Fegoria - Gefährliche Wege - Annika Kastner - E-Book

Fegoria - Gefährliche Wege E-Book

Annika Kastner

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Beschreibung

"Oh warte, wie hat sie dich neulich genannt? Obermacker? Was zum Oger ist ein Obermacker?"  Fegoria - so nah und doch so fern von unserer Welt. Alice hat ihren Platz an der Seite ihres Gefährten, dem Prinzen der Elben, und in ihrem neuen Zuhause akzeptiert. Wo ein Teil seines Volkes durch diese Verbindung neue Hoffnung schöpft, müssen sie sich auf der anderen Seite gegen Misstrauen und Furcht starkmachen. Gemeinsam kämpfen sie für Seelengefährten und ein neues Fegoria, in dem ein friedliches Zusammenleben, für all jene, die dazu bereit sind, möglich ist. Doch nicht nur die Elben erkennen ihre Chance auf einen Neuanfang, auch haben die Albe Pläne mit ihr – finstere Pläne. Um sie von ihrem Vorhaben zu überzeugen, ist ihnen nicht nur jedes Mittel recht, sie bringen Alice damit sogar in solch eine bedrohliche Lage, dass sie nur noch eines will: den Tod des Kronprinzen der Elben, Crispins Ableben! Wird er es schaffen, über sich hinaus zu wachsen und Alice zu retten? Dieses Mal liegt es in seiner Hand, Castiell und Asta die Stirn zu bieten.

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Fegoria - Gefährliche Wege

Roman

Annika Kastner

Erstausgabe im Oktober 2019

Copyright © 2019

Alle Rechte beim Booklounge Verlag

Booklounge Verlag, Sabrina Rudzick

Johann-Boye-Str. 5, D-23923 Schönberg

www.booklounge-verlag.de

Coverbild: curaphotography

9783947115105

Inhalt

Widmung

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Danksagung

Personen und Orte

Playlist

Die Autorin

Widmung

Herz­lich will­kom­men zurück in Fe­go­ria – Ge­fähr­li­che We­ge. Wäh­rend Ali­ce im er­sten Band hat ler­nen müs­sen, dass es für sie kein Zurück gibt, wach­sen sie und Cri­spin in die­sem Teil über sich hin­aus. Vor al­lem Cri­spin muss ei­nen har­ten Weg be­schrei­ten, in dem er auch sehr viel über sich selbst ler­nen wird.

Ich dan­ke euch, dass ihr die­ses Aben­teu­er mit mir zu­sam­men er­lebt, dass ihr mit Herz­blut mit­fie­bert. Des­we­gen wid­me ich die­ses Buch euch, denn oh­ne euch wür­de nie­mand er­fah­ren, dass es Fe­go­ria gibt, ver­bor­gen auf der an­de­ren Sei­te ei­nes Ber­ges. Al­so schaut euch näch­stes Mal ge­nau um: Spürt ihr den Wind in den Haaren?

Außer­dem wid­me ich es mei­nem Mann Phi­lipp, mei­nem per­sön­li­chen Helden in mei­nem Mär­chen, und mei­nem Sohn Jos­hua, der noch viele Aben­teu­er er­le­ben wird. Mei­ner Fa­mi­lie, ein ziem­lich ver­rück­ter Hau­fen, und mei­ner wun­der­vol­len Syl­via, Co­si­ma und Sa­rah. Mä­dels, ihr seid die be­sten Freun­din­nen der Welt, aber ich den­ke, das wisst ihr.

Und nun, taucht ab in die Welt von Fe­go­ria. Aber gebt acht, dass ihr nicht auch mal über ei­nen Troll stol­pert oder ei­nen Zwerg ver­är­gert.

Kapitel Eins

Vogel­ge­zwit­scher weckt mich. Ich öff­ne ver­schla­fen die Augen, blinz­le ei­ni­ge Ma­le, um den Schlaf zu ver­trei­ben. Die di­cke, wei­che De­cke ist bis zu mei­ner Na­se hoch­ge­zo­gen, lässt mich kurz schmun­zeln. Ich wet­te, dass Cri­spin sie wie­der un­ter der Ma­trat­ze fest­ge­steckt hat, da­mit ich sie nicht weg tram­ple. Nachts quä­len mich immer Alb­träu­me, in de­nen ich in As­tas Haus, im Ge­wöl­be, ge­fan­gen bin. Er­in­ne­run­gen, Ge­dan­ken­fet­zen ver­mi­schen sich mit wahn­wit­zi­gen Träu­men und las­sen mich schweiß­ge­ba­det auf­wachen, so­bald Cri­spin be­ru­hi­gend auf mich ein­re­det. Er drängt mich nie, über das Er­leb­te zu spre­chen, hört aber auf­merk­sam zu, wenn ich mich doch traue, mich die­sen Er­in­ne­run­gen zu stel­len. Das, was mir wi­der­fah­ren ist, sitzt mir tief in den Kno­chen und die Näch­te fürch­ten mich mehr, als ich zu­ge­ben mag.

Heu­te ist aller­dings ein gu­ter Mor­gen. Mein Schlaf ist sehr er­hol­sam ge­we­sen, al­so liegt ein Lä­cheln auf mei­nen Lip­pen. Dem Himmel sei Dank, häu­fen sich sol­che Näch­te in letz­ter Zeit. Man sagt, Zeit heilt alle Wun­den – viel­leicht stimmt es und auch über Er­in­ne­run­gen bil­det sich ein Nar­ben­ge­we­be, das man zwar spürt, aber nicht mehr so prä­sent ist wie am An­fang. Ich hof­fe es je­den­falls. Ich ha­be et­li­che Jah­re Zeit. Immer­hin bin ich qua­si un­ster­blich, was ich immer noch kaum glau­ben kann.

Das Bett ne­ben mir ist ver­waist, wie ich mit ei­nem Blick zur Sei­te fests­tel­le und schon er­ahnt ha­be. Ich bin nicht auf­ge­wacht, als Cri­spin ge­gan­gen ist, weil er sich so laut­los wie ein Nin­ja be­wegt, wo­mit ich ihn stän­dig auf­zie­he, auch wenn er nicht ver­steht, was ge­nau ein Nin­ja ist. Ich weiß näm­lich, dass er heu­te mit No­am zu ei­nem der Grenz­pos­ten muss und dass sie in den Mor­gen­stun­den auf­bre­chen wol­len. Ger­ne wä­re ich mit­ge­kom­men, um weite­re Ecken Fe­go­ri­as zu ent­de­cken, doch jetzt fällt mir sie­dend heiß ein, wie­so ich nicht mit­ge­hen ha­be kön­nen: Keo­na, Cri­spins Mutter, wünscht mich heu­te zu emp­fan­gen. Allein der Ge­dan­ke an die­ses Tref­fen lässt mich in Schweiß aus­bre­chen, oben­drein ist mir wirk­lich nicht wohl da­bei. Auch wenn ich nun schon län­ger hier bin, so wirk­lich warm wer­de ich mit der Kö­ni­gin nicht. Aber ver­dammt, da muss ich durch. Ich will die Frau an Cri­spins Sei­te sein, dann wer­de ich wohl oder übel sol­che Tref­fen in Kauf neh­men müs­sen. Es wird ver­mut­lich nicht die letz­te Be­geg­nung sein. Wenn ich ein nor­ma­les Le­ben an­vi­sie­re, muss ich ler­nen, ihr ge­gen­über­zu­tre­ten und mich auch zu be­haup­ten. Da­bei ist sie nicht mal so schlimm wie der Kö­nig. Die­ser ig­no­riert mich in je­der Hin­sicht, ver­hält sich, als sei ich Luft, was mir nur recht ist. Be­schwe­ren tue ich mich des­we­gen ge­wiss nicht. Ich weiß, dass er un­se­re Be­zie­hung nicht bil­ligt, er hat es immer­hin laut ge­nug hin­aus­po­saunt, doch er hat kei­ne Wahl, denn Cri­spin steht zu dem Wort, wel­ches er mir ge­ge­ben hat. Die Käl­te, die ich am An­fang zu spü­ren be­kom­men ha­be, strahlt er jetzt an je­ne aus, die ge­gen un­se­re Ver­bin­dung sind. Wie ei­ne un­nach­gie­bi­ge Mau­er steht er vor allen Zweif­lern. Es kommt mir vor, als sei es die Ru­he vor dem Sturm, was Elon be­trifft, des­halb bin ich je­der­zeit auf der Hut.

