück für Stück, durch den schma­len Spalt zu schie­ben. Den Bauch muss ich or­dent­lich ein­zie­hen und kann nur schwer at­men. Für je­man­den mit Platz­angst wä­re das hier si­cher­lich die Höl­le auf Er­den. Mit den Hän­den tas­te ich mich an der Wand vo­ran, was klei­ne Stei­ne zu Boden rie­seln lässt.

Licht! Ich se­he de­fi­ni­tiv Licht. Wo kommt es her? Über mir be­fin­det sich aus­schließ­lich Ge­stein, was ein Her­ein­schei­nen un­mög­lich macht. Wie ei­ne Mot­te wer­de ich vom Licht an­ge­zo­gen und schie­be mich immer weiter durch den en­gen Spalt. Viel­leicht ist die­se Ak­tion wirk­lich däm­lich, doch es ist so, als müss­te ich dem Licht auf den Grund ge­hen. Es ist ein Ge­fühl, tief in mir, das mich weiter drängt.

Ich zu­cke zu­sam­men, als et­was mein Ge­sicht streift, und quiet­sche er­schro­cken auf. »Was zum …«, flüs­te­re ich, als ich mer­ke, dass Blät­ter auf mich hi­nab rie­seln. Blät­ter? Wo kom­men die her? Der Platz ist nicht aus­rei­chend, um mich um­zu­se­hen. Zu­min­dest sind es kei­ne Spin­nen oder an­de­re eke­li­ge Tie­re, wo­mit ich we­ni­ger gut um­ge­hen kann und da eher ein rich­ti­ges Mäd­chen bin. La­ra Croft hat da­mit hin­ge­gen we­ni­ger Pro­ble­me – al­so doch kei­ne Schatz­jäger­zu­kunft für mich. Schmun­zelnd schie­be ich mich vor­sich­tig weiter. Ei­ne fri­sche Bri­se weht mir ent­ge­gen und ich at­me ge­räusch­voll ein. Die Luft, die ab­ge­stan­den rie­chen müss­te, ver­sprüht eher et­was Fri­sches und Er­di­ges. Sie riecht an­ders als sonst, sau­be­rer, was merk­wür­dig ist. Ir­gend­wie bringt mich das ganz durch­ein­an­der, nichts passt an die­sem Ort zu­sam­men. Das Licht wird immer hel­ler und Ne­bel um­wan­dert mei­ne Fü­ße. Völ­lig ver­rückt. Ne­bel in ei­nem Berg? Viel­leicht be­fin­det sich hier drin­nen ei­ne Höh­le oder gar Di­no­sau­ri­er – das wä­re es. Bei dem Ge­dan­ken muss ich un­will­kür­lich breit grin­sen. Als ob das nicht schon je­mand vor mir ge­fun­den hät­te.

Plötz­lich be­mer­ke ich die Stil­le um mich he­rum. Vor der Ni­sche ist das Rau­schen des Win­des zu hö­ren ge­we­sen, der Ge­sang der Vögel und das Ge­ra­schel vom Wald. Hier hin­ge­gen ist es still, nur mein Atem klingt laut in mei­nen Oh­ren. Mein Herz rast, mei­ne Hän­de schwit­zen. Das ist nicht nor­mal. Auf kei­nen Fall. Hal­lu­zi­nie­re ich et­wa? Ha­be ich Sau­er­stoff­man­gel? Ich soll­te um­dre­hen und es da­bei be­las­sen. Wä­re da nicht die­ses Ge­fühl … Es ist, als wür­de es flüs­tern: Komm, Ali­ce! Komm! Nur noch ein paar Me­ter, sa­ge ich zu mir selbst, dann dre­he ich um. Mu­tig tas­te ich mich weiter vo­ran und muss nun den Kopf nicht mehr ein­zie­hen, was ei­ne Wohl­tat ist.

Nach zwei wei­te­ren Mi­nu­ten ist der Ne­bel plötz­lich so dicht, dass ich nichts mehr, außer das mil­chi­ge Weiß, se­he. Rea­lis­tisch be­trach­tet, müss­te es eher stock­dus­ter sein. Zö­gernd blei­be ich ste­hen. Bis hier hin und nicht weiter. Es wird Zeit, um­zu­dre­hen. Völ­lig egal, wie groß mei­ne Neu­gier­de ist, das ist mir dann doch zu su­spekt.

Als ich mich zurück­schie­ben will, zurück zu mei­nen Freun­den, ge­lingt es mir nicht. Ich ver­su­che, ei­nen Fuß in die Rich­tung zu set­zen, aus der ich ge­kom­men bin, doch er stößt ge­gen Stein. »Was soll das?«, flu­che ich und tas­te den Stein ab. Wo ist der Weg hin? Er kann un­mög­lich weg sein! Wie vom Erd­boden ver­schluckt! Ha­be ich ei­ne Ab­zwei­gung ge­nom­men und es nicht be­merkt? Angst durch­fährt mei­ne Ve­nen. Es geht nur noch vor­aus, weiter in den Ne­bel und in den Berg hin­ein. Kein Weg zurück? Der Ge­dan­ke be­rei­tet mir ei­ne Gän­se­haut. Ich bin si­cher aus­schließ­lich ge­ra­de­aus ge­gan­gen. Der Weg muss doch da sein! Es ist wie ver­hext, hin­ter mir ist und bleibt kal­ter, feuch­ter Stein.

»Was hast du dir da nur wie­der ein­ge­brockt«, schimp­fe ich mit mir selbst und könn­te mich ohr­fei­gen. Ich bin ei­ne kom­plet­te Idio­tin. Da ich kei­ne an­de­re Wahl ha­be, schie­be ich mich immer weiter. Was soll ich auch sonst tun? An die Wand ge­presst ste­hen blei­ben und auf mei­ne Freun­de war­ten? Mei­ne Hän­de glei­ten über den kal­ten Stein. Nach ei­ni­gen Me­tern wird die De­cke hö­her und der Weg brei­ter. Ich at­me tief ein und stre­cke mich, ehe ich vor­sich­tig weiter­ge­he. Es ist kühl ge­wor­den. Ob die an­de­ren mei­nen Ruck­sack ge­fun­den ha­ben? Sie wer­den si­cher­lich Hil­fe nach mir schi­cken. Oje, mei­ne Eltern wer­den rich­tig sau­er sein.

Ein Bruch­teil von Se­kun­den bin ich in mei­nen Ge­dan­ken ge­fan­gen, ehe ich weichen Boden un­ter mei­nen Fü­ßen be­mer­ke und den Berg ver­las­se. Ist das et­wa Wald­boden? Mein Mund klappt un­gläu­big auf und zu, wäh­rend mei­ne Fü­ße im weichen Boden ver­sin­ken, ob­wohl vor ein paar Se­kun­den noch har­tes Ge­röll un­ter mir ge­we­sen ist. Das Laub fällt ra­schelnd von den Bäu­men und reg­net auf mich hi­nab, ver­fängt sich da­bei in mei­nen lan­gen Haaren. Ne­bel um­wan­dert die Baum­stäm­me und ich fröst­le vor Käl­te und Furcht. Wie kann es plötz­lich Nacht sein? Ent­we­der wer­de ich ver­rückt oder ich soll­te schleu­nigst um­dre­hen. Ge­dacht, ge­tan: Ich will zurück­ge­hen, doch statt den Pfad er­neut zu be­tre­ten, dre­he ich mich im Kreis. Wo ist der ver­damm­te Berg hin? Was ist hier nur los?

Allei­ne in ei­nem gru­se­li­gen Wald ste­hend, zweif­le ich jetzt erst recht an mei­nem Ver­stand. Kopf­schüt­telnd dre­he ich mich immer wie­der um mei­ne eige­ne Ach­se, hal­te Aus­schau nach dem Rück­weg. Das … ist ver­rückt. Un­gläu­big la­che ich auf. Ein Berg ver­schwin­det nicht ein­fach so. Wa­rum ist es Nacht? Wa­rum ist es so kalt und neb­lig? Wir ha­ben Som­mer, das Laub fällt noch nicht von den Bäu­men. Ich bin doch erst ei­nen Mo­ment im Berg, kei­ne Stun­den. Es kann un­mög­lich Nacht sein. Mein Herz rast im wil­den Ga­lopp, kal­ter Schweiß be­deckt mei­ne Haut. Ich ha­be nie ver­stan­den, wie­so es Angst­schweiß heißt, jetzt ka­pie­re ich es. Aus­zu­ra­sten bringt mich zwar nicht weit, aber ich bin kurz da­vor.

