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Wir befinden uns in einer nicht mehr fernen Zukunft, in der global agierende Megakonzerne die Regierungen als Exekutive abgelöst haben. Einer der größten Konzerne ist die UMC (United Merchandise Company). Den Hauptumsatz generiert UMC mit humanoiden und tierischen Replikanten, künstliche biomechanische Geschöpfe, die von ihren biologischen Ebenbildern kaum zu unterscheiden sind. In einer der zahllosen Tochterfirmen der UMC arbeitet Nora Hollister als Designerin für intelligente Damentaschen. Ihr bislang sorgenfreies Leben ändert sich dramatisch, als sie eines Tages ein Reparaturteam für ihre defekte Replikanten-Katze ruft. Die seltsamen Weißen Männer, die erscheinen, kommen allerdings nicht von der UMC. In Wahrheit sind sie Gefolgsleute einer uralten Gottheit, die durch milliardenfach gespielte Virtual-Reality-Spiele aus ihrem Schlaf gerissen wurde.
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Seitenzahl: 261
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Arthur Gordon WolfMr. Munchkin
In dieser Reihe bisher erschienen:
2101 William Meikle Das Amulett
2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens
2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume
2104 Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl Stolzenstein
2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig
2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde
2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur
2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu
2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts
2110 K. R. Sanders & Jörg Kleudgen Die Klinge von Umao Mo
2111 Arthur Gordon Wolf Mr. Munchkin
2112 Arthur Gordon Wolf Red Meadows
Arthur Gordon Wolf
Mr. Munchkin
Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2020 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckTitelbild: Mario HeyerUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierInnenillustrationen: Jörg NeidhardtSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-921-8Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!
Halt! Stopp an alle Vorwort-Hasser und -Überblättler! Dies hier wird keins. Ehrlich! Wer meine Weißen Männer gelesen hat, kann das bestätigen. Ich persönlich kann schließlich auch keine nervigen Vorworte leiden. Nein, dies hier versteht sich eher als Ortsbestimmung. Sie kennen doch sicher diese großen Tafeln in Einkaufsmalls oder am Beginn von Wanderwegen: Auf einem Plan oder einer Karte befindet sich ein großer Pfeil mit dem Vermerk: Sie befinden sich hier. Da meine diversen U.M.C.-Erzählungen im Laufe der vergangenen Jahre nicht nur unrhythmisch, sondern vor allem auch unchronologisch erschienen sind, ist eine derartige Einnordung des Szenarios unabdingbar. Ich will schließlich nicht, dass Sie sich im Labyrinth der zahllosen Anspielungen und dem Ungesagten zwischen den Zeilen hilflos verirren. Also, wo genau befinden wir uns? Madenjäger spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft. Die Welt, wie wir sie kennen, hat aufgehört, zu existieren. Einzelne Staaten verbanden sich zu Föderationen, doch an ihrer Spitze stehen keine demokratisch gewählten Politiker, sondern riesige Konzerne. Es sind diese Mega-Konzerne, die die Geschicke der neuen Welt lenken. Einer dieser Global Player ist die U.M.C., die United Merchandise Company. Angefangen von Lebensmitteln über Mode bis hin zu Plasmakonvertern für Flugshuttles gibt es nichts, was U.M.C. nicht herstellt. Den größten Umsatz generiert der Multi allerdings mit Replikanten und VR-Spielen. Replikanten sind meist humanoide bio-mechanische Wesen, die für Dienstleistungen, aber auch jede Form der Freizeitgestaltung, zur Verfügung stehen. Auf den ersten Blick sind sie von wirklichen Menschen nicht zu unterscheiden. Etwas günstiger ist die Flucht in virtuelle Welten, die dank einer speziellen Ray-Ban-Brille und einem endlos begehbaren Steady-Ground zu einer perfekten Illusion wird. Oft vergessen VR-Spieler, dass sie sich in einer nicht realen Umgebung aufhalten. U.M.C. und ihre unzähligen Tochterfirmen setzen alles daran, ihre Kunden für alles Virtuelle zu begeistern. Denn merke: Wer sich für künstlich erzeugte Wesen oder Welten interessiert, hat kaum ausreichend Zeit dazu, die Realität zu hinterfragen. Gleichgültige Kunden sind perfekte Kunden. Doch dann geschieht das Unmögliche. Nach und nach zeigen sich bei intelligenten Maschinen, Replikanten und VR-Spielen Fehlfunktionen, die teilweise zum Tod der Anwender führen. Etwas Unbekanntes ist in die biomechanische Hardware der Systeme eingedrungen. Das, was alle bald nur noch X-Virus nennen, verfolgt offenbar unbekannte Ziele und verleiht den befallenen Schaltkreisen eine Art düsteres Bewusstsein. U.M.C. ist natürlich sehr daran gelegen, die Ausmaße dieser feindlichen Übernahme zu verharmlosen. Da passt es gut ins Geschäftskonzept, als wenig später alle Systeme wieder einwandfrei funktionieren. So, als sei nie etwas geschehen. Die Medien feiern dieses Wunder als ABEC-Phänomen (Abrupt-Bio-Electronic-Convalescence), als plötzliche bio-elektronische Genesung. Doch sind die künstlichen und virtuellen Gerätschaften tatsächlich geheilt? Oder schlummert tief in ihren künstlichen Neuronen das Böse?