Ich ver­ges­se nicht, wie mei­ne An­kunft in Fe­go­ria ver­lau­fen ist, dass er mich ein­ge­sperrt, mir mei­ne Frei­heit ge­raubt und mich oben­drein mei­nem Tod über­las­sen hat, als sei ich ein Nie­mand. Sei­ne Wor­te, ich bin le­dig­lich von Nut­zen, so­lan­ge ich ihm ei­nen Vor­teil ver­schaf­fe, ha­be ich mir gut ge­merkt. Gleich­wohl be­deu­tet dies mein Ab­le­ben, so­bald ich die­ser be­sag­te Vor­teil nicht mehr sein wer­de. Um das zu wis­sen, muss ich kein Ge­nie sein, den ima­gi­nä­ren Sen­sen­mann hat er prä­sent auf sei­ner Schul­ter sit­zen. Der Ein­zi­ge, der zwi­schen ihm und sei­ner Dro­hung steht, ist mein Ge­fähr­te, Cri­spin. Na ja, Ci­an und No­am wür­den sich si­cher auch für mich ein­set­zen – die­ses Wis­sen lässt mich bes­ser schla­fen. Cri­spin und sein Vater ge­ra­ten immer wie­der in Streit, wenn es um mich geht. Mein Ge­fähr­te ist nicht mehr der folg­sa­me Sohn, der aus­schließ­lich Be­feh­le aus­führt. Nein, sei­ne Am­bi­tio­nen ha­ben sich ver­än­dert, er hat sich ver­än­dert. Sein Vater und vor al­lem sein Volk mer­ken dies deut­lich. Er strahlt die Kraft ei­nes An­füh­rers aus, zu dem das Volk auf­blickt. Egal, ob Elon es glaubt oder nicht, ich bin Cri­spins Seelen­ge­fähr­tin, so­mit ist un­ser Bund hei­lig, wenn ich das rich­tig ver­stan­den ha­be. Das heißt, wenn er die Göt­ter nicht ver­är­gern will, darf er mir so­wie­so nicht schaden. Selbst Ke­la­lan, der al­te Zau­be­rer an sei­ner Sei­te, be­tont dies ste­tig, was et­was be­deu­ten mag, denn die­se gan­ze Seelen­ge­fähr­ten­sa­che ist wirk­lich schwer zu be­grei­fen. Vor al­lem auch schwer zu glau­ben, wenn man wie ich von der Er­de kommt, die ku­rio­ser­wei­se direkt ne­ben Fe­go­ria ver­läuft. Oder ist es ein Pa­ral­lel­uni­ver­sum? Weiß der Gei­er! Das wer­de ich wohl nie ka­pie­ren. Den letz­ten gro­ßen Streit zwi­schen Cri­spin und sei­nem Vater ha­be ich noch bild­lich vor Augen. Bei­de ha­ben vor Zorn ge­rö­te­te Köp­fe ge­habt, ei­ne Ader an Cri­spins Hals ist deut­lich her­vor ge­tre­ten und nur mit Mü­he und Not ist es dank No­am nicht in ei­ner Prü­ge­lei es­ka­liert. Cri­spin hat sei­nen Stand­punkt aber­mals so deut­lich klar­ge­stellt und lauts­tark ver­tre­ten, dass der Kö­nig es hin­ge­nom­men hat. Vor­erst. Ich ma­che mir da nichts vor, das The­ma wird eher frü­her als spä­ter er­neut auf­tau­chen. Bei je­dem die­ser Tref­fen wird der­ma­ßen ge­brüllt, dass die Wän­de im Schloss wa­ckeln und die Dienst­bo­ten den Kor­ri­dor zum Thron­saal mei­den – aus Angst, ins Schuss­feld zu ge­ra­ten. Mei­ne Her­ren, die­se Welt ist kom­pli­ziert.

Seit vier Wo­chen sind Cri­spin und ich zurück im Ne­bel­wald, ha­ben Escher und die er­ste Schlacht hin­ter uns ge­las­sen. Wir ha­ben As­ta und Cas­tiell das er­ste Mal ge­mein­sam die Stirn ge­bo­ten, wo­bei ich durch As­ta mein mensch­li­ches Le­ben ver­lo­ren ha­be und zu ei­ner Al­bin ge­wor­den bin. Ei­ne Un­ster­bli­che, wohl­ge­merkt. Ei­ne Al­bin, ja. Lang­sam ge­wöh­ne ich mich da­ran, dass sich das Ge­sicht, wel­ches mir mor­gens im Spiegel ent­ge­gen­blickt, ver­än­dert hat. Die Zeit rennt wie im Flug, doch all­mäh­lich le­be ich mich hier ein, auch wenn mir mei­ne Welt schmerz­lich fehlt. Die Ak­zep­tanz, dass der Weg zurück für immer ver­sperrt ist, klappt an man­chen Ta­gen bes­ser, an man­chen schlech­ter. Bei dem gan­zen Stress wür­de ich mir zu gern ein Stück Scho­ko­la­de auf der Zun­ge zer­ge­hen las­sen oder ein­fach mei­ne Kopf­hörer in die Oh­ren ste­cken und mei­ne Spo­ti­fy­lis­te an­hö­ren. Mit der Zeit wer­de ich mich be­stimmt noch bes­ser ein­le­ben und ei­ne neue Auf­ga­be fin­den – ins­be­son­de­re wie ich Cri­spin un­ter­stüt­zen und ein Teil von all dem hier wer­den kann.

Mir ist be­kannt, dass der Kö­nig mich sehr wohl weiter­hin be­schat­ten lässt, was ich na­tür­lich ak­zep­tie­re. Dass Al­be die Tod­fein­de der El­ben sind, recht­fer­tigt dies ein klei­nes biss­chen, auch wenn ich mich fra­ge, was er denkt, wie ich han­deln soll­te. Cri­spin wür­de aus­ra­sten, wenn ich es ihm er­zäh­le, des­halb be­hal­te ich es bes­ser für mich. Der Kö­nig macht dies nur, wenn er weiß, dass Cri­spin nicht zu­ge­gen ist – klu­ger Kerl. Cri­spin wür­de es so­fort be­mer­ken. Es ist so­wie­so ein Wun­der, dass No­ams Vögel­chen, wie er sie nennt, nicht ge­flö­tet ha­ben. Soll der Kö­nig mich doch be­ob­ach­ten, wenn es ihn glü­cklich macht. Er wird mer­ken, dass ich ge­nau­so lang­wei­lig bin, wie ich immer ge­sagt ha­be. Ich will kei­nen Är­ger, son­dern Frie­den, und das im be­sten Fall weit weg von Ra­ben, Orks und was hier noch um­her kriecht. Ja, so sieht mein Plan aus. Den wer­de ich ver­su­chen, in die Tat um­zu­set­zen.

Ich ver­brin­ge die Zeit mit le­sen, ler­nen und mei­nen neu­en Freun­den. Je­de Mi­nu­te, die Cri­spin und ich für uns allei­ne ha­ben, ist wert­voll und wun­der­bar. Weil ich weiß, dass es in die­ser mittel­al­ter­li­chen Welt von Nö­ten ist, trai­nie­re ich weiter. As­ta hat mit sei­nem Blut­zau­ber gan­ze Ar­beit ge­leis­tet – immer wie­der kann ich plötz­lich neue Din­ge, ler­ne zu­dem sehr schnell, mit Schwert und Bogen um­zu­ge­hen. Ke­la­lan darf nicht mehr in mei­ne Nä­he kom­men, was be­deu­tet, dass ich eben­falls Ru­he vor ihm ha­be. Der al­te Zau­be­rer hat sei­ne Sym­pa­thien bei mir ver­spielt, da er es ge­we­sen ist, der mich zu As­ta ge­bracht und mich trotz mei­nes Fle­hens dort ge­las­sen hat. Auch wenn er sich ger­ne als wei­se be­trach­tet, ist dies nicht sei­ne be­ste Ent­schei­dung ge­we­sen, was er so­gar selbst be­merkt hat. Fast hat dies nicht nur mein Le­ben ge­kos­tet, son­dern eben­so das der Prin­zen, aber dies scheint Elon zu ver­zei­hen.

Ke­la­lan und Cri­spin ha­ben eben­falls in ei­ner hit­zi­gen Aus­ein­an­der­set­zung ge­steckt, die nur sei­ne Mutter hat stil­len kön­nen. Ich glau­be, Cri­spin hät­te ihn am liebs­ten aus dem Schloss ge­wor­fen, was lä­cher­lich ist. Er hat ja nicht ah­nen kön­nen, wie As­ta wirk­lich ist, das ge­ste­he ich ihm zu. Dass As­ta ge­plant hat, mich zu tö­ten, da­mit ich als Al­bin wie­der­er­weckt wer­de, um an der Sei­te des Prin­zen zu herr­schen, hat er nicht in sei­nen kühns­ten Träu­men kom­men se­hen. As­ta hat sie alle hin­ter­rücks ver­ra­ten, die­ser grau­sa­me Sa­dist. Die Ta­ge in sei­nem Kel­ler­ge­wöl­be, mehr tot als le­ben­dig, ja­gen mir Schau­er über den Rü­cken. Krä­hen wer­de ich nie mehr sor­glos an­se­hen kön­nen, das ist si­cher. Zu­sam­men­ge­fasst: Ich wer­de Ke­la­lan so schnell nicht mehr trauen, die­ses Pri­vi­leg hat er ver­spielt. Wenn ich wol­len wür­de, könn­te ich mich wie­der von dem Zau­be­rer un­ter­rich­ten las­sen, doch ich ha­be kei­ner­lei Be­darf. Ak­tu­ell je­den­falls. Bei mei­ner An­kunft hat er mich die Ge­schich­te Fe­go­ri­as ge­lehrt – die Or­te, We­sen und Stamm­bäu­me des El­ben­hau­ses. Wenn ich ehr­lich bin, bin ich noch ver­dammt wü­tend auf ihn, weil er mich sei­ner­zeit bei As­ta zurück­ge­las­sen hat. Ich ha­be ihn an­ge­fleht, mich mit­zu­neh­men, aber es hat ihn nicht in­te­res­siert. Die­se Grü­be­lei – ge­nug da­mit!

Ich stre­cke mich ge­nüss­lich in den weichen La­ken aus, mein Blick wan­dert durch das Zim­mer und bleibt am Ka­min hän­gen. Ein war­mes Feu­er pras­selt in ihm, ver­treibt auf woh­li­ge Wei­se die win­ter­li­che Käl­te aus dem Zim­mer, auf des­sen Fens­ter­bank Frost glit­zert. To­pas, mein nicht mehr ganz so klei­ner Dra­che, liegt zu­sam­men­ge­rollt auf ei­nem weichen Fell, schnarcht lei­se vor sich hin. Ab und zu ent­weicht ihm da­bei et­was Ruß aus der Na­se, wel­ches sich vor ihm auf sei­nem Schlaf­platz aus­brei­tet. Er hat mitt­ler­wei­le das Aus­maß ei­nes kräf­ti­gen Rott­wei­lers er­reicht und ist kein Ver­gleich mehr zu dem klei­nen Dra­chen, der sich da­mals in mei­nem Schrank ver­steckt hat. Wenn es nach ihm geht, wür­de er auch weiter­hin mit im Bett schla­fen, doch Cri­spin hat ihn ri­go­ros ver­bannt. Ich muss grin­sen, als ich da­ran den­ke, wie der Dra­che ihm aus Frust ei­ne La­dung Ruß ins Ge­sicht ge­pus­tet hat. Er hat aus­ge­se­hen wie der Schorn­stein­fe­ger per­sön­lich und sei­ne Augen ha­ben vor Wut fast selbst Fun­ken ge­sprüht. Herr­lich. Er ist so auf­ge­bracht ge­we­sen! In sol­chen Mo­men­ten hät­te ich zu ger­ne ei­ne Ka­me­ra da­bei, um es für die Ewig­keit fest­zu­hal­ten. Wenn ich wirk­lich un­ster­blich bin, wie soll ich mich dann ein Le­ben lang an ge­wis­se Augen­bli­cke er­in­nern? Wird mei­ne al­te Fa­mi­lie über die Jahr­hun­der­te ver­blas­sen?