Lan­ge bin ich nicht im Berg ge­we­sen, re­de ich mir aber­mals zu. In dem Berg, der ver­schwun­den ist, wohl­ge­merkt. Ver­mut­lich ist das ei­ner die­ser ver­rück­ten, sehr rea­len Träu­me. Gleich wa­che ich si­cher­lich auf und la­che herz­haft da­rüber. So wird es sein. Oder ich bin an dem Baum, an dem ich vor­hin Pau­se ge­macht ha­be, ein­ge­nickt. Alles klingt lo­gi­scher als das, was mir ge­ra­de wi­der­fährt.

Mus­ternd neh­me ich mei­ne Um­ge­bung wahr. Selbst die Bäu­me wir­ken an­ders auf mich. Ma­jes­tä­tisch und groß ra­gen sie empor. Sie se­hen viel äl­ter aus als all die Bäu­me, die ich je zu Augen be­kom­men ha­be. Wenn ich es nicht bes­ser wüss­te, wür­de ich den­ken, ich bin an ei­nem an­de­ren Ort, oder in ei­ner an­de­ren Welt. Die Blät­ter sind viel grö­ßer, die Bäu­me kno­chi­ger und der Wald riecht an­ders. Ge­sün­der? Kann ein Wald über­haupt ge­sün­der rie­chen? So­gar der Mond schaut aus, als sei er viel nä­her an der Er­de. Alles scheint vor­zeit­li­cher, un­be­rühr­ter. Ja, das ist es. Es er­weckt den Ein­druck, dass die­ser Wald alt und un­ent­deckt ist.

Mein Herz rast immer noch wie ver­rückt und mei­ne Angst steigt ins Un­er­mess­li­che. Mein Ver­stand ver­sucht, die La­ge zu ana­ly­sie­ren, doch es gibt schlicht kei­ne Er­klä­rung für das Hier und Jetzt. »Wach auf!«, er­mah­ne ich mich, wäh­rend ich mir ins Bein knei­fe, aber es bleibt un­ver­än­dert: Ich ste­he tat­säch­lich im Wald.

Ein Brül­len lässt mich zu­sam­men­zu­cken und ich hal­te mir schüt­zend die Hän­de über den Kopf. Alles in mir ist so­fort in Alarm­be­reit­schaft. Mei­ne In­stink­te set­zen ein, kön­nen das Ge­räusch je­doch nicht zu­ord­nen. Mein Ge­hirn kennt kein Tier, das so brüllt. Über mir rast ei­ne rie­si­ge Krea­tur durch die Bäu­me und ver­ur­sacht, dass mehr Blät­ter auf mich hin­ab­fal­len – es äh­nelt ei­nem Was­ser­fall aus Laub. Ich star­re dem We­sen hin­ter­her, schütt­le be­nom­men den Kopf. Viel­leicht hat es ei­nen Erd­rutsch ge­ge­ben und ich lie­ge be­wusst­los am Berg … Wie soll ich mir sonst das Tier mit Flü­geln er­klä­ren, das direkt über mir ge­flo­gen ist? Wenn ich es nicht bes­ser wüss­te, wür­de ich sa­gen, es ist ein Dra­che ge­we­sen. Klar, auch das noch! Wird ja immer schö­ner hier! Mei­ne Bei­ne glei­chen ei­nem Wa­ckel­pud­ding und ich las­se mich an dem Baum hin­ter mir hin­ab­glei­ten, der mir ge­ra­de in we­nig Halt gibt, wäh­rend ich mich sam­meln muss.

Dra­che, prä­his­to­ri­sche Blät­ter, Ber­ge … die ver­schwin­den.

Mit den Hän­den fah­re ich durch mein Haar, mei­ne Fin­ger zit­tern da­bei wie ver­rückt. »Ein Dra­che«, murm­le ich wie­der­holt lei­se vor mich hin und schaue hin­auf in den Himmel, doch selbst den se­he ich in der Ne­bel- und Wol­ken­mas­se nicht mehr. Es ist mit­ten in der Nacht. Ich ha­be kei­ne Ah­nung, wo ich lang­ge­he oder was ich über­haupt ma­chen soll.

Wenn man nicht weiß, wo­hin der Weg ei­nen führt, ist es dann nicht egal, wo­hin man geht? Wer hat das noch gleich ge­sagt? Es ist ein Mär­chen ge­we­sen … Die Grin­se­kat­ze? Wie auch immer, hier kann ich je­den­falls nicht blei­ben, so viel steht fest. Mir ist eis­kalt und ich rei­be mei­ne Ar­me. Mei­ne Ja­cke liegt si­cher und warm in mei­nem Ruck­sack, vor dem nicht exis­tie­ren­den Berg.

Ich zwin­ge mich, trotz wa­ckli­ger Bei­ne, auf­zu­ste­hen und lau­fe lang­sam los, wäh­rend ich ver­su­che, mich in der Dun­kel­heit zu­recht­zu­fin­den. Es ist un­mög­lich. Selbst wenn ich den Himmel se­hen könn­te, be­zweif­le ich, dass hier die glei­chen Ster­ne strah­len. Es ist nicht nur ein Ge­fühl, eher so, als wüss­te mein Un­ter­be­wusst­sein mehr, als mein Ver­stand er­kennt. Schat­ten wan­dern zwi­schen den Bäu­men hin­durch und fast mei­ne ich, ein Flüs­tern wahr­zu­neh­men, was aber auch die Bäu­me und das sich im Wind be­we­gen­de Laub sein kön­nen. Es ist die per­fek­te Hor­ror­film­ku­lis­se … Ich has­se Hor­ror­fil­me!

Mond­licht bricht ge­le­gent­lich durch den Ne­bel und taucht den Wald immer wie­der für kur­ze Augen­bli­cke in sanf­tes Licht, ver­län­gert die Schat­ten. Es trägt da­zu bei, dass sich mei­ne Angst stei­gert. Die Schat­ten schei­nen sich zu be­we­gen, was si­cher Teil mei­ner Ein­bil­dung ist. Angst gau­kelt ei­nem vieles vor, da­von ha­be ich mo­men­tan ge­nug. Ich ha­be kein Zeit­ge­fühl, lau­fe ein­fach weiter ge­ra­de­aus. Ir­gend­wann wer­de ich ja ir­gend­wo an­kom­men müs­sen.

Nach ei­ner ge­fühl­ten Ewig­keit, viel­leicht auch nur ein oder zwei Stun­den – wie lan­ge ich schon un­ter­wegs bin, weiß ich wirk­lich nicht –, hal­te ich an. Es muss doch je­man­den ge­ben, der mir hel­fen kann. »Hal­lo?« Mei­ne Stim­me klingt zit­trig, ei­ne Ant­wort er­hal­te ich den­noch nicht. Nur das Flüs­tern ist all­ge­gen­wär­tig, was da­für spricht, dass ich tat­säch­lich nicht ganz dicht bin. Ich rei­be mir immer­fort die Ar­me und schaue mich um. Kein Haus in Sicht. Nichts. Mein blö­des Smart­pho­ne, um je­man­den an­ru­fen zu kön­nen, steckt im Ruck­sack, wo es mir herz­lich we­nig hilft. Eben­so we­nig die ver­damm­te Taschen­lam­pe, wel­che auch warm und si­cher in mei­nem Ruck­sack ver­weilt. Gei­le Ak­tion, Ali­ce!

Ich drü­cke mir zwei Fin­ger auf die Na­sen­wur­zel, knei­fe mei­ne Augen zu­sam­men und be­te kurz zum All­mäch­ti­gen, dass er mich aus die­sem Alb­traum er­löst. Das klingt echt ver­rückt! Nein, es klingt nicht nur ver­rückt, das ist es wahr­haf­tig. Weiter, ich ha­be kei­ne Wahl. Ir­gend­wann wird die­ser Wald zu En­de sein. Es muss hier Men­schen ge­ben, Häu­ser, Zi­vi­li­sa­tion.