Madenjäger setzt zeitlich wenige Monate nach den Geschehen in Die Weißen Männeran. Auch wenn es sich um keine direkte Fortsetzung handelt (Sorry!), so mag doch die ein oder andere vertraute Figur auftauchen. Es ist nicht unbedingt notwendig, Die Weißen Männer zu kennen, schaden könnte es allerdings auch nicht. Das ein oder andere Aha-Erlebnis könnte sich einstellen.
Wer einige meiner anderen U.M.C.-Erzählungen gelesen hat, dürfte mit den diversen Abkürzungen für Firmen, Systeme und Phänomene vertraut sein; hier nun kommt allerdings eine regelrechte AKÜ-Lawine. Ich entschuldige mich also schon jetzt für U.M.C., B.C.C.I., ABEC, KI, CRT, LAI, B.O.M, CFT, UOC, LOUIS und 463 andere. Aber da müssen Sie jetzt durch. Die Welt der U.M.C. lebt schließlich von diesen Kürzeln; zudem hätte ein permanentes Ausschreiben dieser Wortungetüme dazu geführt, dass der vorliegende Roman 937 Seiten lang geworden wäre. Und das wollen wir den armen Bäumen doch wohl wirklich nicht zumuten, oder? Es sind auch so schon zwei Teile entstanden. Teil 1 Mr Munchkin, den Sie hier in Händen halten und Teil 2 Red Meadows.
Wer immer noch Fragen haben sollte, findet auf meiner HP unter http://www.arthur-gordon-wolf.de/index.php/U.M.C. Erläuterungen zum Thema U.M.C. Jetzt kann ich Ihnen nur spannende Unterhaltung wünschen und darauf hoffen, dass bis zu einem Wiedersehen nicht wieder eine Dekade vergehen wird. 2019 ist das Jahr von „Blade Runner“. Ich sollte mich daher wohl beeilen, bevor U.M.C. von der Realität eingeholt wird.
Arthur Gordon Wolf, am 24. Juli 2019
Thien Lan war heiß. In jeglicher Beziehung. Als Nora sich im Taxi wie zufällig ganz eng neben sie auf die Rückbank setzte, spürte sie augenblicklich die Wärme, die von dieser außergewöhnlichen Frau ausging. Thien Lans ohnehin schon kurzer Rock war noch etwas nach oben gerutscht, wodurch sich ihre seidig glatten Schenkel nun direkt gegen die von Nora pressten. Die Berührung ließ gleichzeitig heiße und kalte Wellen durch ihren Körper fließen. Eisig prickelnde Lava. Nora wunderte sich, warum im Dämmerlicht des Wagens keine elektrischen Funken zu erkennen waren.
„Wohin soll’s gehen, Ladys?“
Die Frage des Fahrers riss Nora jäh aus ihren erotischen Träumen. Der Mann am Steuer war ein schlaksiger hagerer Typ mit einem fast schulterlangen Zopf. Sein schmieriges, übertrieben freundliches Lächeln war typisch für ein P-113 Modell, Nora konnte sich allerdings nicht daran erinnern, jemals einen Taxi-Replikanten mit einem Zopf gesehen zu haben. Sie verdrängte den Gedanken jedoch schnell wieder; offenbar war U.M.C. dabei, ihre Produkte immer realistischer und daher auch individueller zu gestalten. Frei nach dem Motto: „Ihre Träume sind unser tägliches Brot!“
Erst als sich die Augenbrauen des Fahrers erwartungsvoll nach oben schoben, bemerkte Nora, dass sie noch immer nicht geantwortet hatte.
„Äh, ja … natürlich“, stammelte sie verlegen. „Willow Fields, E-Street, 114er Block.“
Der Zopfträger tippte sich mit dem Zeigefinger an eine nicht vorhandene Mütze, wobei sein grinsender Mund das Gesicht beinahe zu spalten drohte. „Willow Fields, sehr gerne, Madam. Und vielen Dank, dass Sie Chee-Bee-Bee-Taxis verwenden!“
Die Abkürzung stand für Cheetah-Bumble-Bee, was so viel wie „Geparden-Hummel“ bedeutete. Die gelb-gestreiften Mini-Gleiter sahen tatsächlich so aus wie riesige Hummeln; was jedoch ihre Geschwindigkeit betraf, so war der Vergleich mit den eleganten Raubkatzen etwas vermessen. Obwohl die Gleiter keine Räder besaßen, war es ihnen im innerstädtischen Bereich aus Sicherheitsgründen untersagt, höher als 2 Meter zu fliegen. Und so steckten sie zur Rushhour nicht selten ebenso im Stau wie ihre alten Vorgänger mit Solarmotoren und Gummireifen. Das Transportunternehmen gehörte zur U.T.C. (United Travel Company), die wiederum eine der zahllosen Tochtergesellschaften der U.M.C. war. Im Straßenverkehr verhielt es sich so, wie in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebens: Wenn man tief genug grub, stieß man früher oder später immer wieder auf die drei bedeutsamsten Lettern der nördlichen und südlichen Hemisphäre. U.M.C.
Mit einem Seufzer ließ sich Nora zurück in die Polster sinken. Sie legte den Kopf schief, wodurch ihr Kinn auf der Schulter ihrer Sitznachbarin zu liegen kam. Mit geschlossenen Augen sog sie den betörenden Duft von Haaren und Haut tief in sich auf.