Mit Schwung set­ze ich die Bei­ne auf den Boden und zu­cke kurz zu­sam­men. Trotz des war­men Ka­mins ist der Boden eis­kalt. Wie lang geht der Win­ter in Fe­go­ria? So wie bei uns oder gar län­ger? Der Herbst ist zu­min­dest zü­gig vor­bei ge­we­sen. Wenn alle Jah­res­zeiten so ra­send an uns vor­bei rau­schen, steht ja bald der Som­mer an. Wie­der ei­ne Sa­che, die ich Cri­spin fra­gen kann. Mei­ne Lis­te wird immer län­ger, denn mir fal­len täg­lich neue Fra­gen ein, die ich ihm stel­len möch­te. Fei­ern die El­ben Weih­nach­ten? Ver­mut­lich ei­ne dum­me Fra­ge, aber ich lie­be Weih­nach­ten. Wie viele Ta­ge um­fasst ein Jahr in Fe­go­ria? Be­mes­sen sie es nach Jah­ren? Ob hier je­mals Fens­ter­schei­ben er­fun­den wer­den? Ich hof­fe es, glau­be je­doch eher we­ni­ger da­ran. Ei­ne Toi­let­te wür­de das Tüp­fel­chen auf dem I sein, oder ei­ne Du­sche – viel­leicht kann ich sie da­rauf brin­gen. Es fühlt sich immer noch ko­misch an, für sol­che Din­ge ei­ne der rau­schen­den Quel­len auf­zu­su­chen.

Ein Klop­fen lässt mich schmun­zeln, denn ich ha­be mich schon wie­der in mei­nen Ge­dan­ken ver­lo­ren. Das pas­siert mir wahn­sin­nig oft. Aber kann man mir das, bei dem, was ich er­le­be, ver­den­ken? Ei­ne völ­lig neue Welt, die sich mir zeigt. »Her­ein«, ru­fe ich, wäh­rend To­pas ver­schla­fen den Kopf hebt, da­bei miss­mu­tig brummt. Ra­cel­la, ei­ne El­bin aus Cri­spins Trup­pe, steckt den Kopf zur Tür hin­ein. Sie ist mei­ne Be­gleit­erin hier im Schloss, wenn Cri­spin oder die an­de­ren fort sind, und ich könn­te schwö­ren, dass sie je­des Mal mit dem Ohr an der Tür hängt. So­bald ich wach wer­de, ist sie meist so­fort zur Stel­le. Egal, wie oft ich Cri­spin sa­ge, dass ich kei­ne Wachen will, er ig­no­riert es ein­fach. Immer wie­der taucht Ra­cel­la auf. Na­tür­lich, um mich zu schüt­zen, und nicht, wie Cri­spin be­tont, um mich zu über­wachen. Ir­gend­wie mag ich sie. Zwar ver­brin­ge ich ger­ne Zeit mit No­am und Ci­an, aber ein Mäd­chen in mei­ner Um­ge­bung zu wis­sen, ist doch et­was an­de­res. Sie ver­steht man­che Din­ge eben bes­ser. Wer weiß, viel­leicht kann ich ir­gend­wann mit ihr über die Jungs herz­ie­hen, ein paar lus­ti­ge Ge­schich­ten er­fah­ren, mit de­nen ich sie dann auf­zie­hen kann und sie als Freun­din be­titeln.

»Gu­ten Mor­gen, My­la­dy«, be­grüßt sie mich, ver­beugt sich und tritt mit ei­nem Lä­cheln auf den Lip­pen ein. Ihr lan­ges Haar weht wie ei­ne luf­ti­ge Wol­ke hin­ter ihr her, be­rührt da­bei fast den Boden. Nor­mal­er­wei­se trägt sie es kunst­voll ge­floch­ten, doch wahr­schein­lich bin ich heu­te zu früh er­wacht und ha­be ihr da­mit ein Zeit­pro­blem ver­schafft. Oder hat sie wo­mög­lich gar ver­schla­fen? Der Ge­dan­ke amü­siert mich mehr, als man ahnt. Den­noch wirkt sie wie der fri­sche Mor­gen. Es ist so­wie­so ein Wun­der, wie pünkt­lich hier alle auf­ste­hen, We­cker gibt es schließ­lich nicht. Die Son­ne geht auf und Zack: Alle El­ben wu­seln um­her.

»Ali­ce, mein Na­me ist Ali­ce«, er­in­ne­re ich sie wie je­den Tag da­ran, mich zu du­zen. Sie seufzt schick­sals­er­ge­ben, schlägt mei­ne Bett­de­cke auf, wäh­rend ich mich durch mei­nen Klei­der­schrank wüh­le. Wie sehr wün­sche ich mir ei­ne stink­nor­ma­le Je­ans­ho­se.

»Ja, ich weiß, Ali­ce«, er­wi­dert sie gut ge­launt, doch mor­gen wer­de ich er­neut My­la­dy sein. Das glei­che Spiel. Es fällt den El­ben schwer, mich ein­fach zu du­zen, wo­ge­gen mir schwer­fällt, zu ak­zep­tie­ren, dass es hier nicht gang und gä­be ist.

Ich su­che mir ein moos­grü­nes Kleid aus, hal­te es mir pro­be­hal­ber an den Körper. Es ist maß­ge­schnei­dert – wie alles, was in mei­nem Schrank zu fin­den ist. Wenn ich Cri­spins Mutter tref­fe, möch­te ich per­fekt aus­se­hen. Ho­sen sind un­an­ge­bracht, egal wie ger­ne ich sie tra­ge, nur beim Trai­ning wird es ge­bil­ligt oder eben auf Rei­sen. Im All­tag am Ho­fe ziert es sich für mich nicht, als Ge­fähr­tin des Thron­prin­zen, in Ho­sen ge­se­hen zu wer­den. Um­so mehr be­glei­tet mich das Be­dürf­nis, Keo­na zu be­ein­drucken, ihr zu zei­gen, dass ich ih­res Soh­nes wür­dig bin.

Ra­cel­la füllt Was­ser in mei­nen Wasch­krug aus Ke­ra­mik, so­dass ich mit mei­ner Mor­gen­toi­let­te be­gin­nen kann. Mor­gen­toi­let­te … Wasch­krug … Ach ja, ein Hoch auf das mittel­al­ter­li­che Fe­go­ria. Wer braucht schon Kaffee und ei­ne Du­sche, Do­nuts und Kin­der­scho­ko­la­de? »Nervt es dich nicht, mein Ba­by­sit­ter zu sein?«, fra­ge ich sie, wäh­rend ich mich ab­trock­ne. »Du bist ei­ne Krie­ge­rin, kei­ne Zo­fe.«

Sie schenkt mir ein ehr­li­ches Lä­cheln. »Ach, es ist ei­ne will­kom­me­ne Ab­wech­slung. Der Prinz hat mir sein Wort ge­ge­ben, dass ich den­noch Teil des Heeres blei­be. Und ich weiß nicht, ich mag Euch. Es ist lus­tig, Zeit mit Euch zu ver­brin­gen. Ihr schaut alles so in­te­res­siert an, seid neu­gie­rig wie ein klei­ner El­bing. Es gibt mit Euch immer et­was zu la­chen.«

Ich wer­de rot und dre­he mich zu ihr um. »Ehr­lich?«

»Ja. Ihr seid nett. Viele El­ben aus Cri­spins Heer sind Euch zu­ge­neigt. Es ist schwer, zu glau­ben, dass Ihr ei­ne ech­te Al­bin seid.«

»Halb«, er­in­ne­re ich sie ver­le­gen.

»Ja, Halb­al­bin, ver­zeiht. Ich ver­ste­he Cri­spins Sor­ge um Euch. Soll­te ich mei­nen Ge­fähr­ten fin­den, wür­de ich ihn auch schüt­zen wol­len. Es ist un­glau­blich, dass es seit Jahr­hun­der­ten über­haupt wie­der ein Paar gibt, das fü­rei­nan­der be­stimmt ist. Dies weckt Hoff­nung in mir und in vielen an­de­ren El­ben eben­so. Außer­dem spricht es sich im Kö­nig­reich he­rum, war­tet ab. Bald wer­den Euch alle mit an­de­ren Augen se­hen. Auch der Kö­nig, wenn er ge­nau hin­schaut. Ihr könnt gar nicht bö­se sein, da­für seid Ihr viel zu zart be­sai­tet. Schaut Eu­ren di­cken Dra­chen an.« Sie zeigt auf To­pas. »Ihr füt­tert ihn zu viel und er ge­hört eigent­lich in den Stall, nicht in Eu­er Schlaf­ge­mach.«

Ich ni­cke ver­le­gen, las­se mir von ihr das Mie­der schnü­ren, was mir je­des Mal kurz die Luft ab­drückt. Dann wird mir klar, was Cri­spin und ich sei­nem Volk ge­ben – Hoff­nung. Ich wün­sche ihr, dass sie ih­ren Part­ner fin­det. Wer weiß, viel­leicht ist es ja auch ein Alb. Lei­der ha­be ich kei­ne Ah­nung, wel­ches We­sen sonst in Fra­ge kä­me oder wel­che Völ­ker es hier noch gibt. Je­den Tag ler­ne ich neue Din­ge da­zu, doch manch­mal be­glei­tet mich das Ge­fühl, all das Wis­sen lässt mei­nen Kopf plat­zen. Es ist ein­fach zu viel auf ein­mal. »Nicht so fest, ich füh­le mich wie ei­ne Press­wurst«, jap­se ich.