Nach ei­ni­gen hun­dert Me­tern blei­be ich stock­steif ste­hen. In der Ferne se­he ich die Um­ris­se ei­nes Men­schen im Ne­bel und mein Herz macht ei­nen freu­di­gen Hüp­fer. Ha­be ich es doch ge­wusst! Mensch be­deu­tet, ein Han­dy ist in greif­ba­rer Nä­he. Das wie­der­um be­deu­tet, Hil­fe ho­len zu kön­nen, al­so lau­fe ich los. »Hey«, ru­fe ich dem Schat­ten zu und mei­ne Furcht ist ab­rupt voll­kom­men ver­ges­sen. Glücks­ge­füh­le durch­strö­men mich bei der Aus­sicht, dass mir je­mand hel­fen wird und ich nicht allein in die­sem Wald bin. Bald wer­de ich zu Hau­se sein und la­che bei ei­ner Tas­se hei­ßen Ka­kao über die­se ab­sur­de Ge­schich­te. Vor al­lem über den gro­ßen Vogel, den mei­ne Fan­ta­sie zu ei­nem ge­flü­gel­ten Un­tier ge­macht hat. Mein Ge­fühl rät mir zwar, an­zu­hal­ten, doch das ig­no­rie­re ich ge­konnt. Das Be­dürf­nis, nicht mehr allei­ne zu sein, über­wiegt alles an­de­re. »Hey«, ru­fe ich er­neut lauts­tark. »Ich ha­be mich ver­lau­fen, kannst du mir hel­fen?«

Vor mir lich­tet sich der Ne­bel und ich stop­pe, als ich dem Men­schen na­he ge­nug bin, um zu er­ken­nen, wie rie­sig er ist. Er steht mit dem Rü­cken zu mir und über­ragt mich si­cher um drei Köp­fe. Was zum Hen­ker … Er ist so breit wie ein Schrank und ehe mein Ver­stand mir mit­tei­len kann, dass er kein Mensch ist, dreht sich das We­sen, mit ei­nem blu­ti­gen Stück Fleisch im Mund, um. Ne­ben sei­nen Fü­ßen liegt et­was, was einst ein Hirsch ge­we­sen ist. Jetzt ist es nur noch ein ro­her Fleisch­hau­fen, auf dem ein Ge­weih steckt. Eisen­ge­ruch vom Blut weht mir ent­ge­gen, was ei­nen Wür­ge­reiz auf­kom­men lässt. Mein Mund öff­net sich vor Ent­set­zen und Ekel, doch es ent­weicht kein Ton, nicht der klit­zek­leins­te Ton. Ich ver­su­che, jap­send Luft zu ho­len, und un­ter­drü­cke den Wür­ge­ref­lex, der mei­nen Hals hin­auf kriecht. Lang­sam tre­te ich den Rück­zug an, Schritt für Schritt, nur weg von die­sem Ding. Ich will so viel Ab­stand wie mög­lich zwi­schen uns brin­gen. Plötz­lich ist der Ge­dan­ke, wie­der allei­ne im Wald zu sein, viel ver­lo­cken­der als die Ge­sell­schaft die­ses We­sens.

Oh mein Gott! Es hebt den Blick, starrt mich an und die Welt um mich he­rum scheint zu ver­stum­men. Ich hö­re das Blut in mei­nen Oh­ren rau­schen. Das Ding lässt sein Fleisch­stück zu Boden fal­len, wo es mit ei­nem wi­der­li­chen Plat­schen lan­det. Mein Blick folgt auto­ma­tisch dem Fleisch­bro­cken. Ob es wirk­lich ein Hirsch ist, ver­mag ich nicht zu sa­gen, ich will es auch gar nicht wis­sen. Ich will nur nicht ge­nau­so en­den.

Mein Ma­gen re­bel­liert all­mäh­lich ge­wal­tig. Be­däch­tig he­be ich mei­nen Blick und star­re das Ding vor mir wie­der an. Was bist du, den­ke ich. Sein Körper ist grau und sieht le­drig aus, mit ab­ste­hen­den Oh­ren und Haaren an sei­nen viel zu lan­gen Ar­men. Sei­ne Hän­de sind so groß wie ei­ne Piz­za, mit lan­gen ge­bo­ge­nen gel­ben Fin­ger­nä­geln – er ist wahr­haf­tig ab­sto­ßend.

Spei­chel fliegt mir aus sei­nem Mund ent­ge­gen, als er mich wü­tend an­brüllt. Sein flei­schi­ges Ge­sicht ver­zieht sich da­bei zu ei­ner furcht­ba­ren Frat­ze und ent­blößt Zahn­stum­mel, die der Alb­traum ei­nes je­den Zahn­arz­tes wä­ren. Die Lau­te, die es aus­stößt, sind als Spra­che nicht zu er­ken­nen. Sie klin­gen grob, nein, an­ima­lisch und nicht mensch­lich. Es ist wie der Schrei ei­nes mür­ri­schen Bä­ren. An­schei­nend ha­be ich ihn ge­stört, denn er wirkt mäch­tig ver­är­gert.

Ich he­be die Hän­de – zum Zeichen, dass ich ihm nichts Bö­ses will –, wäh­rend ich mich schlei­chend ent­ferne. Schritt für Schritt tas­te ich mich rück­wärts vor, wäh­rend das Ding mit den Zäh­nen knirscht und sei­ne gel­ben Augen sich zu Schlit­zen ver­en­gen. Sein Kie­fer mahlt kräf­tig auf­ein­an­der, Blut fließt aus sei­nen Mund­win­keln und tropft auf sei­ne haa­ri­ge Brust. Er reißt das Ge­weih vom Boden, beißt hin­ein und es zer­split­tert in sei­nem Maul. Wenn er mir Re­spekt ein­flö­ßen will, hat er Er­folg da­mit. Ich bin kurz da­vor, mir vor Angst in die Ho­se zu ma­chen. Immer­hin ist mein Arm nicht viel di­cker als das Ge­weih, wel­ches er mü­he­los zer­teilt hat. Wie soll ich mich ver­hal­ten? Was ist das für ein We­sen? In ei­ner Do­ku ha­ben sie ge­sagt, man darf kei­ne ruck­ar­ti­gen Be­we­gun­gen ma­chen, wenn man von wil­den Tie­ren an­ge­grif­fen wird. Un­ter wel­che Ka­te­go­rie fällt es? Tier? Mons­ter? Mu­tier­ter Ne­an­der­ta­ler?

Mein Herz pocht wie wild und ich ha­be das Ge­fühl, es springt mir gleich aus der Brust. Ich glau­be, dass mein Ver­such, un­auf­fäl­lig zu ver­schwin­den, funk­tio­niert, doch aus hei­te­rem Himmel stürmt das Ding, über­ra­schend schnell für die Mas­se, die es be­wegt, auf mich zu. Ent­setzt schreie ich auf und wir­ble ruck­ar­tig he­rum. Mein Körper rea­giert wie von selbst, mei­ne Bei­ne lau­fen da­von. Noch nie bin ich schnel­ler ge­lau­fen als jetzt. Egal, was die Do­ku meint, das ist der Mo­ment, in dem man sei­ne Bei­ne in die Hän­de neh­men und nur ren­nen muss.

»Fuck«, flu­che ich atem­los und sprin­ge über jeg­li­ches Ge­hölz, wäh­rend God­zil­la, wie ich ihn in die­sem Mo­ment tau­fe, hin­ter mir alles zu Klein­holz ver­ar­bei­tet. Ich ig­no­rie­re Äs­te und Zwei­ge, die an mir rei­ßen und mir ins Ge­sicht schla­gen. Adre­na­lin ver­treibt sämt­li­che Schmer­zen. Mei­ne Lun­ge brennt bei je­dem Schritt, doch ich wa­ge es nicht, lang­sa­mer zu wer­den, denn ich ah­ne, dass es mein Tod be­deu­ten wür­de.

Wie kann das Ding so be­weg­lich sein? Ist das über­haupt mög­lich? Ich bli­cke über mei­ne Schul­ter. Ein fa­ta­ler Feh­ler, wie ich im näch­sten Mo­ment fests­tel­le. Ehe ich es ver­hin­dern kann, stol­pe­re ich über ei­ne Baum­wur­zel und taum­le, be­vor ich mit der Stirn ge­gen ei­nen di­cken, tief hän­gen­den Ast knal­le und ei­nen Mo­ment nur Ster­ne vor den Augen se­he. Schmerz­voll pres­se ich die fla­che Hand ge­gen mei­ne Stirn, die sich feucht und kle­brig an­fühlt. Mein Schä­del droht zu ex­plo­die­ren. Alles, was ge­ra­de zählt, ist die­ser alb­traum­haf­ten Ge­stalt zu ent­kom­men, wes­halb ich mich zu­sam­men­rei­ße, und mich samm­le.