Thien Lans Finger streichelten verspielt über ihren Schenkel. „Na, etwa schon müde?“
Nora wich ein Stück zurück, um ihrer Freundin in die Augen schauen zu können. Thien Lans Iris war von einem derart dunklen Braun, dass sie beinahe schon schwarz wirkte. Winzige Sterne schienen in ihr zu funkeln.
„Müde? Ich?“, entgegnete Nora lächelnd. „Ganz im Gegenteil.“ Bei diesen Worten glitt ihre Hand sanft über das Bein der anderen, wodurch der Rock noch ein Stück weiter nach oben geschoben wurde.
Thien Lan erwiderte ihren Blick mit einem fast schon feierlichen Ernst. Ihre blau schimmernden Haare, die hohen Wangenknochen, die glitzernden Mandelaugen, die vollen Lippen und ihre bronzene Haut ließen sie wie eine zum Leben erweckte Götterstatue erscheinen.
„Schade“, murmelte die Göttin. „Ich hätte da nämlich so einige Tricks gekannt, um dich schnell wieder hellwach zu bekommen.“
„Ach wirklich? Seltsam, aber plötzlich fühle ich mich wieder sehr, sehr schläfrig.“
„Na, wenn das so ist …“ Unendlich langsam fuhr Thien Lan mit der Zunge ihren Hals hinauf und knabberte dann verspielt am Ohrläppchen. Die Wirkung dieser ganz besonderen Weck-Technik kam einem explodierenden CF-Transmitter gleich. Ohne es kontrollieren zu können, stieß Nora einen hohen Schrei aus.
Als sie an diesem Abend die Caverne Des Chattes betreten hatte, war ihr die hochgewachsene Eurasierin sofort aufgefallen. Obwohl ihre Formen und Bewegungen eher zierlich-filigran wirkten, überragte Thien Lan alle Gäste um fast einen Kopf. Normalerweise vermied es Nora, derart offizielle Bars aufzusuchen; viel lieber ging sie beim Friseur, in Restaurants oder in Shopping Malls auf die Pirsch. Dabei ließ sie sich selbst von einer männlichen Begleitung nicht abschrecken. Nora war nämlich davon überzeugt, ein Auge für gleich gesinnte Frauen zu haben, auch wenn diese selbst noch nicht einmal etwas von ihren schlummernden Begierden ahnten.
Doch diese Form der Kontaktaufnahme kostete viel Zeit, Zeit, die Nora im Augenblick in nur sehr begrenztem Umfang zur Verfügung stand. Sie war Creative-Director bei Telli-Bags, einer kleinen, aber sehr florierenden Firma, die die gleichnamigen intelligenten Handtaschen für die Frau von Heute herstellte. Die modischen Accessoires waren mit neuester Mikroelektronik bestückt, wodurch sie zu Terminplanern, Shopping-Navigatoren, Mode-Beratern, ja, selbst zu unsichtbaren Freundinnen wurden, mit denen man sich ungehemmt über die intimsten Dinge unterhalten konnte. Natürlich waren auch die Telli-Bags – wie nahezu alle (bio)elektronischen Geräte – von seltsamen Ausfällen und Fehlfunktionen betroffen gewesen, und durch das ebenso unerklärliche ABEC-Phänomen plötzlich wieder genesen. Doch niemand traute im Grunde diesem Frieden. Und daher lief nicht nur die Design-Abteilung bei Telli-Bags auf Hochtouren. Mit neuen Formen, Farben und Stoffen sollten die Kunden vom Image der Crazy-Bags abgelenkt werden. Nachdem einige Taschen plötzlich in Flammen aufgegangen waren, während andere ihrer Besitzerin dazu geraten hatten, ihr Make-up mit Natronlauge zu versetzen, war dieser Begriff schnell in den Medien geprägt worden. Ein Makel, unter dem die Firma noch immer zu leiden hatte.
Nora schlug die Augen auf und begegnete im Rückspiegel denen des Fahrers. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Beobachtete der Kerl sie etwa? Ausgeschlossen!, dachte sie. Taxi-Replikanten waren eindeutig nicht für derartige Neigungen programmiert worden. Und doch meinte sie, in dem Blick eine Spur von Lüsternheit gelesen zu haben. Sie blinzelte nervös und blickte dann erneut in den Spiegel, doch der Zopfträger schien sich bereits wieder auf den zunehmenden Verkehr zu konzentrieren. Keine seiner Gesten verriet auch nur die geringste Abweichung von der Art, mit der Tausende seiner Kollegen Tag für Tag ihre rasenden „Hummeln“ steuerten. Seltsam.
„Stimmt etwas nicht?“ Thien Lan schien ihre Besorgnis zu spüren.
„Nein, eigentlich nicht“, sagte Nora. „Für einen kurzen Moment dachte ich nur …“
„Du musst lernen, dich mehr zu entspannen“, unterbrach sie ihre neue Freundin. „Wie es nämlich aussieht, wird unsere Fahrt ein klein wenig länger dauern.“ Sie wies nach vorne, wo das grelle Rot der Rücklichter einen nicht unbeträchtlichen Stau ankündigte. „Lehn dich einfach zurück und schließ die Augen!“
Auch wenn eine gewisse Anspannung in ihr zurückblieb, befolgte Nora Thien Lans Rat. Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich gegen die weichen Polster sinken, nur die Nähe und den Duft der anderen Frau wahrnehmend.