Die El­bin hält in­ne. »Was ist ei­ne Press­wurst?«

»Äh, ei­ne Wurst, sehr eng ver­packt, die man es­sen kann«, ver­su­che ich, mich zu er­klä­ren, was Ra­cel­la la­chen lässt.

»Ihr habt immer so ko­mi­sche Ideen.« Ja, be­schlie­ße ich, Ra­cel­la soll mei­ne Freun­din sein. Der Ge­dan­ke lässt mich breit grin­sen, dem­nach kann der Tag nur gut wer­den.

To­pas er­hebt sich ge­mäch­lich gäh­nend, trot­tet dann mehr als lang­sam zum Fens­ter, was die Vögel da­vor auf­schreckt. Wie ein bun­ter Re­gen­bogen flie­gen sie lauts­tark me­ckernd da­von, be­vor er be­schließt, ei­nen von ih­nen zu ver­spei­sen. »Früh­stück?«, ru­fe ich ihm zu. Er brummt nur zur Er­wi­de­rung, stößt da­bei ei­ne klei­ne Wol­ke aus. Mein Dra­che ist ein Mor­gen­muf­fel. Wir sind ihm zu laut, das heißt, er sucht sich jetzt ei­ne ru­hi­ge Baum­kro­ne, um den Vor­mit­tag zu ver­schla­fen, be­vor er sich abends wie­der zur Ru­he le­gen kann. Sei­ne Augen blit­zen kurz auf, ehe er sich dem Fens­ter er­neut zu­wen­det. Die Vor­der­pfo­ten setzt er auf das Fens­ter­brett, be­vor er mit den Flü­geln sein Hin­ter­teil nach oben hebt. Er quetscht sei­nen brei­ten Körper durch das Fens­ter, was Ra­cel­la und mich in ein Ge­läch­ter ver­setzt. Bald passt er nicht mehr hin­durch und fast be­fürch­te ich, dass er ste­cken bleibt. Ob er will oder nicht, er wird die­sen Weg dem­nächst nicht mehr nut­zen kön­nen. Nicht, wenn er in die­sem Tem­po wächst. Wie groß er wohl wer­den wird? Dun­kel er­in­ne­re ich mich an das rie­si­ge We­sen, was in mei­ner er­sten Nacht über mei­nem Kopf ge­flo­gen ist. Ist es auch ein rich­ti­ger Dra­che oder eher ein an­de­res We­sen ge­we­sen? Wo soll er dann schla­fen? Ir­gend­wann wird er nicht mehr ins Zim­mer pas­sen – die Über­le­gung macht mich trau­rig, denn ich ha­be ihn ger­ne bei mir.

Mei­ne Ge­dan­ken wan­dern zu Cri­spin, wäh­rend ich et­was Obst auf fla­chem Brot es­se, wel­ches be­reits auf dem Tisch steht. Es er­in­nert mich immer ein we­nig an Fla­den­brot. Die Früch­te sind hier viel saf­ti­ger und sü­ßer als in mei­ner al­ten Welt. Sie ha­ben mehr Aro­ma, auch wenn sie nicht alle so aus­se­hen wie un­se­re. Ich bei­ße ge­nüss­lich in ei­ne vio­let­te Frucht, die an ei­nen Ap­fel er­in­nert, aber eher wie ei­ne Mi­schung aus Ki­wi und Ana­nas schmeckt. Im Gar­ten ha­be ich, Gott sei Dank, Erd­bee­ren ent­deckt – was ist ei­ne Welt oh­ne Erd­bee­ren und Scho­ko­la­de?

»Ist Cri­spin schon lan­ge fort?«, möch­te ich wis­sen, wo­rauf­hin Ra­cel­la sich mir ge­gen­über setzt und sich ei­ne Wein­trau­be von mei­nem Tel­ler sti­bitzt. Ich las­se sie ge­wäh­ren. Es freut mich, dass sie sich über­haupt traut und of­fe­ner wird. Die Vor­stel­lung, hier wie ei­ne Prin­zes­sin zu le­ben, be­hagt mir nicht. Die El­ben sol­len kei­ne Angst vor mir ha­ben oder mich mei­den, ich möch­te An­schluss fin­den.

»Der Prinz ist im Mor­gen­grau­en los­ge­rit­ten. No­am und Yu­no be­glei­ten ihn. Am Hang des Sen ha­ben vor ei­ni­gen Ta­gen wil­de Tie­re ge­wü­tet und ei­ne Her­de Re­he ab­ge­schlach­tet. Ein schau­er­li­ches Bild sa­ge ich Euch. Man hat kaum noch er­kannt, dass es Re­he ge­we­sen sind. Die Ein­ge­wei­de …«

»Stopp! Dan­ke, reicht schon. Ich kann es mir lei­der bild­lich vor­stel­len.« In­ner­lich schüt­telt es mich. So et­was will ich nicht beim Es­sen hö­ren. Den Tel­ler schie­be ich weit von mir weg, der Ap­pe­tit ist mir ver­gan­gen. Auch das er­in­nert mich zu sehr an mei­nen er­sten Tag in Fe­go­ria.

Kapitel Zwei

Nach­denk­lich fah­re ich mir un­be­wusst durch die Haa­re, mus­te­re da­bei die Ver­wü­stung vor mir. Ra­cel­las Trup­pe hat nicht über­trie­ben, das Bild ist grau­sig. An­ge­wi­dert schie­be ich ei­nen ver­trock­ne­ten Fleisch­rest mit dem Stie­fel zur Sei­te. No­am hockt wäh­rend­des­sen am Boden, un­ter­sucht vor­sich­tig die Lei­chen der Re­he, auch wenn kaum zu er­ken­nen ist, dass es wel­che sind. Die Kno­chen und Ge­wei­he der Hir­sche ha­ben es uns eher ver­ra­ten. Flie­gen schwir­ren he­rum, ma­chen sich über hin­ter­las­se­ne Res­te her.

»Wöl­fe sind es nicht ge­we­sen«, mur­melt No­am, reibt sich da­bei nach­denk­lich sein glat­tes Kinn, wo­rauf­hin ich mich zu ihm ho­cke, wäh­rend Yu­no die Ge­gend er­kun­det. Es ist schließ­lich rat­sam, die Um­ge­bung eben­so we­nig außer Acht zu las­sen. Still mus­te­re ich ei­nen Mo­ment die Ver­let­zun­gen der Tie­re vor mir.

»Nein, schau mal hier!« Ich zei­ge auf ei­nen der auf­ge­schlitz­ten Bäu­che. »Das sind ein­deu­tig Kral­len. Aber hier oben«, ich zei­ge auf ei­ne an­de­re Stel­le, »sieht es fast wie … ein Schna­bel aus. Als hät­te ihm je­mand das Ge­nick ab­ge­rupft.«

»Du könn­test recht ha­ben.« Wir dre­hen das Tier zur Sei­te, wo­bei mich ein Flie­gen­schwarm um­kreist, ich sie je­doch mit der Hand ver­scheu­che. Süß­li­cher Ver­we­sungs­ge­ruch um­weht mich. Mit Schwung ste­he ich auf, klop­fe mir den Dreck von der Ho­se. Ich ma­che ei­ni­ge schnel­le Atem­zü­ge, ver­su­che, den ek­li­gen Ge­ruch aus der Na­se zu be­kom­men. Bald wer­den die Wöl­fe aus den Ber­gen her­um­schlei­chen, um sich über die Res­te herz­um­achen. So ist es in der Natur. Ein­zig die Star­ken über­le­ben. Aus Le­ben ent­steht wie­der neu­es Le­ben und auch der Tod wird sei­nen Teil bei­tra­gen, den Bäu­men Nährs­tof­fe ge­ben.

Ich bli­cke mich ge­nau um. Wach­sam, ob ich be­reits ein Raub­tier ent­de­cke, an­ge­lockt durch den Duft des Blu­tes – es ist ge­wiss­er­ma­ßen ein of­fe­nes Fest­mahl. Dann rich­te ich mei­nen Blick auf No­am. Es gibt nur ein Tier, was sol­che Spu­ren ver­ur­sacht, und die­ses Tier schafft es, selbst mir ei­ne Gän­se­haut zu ver­schaf­fen. Zu ger­ne möch­te ich mich täu­schen. No­am hat den glei­chen Ge­dan­ken wie ich, das se­he ich ihm an, denn sei­ne Mie­ne wirkt be­sorg­nis­er­re­gend, wäh­rend auch er sich lang­sam und vor­sich­tig er­hebt.

»Meinst du tat­säch­lich, dass hier ir­gend­wo ein Greif nis­tet? Ich ha­be seit Jah­ren kei­nen mehr ge­se­hen. Das wä­re kei­ne gu­te Ent­wi­cklung.« Ich ni­cke ein­dring­lich, rei­be mir über den Na­cken. Grei­fe sind nicht zu un­ter­schät­zen. Ih­re mas­si­gen raub­kat­zen­ar­ti­gen Körper ha­ben ra­sier­mess­er­schar­fe Kral­len. Als ist das nicht ge­nug, kann das Vieh auch noch flie­gen, und hat zu­dem ei­nen Schna­bel, der mit ei­nem Hieb Kno­chen bre­chen kann. Den letz­ten Greif ha­be ich vor weit mehr als sech­zig Jah­ren ge­se­hen – und das ist nicht lan­ge ge­nug. Wenn es nach mir gin­ge, müss­te ich nie wie­der ei­nen zu Ge­sicht be­kom­men. Er hat von bei­den Spe­zi­es nur das Be­ste ge­erbt, ein schre­ckli­cher Geg­ner. Trol­le und Oger sind ein Witz da­ge­gen. Ich ha­be ge­hofft, dass wir ein­fach auf ein Ru­del Wöl­fe tref­fen oder von mir aus auch auf ei­nen Berg­troll, aber ein Greif? Das ist kein gu­tes Zeichen, da ge­be ich mei­nem Freund recht. Ein Un­heils­bo­te, der es wagt, hier zu ja­gen. Gut, dass Ali­ce dies­mal nicht bei uns ist. Zu­min­dest ein be­ru­hi­gen­der Ge­dan­ke. Sie wird zwar immer bes­ser, doch im Kampf mit ei­nem Greif … Nein, so weit ist mei­ne Ge­fähr­tin noch nicht. Mit ih­rem Di­ckkopf wür­de sie es den­noch ver­su­chen.