»Gruaaa«, brüllt das Ding hin­ter mir auf und ist mir be­reits dicht auf den Fer­sen. Ich muss hier weg, kom­me was wol­le! Trotz der Schmer­zen, mei­ne Sei­te brennt von den sich kramp­fen­den Mus­keln, zwin­ge ich mich, weiter­zu­lau­fen. Mei­ne Bei­ne sind wie mit Blei ge­füllt, doch ich ren­ne und ren­ne. Pa­nisch su­che ich nach ei­nem Aus­weg und mein Blick fällt direkt auf die Bäu­me – et­was an­de­res gibt es hier oh­ne­hin nicht. Die­ses We­sen ist so schwer, dass si­cher­lich kein Ast es aus­hal­ten kann. Das ist mei­ne Chan­ce. Wahr­schein­lich mein ein­zi­ger Aus­weg, denn lan­ge wer­de ich das Tem­po nicht mehr hal­ten kön­nen. Mei­ne Mus­keln sind jetzt schon kurz vorm Auf­ge­ben.

Ich schaue in die Baum­kro­nen und su­che nach ei­nem er­reich­ba­ren Ast. Kaum ent­de­cke ich ei­nen, neh­me ich An­lauf, ren­ne auf ihn zu und sprin­ge ab. Mei­ne Fin­ger um­schlie­ßen das raue Holz. Durch den Schwung kann ich mich hin­auf han­geln und be­gin­ne so­fort, zu klet­tern. Frü­her bin ich ei­ne ziem­lich gu­te Turn­erin ge­we­sen, auch wenn die Schul­zeit Jah­re her ist, so et­was ver­lernt man nicht. Wenn ich ei­nes kann, dann ist es das. Die­se Lei­den­schaft ha­be ich so­gar wäh­rend mei­nes Stu­diums ver­folgt. So viele ver­damm­te Fels­wän­de ha­be ich schon er­klom­men, da fin­de ich auch hier ge­nug Halt. Ast für Ast zie­he ich mich hin­auf in die Baum­kro­ne und füh­le mich fast si­cher, als plötz­lich der gan­ze Baum bebt. Er­schro­cken greift mei­ne Hand ins Lee­re und ich rut­sche schmerz­haft ein Stück nach un­ten. Holz­split­ter boh­ren sich in mei­ne Hän­de und ich bei­ße die Zäh­ne zu­sam­men, klet­te­re tap­fer weiter. Es geht um mein Le­ben, ein paar Holz­split­ter sind nichts da­ge­gen.

Un­ter mir ver­sucht God­zil­la, mich vom Baum zu schüt­teln und brüllt wie ver­rückt. Sei­ne Lau­te sind wut­ge­laden, vol­ler Ent­rüs­tung und Zorn. Wie kann ich mich auch wagen, mich ihm zu wi­der­set­zen, wo ich auf sei­nem Spei­se­plan ste­he! »Ver­piss dich«, schreie ich, doch er brüllt um­so lau­ter. Wo bin ich hier nur ge­lan­det? Als es nicht mehr hö­her geht, klam­me­re ich mich an ei­nem der Äs­te fest und der Baum ächzt un­ter der Kraft der Schlä­ge. Er rüt­telt wie ein Ir­rer am Stamm und ich bin naiv ge­nug, zu glau­ben, dass der Baum dies lan­ge aus­hal­ten wird. Er knarrt schon und be­ginnt zu schwan­ken. Die­ses Vieh muss un­mensch­li­che Kräf­te ha­ben und ei­ne un­be­zwing­ba­re Gier nach mir, dass es den kom­plet­ten Baum ent­wur­zelt. Mir rol­len Trä­nen die Wan­gen hi­nab, ich schnau­be wü­tend.

»Ich schme­cke to­tal ek­lig«, brül­le ich. »Geh doch ein­fach und such dir ein an­de­res Fest­mahl. Ich bin gif­tig und ran­zig, du wirst dir den Ma­gen ver­der­ben, außer­dem blei­be ich dir in dei­nem häss­li­chen Hals ste­cken.« Ich weiß noch nicht mal, ob das Vieh mich ver­steht. Es grunzt und knurrt nur, hört nicht auf, den Baum zu be­ar­bei­ten. So will ich nicht ster­ben! Ich will über­haupt nicht ster­ben! Vor al­lem nicht von die­sem Mons­ter ge­fres­sen wer­den. Lan­ge wird der Baum nicht mehr durch­hal­ten. Mir bricht der Schweiß aus je­der Po­re mei­nes Körpers, mein Ober­teil klebt an mei­nem Rü­cken und mein Ver­stand ar­bei­tet auf Hoch­tou­ren. Mir will kein Aus­weg ein­fal­len, wes­halb ich mich fes­ter an den Ast klam­me­re und Stoß­ge­be­te gen Himmel schi­cke. Wenn es ei­nen Gott gibt, muss er doch ein­grei­fen. »Hil­fe!«, brül­le ich, doch nie­mand ant­wor­tet mir. Nicht mal ein Vogel ist zu hö­ren, nichts und nie­mand, der sich da­rum schert, dass ich gleich ge­fres­sen wer­de. Ich bre­che ei­nen Ast ab und wer­fe da­mit nach ihm, doch er be­merkt es nicht. Ehe ich mir ei­ne Lö­sung über­le­gen kann, kippt der Baum lang­sam zur Sei­te und ich brül­le wie am Spieß. Mein Schrei hallt durch den gan­zen Wald. Jetzt schre­cken so­gar ei­ni­ge Vögel aus dem Schlaf auf und flie­gen kreis­chend in der Luft he­rum. Es kommt mir vor, als fällt der Baum in Zeit­lu­pe. Mein Blick haf­tet auf den immer nä­her kom­men­den Boden und oh­ne lan­ge zu über­le­gen, sprin­ge ich zum näch­sten Baum hin­über. Mein zwei­ter fa­ta­ler Feh­ler, denn mei­ne Hän­de fin­den er­neut kei­nen Halt – ich fal­le wie ein Stein in die Tie­fe. Ich rau­sche durch Ge­äst, wel­ches mir die Haut zer­kratzt. Zwar fe­dert es mei­nen Sturz ein biss­chen ab, trotz­dem ist der Auf­prall so hart, dass mir Luft aus der Lun­ge ent­weicht. Stöh­nend blei­be ich lie­gen und schaue in den Himmel, wo sich nun all­mäh­lich Ster­ne zei­gen. Der Ne­bel wa­bert um mich he­rum und ich füh­le mich so be­nom­men, dass ich kaum et­was wahr­neh­me, außer den Schmerz mei­nes ge­schun­de­nen Körpers.

Ir­gend­wie bin ich froh über die Dun­kel­heit, die sich um mich legt. Ich füh­le mich ganz wat­tig und wen­de den Kopf leicht zur Sei­te. Das Ding! Ich schaue es ge­nau an. Mein Blick­feld ver­schwimmt schlag­ar­tig, ich blinz­le rasch, als das Ding auf mich zu­stürmt, doch et­was springt ihm in den Weg. Nicht mehr fä­hig, zu rea­gie­ren, wird alles um mich he­rum schwarz und ich ver­sin­ke dank­bar in der Fins­ter­nis.

Kapitel Zwei

Schon den gan­zen Abend liegt ir­gend­was in der Luft. Un­zu­frie­den bli­cke ich mich um. Es ist, als hat die Welt ei­nen Mo­ment den Atem an­ge­hal­ten und ihn dann mit aller Kraft aus­ge­stoßen. Es fühlt sich an, als ist et­was Ele­men­ta­res pas­siert, von dem wir nur nichts mit­be­kom­men ha­ben. Ei­ne Er­schüt­te­rung, die durch alle Schich­ten un­se­rer Welt geht.