Nur wenige Herzschläge später spürte sie Thien Lans Lippen auf den ihren, ihre Zunge, die sanft fordernd Zutritt verlangte. Nur zu gerne gab sie der Forderung nach, doch während ihre Liebkosungen immer ungehemmter, immer intensiver wurden, wanderte ihr Blick fast zwanghaft zum Rückspiegel hinüber. Mr Langzopf zeigte jedoch keinerlei Interesse an dem, was seine Fahrgäste auf der Rückbank so trieben. Nora blieb skeptisch. Sollte sie sich den lüsternen Blick etwa nur eingebildet haben?
„114 E-Street.“
Nora starrte im Rückspiegel erschrocken in die Augen des Fahrers, und da war er wieder, dieser schmierige, hungrige Blick. Obwohl sie nur die Augen des Langhaarigen erkennen konnte, war sie sich sicher, dass er ein widerliches Grinsen aufgesetzt hatte. Fast glaubte sie, seine schweißfeuchten Finger auf ihrer Haut zu spüren. Einfach abstoßend.
Sie zwang sich, ihren Blick zu lösen und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Häuserzeile, die sie durch das Seitenfenster erkennen konnte.
Gleißendes Xeon-Licht überflutete den Asphalt und verwandelte die Nacht in eine fahle, nur auf Blau-Töne reduzierte Kopie des Tages. Nur dort, wo selbst die Strahlen der Straßenlampen keinen Zugang fanden, unter den Treppen der Hausaufgänge oder hinter wuchtigen Rhododendronbüschen und hohen Ligusterhecken, fanden sich noch Inseln der Finsternis.
Nora war erstaunt. Die schmalen Vorgärten charakterisierten die Gegend eindeutig als Willow Fields, einen Stadtteil, der nur denen vorbehalten war, die mehr als drei Millionen pro Jahr verdienten. Vor knapp einem Jahr, als die Telli Bags auf dem Markt regelrecht explodiert waren, hatte sie sich das Apartment von ihren Bonus-Zahlungen gegönnt. Eine Wohnung, in der sie nicht erst einen Holo-Screen einschalten musste, um WIRKLICHE Natur zu sehen.
Sie atmete tief durch. Zuhause. Ein wirklich wundervolles Wort.
Verträumt lächelnd drehte sich Nora zu ihrer Begleitung herum. Obwohl die Fahrt aufgrund des Staus nahezu doppelt so lange wie üblich gedauert hatte, war ihr die Verzögerung nicht aufgefallen. Thien Lan musste um sie herum ein schwarzes Loch erzeugt haben, das Raum und Zeit auf einen einzigen Wimpernschlag reduziert hatte.
„Macht 44,80“, unterbrach sie die Stimme des Fahrers.
Nora zog ihre Platin-AMEX-Card aus der Tasche und reichte sie nach vorne. Diesmal vermied sie es jedoch, den Augen von Mr Langzopf zu begegnen.
Der Fahrer schob die Karte in ein Lesegerät und wartete auf ein kurzes, bestätigendes Surren; dann leuchtete auf dem Display wieder das Logo von CBB auf, eine angriffslustig grinsende Cartoon-Hummel, die eine Art Sturzhelm trug.
Sie zuckte leicht zusammen. Für einen kurzen Moment wirkte dieses Grinsen ähnlich böse und lüstern, wie das, welches sie im Rückspiegel zu sehen geglaubt hatte.
Als ihr der hagere Replikant die Karte über die Schulter hinweg reichte, nahm sie das Plastikstück nur mit spitzen Fingern entgegen, so, als hätte der Langhaarige es mit tödlichen Viren verseucht.
„Ich hoffe, die Ladys hatten eine angenehme Fahrt“, spulte der P-113 seinen einprogrammierten Sermon ab. „Und Chee-Bee-Bee-Taxis und meine Wenigkeit würden sich freuen, sie schon bald wieder als unsere Gäste begrüßen zu dürfen.“
Du hattest ganz gewiss eine angenehme Fahrt, du geiler Bock!, dachte Nora. Eigentlich wären wir es, die Geld verlangen müssten. Stattdessen murmelte sie nur ein undeutliches „Ja, ja, alles okay. Vielen Dank. Bis zum nächsten Mal.“ als Erwiderung.
Das Taxi bog bereits wieder Richtung Innenstadt ab, als Nora noch immer regungslos auf dem Bürgersteig verharrte.
„Was ist los mit dir?“, wollte Thien Lan wissen. „Du siehst aus, als ob alle Börsenkurse soeben um 100 Punkte gefallen wären.“
Nora hörte kaum auf das, was ihre Freundin sagte. Stattdessen starrte sie weiter auf die nun leere Straße hinaus. „Hast du seinen Blick gesehen?“, fragte sie.
„Blick? Wovon sprichst du?“
„Der Typ mit dem Zopf. Er hat uns mit seinen Blicken regelrecht ausgezogen.“
„Der Taxifahrer?“, lachte die bronzene Schönheit. „Schau uns an! Viel Fantasie musste er da wirklich nicht mehr entwickeln. Aber, heh, der Kerl war ein Replikant! Ein tumber P-113er! Diese Dinger haben so viel Gefühl wie ein Regenwurm!“
„Ich weiß“, sagte Nora. „Genau aus diesem Grund hat mir der Kerl soeben auch eine Scheißangst eingejagt.“
Sie öffnete das schmiedeeiserne Gartentor und hakte sich dann bei ihrer Freundin unter. Eng umschlungen schlenderte das Paar über den schmalen, mit Moos bewachsenen Plattenweg auf das Gebäude zu. Etwa fünf Meter vor dem Eingang flammten plötzlich mehrere Halogen-Bewegungsmelder auf und tauchten die Frauen in blendendes Weiß.
