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"Oh warte, wie hat sie dich neulich genannt? Obermacker? Was zum Oger ist ein Obermacker?" Fegoria - so nah und doch so fern von unserer Welt. Alice hat ihren Platz an der Seite ihres Gefährten, dem Prinzen der Elben, und in ihrem neuen Zuhause akzeptiert. Wo ein Teil seines Volkes durch diese Verbindung neue Hoffnung schöpft, müssen sie sich auf der anderen Seite gegen Misstrauen und Furcht starkmachen. Gemeinsam kämpfen sie für Seelengefährten und ein neues Fegoria, in dem ein friedliches Zusammenleben, für all jene, die dazu bereit sind, möglich ist. Doch nicht nur die Elben erkennen ihre Chance auf einen Neuanfang, auch haben die Albe Pläne mit ihr – finstere Pläne. Um sie von ihrem Vorhaben zu überzeugen, ist ihnen nicht nur jedes Mittel recht, sie bringen Alice damit sogar in solch eine bedrohliche Lage, dass sie nur noch eines will: den Tod des Kronprinzen der Elben, Crispins Ableben! Wird er es schaffen, über sich hinaus zu wachsen und Alice zu retten? Dieses Mal liegt es in seiner Hand, Castiell und Asta die Stirn zu bieten.
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Seitenzahl: 419
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Fegoria - Gefährliche Wege
Roman
Annika Kastner
Erstausgabe im Oktober 2019
Copyright © 2019
Alle Rechte beim Booklounge Verlag
Booklounge Verlag, Sabrina Rudzick
Johann-Boye-Str. 5, D-23923 Schönberg
www.booklounge-verlag.de
Coverbild: curaphotography
9783947115105
Widmung
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechzehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
Kapitel Zwanzig
Kapitel Einundzwanzig
Kapitel Zweiundzwanzig
Kapitel Dreiundzwanzig
Kapitel Vierundzwanzig
Kapitel Fünfundzwanzig
Kapitel Sechsundzwanzig
Kapitel Siebenundzwanzig
Danksagung
Personen und Orte
Playlist
Die Autorin
Herzlich willkommen zurück in Fegoria – Gefährliche Wege. Während Alice im ersten Band hat lernen müssen, dass es für sie kein Zurück gibt, wachsen sie und Crispin in diesem Teil über sich hinaus. Vor allem Crispin muss einen harten Weg beschreiten, in dem er auch sehr viel über sich selbst lernen wird.
Ich danke euch, dass ihr dieses Abenteuer mit mir zusammen erlebt, dass ihr mit Herzblut mitfiebert. Deswegen widme ich dieses Buch euch, denn ohne euch würde niemand erfahren, dass es Fegoria gibt, verborgen auf der anderen Seite eines Berges. Also schaut euch nächstes Mal genau um: Spürt ihr den Wind in den Haaren?
Außerdem widme ich es meinem Mann Philipp, meinem persönlichen Helden in meinem Märchen, und meinem Sohn Joshua, der noch viele Abenteuer erleben wird. Meiner Familie, ein ziemlich verrückter Haufen, und meiner wundervollen Sylvia, Cosima und Sarah. Mädels, ihr seid die besten Freundinnen der Welt, aber ich denke, das wisst ihr.
Und nun, taucht ab in die Welt von Fegoria. Aber gebt acht, dass ihr nicht auch mal über einen Troll stolpert oder einen Zwerg verärgert.
Vogelgezwitscher weckt mich. Ich öffne verschlafen die Augen, blinzle einige Male, um den Schlaf zu vertreiben. Die dicke, weiche Decke ist bis zu meiner Nase hochgezogen, lässt mich kurz schmunzeln. Ich wette, dass Crispin sie wieder unter der Matratze festgesteckt hat, damit ich sie nicht weg trample. Nachts quälen mich immer Albträume, in denen ich in Astas Haus, im Gewölbe, gefangen bin. Erinnerungen, Gedankenfetzen vermischen sich mit wahnwitzigen Träumen und lassen mich schweißgebadet aufwachen, sobald Crispin beruhigend auf mich einredet. Er drängt mich nie, über das Erlebte zu sprechen, hört aber aufmerksam zu, wenn ich mich doch traue, mich diesen Erinnerungen zu stellen. Das, was mir widerfahren ist, sitzt mir tief in den Knochen und die Nächte fürchten mich mehr, als ich zugeben mag.
Heute ist allerdings ein guter Morgen. Mein Schlaf ist sehr erholsam gewesen, also liegt ein Lächeln auf meinen Lippen. Dem Himmel sei Dank, häufen sich solche Nächte in letzter Zeit. Man sagt, Zeit heilt alle Wunden – vielleicht stimmt es und auch über Erinnerungen bildet sich ein Narbengewebe, das man zwar spürt, aber nicht mehr so präsent ist wie am Anfang. Ich hoffe es jedenfalls. Ich habe etliche Jahre Zeit. Immerhin bin ich quasi unsterblich, was ich immer noch kaum glauben kann.
Das Bett neben mir ist verwaist, wie ich mit einem Blick zur Seite feststelle und schon erahnt habe. Ich bin nicht aufgewacht, als Crispin gegangen ist, weil er sich so lautlos wie ein Ninja bewegt, womit ich ihn ständig aufziehe, auch wenn er nicht versteht, was genau ein Ninja ist. Ich weiß nämlich, dass er heute mit Noam zu einem der Grenzposten muss und dass sie in den Morgenstunden aufbrechen wollen. Gerne wäre ich mitgekommen, um weitere Ecken Fegorias zu entdecken, doch jetzt fällt mir siedend heiß ein, wieso ich nicht mitgehen habe können: Keona, Crispins Mutter, wünscht mich heute zu empfangen. Allein der Gedanke an dieses Treffen lässt mich in Schweiß ausbrechen, obendrein ist mir wirklich nicht wohl dabei. Auch wenn ich nun schon länger hier bin, so wirklich warm werde ich mit der Königin nicht. Aber verdammt, da muss ich durch. Ich will die Frau an Crispins Seite sein, dann werde ich wohl oder übel solche Treffen in Kauf nehmen müssen. Es wird vermutlich nicht die letzte Begegnung sein. Wenn ich ein normales Leben anvisiere, muss ich lernen, ihr gegenüberzutreten und mich auch zu behaupten. Dabei ist sie nicht mal so schlimm wie der König. Dieser ignoriert mich in jeder Hinsicht, verhält sich, als sei ich Luft, was mir nur recht ist. Beschweren tue ich mich deswegen gewiss nicht. Ich weiß, dass er unsere Beziehung nicht billigt, er hat es immerhin laut genug hinausposaunt, doch er hat keine Wahl, denn Crispin steht zu dem Wort, welches er mir gegeben hat. Die Kälte, die ich am Anfang zu spüren bekommen habe, strahlt er jetzt an jene aus, die gegen unsere Verbindung sind. Wie eine unnachgiebige Mauer steht er vor allen Zweiflern. Es kommt mir vor, als sei es die Ruhe vor dem Sturm, was Elon betrifft, deshalb bin ich jederzeit auf der Hut.