Wir sind auf dem Heim­weg, un­se­re Pa­trouille ist zu En­de, Mit­ter­nacht naht. Ich wen­de mich nach links zu mei­nen Ge­fähr­ten und hal­te schließ­lich in­ne. Stirn­run­zelnd mus­te­re ich die Um­ge­bung, wech­sle ei­nen stum­men Blick mit den an­de­ren und wer­de das un­gu­te Ge­fühl nicht los, ir­gend­et­was Wich­ti­ges ver­passt zu ha­ben. Die Bäu­me weh­kla­gen lei­se, ru­fen nach uns. Es wü­tet tief im In­ne­ren un­se­rer Heimat, dem dich­ten al­ten Wald, und fügt ihm Schmer­zen zu. Ihr Ge­flüs­ter und die Ru­fe hal­len von Baum zu Baum. Ich seuf­ze schick­sals­er­ge­ben. So viel da­zu, dass es ei­ne ru­hi­ge Nacht wird.

Ein Schrei durch­dringt den Wald und ich wen­de ruck­ar­tig mei­nen Kopf in die Rich­tung, aus der er ge­kom­men ist. Mei­ne Hand legt sich auto­ma­tisch um den Knauf mei­nes Schwer­tes. Es ist ein Ref­lex, der un­will­kür­lich ein­tritt. Immer öf­ter kommt es zu An­grif­fen in un­se­ren Wäl­dern, wes­we­gen wir mehr Pa­trouillen aus­sen­den müs­sen, um un­se­re Heimat zu ver­tei­di­gen. Es sind dunk­le und düs­te­re Zeiten, de­nen wir die Stirn bie­ten. Orks, Trol­le und all das Ge­sin­del wer­den mu­ti­ger. Pu­re Dumm­heit treibt sie in un­se­re Wäl­der, denn hier fin­den sie den Tod – kein Reh kann das wert sein. Doch die­ser Schrei klingt nicht nach ei­nem Reh, son­dern nach ei­ner Frau. Ei­ner mensch­li­chen Frau, die in un­se­ren Wäl­dern eben­so we­nig hei­misch ist wie an­de­re We­sen.

Mei­ne Fü­ße be­rüh­ren kaum den Boden, so schnell lau­fe ich, wäh­rend Laub auf­ge­wir­belt wird. Die Schrit­te der an­de­ren sind im Gleich­schritt mit mei­nem. Wir sind ein ein­ge­spiel­tes Te­am, er­gän­zen uns per­fekt. Vögel flie­gen kreis­chend in den Himmel und schimp­fen über ih­re ge­stör­te Nach­tru­he. Mein Blick folgt ih­nen kurz, vi­siert den Ort an, von wo sie auf­ge­schreckt sind. Wie­der dröhnt ein Schrei zu uns her­über. Mei­ne Oh­ren hö­ren nicht weit von uns ei­nen Baum knar­ren und kräch­zen. Sein Weh­kla­gen säu­selt in mir nach. Was auch immer dort sein Un­we­sen treibt, ist stark und hat in un­se­rem Wald nichts zu su­chen. Es wird hier de­fi­ni­tiv sein En­de fin­den, den Preis da­für zah­len, dass es un­se­re Gren­zen über­schrit­ten hat.

In ei­nem Bruch­teil von Se­kun­den er­bli­cke ich ei­nen Troll. Groß und wi­der­wär­tig steht er in Ne­bel­schwa­den ge­hüllt vor ei­nem der al­ten, ma­jes­tä­ti­schen Bäu­me. Sein Ge­stank lässt mich die Na­se rümp­fen. Wü­tend reißt er am Stamm und der Baum ent­wur­zelt zu­se­hend. Die mäch­ti­gen Wur­zeln ge­ben auf, lö­sen sich aus dem Er­dreich. Sand­klum­pen und Laub flie­gen durch die Luft, als er lang­sam zur Sei­te kippt und die Er­de auf­reißt. Zwei Eich­hörn­chen segeln durch die Luft, lan­den glü­ckli­cher­wei­se si­cher auf an­de­ren Baum­stäm­men. Der Troll grunzt zu­frie­den, Sieges­ge­brüll schallt durch den Wald. Du freust dich zu früh, den­ke ich knur­rend, als aber­mals ein Schrei er­klingt und die nächt­li­chen Ge­räu­sche über­tönt. Weite­re Vögel flüch­ten me­ckernd in den dunk­len Himmel.

Mein Blick wan­dert den Baum hin­auf, er­fasst die Si­tua­tion. In der Baum­kro­ne ent­de­cke ich ei­ne jun­ge Frau, die sich pa­nisch an ei­nen di­cken Ast klam­mert. Sie be­schimpft den Troll mit frem­dar­tig klin­gen­den Wor­ten, bringt mich ei­nen Mo­ment aus dem Kon­zept. Der Baum kippt all­mäh­lich, sie stößt sich vom Ast, auf dem sie hockt, ab und springt in den Baum, der ihr ent­ge­gen­kommt. Wä­re sie ei­ne El­bin, wie ich zu­erst an­ge­nom­men ha­be, wür­de sie nun in dem an­de­ren Baum sit­zen, doch sie fin­det kei­nen Halt und kracht laut durch das Ge­äst. Mit ei­nem dump­fen Auf­prall lan­det sie im Laub auf dem Boden, wir­belt es da­bei auf. Der Ne­bel wa­bert kurz aus­ein­an­der, fließt dann zurück zu ihr und be­deckt sie fast voll­stän­dig. Sie bleibt am Boden lie­gen, das He­ben und Sen­ken ih­rer Brust er­ken­ne ich aller­dings. Sie lebt! Schmerz­haft muss es für ein mi­ckri­ges mensch­li­ches We­sen den­noch sein – die­se zar­ten Körper, die nichts aus­hal­ten, gleich­wohl un­se­ren von der Form äh­neln. Sie stöhnt vol­ler Pein auf und ich knur­re zor­nig. Die An­span­nung der an­de­ren spü­re ich deut­lich, sie sind ge­nau­so wü­tend wie ich.

Der Troll brüllt, die Baum­stäm­me vi­brie­ren von sei­nem Schrei. Er will sich sei­ne Beu­te ho­len, sich an sei­nem Opfer la­ben, aber ich sprin­ge ihm vor die Fü­ße. Mein Blick hebt sich, ich läch­le ihn kalt an. Heu­te gibt es kein Men­schen­fleisch für ihn, er ist zu weit ge­gan­gen. Er hät­te in sei­nem Re­vier blei­ben sol­len, statt in un­se­rem zu ja­gen. Sto­ckend wan­dert mein Blick, bis ich ihm in die kal­ten gel­ben Augen schaue, die blut­un­ter­lau­fe­nen sind. Ro­te Adern zie­hen sich hin­durch. Haa­re sprie­ßen aus sei­ner Na­se und den Oh­ren, ro­sa Spei­chel rinnt aus sei­nem Mund, zeugen da­von, dass er heu­te schon ge­speist hat. Blut be­su­delt sei­ne ver­narb­te Brust – ein wei­te­res In­diz. Der An­blick reicht, mei­nen Zorn wie ei­ne Flam­me hoch­zu­zün­geln. Er hat ge­tö­tet, in un­se­rem Reich.

Ich ver­ab­scheue Trol­le eben­so wie sie uns. Er hät­te in den Ber­gen blei­ben sol­len, wo er hin­ge­hört. Er riecht nach Kup­fer, Eisen und Un­rat. Ich pres­se an­ge­wi­dert die Zäh­ne zu­sam­men, ehe ich kalt läch­le. Er mus­tert mich und ich las­se mein Schwert in der Hand krei­sen, pro­vo­zie­re ihn. »Heu­te gibt es kei­ne Beu­te für dich. Du hast dir den fal­schen Wald aus­ge­sucht, hier ist un­ser zu Hau­se.«

Sei­ne Augen tre­ten aus den Höh­len. Spei­chel spritzt auf mei­ne Hän­de, als er schnaubt. An­ge­wi­dert rümp­fe ich die Na­se, las­se ihn da­bei nicht aus den Augen. Ci­an und No­am tre­ten ne­ben mich, bil­den ei­ne un­durch­dring­ba­re Rei­he. Trol­le ge­ra­ten ge­ra­de­zu in Ra­se­rei, wenn sie uns er­bli­cken. Nicht, dass sie sonst be­son­ders schlau sind, aber dann sind sie noch un­vor­sich­ti­ger. Sie wol­len un­ser Blut, kom­me was wol­le. Sie wol­len sich an un­se­rem Fleisch er­freu­en, es ist ei­ne De­li­ka­tes­se für sie.