„Du meine Güte!“, keuchte Thien Lan. „Das ist ja der reinste Hochsicherheitstrakt. Ich hoffe, du hast nicht vergessen, die Selbstschussanlage zu deaktivieren.“
Mit gesenkten Köpfen hasteten sie die letzten Schritte zum Haus hinüber. Dort angekommen, zog Nora eine spezielle Key-Card aus der Tasche und zog sie durch einen Magnetabtaster. Gleichzeitig drückte sie ihren rechten Daumen auf ein kleines ovales Feld daneben.
„Nora Hollister, Apartment 17-401“, sagte sie.
Eine kleine Diode erstrahlte in grünem Licht. „Guten Abend, Misses Hollister“, erklang eine freundliche aber seltsam androgyne Stimme aus dem Interkom. „Schön, Sie wiederzusehen. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Abend.“
„Oh ja, den hatte ich!“, antwortete sie. „Vielen Dank, LOUIS. Aber die Nacht ist noch jung. Ich bringe übrigens einen Besucher mit nach Hause.“
„Einen Besucher für 17-401, sehr wohl“, entgegnete LOUIS. „Ist vermerkt. Dann wünsche ich Ihnen beiden noch einen weiteren erfreulichen Abend.“
Ein tiefes Summen ertönte, dann sprang die schwere Metalltür einen kleinen Spalt auf.
„Einen weiteren erfreulichen Abend“, ahmte Thien Lan LOUIS‘ Stimme übertrieben gedehnt nach. „Bekomme ich jetzt auch eines dieser Ansteckschildchen mit einem großen V darauf?“
Nora kniff sie leicht in den Arm. „Du Milli-Willy!“ Der Slang-Ausdruck, der in etwa „Volltrottel“ oder „hohle Nuss“ bedeutete, leitete sich von „Milliwatt“ ab, der kleinsten Leistung einer Leuchtdiode. „Milly-Willys“ waren demzufolge Menschen mit recht eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten. „In der Vergangenheit sind ein paar sehr finstere Gesellen hier ins Haus gelangt“, erklärte sie. „Sicherheit kann gar nicht groß genug geschrieben werden. Es gab jede Menge Wohnungseinbrüche und sogar zwei Morde. Seit dieser Zeit haben wir LOUIS installiert: Language and Optical-biometric User-Scan Intercom System. Ein sehr freundlicher und äußerst effizienter Concierge.“
„Ganz nett“, gab ihre Freundin zu. „Obwohl Spracherkennung und Fingerabdruckscanner ja eher Verfahren aus der Steinzeit sind.“
„Alt muss ja nicht immer gleichbedeutend mit schlecht sein“, erwiderte Nora. „Zudem ist LOUIS natürlich ein klein wenig modifiziert worden. Während ich vor dem Display stand, hat das System mein Gesicht zudem mit 12.000 Variablen einer Vorlage verglichen. Selbst mit einem gebrochenen Kiefer und einer Nasen-OP hätte mich LOUIS auf diese Weise problemlos als Nora Hollister identifiziert.“
„Okay, okay!“, gab sich Thien Lan schließlich lächelnd geschlagen. „Für etwas muss es ja schließlich gut sein, in solch einer Nobel-Gegend zu wohnen.“
Als sie schweigend darauf warteten, dass sich einer der vier Aufzugsschächte öffnete, umklammerte Thien Lan plötzlich Noras Handgelenke und presste sie fest gegen die Wand.
„Und vollkommene Sicherheit herrscht selbst in dieser Luxus-Herberge nicht“, flüsterte sie ihr mit rauer Stimme ins Ohr. „LOUIS kann mich scannen und abspeichern, doch er weiß nichts über die Besucher, denen der Zutritt von den Bewohnern gestattet wird.“ Sie hielt Noras Arme weiterhin ausgestreckt gegen die Wand und presste nun ihren eigenen Körper immer stärker gegen sie. Als sie ihr Opfer dabei erwartungsvoll anstarrte, verzog kein Lächeln ihre schönen Züge. „Nicht wahr?“
Nora erwiderte den Blick, doch vor Schreck hatte es ihr die Sprache verschlagen. Der Überfall war derart unvorbereitet erfolgt, dass sie nicht wusste, wie ihr geschah. Sollte sich hinter dem attraktiven Äußeren der Eurasierin etwa eine soziopatische Serien-Killerin verbergen? Thien Lan, ein weiblicher Jack the Ripper? Unvorstellbar.
Und doch … Diese dunklen Augen schienen einfach unergründlich zu sein.
Das schöne Gesicht näherte sich weiter und zerfloss dadurch zu einem diffusen Schemen; dafür wurde der betörende Duft ihres Haares und der Haut umso intensiver.
Nora schloss die Augen. Sie wusste nicht, was sie empfinden sollte. Hilflos gegen die Wand gedrückt, schwebte sie in einer Woge aus süßlich-erdigem Patschuli, Jasmin und Zitrone. Wie konnte Gefahr nur so erregend duften?