Ich vergesse nicht, wie meine Ankunft in Fegoria verlaufen ist, dass er mich eingesperrt, mir meine Freiheit geraubt und mich obendrein meinem Tod überlassen hat, als sei ich ein Niemand. Seine Worte, ich bin lediglich von Nutzen, solange ich ihm einen Vorteil verschaffe, habe ich mir gut gemerkt. Gleichwohl bedeutet dies mein Ableben, sobald ich dieser besagte Vorteil nicht mehr sein werde. Um das zu wissen, muss ich kein Genie sein, den imaginären Sensenmann hat er präsent auf seiner Schulter sitzen. Der Einzige, der zwischen ihm und seiner Drohung steht, ist mein Gefährte, Crispin. Na ja, Cian und Noam würden sich sicher auch für mich einsetzen – dieses Wissen lässt mich besser schlafen. Crispin und sein Vater geraten immer wieder in Streit, wenn es um mich geht. Mein Gefährte ist nicht mehr der folgsame Sohn, der ausschließlich Befehle ausführt. Nein, seine Ambitionen haben sich verändert, er hat sich verändert. Sein Vater und vor allem sein Volk merken dies deutlich. Er strahlt die Kraft eines Anführers aus, zu dem das Volk aufblickt. Egal, ob Elon es glaubt oder nicht, ich bin Crispins Seelengefährtin, somit ist unser Bund heilig, wenn ich das richtig verstanden habe. Das heißt, wenn er die Götter nicht verärgern will, darf er mir sowieso nicht schaden. Selbst Kelalan, der alte Zauberer an seiner Seite, betont dies stetig, was etwas bedeuten mag, denn diese ganze Seelengefährtensache ist wirklich schwer zu begreifen. Vor allem auch schwer zu glauben, wenn man wie ich von der Erde kommt, die kurioserweise direkt neben Fegoria verläuft. Oder ist es ein Paralleluniversum? Weiß der Geier! Das werde ich wohl nie kapieren. Den letzten großen Streit zwischen Crispin und seinem Vater habe ich noch bildlich vor Augen. Beide haben vor Zorn gerötete Köpfe gehabt, eine Ader an Crispins Hals ist deutlich hervor getreten und nur mit Mühe und Not ist es dank Noam nicht in einer Prügelei eskaliert. Crispin hat seinen Standpunkt abermals so deutlich klargestellt und lautstark vertreten, dass der König es hingenommen hat. Vorerst. Ich mache mir da nichts vor, das Thema wird eher früher als später erneut auftauchen. Bei jedem dieser Treffen wird dermaßen gebrüllt, dass die Wände im Schloss wackeln und die Dienstboten den Korridor zum Thronsaal meiden – aus Angst, ins Schussfeld zu geraten. Meine Herren, diese Welt ist kompliziert.
Seit vier Wochen sind Crispin und ich zurück im Nebelwald, haben Escher und die erste Schlacht hinter uns gelassen. Wir haben Asta und Castiell das erste Mal gemeinsam die Stirn geboten, wobei ich durch Asta mein menschliches Leben verloren habe und zu einer Albin geworden bin. Eine Unsterbliche, wohlgemerkt. Eine Albin, ja. Langsam gewöhne ich mich daran, dass sich das Gesicht, welches mir morgens im Spiegel entgegenblickt, verändert hat. Die Zeit rennt wie im Flug, doch allmählich lebe ich mich hier ein, auch wenn mir meine Welt schmerzlich fehlt. Die Akzeptanz, dass der Weg zurück für immer versperrt ist, klappt an manchen Tagen besser, an manchen schlechter. Bei dem ganzen Stress würde ich mir zu gern ein Stück Schokolade auf der Zunge zergehen lassen oder einfach meine Kopfhörer in die Ohren stecken und meine Spotifyliste anhören. Mit der Zeit werde ich mich bestimmt noch besser einleben und eine neue Aufgabe finden – insbesondere wie ich Crispin unterstützen und ein Teil von all dem hier werden kann.
Mir ist bekannt, dass der König mich sehr wohl weiterhin beschatten lässt, was ich natürlich akzeptiere. Dass Albe die Todfeinde der Elben sind, rechtfertigt dies ein kleines bisschen, auch wenn ich mich frage, was er denkt, wie ich handeln sollte. Crispin würde ausrasten, wenn ich es ihm erzähle, deshalb behalte ich es besser für mich. Der König macht dies nur, wenn er weiß, dass Crispin nicht zugegen ist – kluger Kerl. Crispin würde es sofort bemerken. Es ist sowieso ein Wunder, dass Noams Vögelchen, wie er sie nennt, nicht geflötet haben. Soll der König mich doch beobachten, wenn es ihn glücklich macht. Er wird merken, dass ich genauso langweilig bin, wie ich immer gesagt habe. Ich will keinen Ärger, sondern Frieden, und das im besten Fall weit weg von Raben, Orks und was hier noch umher kriecht. Ja, so sieht mein Plan aus. Den werde ich versuchen, in die Tat umzusetzen.
Ich verbringe die Zeit mit lesen, lernen und meinen neuen Freunden. Jede Minute, die Crispin und ich für uns alleine haben, ist wertvoll und wunderbar. Weil ich weiß, dass es in dieser mittelalterlichen Welt von Nöten ist, trainiere ich weiter. Asta hat mit seinem Blutzauber ganze Arbeit geleistet – immer wieder kann ich plötzlich neue Dinge, lerne zudem sehr schnell, mit Schwert und Bogen umzugehen. Kelalan darf nicht mehr in meine Nähe kommen, was bedeutet, dass ich ebenfalls Ruhe vor ihm habe. Der alte Zauberer hat seine Sympathien bei mir verspielt, da er es gewesen ist, der mich zu Asta gebracht und mich trotz meines Flehens dort gelassen hat. Auch wenn er sich gerne als weise betrachtet, ist dies nicht seine beste Entscheidung gewesen, was er sogar selbst bemerkt hat. Fast hat dies nicht nur mein Leben gekostet, sondern ebenso das der Prinzen, aber dies scheint Elon zu verzeihen.
Kelalan und Crispin haben ebenfalls in einer hitzigen Auseinandersetzung gesteckt, die nur seine Mutter hat stillen können. Ich glaube, Crispin hätte ihn am liebsten aus dem Schloss geworfen, was lächerlich ist. Er hat ja nicht ahnen können, wie Asta wirklich ist, das gestehe ich ihm zu. Dass Asta geplant hat, mich zu töten, damit ich als Albin wiedererweckt werde, um an der Seite des Prinzen zu herrschen, hat er nicht in seinen kühnsten Träumen kommen sehen. Asta hat sie alle hinterrücks verraten, dieser grausame Sadist. Die Tage in seinem Kellergewölbe, mehr tot als lebendig, jagen mir Schauer über den Rücken. Krähen werde ich nie mehr sorglos ansehen können, das ist sicher. Zusammengefasst: Ich werde Kelalan so schnell nicht mehr trauen, dieses Privileg hat er verspielt. Wenn ich wollen würde, könnte ich mich wieder von dem Zauberer unterrichten lassen, doch ich habe keinerlei Bedarf. Aktuell jedenfalls. Bei meiner Ankunft hat er mich die Geschichte Fegorias gelehrt – die Orte, Wesen und Stammbäume des Elbenhauses. Wenn ich ehrlich bin, bin ich noch verdammt wütend auf ihn, weil er mich seinerzeit bei Asta zurückgelassen hat. Ich habe ihn angefleht, mich mitzunehmen, aber es hat ihn nicht interessiert. Diese Grübelei – genug damit!
Ich strecke mich genüsslich in den weichen Laken aus, mein Blick wandert durch das Zimmer und bleibt am Kamin hängen. Ein warmes Feuer prasselt in ihm, vertreibt auf wohlige Weise die winterliche Kälte aus dem Zimmer, auf dessen Fensterbank Frost glitzert. Topas, mein nicht mehr ganz so kleiner Drache, liegt zusammengerollt auf einem weichen Fell, schnarcht leise vor sich hin. Ab und zu entweicht ihm dabei etwas Ruß aus der Nase, welches sich vor ihm auf seinem Schlafplatz ausbreitet. Er hat mittlerweile das Ausmaß eines kräftigen Rottweilers erreicht und ist kein Vergleich mehr zu dem kleinen Drachen, der sich damals in meinem Schrank versteckt hat. Wenn es nach ihm geht, würde er auch weiterhin mit im Bett schlafen, doch Crispin hat ihn rigoros verbannt. Ich muss grinsen, als ich daran denke, wie der Drache ihm aus Frust eine Ladung Ruß ins Gesicht gepustet hat. Er hat ausgesehen wie der Schornsteinfeger persönlich und seine Augen haben vor Wut fast selbst Funken gesprüht. Herrlich. Er ist so aufgebracht gewesen! In solchen Momenten hätte ich zu gerne eine Kamera dabei, um es für die Ewigkeit festzuhalten. Wenn ich wirklich unsterblich bin, wie soll ich mich dann ein Leben lang an gewisse Augenblicke erinnern? Wird meine alte Familie über die Jahrhunderte verblassen?