»Hör auf, zu spie­len. Lass es uns ein­fach be­en­den und ab nach Hau­se. Die Nacht ist fast vor­bei«, for­dert No­am, be­vor ich zu­stim­mend ni­cke. Wir um­krei­sen den Troll mit we­nig Ab­stand. Er ahnt, dass er ei­nen Feh­ler ge­macht hat, sein In­stinkt sagt es ihm ge­wiss, warnt vor uns. Kampf­los gibt er sein Le­ben und sei­ne Beu­te mit ziem­li­cher Si­cher­heit nicht auf. Schla­gend beißt er nach uns, doch wir sind schnell und ge­schickt, aus­ge­bil­de­te Kämp­fer. Immer­fort weichen wir sei­nen Hie­ben aus, wäh­rend un­se­re Schwer­ter sei­nen leder­nen Körper tref­fen. Blut rinnt aus sei­nen Wun­den, aber er zuckt nicht ein­mal zu­sam­men. Noch nicht. Er hat kei­ne Chan­ce ge­gen uns drei. Nicht mal ge­gen ei­nen von uns, da­für sind wir zu flink. Ich du­cke mich wie­der­holt un­ter sei­nen Pran­ken hin­weg, mein Schwert fin­det prompt sein Ziel.

Dem Troll ent­fährt ein lau­tes Uff, als es ihn durch­bohrt, doch er gibt nicht auf, packt mein Schwert mit bei­den Pran­ken. Er ahnt wahr­schein­lich, dass dies sein To­des­kampf ist. Er will es mir ent­rei­ßen, je­doch ist mein Griff eisern. Ich ent­zie­he es ihm, er brüllt vor Wut und Schmer­zen. Er wir­belt he­rum, um von mir weg­zu­kom­men, holt mit sei­ner flei­schi­gen Pran­ke aus, schlägt sie Ci­an vor die Brust, wo­mit die­ser si­cher nicht ge­rech­net hat. Sei­ne gel­ben Nä­gel krat­zen da­bei lauts­tark über die Rüs­tung, wo­durch mein Bru­der durch den Schwung von den Fü­ßen ge­ris­sen wird. Mit vol­ler Wucht kracht er ge­gen ei­nen Baum­stamm, Laub pras­selt auf ihn hi­nab und die Bäu­me weh­kla­gen.

»Was ist das ge­we­sen, klei­ner Bru­der?«, zie­he ich ihn be­lus­tigt auf. Der Blick, den er mir da­rauf­hin zu­wirft, ist mehr als fins­ter, in­des­sen er knur­rend auf­steht. Sei­ne Augen blit­zen zor­nig vor Wut. Da­mit wer­de ich ihn die näch­sten Ta­ge gna­den­los auf­zie­hen, denn das ist seit Jah­ren nicht mehr pas­siert. No­am springt zurück und mein Schwert er­wischt den Troll an sei­nen Wa­den. Er fletscht die Zäh­ne, dreht sich schwung­voll zu mir. Sei­ne Augen zie­hen sich zu­sam­men, fi­xie­ren mich. Er will sich auf mich stür­zen, doch No­am schlägt ihm von hin­ten den Kopf ab. Blut be­spritzt Bäu­me um uns he­rum so­wie mei­ne Stie­fel, wäh­rend sein Körper laut zu Boden sackt.

Ich tre­te den Kopf an­ge­wi­dert zur Sei­te, die gel­ben Augen gu­cken mich stumpf an. Die­ser Ge­stank, ein­fach wi­der­lich. Ei­ner we­ni­ger auf der Welt, nichts­de­sto­trotz strei­fen noch immer zu viele von ih­nen um­her, auf der Su­che nach Opfern zum Fres­sen. »Ich has­se die­se ab­ar­ti­gen Krea­tu­ren«, knur­re ich, als ich mich zu der Frau um­dre­he. »Jetzt wagen sie sich be­reits in un­se­ren Wald. Das muss auf­hö­ren.« Dann neh­me ich mir end­lich Zeit, sie an­zu­se­hen. Sie scheint be­wusst­los zu sein. Ihr blut­ro­tes Haar liegt da­bei wie ein Fä­cher um ihr Ge­sicht im bun­ten Laub. Der Ne­bel wa­bert um sie he­rum, ver­leiht ihr et­was Ma­gi­sches, sie wirkt fast wie ei­ne Wald­nym­phe, so fried­lich liegt sie dort.

Ich le­ge den Kopf schief und mus­te­re sie ge­nau­er. Ihr Ge­sicht ist ent­spannt, als schläft sie nur, wä­re da nicht die Platz­wun­de an ih­rer Stirn, aus der ein biss­chen Blut aus­tritt. Ihr schlan­ker Körper steckt in merk­wür­di­gen Klei­dern, die ich vor­her nie ge­se­hen ha­be. Die Stof­fe wir­ken rau, aber ro­bust. Ihr Schuh­werk ist klo­big, aus Ma­te­ri­al, das ich nicht ken­ne oder was Frau­en sonst tra­gen. Sie ist wun­der­schön, das kann ich nicht leug­nen. Ich ha­be das merk­wür­di­ge Be­dürf­nis, ihr die Sträh­ne, die der Wind ihr ins Ge­sicht weht, aus je­nem zu strei­chen, aller­dings wer­de ich die­sem Ver­lan­gen nie nach­kom­men – so bin ich nicht. Et­was in mir regt sich, doch es ist ge­nau­so schnell wie­der ver­schwun­den, wie es ge­kom­men ist. Ich füh­le mich eigen­ar­tig, wenn ich sie an­se­he und das är­gert mich maß­los. Wa­rum den­ke ich über­haupt über sie nach? Ich ken­ne sie nicht und ha­be kein In­te­res­se da­ran, dies zu än­dern. Es liegt da­ran, dass sie so fremd wirkt, und an dem Mit­leid, wel­ches ich für ih­re Pein durch den Troll emp­fin­de.

»Sie ist wahr­lich at­trak­tiv, nur was ist sie?« No­am geht in die Ho­cke und mus­tert sie eben­so aus­gie­big wie ich zu­vor. »Sol­che Klei­der ha­be ich noch nie ge­se­hen.« Er zupft an ih­rem Ober­ge­wand, das eng an ih­rem Körper an­liegt, aber kei­ne Rei­ze zeigt.

»Ein Mensch?« Ci­an reibt sich die Sei­te und stellt sich zu uns. Sein brau­nes Haar hängt ihm wirr ins Ge­sicht, was er um­ge­hend hin­ters Ohr klemmt, wäh­rend er sein Schwert zurück in die Leder­schei­de steckt und das Blut zu­vor an ei­nem gro­ßen Blatt ab­wischt.

»Für ei­nen Men­schen ist sie fast zu schön. Ihr Haar, so et­was ha­be ich noch nie ge­se­hen.« No­am wirkt nach­denk­lich. Sach­te hebt er ei­ne Sträh­ne ih­res lan­gen Haares hoch. Ich den­ke da­rüber nach, ob es so weich ist, wie es aus­sieht, doch das fra­ge ich ihn bes­ser nicht, er wür­de mich für ver­rückt er­klä­ren. Wie­so auch immer mich ihr An­blick ver­wirrt, ich will nicht weiter grü­beln, son­dern end­lich nach Hau­se. Die Nacht ist lang ge­we­sen, al­so bü­cke ich mich und he­be sie in mei­ne Ar­me, um hier weg­zu­kom­men. Das Flüs­tern der Bäu­me ver­stummt, sie sind zu­frie­den, dass wir den Troll ge­tö­tet ha­ben, der ih­nen Schmer­zen be­rei­tet hat. Sanft ra­schelt das Laub im Wind, weht uns da­bei lo­se Blät­ter vor die Fü­ße.