„Glaubst du, dass LOUIS uns auch jetzt beobachtet?“, hauchte ihr Thien Lan ins Ohr. Wie ein feuchter Wurm erkundete ihre Zunge dabei alle Windungen der Ohrmuschel. „Gibt dein toller Concierge etwa Alarm? Nein. Niemand achtet auf dich. Ich könnte hier ALLES mit dir tun.“
„Ich … ich …“, stotterte Nora. Dann verschlossen Thien Lans Lippen ihren Mund. Hart und fordernd stieß die fremde Zunge zu und schien bis hinab zur Luftröhre gleiten zu wollen. Gleichzeitig spürte sie, wie sich der Druck von Hüfte und Brust der anderen Frau weiter verstärkte.
Das hohe „Ping“ des eintreffenden Fahrstuhls ließ Nora zusammenzucken. Verrückterweise verspürte sie jedoch keinerlei Hoffnung, nun endlich aus ihrer Bedrängnis befreit zu werden; stattdessen empfand sie Scham, dass Mieter des Hauses sie in einer derart kompromittierenden Situation sehen könnten.
Es kam jedoch niemand zur Hilfe; dafür musste sich Nora auch vor niemandem schämen. Der Fahrstuhl war nämlich leer.
In der Gewissheit, von dieser fremden Frau erstickt oder erdrückt zu werden, schloss Nora die Augen. Und genoss die bittere Süße des nahenden Todes.
Plötzlich hallte ein kehliges Lachen durch die Lobby. Verdutzt blickte Nora auf und sah in das breit grinsende Gesicht ihrer vermeintlichen Mörderin.
„Na, wie war ich?“, wollte Thien Lan wissen. „Habe ich dein kleines Herz ordentlich zum Klopfen gebracht?“
Noch immer fand sie keine Worte. Sie konnte die Frau nur verständnislos anstarren.
„Was ist? Kannst du keinen Spaß vertragen? Bei deinem ganzen Gerede über Sicherheit war die Versuchung einfach zu groß für mich.“
Nora löste sich von der Wand, wobei sie sich wunderte, keine Einbuchtung in den Marmorfliesen hinterlassen zu haben. Ein leichtes Brennen ließ ihren Blick hinunter zu den Handgelenken wandern. Thien Lans Finger hatten dort ein rot-weißes Muster hinterlassen. Als ob ich mit Stricken gefesselt gewesen wäre, dachte sie.
Ihre Freundin kam nun wieder etwas näher und wollte ihr die Hand beruhigend auf die Schulter legen. Nora wich jedoch ruckhaft zurück.
„Na, jetzt komm aber!“, lächelte die andere. „So schlimm war es ja wohl nun auch wieder nicht.“
„Du bist total wahnsinnig!“, brachte Nora schließlich heraus. „Komplett durchgeknallt. Verrückter als ein P-112er mit Festplattenfraß!“
Thien Lan zuckte leicht mit den Schultern. „Ein bisschen verrückt ist doch vollkommen im grünen Bereich. Wer in der heutigen Zeit nicht ein wenig neben der Spur läuft, wird doch erst recht ein Kandidat für die Geschlossene, oder was meinst du? Und außerdem steigert ein wenig verrückte Spontaneität eindeutig die Libido. Oder willst du etwa behaupten, du hättest es nicht gespürt? Dieses erregende Gefühl, etwas Verbotenes, Gefährliches zu erleben? Diese Lust am Ungewissen?“
Nora hatte durchaus jenes Gewitter sich widersprechender Emotionen durchlebt, ja, empfand es selbst jetzt noch, sie war allerdings viel zu verärgert über Thien Lans wilden, amourösen Überfall und ihre eigene Schwäche, ihre Hilflosigkeit, um dies auch zuzugeben.
„Lust?“, stieß sie daher abfällig aus. „Für einige Augenblicke war ich fest davon überzeugt, du würdest mich umbringen. Ich weiß ja nicht, wie du tickst, doch was mich betrifft, so geht mir keiner dabei ab, wenn ich kurz davor stehe, den Löffel abzugeben.“
Thien Lans Miene nahm nun einen sehr besorgten Ausdruck an. „Tut mir echt leid“, flüsterte sie beinahe. „Ich … ich wollte dich wirklich nicht zu Tode ängstigen, glaub mir bitte! Nur ein klein wenig erschrecken. Mehr nicht!“ Ihre dunklen Augen schwammen plötzlich in Tränen. „Bitte verzeih mir! Ich … bei mir sind wohl einfach die Pferde durchgegangen. Hab einfach nicht bemerkt, wie Ernst aus dem Spiel wurde.“
Ein weiterer Fahrstuhl meldete seine Ankunft mit einem Signalton, doch keine der Frauen reagierte darauf. Bewegungslos und schweigend standen sie sich gegenüber, wie zwei Schauspielerinnen, die ihren Text vergessen hatten. Nachdem auch diesmal kein Mieter die Kabine verlassen oder betreten hatte, schlossen sich die Türen wieder mit einem dumpfen Grollen. Bis auf das leise Säuseln einer Klimaanlage versank das Foyer erneut in Stille.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Thien Lan schließlich mit zittriger Stimme.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Nora wahrheitsgemäß.
„Soll ich gehen?“
„Ich weiß es nicht.“
Thien Lan wandte sich halb zum Ausgang. „Du hast ja meine Nummer“, begann sie. „Falls … na, falls du …“ Sie brach ab. Mit gesenktem Kopf schlurfte sie langsam zurück zur Tür. „Gute Nacht, Nora.“
Thien Lan hatte die Eingangstür bereits geöffnet, als Nora endlich reagierte.