Mit Schwung setze ich die Beine auf den Boden und zucke kurz zusammen. Trotz des warmen Kamins ist der Boden eiskalt. Wie lang geht der Winter in Fegoria? So wie bei uns oder gar länger? Der Herbst ist zumindest zügig vorbei gewesen. Wenn alle Jahreszeiten so rasend an uns vorbei rauschen, steht ja bald der Sommer an. Wieder eine Sache, die ich Crispin fragen kann. Meine Liste wird immer länger, denn mir fallen täglich neue Fragen ein, die ich ihm stellen möchte. Feiern die Elben Weihnachten? Vermutlich eine dumme Frage, aber ich liebe Weihnachten. Wie viele Tage umfasst ein Jahr in Fegoria? Bemessen sie es nach Jahren? Ob hier jemals Fensterscheiben erfunden werden? Ich hoffe es, glaube jedoch eher weniger daran. Eine Toilette würde das Tüpfelchen auf dem I sein, oder eine Dusche – vielleicht kann ich sie darauf bringen. Es fühlt sich immer noch komisch an, für solche Dinge eine der rauschenden Quellen aufzusuchen.
Ein Klopfen lässt mich schmunzeln, denn ich habe mich schon wieder in meinen Gedanken verloren. Das passiert mir wahnsinnig oft. Aber kann man mir das, bei dem, was ich erlebe, verdenken? Eine völlig neue Welt, die sich mir zeigt. »Herein«, rufe ich, während Topas verschlafen den Kopf hebt, dabei missmutig brummt. Racella, eine Elbin aus Crispins Truppe, steckt den Kopf zur Tür hinein. Sie ist meine Begleiterin hier im Schloss, wenn Crispin oder die anderen fort sind, und ich könnte schwören, dass sie jedes Mal mit dem Ohr an der Tür hängt. Sobald ich wach werde, ist sie meist sofort zur Stelle. Egal, wie oft ich Crispin sage, dass ich keine Wachen will, er ignoriert es einfach. Immer wieder taucht Racella auf. Natürlich, um mich zu schützen, und nicht, wie Crispin betont, um mich zu überwachen. Irgendwie mag ich sie. Zwar verbringe ich gerne Zeit mit Noam und Cian, aber ein Mädchen in meiner Umgebung zu wissen, ist doch etwas anderes. Sie versteht manche Dinge eben besser. Wer weiß, vielleicht kann ich irgendwann mit ihr über die Jungs herziehen, ein paar lustige Geschichten erfahren, mit denen ich sie dann aufziehen kann und sie als Freundin betiteln.
»Guten Morgen, Mylady«, begrüßt sie mich, verbeugt sich und tritt mit einem Lächeln auf den Lippen ein. Ihr langes Haar weht wie eine luftige Wolke hinter ihr her, berührt dabei fast den Boden. Normalerweise trägt sie es kunstvoll geflochten, doch wahrscheinlich bin ich heute zu früh erwacht und habe ihr damit ein Zeitproblem verschafft. Oder hat sie womöglich gar verschlafen? Der Gedanke amüsiert mich mehr, als man ahnt. Dennoch wirkt sie wie der frische Morgen. Es ist sowieso ein Wunder, wie pünktlich hier alle aufstehen, Wecker gibt es schließlich nicht. Die Sonne geht auf und Zack: Alle Elben wuseln umher.
»Alice, mein Name ist Alice«, erinnere ich sie wie jeden Tag daran, mich zu duzen. Sie seufzt schicksalsergeben, schlägt meine Bettdecke auf, während ich mich durch meinen Kleiderschrank wühle. Wie sehr wünsche ich mir eine stinknormale Jeanshose.
»Ja, ich weiß, Alice«, erwidert sie gut gelaunt, doch morgen werde ich erneut Mylady sein. Das gleiche Spiel. Es fällt den Elben schwer, mich einfach zu duzen, wogegen mir schwerfällt, zu akzeptieren, dass es hier nicht gang und gäbe ist.
Ich suche mir ein moosgrünes Kleid aus, halte es mir probehalber an den Körper. Es ist maßgeschneidert – wie alles, was in meinem Schrank zu finden ist. Wenn ich Crispins Mutter treffe, möchte ich perfekt aussehen. Hosen sind unangebracht, egal wie gerne ich sie trage, nur beim Training wird es gebilligt oder eben auf Reisen. Im Alltag am Hofe ziert es sich für mich nicht, als Gefährtin des Thronprinzen, in Hosen gesehen zu werden. Umso mehr begleitet mich das Bedürfnis, Keona zu beeindrucken, ihr zu zeigen, dass ich ihres Sohnes würdig bin.
Racella füllt Wasser in meinen Waschkrug aus Keramik, sodass ich mit meiner Morgentoilette beginnen kann. Morgentoilette … Waschkrug … Ach ja, ein Hoch auf das mittelalterliche Fegoria. Wer braucht schon Kaffee und eine Dusche, Donuts und Kinderschokolade? »Nervt es dich nicht, mein Babysitter zu sein?«, frage ich sie, während ich mich abtrockne. »Du bist eine Kriegerin, keine Zofe.«
Sie schenkt mir ein ehrliches Lächeln. »Ach, es ist eine willkommene Abwechslung. Der Prinz hat mir sein Wort gegeben, dass ich dennoch Teil des Heeres bleibe. Und ich weiß nicht, ich mag Euch. Es ist lustig, Zeit mit Euch zu verbringen. Ihr schaut alles so interessiert an, seid neugierig wie ein kleiner Elbing. Es gibt mit Euch immer etwas zu lachen.«
Ich werde rot und drehe mich zu ihr um. »Ehrlich?«
»Ja. Ihr seid nett. Viele Elben aus Crispins Heer sind Euch zugeneigt. Es ist schwer, zu glauben, dass Ihr eine echte Albin seid.«
»Halb«, erinnere ich sie verlegen.
»Ja, Halbalbin, verzeiht. Ich verstehe Crispins Sorge um Euch. Sollte ich meinen Gefährten finden, würde ich ihn auch schützen wollen. Es ist unglaublich, dass es seit Jahrhunderten überhaupt wieder ein Paar gibt, das füreinander bestimmt ist. Dies weckt Hoffnung in mir und in vielen anderen Elben ebenso. Außerdem spricht es sich im Königreich herum, wartet ab. Bald werden Euch alle mit anderen Augen sehen. Auch der König, wenn er genau hinschaut. Ihr könnt gar nicht böse sein, dafür seid Ihr viel zu zart besaitet. Schaut Euren dicken Drachen an.« Sie zeigt auf Topas. »Ihr füttert ihn zu viel und er gehört eigentlich in den Stall, nicht in Euer Schlafgemach.«
Ich nicke verlegen, lasse mir von ihr das Mieder schnüren, was mir jedes Mal kurz die Luft abdrückt. Dann wird mir klar, was Crispin und ich seinem Volk geben – Hoffnung. Ich wünsche ihr, dass sie ihren Partner findet. Wer weiß, vielleicht ist es ja auch ein Alb. Leider habe ich keine Ahnung, welches Wesen sonst in Frage käme oder welche Völker es hier noch gibt. Jeden Tag lerne ich neue Dinge dazu, doch manchmal begleitet mich das Gefühl, all das Wissen lässt meinen Kopf platzen. Es ist einfach zu viel auf einmal. »Nicht so fest, ich fühle mich wie eine Presswurst«, japse ich.