Mir steigt der Duft des Mäd­chens in die Na­se. Sie riecht frisch und süß. Kurz schlie­ße ich die Augen, at­me tief ein. Sie duf­tet be­zau­bernd nach Va­nil­le. Ihr Haar, auch wenn ich es nicht ha­be wis­sen wol­len, ist ge­nau­so sei­dig, wie es an­mu­tet. Kein Mensch in ih­rem Al­ter hat in den Dör­fern so ein ge­pfleg­tes Äu­ße­res, da­für ist die Ar­beit zu hart. Ist sie ei­ne Ade­li­ge? An ih­ren lan­gen Wim­pern glit­zern Trä­nen, wäh­rend auf ih­rer Stirn ei­ne di­cke Beu­le die Platz­wun­de be­tont. »Wir müs­sen sie mit­neh­men«, brum­me ich wi­der­wil­lig. Ich ah­ne, dass sie mir Är­ger ma­chen wird. Mein Ge­fühl täuscht mich sel­ten – sie schreit re­gel­recht da­nach.

»Viel­leicht ist sie auf dem Weg zu uns ge­we­sen?« Ci­an reibt sich den Na­cken. »Wer weiß, wo­mög­lich kommt sie aus ei­nem der Fluss­dör­fer von der an­de­ren Sei­te des Ber­ges und hat uns um Hil­fe bit­ten wol­len oder sich ver­lau­fen.«

»Mach dich nicht lä­cher­lich. Sie soll allei­ne über die Berg­rou­te ge­kom­men sein, wo es von Trol­len wim­melt? Nie­mals! Außer­dem wä­re sie maß­los dumm, oh­ne Be­glei­tung un­ter­wegs zu sein – als Frau.« Wir ma­chen uns auf den Heim­weg, wo­bei ich die Frem­de die gan­ze Zeit in mei­nen Ar­men tra­ge. Sie ist leicht wie ei­ne Fe­der. Ihr klei­ner Körper schmiegt sich in mei­ne Ar­me, wäh­rend ihr Kopf an mei­ner Brust ruht. Es fühlt sich nicht rich­tig an, so­dass ich sie am liebs­ten an Ci­an, der sich immer noch un­auf­fäl­lig die Stirn reibt, rei­chen möch­te, doch ich kann es nicht. Ich ver­su­che, ih­ren himm­li­schen Duft zu ig­no­rie­ren, was mir schwer­fällt, weil er zu exo­tisch ist. Wa­rum fällt mir über­haupt auf, wie gut sie riecht?

»Even­tu­ell ist sie ja kein Mensch.« No­am be­äugt sie weiter­hin neu­gie­rig, wo­bei der Blick, den er ihr zu­wirft, mich in­ner­lich knur­ren lässt. Er soll kein In­te­res­se an ihr ha­ben, schließ­lich wis­sen wir nicht, wer oder was sie ist. Egal, denn dass uns ihr Er­schei­nen Miss­ver­gnü­gen be­rei­ten wird, spü­re ich be­reits in­ner­lich. Zu­sam­men mit ei­nem an­de­ren Ge­fühl, wel­ches ich nicht ver­ste­he. Mög­li­cher­wei­se zieht mich ihr äu­ße­res Er­schei­nungs­bild an, was weiß ich. Was auch immer es ist, es ist un­wich­tig.

Kapitel Drei

Mein Körper fühlt sich völ­lig zer­schla­gen an. Müh­sam öff­ne ich die Augen, ein schmerz­haf­tes Stöh­nen ent­weicht mir un­ge­wollt. Mei­ne Li­der schlie­ßen sich wie von selbst wie­der, wäh­rend es in mei­nem Kopf fürch­ter­lich häm­mert. Das muss der schlimm­ste Ka­ter mei­nes Lebens sein! Was für ver­rück­te Träu­me ich ge­habt ha­be, un­fass­bar. Da­für wür­de je­der Psy­chia­ter Ein­tritt zah­len oder mich so­gar direkt ein­wei­sen so­wie im An­schluss den Schlüs­sel im Meer ver­sen­ken. Dra­chen und Ber­ge, die ver­schwin­den … Ab­so­lut lä­cher­lich!

Ich samm­le mich kurz, zwin­ge mei­ne Augen um­ge­hend da­zu, sich er­neut zu öff­nen. Blin­zelnd ge­wöh­ne ich mich schwer­fäl­lig an die Hel­lig­keit, die in mei­nen Augen brennt. Mein Blick huscht um­her, doch am liebs­ten möch­te ich ein­fach weiter schla­fen oder bes­ser auf­wachen, denn das, was ich se­he, kann kaum der Rea­li­tät ent­spre­chen. Der Raum ist mir völ­lig fremd. Ich lie­ge in ei­nem gro­ßen Bett, un­ter ei­ner schwe­ren, weichen De­cke. Ver­suchs­wei­se be­we­ge ich mei­ne Fü­ße, wo­rauf­hin die De­cke ra­schelt. Immer­hin scheint mein Körper zu funk­tio­nie­ren, auch wenn er weh­tut. Über mir be­fin­den sich di­cke Vor­hän­ge, die das Bett um­ran­den. Durch ei­nen klei­nen Schlitz dringt mi­ni­ma­les Licht. Da ich we­der der Typ für Be­säuf­nis­se noch für One-Night-Stands bin, be­zweif­le ich, dass ich mit je­man­den nach Hau­se ge­gan­gen bin. Die­se Er­klä­rung fällt dem­nach weg, aber das, wo­ran ich mich er­in­ne­re, ist so ver­rückt, dass ich eher das Be­säuf­nis in Be­tracht zie­he. Durch den Schlitz se­he ich ein Feu­er im Ka­min pras­seln. Vor­sich­tig beu­ge ich mich vor. Die Schmer­zen in mei­nem Rü­cken sind zwar höl­lisch, den­noch muss ich wis­sen, wo ich bin. Den Vor­hang zie­he ich acht­sam zur Sei­te, schaue mich ge­nau­er um. Augen­schein­lich bin ich allei­ne, was mich et­was be­ru­higt. Die De­cke, der Boden und die Wän­de sind aus Holz, Äs­te und grü­ne Zwei­ge wach­sen durch ein Fens­ter in den Raum. Es wirkt, als sit­ze ich direkt in ei­nem Baum. Alles scheint aus ei­nem Stück Holz ge­schaf­fen wor­den zu sein. So et­was ha­be ich noch nie ge­se­hen, aber es ist wun­der­schön, ein­zig­ar­tig. Ein rie­si­ger Klei­der­schrank nimmt fast die kom­plet­te Wand ein. Er ist eben­falls aus Holz und reich ver­ziert mit wun­der­vol­len Schnit­ze­rei­en. Blu­men­ran­ken schlän­geln sich die Län­ge hin­auf, ge­hen in gro­ße Blüten über und ver­dün­nen sich zu wei­te­ren Ran­ken, die Krei­se bil­den. Ein wah­res Meis­ter­werk. Mit­ten im Raum steht ein rus­ti­ka­ler Tisch mit zwei Stüh­len und ei­nem silber­nen Krug da­rauf. Plötz­lich mer­ke ich, wie aus­ge­dörrt mein Hals ist. Müh­sam kämp­fe ich mich aus der weichen De­cke, was schwe­rer ist, als man denkt. Mei­ne nack­ten Fü­ße be­rüh­ren den Boden. Ent­setzt schaue ich an mir hi­nab. Nack­te Fü­ße? »Was zum …«, flu­che ich laut. Wo sind mei­ne Je­ans und mei­ne Stie­fel hin? Das ist doch ein schlech­ter Scherz! Je­mand hat mich tat­säch­lich aus­ge­zo­gen, als ich ge­schla­fen ha­be. Der Ge­dan­ke ge­fällt mir über­haupt nicht. Jetzt tra­ge ich ein hel­les, wei­ches Kleid mit gol­de­nen Ran­ken. Es schmiegt sich eng an mei­nen Ober­körper, be­tont so ziem­lich je­de Run­dung, die ich be­sit­ze, und läuft von der Hüf­te ab­wärts groß­zü­gig aus. Es ist so gar nicht das, was ich sonst im All­tag tra­ge, oder was ich be­zah­len kann. Mit den Hän­den be­tas­te ich mei­nen Kopf, be­mer­ke, dass so­gar mein Haar ge­floch­ten ist, wel­ches in ei­nem lan­gen Zopf an mei­nen Rü­cken hin­un­ter­fällt. Wie kann ich mich da­ran nicht er­in­nern? Hat man mich be­täubt? Was ist mit mir pas­siert? K.-o.-Trop­fen? Ei­ne Ent­füh­rung? Wür­de man mich dann in solch ein Zim­mer ste­cken? Un­vor­stell­bar. Das wi­der­spricht sich alles. Ver­dammt, mei­ne Kopf­schmer­zen sind kaum aus­zu­hal­ten.