„Geh nicht!“, rief sie ihr zu. „Bitte!“
Die große Frau verharrte auf der Schwelle und wandte sich mit einem erstaunten Blick zu ihr um.
„Ich bin wohl in letzter Zeit ein wenig angespannt“, erklärte Nora. „Sehr angespannt, um die Wahrheit zu sagen. Seit der Crazy-Bags-Kampagne habe ich nicht selten einen 18-Stunden Arbeitstag. Jede Abteilung der Firma schuftet am absoluten Limit. Es geht halt um viel Geld. Und die Konkurrenz schläft nicht.“
Thien Lan ließ die Tür wieder hinter sich ins Schloss fallen, blieb aber am Eingang stehen. Sie misstraute dem Friedensangebot offenbar noch.
„Was soll ich noch sagen?“, fuhr Nora fort. „Der Stress lässt einen nicht gerade ausgeglichen und langmütig werden. Man wirft ab und zu ein paar Uppers ein, du kennst das ja. Die Dinger lassen einen zwar wieder klarer denken, doch sie senken gleichzeitig auch die Reizschwelle. Bei der kleinsten Bagatelle geht man förmlich an die Decke. Und man wird leicht schizophren. Der verdammte Taxi-Fahrer war nicht der Erste, von dem ich mich belästigt oder verfolgt gefühlt habe.“ Sie senkte den Kopf, wobei ein Zittern ihren ganzen Körper erfasste. „Und dann dein … dein Angriff“, schluchzte sie. „Das … das war einfach zu viel für mich, verstehst du? Ich …“
Thien Lan kam mit eiligen Schritten auf sie zu und schlang ihre Arme um den immer noch zitternden Körper. „Heh, nicht weinen, Liebes“, flüsterte sie. „Es war alles nur meine Schuld. Ich habe einfach nicht nachgedacht. Aber jetzt ist alles wieder okay. Alles im grünen Bereich.“
Für eine ganze Weile blieben die beiden Frauen eng umschlungen und schweigend vor den Aufzügen stehen. Erst als Noras Zittern nachließ, zog ihre Freundin ein Taschentuch hervor und hielt es ihr vor die Nase. „Trockne dir mal die Augen und putz dir die Nase!“, sagte sie. „Du siehst aus wie ein Gespenst mit Schüttellähmung.“
„Na vielen Dank auch!“, entgegnete Nora, musste aber dennoch lächeln. „Du verstehst es wirklich, Komplimente zu machen.“
„Okay, dann eben ein SEHR HÜBSCHES Gespenst mit Schüttellähmung.“
Unvermittelt brachen beide Frauen in ein fast hysterisches Gelächter aus. Auch wenn Noras Tränen diesmal eine andere Ursache hatten, so wurde ihr ohnehin schon ramponiertes Make-up dabei noch weiter in Mitleidenschaft gezogen.
Für einen Außenstehenden mochte ihr Verhalten albern oder kindisch wirken, das Lachen war für beide allerdings ein notwendiges Ventil, um aufgestaute Ängste, Ärger und Kummer weniger schwer wirken zu lassen.
Bevor sie schließlich gemeinsam den Fahrstuhl betraten, verabreichte Thien Lan ihrer Freundin noch ein Blitz-Make-up. Behutsam entfernte sie verwischte Wimperntusche und setzte mit einem kleinen Rouge-Pinsel rötliche Akzente auf Noras Wangen. „In diesem Haus scheint zu solch später Stunde offenbar niemand mehr unterwegs zu sein.“ Sie lächelte. „Doch man kann ja nie wissen. Und du willst doch sicher vermeiden, dass man dich mit diesem Halloween-Gesicht hier sieht, oder?“
„Ich weiß nicht.“ Nora grinste. „Es ist immerhin das Halloween-Gesicht eines hübschen Gespenstes.“
„Eines hübschen Gespenstes mit Schüttellähmung!“, sagten beide daraufhin gleichzeitig und verfielen augenblicklich wieder in hysterisches Gekicher.
„Du meine Güte!“, japste Nora. „Der arme LOUIS muss glauben, wir beide wären stockbetrunken.“
„Der arme LOUIS!“, kicherte Thien Lan. „Wo er dich doch immer für eine langweilige graue Maus gehalten hat.“
Als sich die Fahrstuhltüren im 17. Stock öffneten, bog Nora in einen breiten, indirekt beleuchteten Flur ab. Yucca-Palmen, die in wuchtige Terrakotta-Töpfe gepflanzt waren, verbreiteten eine mediterrane Atmosphäre. Ein dicker, ebenfalls erdfarbener Teppich schluckte jeden ihrer Schritte. Alles wirkte wie in einem Hotel der Oberklasse. Selbst die mit Chrom oder Kupfer gerahmten Bilder an den Wänden zeugten von einem erlesenen Kunstgeschmack.
„Schick“, stellte Thien Lan lakonisch fest.
Vor Nr. 401 blieb Nora stehen und zog erneut ihre Key-Card durch ein Lesegerät oberhalb des Türgriffs. Ein leises Klicken erfolgte als Antwort.