Die Elbin hält inne. »Was ist eine Presswurst?«
»Äh, eine Wurst, sehr eng verpackt, die man essen kann«, versuche ich, mich zu erklären, was Racella lachen lässt.
»Ihr habt immer so komische Ideen.« Ja, beschließe ich, Racella soll meine Freundin sein. Der Gedanke lässt mich breit grinsen, demnach kann der Tag nur gut werden.
Topas erhebt sich gemächlich gähnend, trottet dann mehr als langsam zum Fenster, was die Vögel davor aufschreckt. Wie ein bunter Regenbogen fliegen sie lautstark meckernd davon, bevor er beschließt, einen von ihnen zu verspeisen. »Frühstück?«, rufe ich ihm zu. Er brummt nur zur Erwiderung, stößt dabei eine kleine Wolke aus. Mein Drache ist ein Morgenmuffel. Wir sind ihm zu laut, das heißt, er sucht sich jetzt eine ruhige Baumkrone, um den Vormittag zu verschlafen, bevor er sich abends wieder zur Ruhe legen kann. Seine Augen blitzen kurz auf, ehe er sich dem Fenster erneut zuwendet. Die Vorderpfoten setzt er auf das Fensterbrett, bevor er mit den Flügeln sein Hinterteil nach oben hebt. Er quetscht seinen breiten Körper durch das Fenster, was Racella und mich in ein Gelächter versetzt. Bald passt er nicht mehr hindurch und fast befürchte ich, dass er stecken bleibt. Ob er will oder nicht, er wird diesen Weg demnächst nicht mehr nutzen können. Nicht, wenn er in diesem Tempo wächst. Wie groß er wohl werden wird? Dunkel erinnere ich mich an das riesige Wesen, was in meiner ersten Nacht über meinem Kopf geflogen ist. Ist es auch ein richtiger Drache oder eher ein anderes Wesen gewesen? Wo soll er dann schlafen? Irgendwann wird er nicht mehr ins Zimmer passen – die Überlegung macht mich traurig, denn ich habe ihn gerne bei mir.
Meine Gedanken wandern zu Crispin, während ich etwas Obst auf flachem Brot esse, welches bereits auf dem Tisch steht. Es erinnert mich immer ein wenig an Fladenbrot. Die Früchte sind hier viel saftiger und süßer als in meiner alten Welt. Sie haben mehr Aroma, auch wenn sie nicht alle so aussehen wie unsere. Ich beiße genüsslich in eine violette Frucht, die an einen Apfel erinnert, aber eher wie eine Mischung aus Kiwi und Ananas schmeckt. Im Garten habe ich, Gott sei Dank, Erdbeeren entdeckt – was ist eine Welt ohne Erdbeeren und Schokolade?
»Ist Crispin schon lange fort?«, möchte ich wissen, woraufhin Racella sich mir gegenüber setzt und sich eine Weintraube von meinem Teller stibitzt. Ich lasse sie gewähren. Es freut mich, dass sie sich überhaupt traut und offener wird. Die Vorstellung, hier wie eine Prinzessin zu leben, behagt mir nicht. Die Elben sollen keine Angst vor mir haben oder mich meiden, ich möchte Anschluss finden.
»Der Prinz ist im Morgengrauen losgeritten. Noam und Yuno begleiten ihn. Am Hang des Sen haben vor einigen Tagen wilde Tiere gewütet und eine Herde Rehe abgeschlachtet. Ein schauerliches Bild sage ich Euch. Man hat kaum noch erkannt, dass es Rehe gewesen sind. Die Eingeweide …«
»Stopp! Danke, reicht schon. Ich kann es mir leider bildlich vorstellen.« Innerlich schüttelt es mich. So etwas will ich nicht beim Essen hören. Den Teller schiebe ich weit von mir weg, der Appetit ist mir vergangen. Auch das erinnert mich zu sehr an meinen ersten Tag in Fegoria.
Nachdenklich fahre ich mir unbewusst durch die Haare, mustere dabei die Verwüstung vor mir. Racellas Truppe hat nicht übertrieben, das Bild ist grausig. Angewidert schiebe ich einen vertrockneten Fleischrest mit dem Stiefel zur Seite. Noam hockt währenddessen am Boden, untersucht vorsichtig die Leichen der Rehe, auch wenn kaum zu erkennen ist, dass es welche sind. Die Knochen und Geweihe der Hirsche haben es uns eher verraten. Fliegen schwirren herum, machen sich über hinterlassene Reste her.
»Wölfe sind es nicht gewesen«, murmelt Noam, reibt sich dabei nachdenklich sein glattes Kinn, woraufhin ich mich zu ihm hocke, während Yuno die Gegend erkundet. Es ist schließlich ratsam, die Umgebung ebenso wenig außer Acht zu lassen. Still mustere ich einen Moment die Verletzungen der Tiere vor mir.
»Nein, schau mal hier!« Ich zeige auf einen der aufgeschlitzten Bäuche. »Das sind eindeutig Krallen. Aber hier oben«, ich zeige auf eine andere Stelle, »sieht es fast wie … ein Schnabel aus. Als hätte ihm jemand das Genick abgerupft.«
»Du könntest recht haben.« Wir drehen das Tier zur Seite, wobei mich ein Fliegenschwarm umkreist, ich sie jedoch mit der Hand verscheuche. Süßlicher Verwesungsgeruch umweht mich. Mit Schwung stehe ich auf, klopfe mir den Dreck von der Hose. Ich mache einige schnelle Atemzüge, versuche, den ekligen Geruch aus der Nase zu bekommen. Bald werden die Wölfe aus den Bergen herumschleichen, um sich über die Reste herzumachen. So ist es in der Natur. Einzig die Starken überleben. Aus Leben entsteht wieder neues Leben und auch der Tod wird seinen Teil beitragen, den Bäumen Nährstoffe geben.
Ich blicke mich genau um. Wachsam, ob ich bereits ein Raubtier entdecke, angelockt durch den Duft des Blutes – es ist gewissermaßen ein offenes Festmahl. Dann richte ich meinen Blick auf Noam. Es gibt nur ein Tier, was solche Spuren verursacht, und dieses Tier schafft es, selbst mir eine Gänsehaut zu verschaffen. Zu gerne möchte ich mich täuschen. Noam hat den gleichen Gedanken wie ich, das sehe ich ihm an, denn seine Miene wirkt besorgniserregend, während auch er sich langsam und vorsichtig erhebt.
»Meinst du tatsächlich, dass hier irgendwo ein Greif nistet? Ich habe seit Jahren keinen mehr gesehen. Das wäre keine gute Entwicklung.« Ich nicke eindringlich, reibe mir über den Nacken. Greife sind nicht zu unterschätzen. Ihre massigen raubkatzenartigen Körper haben rasiermesserscharfe Krallen. Als ist das nicht genug, kann das Vieh auch noch fliegen, und hat zudem einen Schnabel, der mit einem Hieb Knochen brechen kann. Den letzten Greif habe ich vor weit mehr als sechzig Jahren gesehen – und das ist nicht lange genug. Wenn es nach mir ginge, müsste ich nie wieder einen zu Gesicht bekommen. Er hat von beiden Spezies nur das Beste geerbt, ein schrecklicher Gegner. Trolle und Oger sind ein Witz dagegen. Ich habe gehofft, dass wir einfach auf ein Rudel Wölfe treffen oder von mir aus auch auf einen Bergtroll, aber ein Greif? Das ist kein gutes Zeichen, da gebe ich meinem Freund recht. Ein Unheilsbote, der es wagt, hier zu jagen. Gut, dass Alice diesmal nicht bei uns ist. Zumindest ein beruhigender Gedanke. Sie wird zwar immer besser, doch im Kampf mit einem Greif … Nein, so weit ist meine Gefährtin noch nicht. Mit ihrem Dickkopf würde sie es dennoch versuchen.