Jetzt muss ich mich hun­dert­pro­zen­tig auf das Pro­blem vor uns kon­zen­trie­ren. Wir müs­sen ihn fin­den, be­vor er sich hier nie­der­lässt und weite­re Grei­fe an­lockt. Ei­ner ist gut zu hän­deln, zwei sind ei­ne ganz an­de­re Her­aus­for­de­rung. Nis­tet hier erst mal ei­ner, kom­men sie in Scha­ren. Das ist so si­cher wie Schnee am Win­ter­mit­ter­nachts­fest. Wir müs­sen uns spu­ten. Ich sto­ße ei­nen ho­hen Pfiff aus, ge­be Yu­no zu ver­ste­hen, dass er zurück­kom­men muss.

Aus dem Wald hallt ein schwa­cher Pfiff, was ei­ni­ge Vögel auf­schreckt. »Wir müs­sen den Greif fin­den, lie­ber heu­te als mor­gen.« Mei­ne Stim­me klingt be­un­ru­hi­gend. Ich rei­be mir noch mal mei­nen Na­cken, kne­te ihn leicht, um ei­ne Ver­span­nung zu lö­sen, und bin un­fass­bar ge­nervt. Grei­fe. Ich kann es nicht so recht glau­ben. Zwar sind die Spu­ren frisch, was sehr vor­teil­haft ist, aber be­vor wir ihn nicht ha­ben, kön­nen wir nicht um­dre­hen. Je­der weite­re Tag ist ein zu gro­ßes Ri­si­ko. Aller­dings ge­fällt mir der Ge­dan­ke gar nicht, Ali­ce über Nacht allei­ne im Schloss zu las­sen. Wie­der­um ist sie dort si­cher, si­che­rer als hier je­den­falls, und ei­ne Wahl ha­be ich auch nicht. Das Ein­zi­ge, was ich aus­rich­ten kann, ist, das Vieh schnell zu fin­den und sei­nen Kopf ab­zu­schla­gen.

Sil­ver prescht aus dem Ge­büsch her­vor, schüt­telt sich ent­rüs­tet und bleibt he­chelnd vor mir ste­hen. Kurz fah­re ich mit der Hand über sei­nen zot­te­li­gen Kopf. Sei­ne brau­nen Augen bli­cken mich er­war­tungs­voll an, war­ten auf Kom­man­dos. Yu­no ist knapp hin­ter ihm und kommt vor uns zum Ste­hen.

»Prinz!« Er nickt mir zu, war­tet ab, was ich zu sa­gen ha­be, zollt mir so sei­nen Re­spekt.

»Willst du Ver­stär­kung an­for­dern?«, möch­te No­am wis­sen, nimmt ei­nen Schluck aus sei­ner Feld­fla­sche, wischt sich dann über den Mund.

Ich he­be be­lus­tigt ei­ne Augen­braue. »Brau­chen wir die? Wirst du alt, mein Freund? Soll ich näch­stes Mal mehr Män­ner mit­neh­men? Gehst du in den Ru­hes­tand?«

No­am lacht auf. »Ich ha­be an dich ge­dacht. Du wirkst mü­de«, neckt er mich zurück. Schmun­zelnd ant­wor­te ich: »Mü­de? Du machst dich lä­cher­lich, No­am. An­schei­nend ver­wech­selst du hier et­was. Ich wer­de nicht mü­de, nein, ich will zurück zu mei­ner Ge­fähr­tin. Mich in den Mor­gen­stun­den wie ein Ta­ge­dieb aus dem Zim­mer zu schlei­chen, ge­hört nicht zu den Din­gen, die ich gern ma­che.«

»Oh, Cri­spin, den Rest kann ich mir den­ken.« No­am winkt lä­chelnd ab.

Wir be­spre­chen das Für und das Wi­der, be­ra­ten uns, und schließ­lich schi­cken wir Yu­no mit ei­ner Nach­richt zurück ins Schloss, be­vor wir mit der Spu­ren­su­che be­gin­nen, um un­se­ren ge­fie­der­ten Freund zu fin­den. Die Pfer­de trot­ten hin­ter uns her, wäh­rend wir den weichen Wald­boden un­ter­su­chen. Die Lich­tung, auf der die Lei­chen der Her­de lie­gen, las­sen wir hin­ter uns, statt­des­sen nä­hern wir uns dem Sen, dem schwer pas­sier­ba­ren Berg, der ei­nen Teil des Ne­bel­wal­des um­gibt. Das Schwie­ri­ge an der Ver­fol­gung ist, dass die­ses Mist­vieh flie­gen kann, al­so su­chen wir nach ab­ge­bro­che­nen Äs­ten, Krat­zern an Bäu­men und Fe­dern, nach Ka­da­vern, Nes­tern … Ich hof­fe, die Göt­ter sind gnä­dig.

Wir fin­den kei­ne Ei­er, denn Ei­er zu fin­den, wä­re, ge­lin­de ge­sagt, ei­ne Ka­ta­stro­phe. Ei­ne müh­sa­me Auf­ga­be, der wir nach­ge­hen. Von Mi­nu­te zu Mi­nu­te wird mei­ne Ge­duld mehr auf die Pro­be ge­stellt, vor al­lem als da­raus Stun­den wer­den. Hun­ger und Durst na­gen an mir.

Mei­ne Ge­dan­ken schwei­fen bei der Su­che ab. Ich weiß, dass Ali­ce heu­te ei­ne Au­dienz bei mei­ner Mutter hat, was sie be­un­ru­higt. Am liebs­ten wä­re ich da­bei, doch da­mit wür­de ich ihr nicht hel­fen, nein. Sie wird das allei­ne schaf­fen, sich ih­ren Platz er­kämp­fen, denn das ist sie, ei­ne Kämp­fe­rin. Et­was, was ich an ihr lie­be, mich aber auch manch­mal zur Weiß­glut treibt. Letz­te Wo­che auf Pa­trouille hat sie mit uns ge­gen ei­nen Oger ge­kämpft und un­ter­des­sen so ko­mi­sche, für Ali­ce ty­pi­sche, Din­ge ge­sagt wie für Lie­be und Ge­rech­tig­keit und da­bei ge­ki­chert. Als ich ge­fragt ha­be, was sie da­mit meint, hat sie ge­ant­wor­tet, wir sind wie das Te­am Mond – nein, Te­am Sai­lor? Nein, jetzt ha­be ich es, das Sai­lor Te­am – auch wenn ich ih­re Er­klä­rung eigen­ar­tig ge­fun­den ha­be. Sie lebt sich ein, so gut es geht, doch ich weiß, dass sie Angst hat, zu­mal ihr immer wie­der Alb­träu­me die Nach­tru­he rau­ben. Ihr al­tes Le­ben ein­fach zu ver­lie­ren, trägt noch da­zu bei. Sie schreit oder weint im Schlaf, was mir das Herz bricht. Ich hof­fe, dass ich As­ta ei­nes Tages Au­ge in Au­ge ge­gen­über ste­hen wer­de, dann wird er da­für zah­len, dass er Hand an mei­ne Ge­fähr­tin ge­legt hat. Das Bild, wie sie in mei­nen Augen ge­stor­ben ist, ih­re mensch­li­che Hül­le hin­ter sich ge­las­sen hat, wer­de ich nie ver­ges­sen. Eben­so die Furcht, dass ich sie ver­lo­ren ha­be. Sie ist so prä­sent wie an je­nem Tag – ei­ne Mah­nung an mich, wie wert­voll mei­ne Ge­fähr­tin ist. As­ta hat sein Ziel, Ali­ce zu bre­chen, nicht er­reicht, denn sie hat ei­nen eiser­nen Wil­len und oft­mals so­gar mehr Mut als Ver­stand. Nie­mand kann sie bre­chen. Den­noch sind wir stets auf der Hut, hal­ten die Augen und Oh­ren of­fen, was Cas­tiell als Näch­stes plant, doch seit dem Kampf um Escher ist es ru­hig ge­wor­den. Zu ru­hig. Wir las­sen uns nicht täu­schen. Cas­tiell gibt nie mü­he­los auf, al­so ist die­se Ru­he nur die Ru­he vor dem Sturm. Er leckt viel­leicht sei­ne Wun­den, doch das ist erst der An­fang ge­we­sen. Heim­tü­ckisch sitzt er in sei­ner Heimat und ich wet­te da­rauf, dass sein näch­ster Plan Hand und Fuß an­nimmt. Er glaubt viel­leicht, dass er uns täu­schen kann, aber eigent­lich hal­te ich ihn für in­tel­li­gen­ter.

