LoveStar - Andri Snaer Magnason - E-Book

LoveStar E-Book

Andri Snaer Magnason

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Beschreibung

Der international agierende Konzern LoveStar mit Sitz in Island hat eine Methode gefunden, um die Menschheit komplett fernzusteuern. Träume werden entschlüsselt und zu Geld gemacht, der Tod wird zu einem großen Spektakel vermarktet, und die einzig wahre Liebe wird jedem Menschen unwiderruflich per Algorithmus zugerechnet. Ein junges Paar jedoch versucht, sich der totalen Gleichschaltung zu widersetzen und seine ganz individuelle Liebe zu retten - während die Welt ins Chaos stürzt ...

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 353

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

CoverTitelImpressumMotto SamenkornKüstenseeschwalbe / Sterna ParadisaeaEin handfreier moderner MannIndriði war es nicht gewohnt zu weinenZitronensonneHonig LovedeathNicht atmenDie IdeenIndriði und SigríðurOpfer der Freiheit MahnungGeheimwirtIch würde vertrocknenSuper MelonenangebotDie Welle auf dem MonitorAlter Lebertran Aggagagg!SigríðurEin Wolf ein WolfGrímurJagdlizenzAuf den Grund gelangenLovegodLeuchtkäfer Einen Stimmungsmann fertig machenMissetäterwüsteHeulfalleTürmeWüsteJüngling im tiefen TalIch glaube, ich bin ein FernseherLeinen los : Körper verbrennenSignalraketenDie Welt nicht störenRentierflechteDas MillionensternefestivalEnde einer Reise

Andri Snær Magnason

Roman

Übersetzung aus dem Isländischen von Tina Flecken

EICHBORN

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG

Titel der isländischen Originalausgabe: »LoveStar« Für die Originalausgabe: Copyright © 2002 by Andri Snær Magnason Published by agreement with Forlagið, www.forlagid.is

Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2010/2020 by Bastei Lübbe AG, Köln Textredaktion: Susanne Dahmann, Marbach am Neckar Titelgestaltung: Massimo Peter-Bille E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN: 978-3-7325-9509-9

www.eichborn.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Der Verlag dankt dem Fund for the Promotion of Icelantic Literature für die freundliche Unterstützung der Übersetzung.

Wenn die Pflanze spürt, dass sie bald sterben wird,sammelt sie all ihre Kräfte und bündelt siein einem kleinen Samenkorn,das sie kurz vor dem Verwelken entstehen lässt.Dann besteht Hoffnung,dass sie weiterleben wird, obwohl sie stirbt. Pflanzenkunde für Anfänger

SAMENKORN

Ein Samenkorn wird ein Baum wird ein Wald grün wie ein Teppich.

Ein Ei wird ein Vogel werden Vögel bevölkern den Himmel wie Wolken.

Ein Ei wird ein Bäuchlein wird ein Mensch wird die Menschheit, konstruiert Autos, schreibt Bücher, baut Häuser, legt Teppiche, pflanzt Wälder und malt Bilder von Wolken und Vögeln.

Am Anfang war alles im Ei und im Samenkorn enthalten.

Wald. Vögel. Menschheit.

Ein menschliches Ei ist nicht schwer, doch das erste Ei enthielt den Kern all dessen, was später entstand:

Die Liebe, die Freude, der Hass, die Trauer, die Kunst, die Wissenschaft, die Hoffnung.

Am Anfang war nur ein Samenkorn.

Alles wuchs aus diesem Samenkorn.

Der Mensch konnte alles erschaffen bis auf das Leben.

Das war wissenschaftlich erwiesen.

Der Mensch konnte Leben töten und Leben vernichten und Leben verändern,

er konnte Leben züchten, Leben vervielfältigen und Leben von Leben erzeugen,

aber kein Leben erschaffen und erst recht kein Samenkorn.

Deshalb gab es nichts Wertvolleres als ein Samenkorn.

Ein Mann saß in einem Düsenflugzeug, das mit dreifacher Schallgeschwindigkeit über den Atlantik jagte.

Er hatte ein Samenkorn gefunden.

Es lag in seiner Hand.

Wenn dem Samenkorn etwas zustieß, gab es keine Hoffnung mehr.

Er wusste nicht, dass es ohnehin keine Hoffnung mehr gab.

In weniger als vier Stunden würde er tot sein.