Jetzt muss ich mich hundertprozentig auf das Problem vor uns konzentrieren. Wir müssen ihn finden, bevor er sich hier niederlässt und weitere Greife anlockt. Einer ist gut zu händeln, zwei sind eine ganz andere Herausforderung. Nistet hier erst mal einer, kommen sie in Scharen. Das ist so sicher wie Schnee am Wintermitternachtsfest. Wir müssen uns sputen. Ich stoße einen hohen Pfiff aus, gebe Yuno zu verstehen, dass er zurückkommen muss.
Aus dem Wald hallt ein schwacher Pfiff, was einige Vögel aufschreckt. »Wir müssen den Greif finden, lieber heute als morgen.« Meine Stimme klingt beunruhigend. Ich reibe mir noch mal meinen Nacken, knete ihn leicht, um eine Verspannung zu lösen, und bin unfassbar genervt. Greife. Ich kann es nicht so recht glauben. Zwar sind die Spuren frisch, was sehr vorteilhaft ist, aber bevor wir ihn nicht haben, können wir nicht umdrehen. Jeder weitere Tag ist ein zu großes Risiko. Allerdings gefällt mir der Gedanke gar nicht, Alice über Nacht alleine im Schloss zu lassen. Wiederum ist sie dort sicher, sicherer als hier jedenfalls, und eine Wahl habe ich auch nicht. Das Einzige, was ich ausrichten kann, ist, das Vieh schnell zu finden und seinen Kopf abzuschlagen.
Silver prescht aus dem Gebüsch hervor, schüttelt sich entrüstet und bleibt hechelnd vor mir stehen. Kurz fahre ich mit der Hand über seinen zotteligen Kopf. Seine braunen Augen blicken mich erwartungsvoll an, warten auf Kommandos. Yuno ist knapp hinter ihm und kommt vor uns zum Stehen.
»Prinz!« Er nickt mir zu, wartet ab, was ich zu sagen habe, zollt mir so seinen Respekt.
»Willst du Verstärkung anfordern?«, möchte Noam wissen, nimmt einen Schluck aus seiner Feldflasche, wischt sich dann über den Mund.
Ich hebe belustigt eine Augenbraue. »Brauchen wir die? Wirst du alt, mein Freund? Soll ich nächstes Mal mehr Männer mitnehmen? Gehst du in den Ruhestand?«
Noam lacht auf. »Ich habe an dich gedacht. Du wirkst müde«, neckt er mich zurück. Schmunzelnd antworte ich: »Müde? Du machst dich lächerlich, Noam. Anscheinend verwechselst du hier etwas. Ich werde nicht müde, nein, ich will zurück zu meiner Gefährtin. Mich in den Morgenstunden wie ein Tagedieb aus dem Zimmer zu schleichen, gehört nicht zu den Dingen, die ich gern mache.«
»Oh, Crispin, den Rest kann ich mir denken.« Noam winkt lächelnd ab.
Wir besprechen das Für und das Wider, beraten uns, und schließlich schicken wir Yuno mit einer Nachricht zurück ins Schloss, bevor wir mit der Spurensuche beginnen, um unseren gefiederten Freund zu finden. Die Pferde trotten hinter uns her, während wir den weichen Waldboden untersuchen. Die Lichtung, auf der die Leichen der Herde liegen, lassen wir hinter uns, stattdessen nähern wir uns dem Sen, dem schwer passierbaren Berg, der einen Teil des Nebelwaldes umgibt. Das Schwierige an der Verfolgung ist, dass dieses Mistvieh fliegen kann, also suchen wir nach abgebrochenen Ästen, Kratzern an Bäumen und Federn, nach Kadavern, Nestern … Ich hoffe, die Götter sind gnädig.
Wir finden keine Eier, denn Eier zu finden, wäre, gelinde gesagt, eine Katastrophe. Eine mühsame Aufgabe, der wir nachgehen. Von Minute zu Minute wird meine Geduld mehr auf die Probe gestellt, vor allem als daraus Stunden werden. Hunger und Durst nagen an mir.
Meine Gedanken schweifen bei der Suche ab. Ich weiß, dass Alice heute eine Audienz bei meiner Mutter hat, was sie beunruhigt. Am liebsten wäre ich dabei, doch damit würde ich ihr nicht helfen, nein. Sie wird das alleine schaffen, sich ihren Platz erkämpfen, denn das ist sie, eine Kämpferin. Etwas, was ich an ihr liebe, mich aber auch manchmal zur Weißglut treibt. Letzte Woche auf Patrouille hat sie mit uns gegen einen Oger gekämpft und unterdessen so komische, für Alice typische, Dinge gesagt wie für Liebe und Gerechtigkeit und dabei gekichert. Als ich gefragt habe, was sie damit meint, hat sie geantwortet, wir sind wie das Team Mond – nein, Team Sailor? Nein, jetzt habe ich es, das Sailor Team – auch wenn ich ihre Erklärung eigenartig gefunden habe. Sie lebt sich ein, so gut es geht, doch ich weiß, dass sie Angst hat, zumal ihr immer wieder Albträume die Nachtruhe rauben. Ihr altes Leben einfach zu verlieren, trägt noch dazu bei. Sie schreit oder weint im Schlaf, was mir das Herz bricht. Ich hoffe, dass ich Asta eines Tages Auge in Auge gegenüber stehen werde, dann wird er dafür zahlen, dass er Hand an meine Gefährtin gelegt hat. Das Bild, wie sie in meinen Augen gestorben ist, ihre menschliche Hülle hinter sich gelassen hat, werde ich nie vergessen. Ebenso die Furcht, dass ich sie verloren habe. Sie ist so präsent wie an jenem Tag – eine Mahnung an mich, wie wertvoll meine Gefährtin ist. Asta hat sein Ziel, Alice zu brechen, nicht erreicht, denn sie hat einen eisernen Willen und oftmals sogar mehr Mut als Verstand. Niemand kann sie brechen. Dennoch sind wir stets auf der Hut, halten die Augen und Ohren offen, was Castiell als Nächstes plant, doch seit dem Kampf um Escher ist es ruhig geworden. Zu ruhig. Wir lassen uns nicht täuschen. Castiell gibt nie mühelos auf, also ist diese Ruhe nur die Ruhe vor dem Sturm. Er leckt vielleicht seine Wunden, doch das ist erst der Anfang gewesen. Heimtückisch sitzt er in seiner Heimat und ich wette darauf, dass sein nächster Plan Hand und Fuß annimmt. Er glaubt vielleicht, dass er uns täuschen kann, aber eigentlich halte ich ihn für intelligenter.