»Cri­spin?« No­ams Stim­me reißt mich aus mei­nen Über­le­gun­gen. Du­ckend ge­he ich hin­ter ei­nem Baum in De­ckung. Sil­ver legt sich dicht ne­ben mir flach auf die Er­de, gibt da­bei kei­nen Ton von sich. Er lau­ert, spitzt die Oh­ren eben­so wie ich. Mei­ne Hand legt sich auf den Schwert­knauf, be­reit zum Ein­satz. No­am hebt den Arm, gibt mir stumm ei­nen Hin­weis, nach oben zu se­hen. Ich fol­ge sei­nem Zeichen mit den Augen. An­ge­spannt pres­se ich die Lip­pen fest zu­sam­men, knur­re leicht, denn bei dem, was ich dort oben se­he, wird es ein lan­ger Tag wer­den. Weit über uns, hoch oben auf den Spit­zen des Sen-Ge­bir­ges, kreist der Greif ge­ra­de sei­ne Run­den, auf der Su­che nach neu­er Beu­te. Das be­deu­tet, dass sein Nest nicht im Wald liegt, son­dern ir­gend­wo über uns. Dan­ke, ihr Göt­ter, ihr amü­siert euch nun si­cher. We­ni­ger Schutz für uns, mehr An­griffs­flä­che für die­ses Biest. Es hat sei­nen Nist­platz schlau ge­wählt, denn wenn ich kor­rekt schät­ze, wer­den wir fast ei­nen hal­ben Tag brau­chen, um den Berg zu be­stei­gen. Ei­ne müh­sa­me und schweiß­trei­ben­de Auf­ga­be. Hin­zu kommt, dass wir ein or­dent­li­ches Stück Um­weg in Kauf neh­men müs­sen, um uns nicht selbst auf dem Prä­sen­tier­tel­ler zu ser­vie­ren. Wir müs­sen ver­su­chen, das Vieh zu über­ra­schen, ehe es uns die Augen aus­kratzt. »Wir soll­ten heu­te Nacht an­grei­fen, wenn er ruht«, schlägt mein Freund vor, wo­rauf­hin ich zu­stim­mend ni­cke. Dies wä­re auch mein Vor­schlag, denn es bie­tet uns den Schutz der Dun­kel­heit. Das wird die er­ste Nacht sein, die ich oh­ne Ali­ce ver­brin­ge, oben­drein sie oh­ne mich. Das be­hagt mir nicht. Ob ich will oder nicht, Sor­ge brei­tet sich in mei­nem Ma­gen aus. Was in Escher pas­siert ist, der Tod ih­rer mensch­li­chen Hül­le, ist et­was ge­we­sen, was ich nie wie­der füh­len möch­te: Die­se Ver­zweif­lung und Angst, mei­ne Part­ne­rin durch Dumm­heit für alle Zeiten ver­lo­ren zu ha­ben. Es fühlt sich nicht rich­tig an, sie dort allei­ne zu wis­sen, aber ich ha­be Ver­pflich­tun­gen, da­zu ge­hört, un­ser Reich zu schüt­zen. Ich bin froh, dass Ci­an im Schloss ver­weilt. Er wird sich um sie küm­mern, ihm ver­traue ich blind. Mein Bru­der wür­de sein Le­ben für uns ge­ben, ob­wohl die Schlacht in Escher auch ihn ver­än­dert hat. Mein lebens­lus­ti­ger, zu Scher­zen auf­ge­leg­ter Bru­der ist stil­ler ge­wor­den, manch­mal in sich ge­kehrt. Ich hof­fe, dass er die grau­en Wol­ken über sei­nem Kopf ei­nes Tages ver­trei­ben wird. Auch für ihn ist es im Kampf knapp ge­we­sen – der Troll, der ihn fast er­würgt hat. Nur durch das lebens­mü­de Ein­grei­fen von Ali­ce und To­pas weilt er heu­te noch un­ter uns.

Über uns stößt der Greif ei­nen grel­len Schrei aus, lässt mich die Ver­gan­gen­heit erst mal Ver­gan­gen­heit sein und setzt sich dann in ei­ner Fels­ni­sche nie­der, wo­mit er aus un­se­rem Blick­feld ver­schwin­det. Wo­bei ich mir si­cher bin, dass er uns nicht ge­se­hen hat, denn das Blät­ter­dach über un­se­ren Köp­fen ist dicht. »Al­so, auf gehts«, brum­me ich we­nig be­geis­tert und schla­ge mich weiter durch das Ge­hölz des Wal­des, um un­be­merkt an dem Greif vor­bei­zu­kom­men. Ra­schelnd ma­chen klei­ne Na­ge­tie­re sich aus dem Staub, wäh­rend wir so lei­se wie mög­lich sind. Die Pfer­de so­wie Sil­ver las­sen wir na­he ei­ner Lich­tung zurück. Er wird sie be­schüt­zen, denn die­ses Mal kann auch er uns nicht be­glei­ten, außer ihm wach­sen ge­schwind Flü­gel. Zu­zu­trauen wä­re das dem ver­rück­ten Wolf durch­aus.

Der Auf­stieg wird steil sein, wie ich aus Er­fah­rung weiß. Man­che Ecken sind so schwer zu er­klim­men, dass die Hän­de kaum Halt fin­den wer­den. Wir wan­dern ei­ne gu­te Stun­de weiter am Wald­rand ent­lang, ehe wir uns wirk­lich an den Fuß des Ber­ges wagen. Ein Blick nach oben lässt mich seuf­zen und ich lo­cke­re mei­ne Schul­tern, in­dem ich die Ar­me krei­sen las­se.

»Wol­len wir?« No­am reibt sich lo­sen Pu­der­sand vom Boden zwi­schen den Hän­den, ich ah­me ihm nach. So sind sie et­was grif­fi­ger.

Die er­sten Me­ter sind leicht, ein Kin­der­spiel. Stück für Stück er­klim­men wir den Berg, zie­hen uns empor, mög­lichst laut­los. Ich hö­re No­am ne­ben mir müh­sam stöh­nen, als wir un­ge­fähr die Hälf­te er­reicht ha­ben. Mei­ne Mus­keln bren­nen, mei­ne Fin­ger­kup­pen sind wund. Ge­sprä­che ver­mei­den wir, um kei­ne Auf­merk­sam­keit auf uns zu zie­hen und Kraft zu spa­ren. Wir pau­sie­ren ei­ni­ge Mi­nu­ten an ei­nem klei­nen Vor­sprung, auf dem wir bei­de kaum Platz ha­ben. Das Was­ser aus un­se­ren Feld­fla­schen kühlt mei­ne aus­ge­dörr­te Keh­le, wäh­rend die Son­ne, die schon hoch am Himmel steht, gna­den­los auf un­se­re Rü­cken scheint. Stumm ver­stän­di­gen wir uns, stei­gen weiter hin­auf. No­am lässt mir den Vor­tritt. Immer wie­der bre­chen klei­ne Fels­bro­cken un­ter uns weg, fal­len in die Tie­fe, doch das stört uns nicht. Wir sind ge­üb­te Klet­te­rer, Furcht ist uns fremd. Es ist nicht das er­ste Mal, dass wir auf solch ein Hin­der­nis stoßen – in all den Jahr­hun­der­ten, in de­nen wir schon le­ben. Nichts wird ei­nem ge­schenkt. Mut, Wil­lens­stär­ke und Durch­hal­te­ver­mö­gen brin­gen ei­nen ans Ziel.

Die Son­ne wird all­mäh­lich schwä­cher, kal­ter Win­ter­wind weht uns um die Na­se, den­noch rinnt mir Schweiß am Hals ent­lang. Un­ter mei­ner Rüs­tung klebt das Stoff­hemd wie ei­ne zwei­te Haut an mir, was mehr als un­an­ge­nehm ist, doch die­se ab­zu­le­gen, ist de­fi­ni­tiv zu ris­kant. Ein Hieb mit den Kral­len und mein Rü­cken­mark wä­re durch­trennt, falls der Greif uns ent­deckt. Das letz­te Stück ist der schwers­te Teil. Nicht nur die Stei­gung, son­dern auch die bren­nen­den Mus­keln tra­gen da­zu bei. Ein kur­zer Blick hi­nab, und ich ent­de­cke Sil­ver im Schat­ten der Bäu­me. Er be­ob­ach­tet uns. Ich spü­re sei­nen Blick an­kla­gend im Na­cken, weil er hat zurück­blei­ben müs­sen. Stu­res Vieh. Ich möch­te vor Er­leich­te­rung auf­schrei­en, als ich end­lich an der ge­plan­ten Stel­le an­kom­me. Müh­sam, mit zit­tern­den Mus­keln, zie­he ich mich das letz­te Stück hin­auf. Kurz nach mir hievt No­am sich über die Kan­te, bleibt ne­ben mir lie­gen.

»Ich has­se das«, haucht er außer Atem.

»Oh, glaub mir, ich auch, mein Freund. Und wie.«

Kapitel Drei

Die Mit­tags­zeit ist längst vor­über und noch immer lässt Keo­na nicht nach mir ru­fen. Wie ich es has­se! Kann sie nicht ein­fach ei­ne Zeit aus­ma­chen und gut? Zu­ge­ge­ben, oh­ne Uhren dürf­te das na­tür­lich schwer sein, aber die­se Art und Wei­se ist mehr als ner­vig. Ich weiß nicht mal, ob der Tag hier auch vier­und­zwan­zig Stun­den hat. Die­ses ewi­ge War­ten ist schre­cklich. Ge­duld ist so­wie­so nicht mei­ne Stär­ke und man kann ja­wohl Be­scheid ge­ben, wann es un­ge­fähr so weit ist. Wie wä­re es mit, wenn die Son­ne mit­tig am Himmel steht oder nach dem Mit­tag? Ich könn­te die­se Zeit für tausend an­de­re Din­ge nut­zen. Bogen­schieß­trai­ning zum Bei­spiel oder le­sen – weiß der Gei­er, was noch. Nutz­lo­ses Rum­hän­gen, da­bei Däum­chen dre­hen und war­ten, raubt mir echt den letz­ten Nerv.

Mür­risch wer­fe ich mir ei­nen fins­te­ren Blick im Spiegel zu. Ra­cel­la ist vor ei­ni­ger Zeit ver­schwun­den, da man sie als Außen­wa­che ein­ge­teilt hat. Nicht mal die­se Ab­len­kung ist mir ge­stat­tet. Aller­dings hat sie wohl auch er­war­tet, dass ich mitt­ler­wei­le zur Au­dienz bei der Kö­ni­gin bin. Sie hat mich un­gern allei­ne ge­las­sen, aber kei­ne Wahl ge­habt – Be­fehl ist Be­fehl. Dem Kö­nig wi­der­spricht man nicht, außer man heißt Cri­spin. Außer­dem bin ich kein Kind mehr. Auch wenn es mir kei­ner glaubt, ha­be ich die letz­ten Jah­re ganz gut allei­ne über­lebt, als ich wäh­rend des Stu­diums weit weg von mei­nen Eltern in ei­ner an­de­ren Stadt ge­wohnt ha­be. Nicht ver­gleich­bar mit hier, aber es gibt in der al­ten Welt eben­so ge­fähr­li­che Ecken. Ich ha­be für mich selbst sor­gen müs­sen – ko­chen, allei­ne rei­sen. Ich bin ein gro­ßes, durch­aus toug­hes Mäd­chen.