Vor­sich­tig tap­se ich zum Tisch und blei­be ei­nen Mo­ment un­schlüs­sig ste­hen. Mein Durst ist über­mensch­lich, wes­halb ich zö­ger­lich den Krug grei­fe und an dem In­halt schnup­pe­re. Es riecht zwar nach nichts, sieht aus wie Was­ser, doch wer sagt mir, dass es nicht mit Dro­gen ver­setzt ist? An mei­ner Lip­pe na­gend bin ich hin und her ge­ris­sen. Der Durst ist so schre­cklich, dass ich alles für ein Glas Was­ser ge­ben wür­de. Wäh­rend ich weiter­hin ha­de­re, dre­he ich den Krug in mei­nen Hän­den und kann nicht an­ders, als ihn eben­falls zu be­wun­dern. Er ist aus Silber, sehr fili­gran ge­ar­bei­tet, mit Kris­tal­len ver­setzt, die sei­nen Rand schmü­cken. Ein wei­te­res Meis­ter­werk. Selbst der Kelch auf dem Tisch passt da­zu und zeugt von un­ge­heu­ren hand­werk­li­chen Fä­hig­kei­ten. Das muss alles ein Ver­mö­gen ge­kos­tet ha­ben und sie stel­len es mir ein­fach ins Zim­mer? Sie ken­nen mich gar nicht. Was, wenn ich ei­ne Die­bin wä­re? Die­se Tei­le ge­hö­ren in ein Mu­se­um, sie wir­ken an­tik und un­fass­bar alt. Ich ha­be noch nie ein ver­gleich­ba­res Stück in den Hän­den ge­hal­ten, nur in Ge­schichts­bü­chern ge­se­hen. Ob ich will oder nicht, mei­ne Neu­gier­de über­nimmt die Ober­hand.

Ich er­kun­de den Raum weiter, fah­re mit den Hän­den über das Holz der Wän­de, was mich mei­nen Durst völ­lig ver­ges­sen lässt. Es wirkt, als ist der Raum kom­plett aus ei­nem Stück Holz her­ge­stellt wor­den, was bei der Grö­ße schier un­mög­lich ist. Sol­che gro­ßen Bäu­me gibt es nicht. Stau­nend öff­ne ich den gro­ßen Schrank, der mit wun­der­schö­nen Klei­der be­stückt ist. Vor­sich­tig be­tas­te ich die weichen Stof­fe, die un­ter mei­nen Fin­gern ra­scheln. Ein Stück ist schö­ner als das an­de­re. Ich seuf­ze ver­zückt, denn schließ­lich träumt je­des Mäd­chen von sol­chen Klei­dern. Den Schrank las­se ich of­fen und set­ze mei­ne Er­kun­dung fort. Lang­sam fah­re ich mit den Hän­den über die Ab­la­ge des Fri­sier­ti­sches, schaue in den Spiegel. Ich er­ken­ne mich in die­sem schö­nen Kleid selbst kaum wie­der. Es be­tont mei­ne hel­le Haut, lässt mein ro­tes Haar leuch­ten wie noch nie. Zöp­fe, Fri­su­ren all­ge­mein, sind nicht un­be­dingt mei­ne er­ste Wahl, ein ein­fa­cher Pfer­de­schwanz ge­nügt, für alles an­de­re ha­be ich zwei lin­ke Hän­de. Die­ser Zopf, wer auch immer ihn ge­floch­ten hat, ist aller­dings per­fekt und lässt mich strah­len. Un­ter mei­nen grü­nen Augen lie­gen tie­fe Schat­ten, an mei­ner Stirn ha­be ich ei­ne di­cke Beu­le vom Aus­maß ei­nes Golf­balls. Ich ver­zie­he bei dem An­blick das Ge­sicht. Kein Wun­der, dass mich sol­che Kopf­schmer­zen pla­gen. Die Platz­wun­de hat je­mand ge­säu­bert, wäh­rend das Blut be­reits ge­ron­nen ist, es scheint zu hei­len. Gut, we­nigs­tens et­was Po­si­ti­ves. Wer auch immer mich her­ge­bracht hat, hat mich eben­so ver­sorgt. Dann kann es ja kein schlech­ter Mensch sein. Mei­ne Ar­me sind von Krat­zern über­sät. Ich ah­ne, dass mein Rü­cken nicht bes­ser aus­sieht, was die Schmer­zen er­klärt. Wenn ich mich recht er­in­ne­re, bin ich von ei­nem Baum ge­fal­len. Na ja, eher ge­sprun­gen. Kann ich die­ser Er­in­ne­rung trauen? Das ist ab­surd.

Ich wen­de mich vom Spiegel ab, tre­te ans Fens­ter. Vor­sich­tig schie­be ich die Ran­ken bei­sei­te, die sich wei­cher an­füh­len, als ich er­war­tet ha­be, be­vor ich hin­aus lu­ge. Hei­li­ge Ma­ria! Of­fen­sicht­lich träu­me ich doch. Vor mir er­streckt sich ei­ne Welt, wie ich sie noch nie ge­se­hen ha­be. Kei­ne Ah­nung, was ich er­war­tet ha­be, das je­den­falls nicht. Ich blinz­le un­gläu­big in die Son­ne, die war­men Strah­len kit­zeln mei­ne Na­se. Alles, was ich se­he, ver­su­che ich, zu er­fas­sen, um es für immer in mei­nen Ge­dan­ken ab­zu­spei­chern – so wun­der­schön ist es.

Das Zim­mer ge­hört zu ei­nem ver­dammt gro­ßen Baum, ei­nem rie­si­gen Klotz. Ob­wohl ich mich vor­beu­ge, ist es mir un­mög­lich, sei­ne Baum­kro­ne zu se­hen und des­sen Aus­maß ein­zu­schät­zen. Er bil­det den Mittel­punkt ei­ner gan­zen Rei­he solch ma­jes­tä­ti­scher Bäu­me, in de­nen ich Men­schen se­he, die in den Stäm­men le­ben, und de­ren Bäu­me durch di­cke Äs­te ver­bun­den sind. Das ist ver­rückt und wun­der­schön zu­gleich. Wie kann man so fried­voll mit der Natur le­ben? Wo bin ich nur ge­lan­det?

Ich leh­ne mich weiter vor. Ein Vogel­schwarm, bunt wie der Re­gen­bogen, wird da­bei von mir auf­ge­schreckt. Sie ha­ben ne­ben mei­nem Fens­ter auf ei­nem Ast ge­ses­sen, jetzt stei­gen sie hin­auf in den Himmel wie bun­te Farb­kle­ckse. Ver­är­gert pie­pen die klei­nen Schön­hei­ten und las­sen mich bei so ei­ner Farb­pracht auf­la­chen. Sol­che Vögel le­ben sonst nur im Pa­ra­dies, ganz be­stimmt. Leuch­ten­de, sat­te Far­ben, dass ich mich wie ein Kind im Mär­chen füh­le. Mei­ne Angst ist, bei dem Wun­der, wel­ches sich mir ge­ra­de of­fen­bart, völ­lig ver­ges­sen. Ich lie­be Mär­chen seit Kind­heits­ta­gen und füh­le mich, als bin ich mit­ten in ei­nem ge­lan­det. Vor­sich­tig stre­cke ich mei­ne Hand nach ei­nem kun­ter­bun­ten Vogel aus, der auf dem Ast sitzt, doch er dreht mir den Rü­cken zu. Schnell hopst er ei­ni­ge Zen­ti­me­ter von mir weg, ich kann es ihm nicht ver­den­ken. Ich bin mir si­cher, dass hier ist nicht mein Zu­hau­se oder die Welt, wie ich sie ken­ne. Wo auch immer ich bin, ich muss weit, weit weg sein. Sol­che Bäu­me gibt es bei uns nicht, die­se bun­ten Vögel sind mir fremd – ich ha­be schon ei­ni­ges auf der Welt ge­se­hen. Wir sind in mei­ner Kind­heit viel ge­reist, aber das, nein, das ha­be ich noch nie er­lebt oder gar da­von ge­hört.