»Crispin?« Noams Stimme reißt mich aus meinen Überlegungen. Duckend gehe ich hinter einem Baum in Deckung. Silver legt sich dicht neben mir flach auf die Erde, gibt dabei keinen Ton von sich. Er lauert, spitzt die Ohren ebenso wie ich. Meine Hand legt sich auf den Schwertknauf, bereit zum Einsatz. Noam hebt den Arm, gibt mir stumm einen Hinweis, nach oben zu sehen. Ich folge seinem Zeichen mit den Augen. Angespannt presse ich die Lippen fest zusammen, knurre leicht, denn bei dem, was ich dort oben sehe, wird es ein langer Tag werden. Weit über uns, hoch oben auf den Spitzen des Sen-Gebirges, kreist der Greif gerade seine Runden, auf der Suche nach neuer Beute. Das bedeutet, dass sein Nest nicht im Wald liegt, sondern irgendwo über uns. Danke, ihr Götter, ihr amüsiert euch nun sicher. Weniger Schutz für uns, mehr Angriffsfläche für dieses Biest. Es hat seinen Nistplatz schlau gewählt, denn wenn ich korrekt schätze, werden wir fast einen halben Tag brauchen, um den Berg zu besteigen. Eine mühsame und schweißtreibende Aufgabe. Hinzu kommt, dass wir ein ordentliches Stück Umweg in Kauf nehmen müssen, um uns nicht selbst auf dem Präsentierteller zu servieren. Wir müssen versuchen, das Vieh zu überraschen, ehe es uns die Augen auskratzt. »Wir sollten heute Nacht angreifen, wenn er ruht«, schlägt mein Freund vor, woraufhin ich zustimmend nicke. Dies wäre auch mein Vorschlag, denn es bietet uns den Schutz der Dunkelheit. Das wird die erste Nacht sein, die ich ohne Alice verbringe, obendrein sie ohne mich. Das behagt mir nicht. Ob ich will oder nicht, Sorge breitet sich in meinem Magen aus. Was in Escher passiert ist, der Tod ihrer menschlichen Hülle, ist etwas gewesen, was ich nie wieder fühlen möchte: Diese Verzweiflung und Angst, meine Partnerin durch Dummheit für alle Zeiten verloren zu haben. Es fühlt sich nicht richtig an, sie dort alleine zu wissen, aber ich habe Verpflichtungen, dazu gehört, unser Reich zu schützen. Ich bin froh, dass Cian im Schloss verweilt. Er wird sich um sie kümmern, ihm vertraue ich blind. Mein Bruder würde sein Leben für uns geben, obwohl die Schlacht in Escher auch ihn verändert hat. Mein lebenslustiger, zu Scherzen aufgelegter Bruder ist stiller geworden, manchmal in sich gekehrt. Ich hoffe, dass er die grauen Wolken über seinem Kopf eines Tages vertreiben wird. Auch für ihn ist es im Kampf knapp gewesen – der Troll, der ihn fast erwürgt hat. Nur durch das lebensmüde Eingreifen von Alice und Topas weilt er heute noch unter uns.
Über uns stößt der Greif einen grellen Schrei aus, lässt mich die Vergangenheit erst mal Vergangenheit sein und setzt sich dann in einer Felsnische nieder, womit er aus unserem Blickfeld verschwindet. Wobei ich mir sicher bin, dass er uns nicht gesehen hat, denn das Blätterdach über unseren Köpfen ist dicht. »Also, auf gehts«, brumme ich wenig begeistert und schlage mich weiter durch das Gehölz des Waldes, um unbemerkt an dem Greif vorbeizukommen. Raschelnd machen kleine Nagetiere sich aus dem Staub, während wir so leise wie möglich sind. Die Pferde sowie Silver lassen wir nahe einer Lichtung zurück. Er wird sie beschützen, denn dieses Mal kann auch er uns nicht begleiten, außer ihm wachsen geschwind Flügel. Zuzutrauen wäre das dem verrückten Wolf durchaus.
Der Aufstieg wird steil sein, wie ich aus Erfahrung weiß. Manche Ecken sind so schwer zu erklimmen, dass die Hände kaum Halt finden werden. Wir wandern eine gute Stunde weiter am Waldrand entlang, ehe wir uns wirklich an den Fuß des Berges wagen. Ein Blick nach oben lässt mich seufzen und ich lockere meine Schultern, indem ich die Arme kreisen lasse.
»Wollen wir?« Noam reibt sich losen Pudersand vom Boden zwischen den Händen, ich ahme ihm nach. So sind sie etwas griffiger.
Die ersten Meter sind leicht, ein Kinderspiel. Stück für Stück erklimmen wir den Berg, ziehen uns empor, möglichst lautlos. Ich höre Noam neben mir mühsam stöhnen, als wir ungefähr die Hälfte erreicht haben. Meine Muskeln brennen, meine Fingerkuppen sind wund. Gespräche vermeiden wir, um keine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen und Kraft zu sparen. Wir pausieren einige Minuten an einem kleinen Vorsprung, auf dem wir beide kaum Platz haben. Das Wasser aus unseren Feldflaschen kühlt meine ausgedörrte Kehle, während die Sonne, die schon hoch am Himmel steht, gnadenlos auf unsere Rücken scheint. Stumm verständigen wir uns, steigen weiter hinauf. Noam lässt mir den Vortritt. Immer wieder brechen kleine Felsbrocken unter uns weg, fallen in die Tiefe, doch das stört uns nicht. Wir sind geübte Kletterer, Furcht ist uns fremd. Es ist nicht das erste Mal, dass wir auf solch ein Hindernis stoßen – in all den Jahrhunderten, in denen wir schon leben. Nichts wird einem geschenkt. Mut, Willensstärke und Durchhaltevermögen bringen einen ans Ziel.
Die Sonne wird allmählich schwächer, kalter Winterwind weht uns um die Nase, dennoch rinnt mir Schweiß am Hals entlang. Unter meiner Rüstung klebt das Stoffhemd wie eine zweite Haut an mir, was mehr als unangenehm ist, doch diese abzulegen, ist definitiv zu riskant. Ein Hieb mit den Krallen und mein Rückenmark wäre durchtrennt, falls der Greif uns entdeckt. Das letzte Stück ist der schwerste Teil. Nicht nur die Steigung, sondern auch die brennenden Muskeln tragen dazu bei. Ein kurzer Blick hinab, und ich entdecke Silver im Schatten der Bäume. Er beobachtet uns. Ich spüre seinen Blick anklagend im Nacken, weil er hat zurückbleiben müssen. Stures Vieh. Ich möchte vor Erleichterung aufschreien, als ich endlich an der geplanten Stelle ankomme. Mühsam, mit zitternden Muskeln, ziehe ich mich das letzte Stück hinauf. Kurz nach mir hievt Noam sich über die Kante, bleibt neben mir liegen.
»Ich hasse das«, haucht er außer Atem.
»Oh, glaub mir, ich auch, mein Freund. Und wie.«
Die Mittagszeit ist längst vorüber und noch immer lässt Keona nicht nach mir rufen. Wie ich es hasse! Kann sie nicht einfach eine Zeit ausmachen und gut? Zugegeben, ohne Uhren dürfte das natürlich schwer sein, aber diese Art und Weise ist mehr als nervig. Ich weiß nicht mal, ob der Tag hier auch vierundzwanzig Stunden hat. Dieses ewige Warten ist schrecklich. Geduld ist sowieso nicht meine Stärke und man kann jawohl Bescheid geben, wann es ungefähr so weit ist. Wie wäre es mit, wenn die Sonne mittig am Himmel steht oder nach dem Mittag? Ich könnte diese Zeit für tausend andere Dinge nutzen. Bogenschießtraining zum Beispiel oder lesen – weiß der Geier, was noch. Nutzloses Rumhängen, dabei Däumchen drehen und warten, raubt mir echt den letzten Nerv.
Mürrisch werfe ich mir einen finsteren Blick im Spiegel zu. Racella ist vor einiger Zeit verschwunden, da man sie als Außenwache eingeteilt hat. Nicht mal diese Ablenkung ist mir gestattet. Allerdings hat sie wohl auch erwartet, dass ich mittlerweile zur Audienz bei der Königin bin. Sie hat mich ungern alleine gelassen, aber keine Wahl gehabt – Befehl ist Befehl. Dem König widerspricht man nicht, außer man heißt Crispin. Außerdem bin ich kein Kind mehr. Auch wenn es mir keiner glaubt, habe ich die letzten Jahre ganz gut alleine überlebt, als ich während des Studiums weit weg von meinen Eltern in einer anderen Stadt gewohnt habe. Nicht vergleichbar mit hier, aber es gibt in der alten Welt ebenso gefährliche Ecken. Ich habe für mich selbst sorgen müssen – kochen, alleine reisen. Ich bin ein großes, durchaus toughes Mädchen.