„Was? Kein Fingerabdruckscanner?“, wunderte sich ihre Begleitung mit einem ironischen Zwinkern. „Wie fahrlässig!“
Das Apartment war eine großzügig geschnittene 4-Zimmer-Wohnung mit riesigem Bad und einem Balkon, der von seinen Dimensionen her schon eher einer Terrasse ähnelte. Besonders eindrucksvoll waren für Thien Lan aber die hohen Wände. Der Großteil aller Wohnungen im Stadtgebiet war nicht auf Komfort, sondern auf Effizienz hin ausgerichtet, und so galt eine Standardhöhe von 2,20 m. Bei Noras Zuhause allerdings waren die Decken mindestens drei Meter hoch. Wahrer Luxus zeigte sich im Wohnraum, der lediglich der Optik diente.
Nora betätigte einen Sensor, woraufhin unsichtbare Strahler alle Zimmer in sanft gedimmtem Licht erstrahlen ließen.
„Ich bin wieder da!“, rief sie. „Mister Munchkin? Wo steckst du denn schon wieder?“
Thien Lan hob fragend die Brauen. „Mister Munchkin? Ich dachte, du wohnst allein.“
„Meine Katze“, erklärte Nora lächelnd. „Ein recht verzogener Kerl. Normalerweise aber lässt er sich wenigstens blicken, wenn ich nach Hause komme. Es könnte ja immerhin sein, dass ich vom Büro einen Drei-Zentner-Thunfisch oder ein Dutzend Mäuse mitbringe.“
Sie wies auf einen Raum, in dem sich einige Designer-Sessel und niedrige Glastische wie Kunststücke auf dem Parkett verloren. „Mach es dir doch schon mal bequem. Drinks findest du rechts in der Anrichte. Ich will nur mal kurz nachschauen, was mein Mitbewohner heute wieder für Unfug angestellt hat.“
Nora begann ihre Suche in der Küche, doch am offensichtlichsten Ort, vor dem Kühlschrank, war keine Katze zu entdecken. Leicht verwirrt runzelte sie die Stirn.
„Mister Munchkin?“
Nicht das leiseste Miauen war zu hören.
Seltsam. Neben seiner Arroganz und Verfressenheit zeichnete Mr Munchkin in erster Linie Neugier aus. Wollte der kleine Pascha denn überhaupt nicht wissen, welcher fremde Gast in sein Reich eingedrungen war?
Nora versuchte ihr Glück daraufhin im angrenzenden Arbeitszimmer. Ganz hinten, nahe der Wand, trafen drei Rohre der Fußbodenheizung aufeinander. Dieser Hot Spot zählte zum absoluten Lieblingsplatz ihres Haustigers. Während sein Frauchen neue Taschenkreationen begutachtete oder entwarf, konnte Mr Munchkin stundenlang auf diesem Fleck liegen. Dösend, ohne die geringste Regung, genoss er einfach nur die angenehme Wärme. Nicht selten hatte sie verzückt auf das Fellbündel gestarrt und sich gefragt, warum sie nicht auch solch ein beschauliches Katzenleben führen konnte.
An diesem Abend war allerdings auch dieser Platz leer.
Sie fand ihn schließlich im Schlafzimmer. Der Kater hatte es sich jedoch nicht etwa in ihrem Bett bequem gemacht, sondern hockte auf der Fensterbank und betrachtete offenbar höchst interessiert die Straße unter ihm.
„Hallo, Munchkin“, begrüßte sie ihn. „Sind deine kleinen Öhrchen verstopft oder warum hast du auf mein Rufen nicht reagiert? Du bist doch sonst immer da, wenn ich heimkomme.“
Wie eine Eule drehte der Kater seinen Kopf langsam und widernatürlich weit herum und bedachte Nora mit einem schläfrigen Blick.
„Hallo, Nora“, murmelte er. „Tut mir leid. Ich war wohl etwas abgelenkt.“
Sie starrte ihn an, als ob er soeben mit einem Schirmchen in der Pfote über ein quer durch das Zimmer gespanntes Hochseil balanciert wäre.
„Abgelenkt? Und du bist dir wirklich sicher, dass dir nichts fehlt?“
Wieder dieser gelangweilte Blick. Die grünen Augen der Katze schienen fast unter den schweren Lidern zu verschwinden. „Was? Nein, nein. Alles giga-a bei mir. Alle Systemparameter befinden sich im Normbereich.“
Nora war von dieser Eigendiagnose weniger überzeugt. Sie ging hinüber zum Fenster und streichelte der Katze sanft über das braun-weiß gestreifte Fell. Die Temperatur schien tatsächlich normal zu sein. Zudem erkrankten PPC-X-Modelle nicht an typischen Tierkrankheiten. Bis auf …
Etwas außerhalb des Fensters erregte ihre Aufmerksamkeit. Eher unbewusst war sie Mr Munchkins Blick gefolgt und sah nun über den Vorgarten hinweg hinunter auf die hohe Mauer, die die Blöcke 109 und 111 miteinander verband. Etwas war auf die grüne Betonoberfläche geschrieben worden. Sie stutzte. Graffiti hier in ihrer Gegend? Unmöglich.
Nora kniff die Augen zusammen, sie konnte aber auch so kaum mehr als schwarze Schlieren identifizieren.
„Kannst du erkennen, was dort unten steht?“, fragte sie ihre Katze.
„Thannag-Shi“, kam die prompte, aber dennoch gelangweilte Antwort.
„Thannag-Shi? Sonst nichts? Was soll das heißen? Ist das etwa einer dieser Gang-Namen?“