Ein Pol­tern lässt mich schmun­zeln. Ich dre­he mich lang­sam zum Fens­ter um und weiß, was mich er­war­tet. To­pas ist end­lich auf­ge­stan­den, star­tet ei­nen lauts­tar­ken Ver­such, um zurück ins Zim­mer zu kom­men, und quetscht sich durch das Fens­ter. Mit den vor­de­ren Bei­nen ver­sucht er, sich hin­ein zu stem­men, stöhnt da­bei wie ein al­ter Mann. Be­lus­tigt kräu­seln sich mei­ne Mund­win­kel bei die­sem Spek­ta­kel und ich leh­ne mich zurück. Er wird in mei­nem Zim­mer ge­dul­det, je­doch nicht im rest­li­chen Schloss, da ist der Kö­nig mehr als deut­lich ge­we­sen. Soll­te ei­ner der Wachen ihn außer­halb mei­nes Zim­mers se­hen, wer­den sie ihn an­grei­fen und tö­ten. Na ja, das sol­len sie erst mal wagen. Der Kö­nig hat in Wirk­lich­keit schre­ckli­che Angst vor mei­nem sü­ßen Dra­chen. Et­was, das ich immer schön im Hin­ter­kopf be­hal­ten wer­de. To­pas Schwanz zuckt hin und her wie bei ei­ner Kat­ze und sei­ne gol­de­nen Augen mus­tern mich er­war­tungs­voll, als er es end­lich schafft, sei­nen mas­si­gen Körper auf den Boden zu brin­gen. »Ja, dann komm her«, seuf­ze ich, klop­fe auf mei­ne Schen­kel, wo­rauf­hin sei­ne kur­zen Bei­ne fast über den Boden flie­gen, so schnell rennt er auf mich zu. Er wirft sich vor mir auf den Rü­cken, schlit­tert da­bei das letz­te Stück, und ent­blößt da­bei sei­nen hel­len Bauch. Sei­ne Schup­pen glän­zen leicht im Son­nen­licht und se­hen aus wie klei­ne Dia­man­ten. Er ist voll­kom­men und wun­der­schön. »Du bist so ge­fähr­lich wie ein Kälb­chen«, stöh­ne ich, noch immer be­lus­tigt und be­gin­ne sanft, sei­nen Bauch zu krat­zen. Er gurrt ver­zückt auf, wo­bei sein Hin­ter­bein zuckt. Ich muss herz­haft la­chen, denn die­ses Bild ist je­des Mal gött­lich: ei­ne töd­li­che Krea­tur, ein woh­li­ges Sum­men und das be­ben­de Bein. Ich sa­ge ja, ein Kälb­chen. Wenn ich nicht selbst ge­se­hen hät­te, wie töd­lich sei­ne Kral­len sind, als er in As­tas Ver­lies die Ra­ben ge­tö­tet hat, wür­de ich es kaum glau­ben.

Es sind erst ein paar Mi­nu­ten ver­gan­gen, als es lei­se klopft. To­pas hebt ver­stimmt den Kopf, knurrt er­bost, denn er will weiter ge­krault wer­den. Stun­den über Stun­den, wenn es nach ihm geht. Da­von be­kommt er nie ge­nug. Mein Arm ist da­nach immer kurz vorm Ab­fal­len, doch er for­dert weiter­hin Strei­che­lein­hei­ten. Cri­spin meint, ich ver­wöh­ne ihn zu sehr. Er hat ver­mut­lich recht, aber ich kann nicht an­ders. Ich lie­be die­ses klei­ne Kerl­chen ein­fach. »Her­ein!« Er­war­tungs­voll rich­tet sich mein Blick zur Tür. To­pas er­hebt sich ein Stück­chen, sei­ne Augen zu Schlit­zen ver­engt, neu­gie­ri­ger Kerl.

»My­la­dy, habt Ihr mich ver­misst? Ach, was fra­ge ich, selbst­ver­ständ­lich habt Ihr das! End­lich ist mein Bru­der aus dem Haus, al­so kann ich Eu­er Ge­mach auf­su­chen.« Ci­an be­tritt gut ge­launt mein Zim­mer, wo­rauf­hin ich ge­spielt ge­nervt die Augen ver­dre­he.

»Lass Cri­spin sol­che Sprü­che hö­ren und er zieht dir die spit­zen Oh­ren lang«, war­ne ich ihn ne­ckend mit er­ho­be­nen Zei­ge­fin­ger. Er zwin­kert mir frech zu, grinst da­bei breit von ei­nem Ohr zum an­de­ren. Der Schalk spiegelt sich in sei­nen Augen wi­der. Ci­an hat heu­te be­son­ders gu­te Lau­ne. Na­tür­lich ist er nicht we­gen Cri­spin mei­nem Zim­mer fern­ge­blie­ben, son­dern weil er heu­te die Auf­sicht über die Wachen ge­habt hat, so­lan­ge No­am und sein Bru­der fort sind. So ist er. Es ist nur Spaß, mit dem ich aus­ge­zeich­net um­ge­hen kann – Cri­spin mal mehr und mal we­ni­ger. Ich glau­be, er ist das ty­pi­sche Al­pha­männ­chen, das sich ver­tei­di­gen muss, wenn je­mand in sei­nem Re­vier wil­dert, egal wer es in dem Mo­ment ist. Es wür­de ihn är­gern, sehr so­gar, ge­nau des­halb wür­de Ci­an auch scham­los weiter ma­chen, wenn er hier wä­re. Brü­der eben, sie lie­ben und strei­ten sich.

Ci­an lässt sich auf ei­nen der Holz­stüh­le fal­len und streckt sei­ne lan­gen Bei­ne von sich weg. Seit dem Vor­fall in Escher, bei dem er fast ge­stor­ben ist, hat er sich ver­än­dert. Nicht nur äu­ßer­lich. Ich neh­me mir ei­nen Mo­ment, ihn zu mus­tern, er trägt sein Haar jetzt viel kür­zer, alles an ihm ist an­ders. Sein gan­zes Auf­tre­ten wirkt er­wachs­ener, we­ni­ger ver­spielt, selbst sein Ge­sicht scheint här­ter. Sei­ne Stim­me ist immer noch rau, als hät­te der Troll sei­ne Stimm­bän­der dau­er­haft ver­letzt. Cri­spin hat mir ver­si­chert, dass es mit der Zeit hei­len wird. Bei El­ben heilt es glü­ckli­cher­wei­se, man­ches braucht le­dig­lich Zeit. Ver­mut­lich macht solch ei­ne Nah­tod­er­fah­rung so was mit ei­nem, letzt­lich bin auch ich nicht mehr die, die ich einst ge­we­sen bin – gleich­zei­tig steckt die al­te Ali­ce weiter­hin in mir. Wie ein al­tes Kleid, das nicht mehr so gut passt, den­noch im Schrank hängt. Ein Er­in­ne­rungs­fet­zen. Aber ich bin nicht be­reit, es gänz­lich weg­zu­le­gen. Ci­an ver­schränkt die Ar­me hin­ter dem Kopf. »Als hät­te er ei­ne Chan­ce ge­gen mich. Ich weiß, dass du eigent­lich mich hast ha­ben wol­len, hol­de Maid. Du musst nichts sa­gen, wir bei­de ken­nen die Wahr­heit.«

»Oje, bist du be­trun­ken?«, ne­cke ich ihn, wo­rauf­hin er auf­springt und mich an den Hän­den packt, hoch­zieht, mich um mei­ne eige­ne Ach­se dreht. In sol­chen Mo­men­ten ist er wahr­haf­tig der al­te, der ver­spiel­te, leicht ver­rück­te jün­ge­re und un­be­sorg­te Prinz. Ich wün­sche ihm, dass er die­se Sei­te wie­der­fin­det. To­pas knurrt un­er­freu­lich, denn so kann ich ihn immer­hin schlecht krau­len, al­so wirft er Ci­an an­kla­gen­de Bli­cke zu, die deut­lich ver­mitteln, dass er ab­hau­en soll. To­pas be­herrscht dies für ei­nen Dra­chen durch­aus per­fekt, doch Ci­an ig­no­riert ihn ri­go­ros.

»Nein, nur gut ge­launt, My­la­dy. Mutter schickt mich. Ich, hol­de Maid, bin dein Ge­leit zu ihr. Ich se­he dir dei­ne Freu­de deut­lich an.«

»Ju­hu!« Mei­ne Stim­me trotzt vor Iro­nie, denn mir fal­len auf An­hieb tausend schö­ne­re Sa­chen ein, die ich lie­ber ma­chen möch­te. Cri­spin zu küs­sen, steht ganz oben auf der Lis­te, und ich fra­ge mich oh­ne­hin, wo er bleibt. Ich ha­be er­war­tet, dass sie eher zurück sind. Immer­hin ist er im Mor­gen­grau­en auf­ge­bro­chen. Jetzt ha­ben wir weit nach Mit­tag.

»Ja, ich weiß, dei­ne Be­geis­te­rung ist rie­sen­groß. Des­we­gen ha­be ich dich vo­rab et­was auf­hei­tern wol­len. Er­folg­los, wie mir scheint.«

»Das ist dir nicht ge­lun­gen, Ci­an, rich­tig. Kein Stück, aber weißt du, wann Cri­spin zurück­kommt?« Ich schaue aus dem Fens­ter. Die Son­ne steht schon hoch am Himmel, und ich seh­ne mich tat­säch­lich nach ihm, das wür­de mich wirk­lich auf­hei­tern. Ich möch­te mit ihm spre­chen, wis­sen, wie sein Tag ge­we­sen ist. Ci­an wird augen­bli­cklich still und mei­ne Alarm­glo­cken läu­ten. Da ist et­was im Busch, die­sen Blick ken­ne ich. »Was ist los?«, ver­lan­ge ich so­fort zu wis­sen, doch Ci­an zö­gert, über­legt an­schei­nend, mir aus­zu­weichen. Das kann er ver­ges­sen. Ich ver­schrän­ke die Ar­me vor der Brust.