Ein Poltern lässt mich schmunzeln. Ich drehe mich langsam zum Fenster um und weiß, was mich erwartet. Topas ist endlich aufgestanden, startet einen lautstarken Versuch, um zurück ins Zimmer zu kommen, und quetscht sich durch das Fenster. Mit den vorderen Beinen versucht er, sich hinein zu stemmen, stöhnt dabei wie ein alter Mann. Belustigt kräuseln sich meine Mundwinkel bei diesem Spektakel und ich lehne mich zurück. Er wird in meinem Zimmer geduldet, jedoch nicht im restlichen Schloss, da ist der König mehr als deutlich gewesen. Sollte einer der Wachen ihn außerhalb meines Zimmers sehen, werden sie ihn angreifen und töten. Na ja, das sollen sie erst mal wagen. Der König hat in Wirklichkeit schreckliche Angst vor meinem süßen Drachen. Etwas, das ich immer schön im Hinterkopf behalten werde. Topas Schwanz zuckt hin und her wie bei einer Katze und seine goldenen Augen mustern mich erwartungsvoll, als er es endlich schafft, seinen massigen Körper auf den Boden zu bringen. »Ja, dann komm her«, seufze ich, klopfe auf meine Schenkel, woraufhin seine kurzen Beine fast über den Boden fliegen, so schnell rennt er auf mich zu. Er wirft sich vor mir auf den Rücken, schlittert dabei das letzte Stück, und entblößt dabei seinen hellen Bauch. Seine Schuppen glänzen leicht im Sonnenlicht und sehen aus wie kleine Diamanten. Er ist vollkommen und wunderschön. »Du bist so gefährlich wie ein Kälbchen«, stöhne ich, noch immer belustigt und beginne sanft, seinen Bauch zu kratzen. Er gurrt verzückt auf, wobei sein Hinterbein zuckt. Ich muss herzhaft lachen, denn dieses Bild ist jedes Mal göttlich: eine tödliche Kreatur, ein wohliges Summen und das bebende Bein. Ich sage ja, ein Kälbchen. Wenn ich nicht selbst gesehen hätte, wie tödlich seine Krallen sind, als er in Astas Verlies die Raben getötet hat, würde ich es kaum glauben.
Es sind erst ein paar Minuten vergangen, als es leise klopft. Topas hebt verstimmt den Kopf, knurrt erbost, denn er will weiter gekrault werden. Stunden über Stunden, wenn es nach ihm geht. Davon bekommt er nie genug. Mein Arm ist danach immer kurz vorm Abfallen, doch er fordert weiterhin Streicheleinheiten. Crispin meint, ich verwöhne ihn zu sehr. Er hat vermutlich recht, aber ich kann nicht anders. Ich liebe dieses kleine Kerlchen einfach. »Herein!« Erwartungsvoll richtet sich mein Blick zur Tür. Topas erhebt sich ein Stückchen, seine Augen zu Schlitzen verengt, neugieriger Kerl.
»Mylady, habt Ihr mich vermisst? Ach, was frage ich, selbstverständlich habt Ihr das! Endlich ist mein Bruder aus dem Haus, also kann ich Euer Gemach aufsuchen.« Cian betritt gut gelaunt mein Zimmer, woraufhin ich gespielt genervt die Augen verdrehe.
»Lass Crispin solche Sprüche hören und er zieht dir die spitzen Ohren lang«, warne ich ihn neckend mit erhobenen Zeigefinger. Er zwinkert mir frech zu, grinst dabei breit von einem Ohr zum anderen. Der Schalk spiegelt sich in seinen Augen wider. Cian hat heute besonders gute Laune. Natürlich ist er nicht wegen Crispin meinem Zimmer ferngeblieben, sondern weil er heute die Aufsicht über die Wachen gehabt hat, solange Noam und sein Bruder fort sind. So ist er. Es ist nur Spaß, mit dem ich ausgezeichnet umgehen kann – Crispin mal mehr und mal weniger. Ich glaube, er ist das typische Alphamännchen, das sich verteidigen muss, wenn jemand in seinem Revier wildert, egal wer es in dem Moment ist. Es würde ihn ärgern, sehr sogar, genau deshalb würde Cian auch schamlos weiter machen, wenn er hier wäre. Brüder eben, sie lieben und streiten sich.
Cian lässt sich auf einen der Holzstühle fallen und streckt seine langen Beine von sich weg. Seit dem Vorfall in Escher, bei dem er fast gestorben ist, hat er sich verändert. Nicht nur äußerlich. Ich nehme mir einen Moment, ihn zu mustern, er trägt sein Haar jetzt viel kürzer, alles an ihm ist anders. Sein ganzes Auftreten wirkt erwachsener, weniger verspielt, selbst sein Gesicht scheint härter. Seine Stimme ist immer noch rau, als hätte der Troll seine Stimmbänder dauerhaft verletzt. Crispin hat mir versichert, dass es mit der Zeit heilen wird. Bei Elben heilt es glücklicherweise, manches braucht lediglich Zeit. Vermutlich macht solch eine Nahtoderfahrung so was mit einem, letztlich bin auch ich nicht mehr die, die ich einst gewesen bin – gleichzeitig steckt die alte Alice weiterhin in mir. Wie ein altes Kleid, das nicht mehr so gut passt, dennoch im Schrank hängt. Ein Erinnerungsfetzen. Aber ich bin nicht bereit, es gänzlich wegzulegen. Cian verschränkt die Arme hinter dem Kopf. »Als hätte er eine Chance gegen mich. Ich weiß, dass du eigentlich mich hast haben wollen, holde Maid. Du musst nichts sagen, wir beide kennen die Wahrheit.«
»Oje, bist du betrunken?«, necke ich ihn, woraufhin er aufspringt und mich an den Händen packt, hochzieht, mich um meine eigene Achse dreht. In solchen Momenten ist er wahrhaftig der alte, der verspielte, leicht verrückte jüngere und unbesorgte Prinz. Ich wünsche ihm, dass er diese Seite wiederfindet. Topas knurrt unerfreulich, denn so kann ich ihn immerhin schlecht kraulen, also wirft er Cian anklagende Blicke zu, die deutlich vermitteln, dass er abhauen soll. Topas beherrscht dies für einen Drachen durchaus perfekt, doch Cian ignoriert ihn rigoros.
»Nein, nur gut gelaunt, Mylady. Mutter schickt mich. Ich, holde Maid, bin dein Geleit zu ihr. Ich sehe dir deine Freude deutlich an.«
»Juhu!« Meine Stimme trotzt vor Ironie, denn mir fallen auf Anhieb tausend schönere Sachen ein, die ich lieber machen möchte. Crispin zu küssen, steht ganz oben auf der Liste, und ich frage mich ohnehin, wo er bleibt. Ich habe erwartet, dass sie eher zurück sind. Immerhin ist er im Morgengrauen aufgebrochen. Jetzt haben wir weit nach Mittag.
»Ja, ich weiß, deine Begeisterung ist riesengroß. Deswegen habe ich dich vorab etwas aufheitern wollen. Erfolglos, wie mir scheint.«
»Das ist dir nicht gelungen, Cian, richtig. Kein Stück, aber weißt du, wann Crispin zurückkommt?« Ich schaue aus dem Fenster. Die Sonne steht schon hoch am Himmel, und ich sehne mich tatsächlich nach ihm, das würde mich wirklich aufheitern. Ich möchte mit ihm sprechen, wissen, wie sein Tag gewesen ist. Cian wird augenblicklich still und meine Alarmglocken läuten. Da ist etwas im Busch, diesen Blick kenne ich. »Was ist los?«, verlange ich sofort zu wissen, doch Cian zögert, überlegt anscheinend, mir auszuweichen. Das kann er vergessen. Ich verschränke die Arme vor der Brust.
»Das wird eine lange Nacht für dich werden, Prinzessin. Ich kann mich zu dir setzen, wenn dir langweilig ist, dafür erzählst du mir von der Erde, denn ich finde es so spannend, was es dort alles zu entdecken gibt. Raumschiffe, die die Sterne bereisen zum Beispiel. Ich würde unsere Schatzkammer plündern, um das zu erleben. Oder ein Stück von dieser Schotirade essen, von der du so schwärmst.«
»Hä? Noch mal von vorne. Es heißt übrigens Scho-ko-la-de. Wieso wird es eine lange Nacht werden, was ist los?« Cian verwirrt mich total, was er so gut beherrscht wie kein anderer. Er springt immer von einer Sache zur nächsten, egal ob wir ihm folgen können oder nicht.
»Crispin und Noam machen Jagd auf einen Greif. Weißt du, dieses Tier mit dem Kopf eines Vogels, Körper eines Löwen – so in etwa. Gefährliches Vieh. Ich kann dir später ein Bild in der Bibliothek heraussuchen, wenn du willst. Ich habe noch keinen getroffen, den Göttern sei Dank. Vor morgen werden sie mit Sicherheit nicht auftauchen. Fiese Biester, wirklich. Scharfe Schnäbel, spitze Klauen. Blutrünstig. Die darf man nicht unterschätzen. Sie können einem Mann wie mir mit einem Schnabelhieb den Arm durchtrennen.« Mir wird kalt. Wie bitte? Greife? Hat Cian sich gerade selbst zugehört? Das klingt furchtbar. Nett, dass er mir das so ausschmückt. Manchmal sind die Elben unmöglich. Offensichtlich merkt Cian selbst, wie schrecklich seine Worte klingen und er lächelt verlegen. »Äh, also mach dir keine Sorgen. Mein Bruder kann das. Er hat schon öfter solch einen großen Vogel gerupft.«
Das soll mich jetzt beruhigen? Eher weniger. Cians Feingefühl ist gleich null. Mein Magen rumort, während mein Herz verdächtig klopft. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken. Ich möchte lieber dabei sein. Vielleicht könnte ich sogar helfen. Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper, als könnte ich mich so selbst trösten. »Morgen erst? Sendet ihr Verstärkung, wenn das Vieh so gefährlich ist?«
»Nein, sie müssen schnell sein. Bis wir da sind, ist es zu spät. Greife locken rasch weitere Greife an und das will keiner. Ein Nest von denen ist tatsächlich heikel. Das willst du nicht erleben. Vor etlichen Jahren haben sie mal einen ganzen Elbentrupp abgeschlachtet. Sie sind auf Patrouille gewesen, auf ein Nest gestoßen, und … ja, das kannst du dir wohl denken. Aber die beiden schaffen das. Was glaubst du, was dein Gefährte all die Jahre erlebt hat? Letztes Jahr haben er und Noam einen Basilisken erlegt. Ich würde es leugnen, wenn du es ihm später erzählst, aber mein Bruder ist schon unser bester Krieger. Wirklich.«
Ich nage an meiner Lippe. Sorge breitet sich weiter in mir aus. »So ein Vieh wie das von Harry Potter, welches Leute versteinern lässt?« Ich hasse diese Welt manchmal. Ein Basilisk kommt sogleich auf die Liste der Wesen, die ich hier niemals treffen möchte.
»Wer ist Harry? Noch nie gehört. Aber ja, so in etwa läuft das ab. Oder damals, als ein Ghul ihm fast den Arm abgetrennt hat.«
»Ein was?«
»Ein Ghul, ein Leichen fressender Dämon, trifft man oft nach großen Kämpfen. Sie sind Aasfresser. Er hat sie beim Schlafen überrascht. Crispin redet nicht gern darüber. Du kannst dir sicherlich denken, wieso, oder? Aber du siehst, es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Immerhin hat er noch beide Arme.«
Nicht, dass ich an beiden zweifle, doch wenn dieses Vieh wirklich so gefährlich ist … Himmel und dann ein Ghul? Der kommt ebenfalls auf die Liste der Wesen, die ich hier nicht kennenlernen will. Mein Blick huscht zu Topas. Wir sind zu langsam, aber er? Drachen sind schnell, oder? So richtig schnell, wenn es stimmt, was ich in den alten Büchern gelesen habe. »Würde Topas rechtzeitig bei ihm sein?«, erkundige ich mich, woraufhin sich Cian den Nacken reibt. Er denkt nach, mustert Topas, der sich zu einer Kugel zusammengerollt hat und unüberhörbar schnarcht, ehe er nickt.
»Ich denke, ja, Drachen sind viel schneller als wir, weil sie fliegen wie diese Dinger bei euch. Flugautos?«
»Flugzeuge«, verbessere ich ihn und mir genügt seine Antwort, also knie ich mich neben Topas hin, stupse ihn sanft an. Er brummt missmutig. Sein Blick spricht Bände, er hat keine Lust, sich zu bewegen. »Topas, du musst Crispin finden. Vielleicht braucht er deine Hilfe, denn du weißt ja, ohne dich ist er verloren«, schmeichle ich dem Ego meines Drachens – das zieht … und wie. Er hört mir aufmerksam zu, wobei sich seine Reptilienaugen zusammenziehen und eine kleine Flamme aus seinem Mund austritt. »Bitte, tue mir diesen Gefallen.« Ich streiche über seinen weichen Kopf, woraufhin er leise schnurrt. »Du weißt doch, wie sehr ich mich auf dich verlasse.« Dann erhebt er sich, streckt seinen Körper durch, sodass seine Knochen knacken. Er dehnt sich so ausgiebig, dass es schon lachhaft ist und dies in einem ziemlich gemächlichen Tempo. Das, was ich an Sorge in mir trage, hat Topas an Gelassenheit. Ich erhebe mich ebenfalls, schenke Cian ein ehrliches Lächeln, was er mit einem anerkennenden Nicken erwidert. Das Wissen, dass Topas Crispin helfen wird, beruhigt mich immens.
Topas trottet zum Fenster, quetscht sich wieder hindurch, wobei seine Hinterbeine kurz strampelnd im Rahmen stecken bleiben, und er sich dann mit einem Schrei fallen lässt. Ich schwöre, das macht er jedes Mal extra, um alle Vögel aufzuscheuchen, die auch direkt erbost in den Baumkronen piepsen. »Du musst schon etwas schneller fliegen«, rufe ich ermahnend hinterher, wohl wissend, dass er mich hört, während er sich dramatisch in die Tiefe stürzt. Kleine Dramaqueen. Ein bunter Vogel flattert an ihm vorbei, den er am Stück und hastig verschlingt. Meine Hand legt sich auf meinen Bauch. Himmel, ich wünsche, das würde er nicht machen, wenn ich zusehe.
»Du fütterst ihn zu gut«, tadelt Cian mich, woraufhin ich auflachen muss. »Er wird zu füllig. Du solltest ihm bei den Pferden eine Box besorgen. Das wäre angemessen. Es ist kein Schoßtier.«
»Wie bitte? Er bekommt nichts von mir, er sucht sich sein Futter draußen. Und dann erklär du ihm das mal mit dem Stall. Er wird dich rösten. Du wirst wie ein kleines Brathähnchen aussehen, wenn er mit dir fertig ist.«
»Ach, nein? Ich habe sehr wohl bemerkt, dass du abends immer Hähnchenkeulen mit auf dein Zimmer nimmst.«
So viel zum Thema Hähnchen. Ich werde rot. »Äh, ich habe nachts oft Hunger.«
»Schwindlerin!«