»Das wird ei­ne lan­ge Nacht für dich wer­den, Prin­zes­sin. Ich kann mich zu dir set­zen, wenn dir lang­wei­lig ist, da­für er­zählst du mir von der Er­de, denn ich fin­de es so span­nend, was es dort alles zu ent­de­cken gibt. Raum­schif­fe, die die Ster­ne be­rei­sen zum Bei­spiel. Ich wür­de un­se­re Schatz­kam­mer plün­dern, um das zu er­le­ben. Oder ein Stück von die­ser Scho­ti­ra­de es­sen, von der du so schwärmst.«

»Hä? Noch mal von vor­ne. Es heißt üb­ri­gens Scho-ko-la-de. Wie­so wird es ei­ne lan­ge Nacht wer­den, was ist los?« Ci­an ver­wirrt mich to­tal, was er so gut be­herrscht wie kein an­de­rer. Er springt immer von ei­ner Sa­che zur näch­sten, egal ob wir ihm fol­gen kön­nen oder nicht.

»Cri­spin und No­am ma­chen Jagd auf ei­nen Greif. Weißt du, die­ses Tier mit dem Kopf ei­nes Vogels, Körper ei­nes Lö­wen – so in et­wa. Ge­fähr­li­ches Vieh. Ich kann dir spä­ter ein Bild in der Biblio­thek her­aus­su­chen, wenn du willst. Ich ha­be noch kei­nen ge­trof­fen, den Göt­tern sei Dank. Vor mor­gen wer­den sie mit Si­cher­heit nicht auf­tau­chen. Fie­se Bies­ter, wirk­lich. Schar­fe Schnä­bel, spit­ze Klau­en. Blut­rüns­tig. Die darf man nicht un­ter­schät­zen. Sie kön­nen ei­nem Mann wie mir mit ei­nem Schna­bel­hieb den Arm durch­tren­nen.« Mir wird kalt. Wie bit­te? Grei­fe? Hat Ci­an sich ge­ra­de selbst zu­ge­hört? Das klingt furcht­bar. Nett, dass er mir das so aus­schmückt. Manch­mal sind die El­ben un­mög­lich. Of­fen­sicht­lich merkt Ci­an selbst, wie schre­cklich sei­ne Wor­te klin­gen und er lä­chelt ver­le­gen. »Äh, al­so mach dir kei­ne Sor­gen. Mein Bru­der kann das. Er hat schon öf­ter solch ei­nen gro­ßen Vogel ge­rupft.«

Das soll mich jetzt be­ru­hi­gen? Eher we­ni­ger. Ci­ans Fein­ge­fühl ist gleich null. Mein Ma­gen ru­mort, wäh­rend mein Herz ver­däch­tig klopft. Mir ist nicht wohl bei dem Ge­dan­ken. Ich möch­te lie­ber da­bei sein. Viel­leicht könn­te ich so­gar hel­fen. Ich schlin­ge die Ar­me um mei­nen Ober­körper, als könn­te ich mich so selbst trös­ten. »Mor­gen erst? Sen­det ihr Ver­stär­kung, wenn das Vieh so ge­fähr­lich ist?«

»Nein, sie müs­sen schnell sein. Bis wir da sind, ist es zu spät. Grei­fe lo­cken rasch weite­re Grei­fe an und das will kei­ner. Ein Nest von de­nen ist tat­säch­lich hei­kel. Das willst du nicht er­le­ben. Vor et­li­chen Jah­ren ha­ben sie mal ei­nen gan­zen El­ben­trupp ab­ge­schlach­tet. Sie sind auf Pa­trouille ge­we­sen, auf ein Nest ge­stoßen, und … ja, das kannst du dir wohl den­ken. Aber die bei­den schaf­fen das. Was glaubst du, was dein Ge­fähr­te all die Jah­re er­lebt hat? Letz­tes Jahr ha­ben er und No­am ei­nen Ba­si­lis­ken er­legt. Ich wür­de es leug­nen, wenn du es ihm spä­ter er­zählst, aber mein Bru­der ist schon un­ser be­ster Krie­ger. Wirk­lich.«

Ich na­ge an mei­ner Lip­pe. Sor­ge brei­tet sich weiter in mir aus. »So ein Vieh wie das von Har­ry Pot­ter, wel­ches Leu­te ver­stein­ern lässt?« Ich has­se die­se Welt manch­mal. Ein Ba­si­lisk kommt sog­leich auf die Lis­te der We­sen, die ich hier nie­mals tref­fen möch­te.

»Wer ist Har­ry? Noch nie ge­hört. Aber ja, so in et­wa läuft das ab. Oder da­mals, als ein Ghul ihm fast den Arm ab­ge­trennt hat.«

»Ein was?«

»Ein Ghul, ein Lei­chen fres­sen­der Dä­mon, trifft man oft nach gro­ßen Kämp­fen. Sie sind Aas­fres­ser. Er hat sie beim Schla­fen über­rascht. Cri­spin re­det nicht gern da­rüber. Du kannst dir si­cher­lich den­ken, wie­so, oder? Aber du siehst, es gibt kei­nen Grund, sich Sor­gen zu ma­chen. Immer­hin hat er noch bei­de Ar­me.«

Nicht, dass ich an bei­den zweif­le, doch wenn die­ses Vieh wirk­lich so ge­fähr­lich ist … Himmel und dann ein Ghul? Der kommt eben­falls auf die Lis­te der We­sen, die ich hier nicht ken­nen­ler­nen will. Mein Blick huscht zu To­pas. Wir sind zu lang­sam, aber er? Dra­chen sind schnell, oder? So rich­tig schnell, wenn es stimmt, was ich in den al­ten Bü­chern ge­le­sen ha­be. »Wür­de To­pas recht­zei­tig bei ihm sein?«, er­kun­di­ge ich mich, wo­rauf­hin sich Ci­an den Na­cken reibt. Er denkt nach, mus­tert To­pas, der sich zu ei­ner Kugel zu­sam­men­ge­rollt hat und un­übe­rhör­bar schnarcht, ehe er nickt.

»Ich den­ke, ja, Dra­chen sind viel schnel­ler als wir, weil sie flie­gen wie die­se Din­ger bei euch. Flu­gau­tos?«

»Flug­zeu­ge«, ver­bes­se­re ich ihn und mir ge­nügt sei­ne Ant­wort, al­so knie ich mich ne­ben To­pas hin, stup­se ihn sanft an. Er brummt miss­mu­tig. Sein Blick spricht Bän­de, er hat kei­ne Lust, sich zu be­we­gen. »To­pas, du musst Cri­spin fin­den. Viel­leicht braucht er dei­ne Hil­fe, denn du weißt ja, oh­ne dich ist er ver­lo­ren«, schmeich­le ich dem Ego mei­nes Dra­chens – das zieht … und wie. Er hört mir auf­merk­sam zu, wo­bei sich sei­ne Rep­ti­lie­nau­gen zu­sam­men­zie­hen und ei­ne klei­ne Flam­me aus sei­nem Mund aus­tritt. »Bit­te, tue mir die­sen Ge­fal­len.« Ich strei­che über sei­nen weichen Kopf, wo­rauf­hin er lei­se schnurrt. »Du weißt doch, wie sehr ich mich auf dich ver­las­se.« Dann er­hebt er sich, streckt sei­nen Körper durch, so­dass sei­ne Kno­chen kna­cken. Er dehnt sich so aus­gie­big, dass es schon lach­haft ist und dies in ei­nem ziem­lich ge­mäch­li­chen Tem­po. Das, was ich an Sor­ge in mir tra­ge, hat To­pas an Ge­las­sen­heit. Ich er­he­be mich eben­falls, schen­ke Ci­an ein ehr­li­ches Lä­cheln, was er mit ei­nem an­er­ken­nen­den Ni­cken er­wi­dert. Das Wis­sen, dass To­pas Cri­spin hel­fen wird, be­ru­higt mich im­mens.

To­pas trot­tet zum Fens­ter, quetscht sich wie­der hin­durch, wo­bei sei­ne Hin­ter­bei­ne kurz stram­pelnd im Rah­men ste­cken blei­ben, und er sich dann mit ei­nem Schrei fal­len lässt. Ich schwö­re, das macht er je­des Mal ex­tra, um alle Vögel auf­zu­scheu­chen, die auch direkt er­bost in den Baum­kro­nen piep­sen. »Du musst schon et­was schnel­ler flie­gen«, ru­fe ich er­mah­nend hin­ter­her, wohl wis­send, dass er mich hört, wäh­rend er sich dra­ma­tisch in die Tie­fe stürzt. Klei­ne Dra­ma­queen. Ein bun­ter Vogel flat­tert an ihm vor­bei, den er am Stück und has­tig ver­schlingt. Mei­ne Hand legt sich auf mei­nen Bauch. Himmel, ich wün­sche, das wür­de er nicht ma­chen, wenn ich zu­se­he.

»Du füt­terst ihn zu gut«, ta­delt Ci­an mich, wo­rauf­hin ich auf­la­chen muss. »Er wird zu fül­lig. Du soll­test ihm bei den Pfer­den ei­ne Box be­sor­gen. Das wä­re an­ge­mes­sen. Es ist kein Schoß­tier.«

»Wie bit­te? Er be­kommt nichts von mir, er sucht sich sein Fut­ter drau­ßen. Und dann er­klär du ihm das mal mit dem Stall. Er wird dich rös­ten. Du wirst wie ein klei­nes Brat­hähn­chen aus­se­hen, wenn er mit dir fer­tig ist.«

»Ach, nein? Ich ha­be sehr wohl be­merkt, dass du abends immer Hähn­chen­keu­len mit auf dein Zim­mer nimmst.«

So viel zum The­ma Hähn­chen. Ich wer­de rot. »Äh, ich ha­be nachts oft Hun­ger.«

»Schwind­le­rin!«