KÜSTENSEESCHWALBE / STERNA PARADISAEA

Als die Küstenseeschwalben eines Frühlings ihren Heimweg nicht mehr fanden, sondern wie eine Unwetterwolke über der Pariser Innenstadt auftauchten und nach den Köpfen der Passanten pickten, dachten viele, das Ende der Welt sei nahe und dies sei die erste in einer langen Reihe von Heimsuchungen. Die Einwohner der Stadt hamsterten Konserven und horteten Wasser in Erwartung von Heuschreckenplagen, Dürreperioden, Überschwemmungen oder Erdbeben, aber nichts geschah – zumindest nicht in Paris. Die Küstenseeschwalben okkupierten Parks und Verkehrsinseln und verteidigten ihre Territorien vehement. Doch die Pariser gewöhnten sich schnell an die angriffslustigen Tiere, und alte Männer konnten unbehelligt auf Parkbänken sitzen, solange sie eine Tüte mit Sardinen oder Stichlingen dabeihatten, um den Hunger der Vögel zu stillen.

Die Küstenseeschwalben flogen nicht mehr von Pol zu Pol. Am Nordpol und am Südpol gab es in den Sommernächten kein Kreischen und Picken mehr. Der angeborene Orientierungssinn der Vögel war durcheinandergeraten. Irgendein Instinkt sagte ihnen, ihre geographische Position sei korrekt, sie befänden sich eindeutig am richtigen Punkt nördlich des Polarkreises, und diese Stadt müsse entstanden sein, während sie im Süden waren. Die älteren Küstenseeschwalben waren leicht reizbar und verwirrt, aber die ersten Generationen von Stadtvögeln kannten dann nichts anderes als Verkehrslärm und Menschenmassen. Die Küstenseeschwalbe wurde bald zum Wahrzeichen von Paris. Touristen konnten Postkarten vom vogelweißen Eiffelturm kaufen, und Straßenhändler schwatzten ihnen Tüten mit Guppys auf. Den Küstenseeschwalben machte das nichts aus, und da keine andere Tierart unmittelbar von ihnen lebte, wurde das natürliche Gleichgewicht nicht wesentlich gestört.

Ein paar Jahre später füllte sich Chicago mit Bienen, füllte sich buchstäblich mit Bienen, so als sei die Stadt mit Honig bestrichen, doch das war sie nicht, denn es gab dort kaum Bäume oder Blumen. Dennoch strömten die Bienen dorthin. Auf meteorologischen Satellitenbildern schien ein schwarzes Tief über der Stadt zu hängen, ein grauer Strudel drehte sich gegen den Uhrzeigersinn um ein schwarzes Epizentrum. Die Bienen summten und stachen und machten die Bewohner der Stadt wahnsinnig. Die einzige Abwehr war der Einsatz von Gift: Spezielle, für das Löschen von Waldbränden entwickelte Flugzeuge flogen hin und her und versprühten Gift. Doch die Bienen zog es weiter in die Stadt, und es wurde weiter Gift gesprüht, bis die letzten Einwohner Chicago endgültig verließen. Die Straßen waren mit einer fünfzig Zentimeter dicken Schicht abgestürzter Bienen bedeckt, doch die Insekten drängten immer noch mit Samen oder Pollen an den Beinen in die Stadt. Bald sprossen aus jeder Ritze Blumen und schlugen inmitten der toten Bienen Wurzeln. Pflanzen krochen an den Wänden der Hochhäuser hinauf und zogen sich über Straßen. Die größten Glasgebäude wurden zu Gewächshäusern, heiß und feucht, voller Reptilien, Insekten und tropischer Pflanzen, die unkontrolliert aus Blumentöpfen wucherten, während andere Gebäude zu gigantischen Bienenstöcken wurden, voller Honig, der an den Wänden hinabquoll, durch die Straßen floss und in die Abwasserkanäle tropfte. Bären witterten den Geruch der Stadt bis nach Alaska, kamen und schleckten die Häuser ab, Vögel flatterten von Blume zu Blume, während die Armen ihr Leben riskierten und sich auf der Suche nach Wertvollem und nach Honig in die Stadt begaben.

In der Innenstadt bildete sich ein goldener Teich aus Honig, der durch Straßen, über Plätze und durch die Etagen fast aller Gebäude geflossen war. Auf seinem Weg hatte der Honig alle erdenklichen Gerüche und Substanzen, denen er begegnet war, in sich aufgenommen, und wer eine ungewöhnliche Wirkung verspüren wollte, schmierte ihn sich aufs Brot, bis die Welt und die Zeit golden, zäh und honigsüß wurden. Auf den ersten Blick schien der Zugang zum Teich leicht zu sein: ein unendlicher Teppich von Wildblumen. Doch die Wildblumen wuchsen auf einer dünnen Erdschicht, und darunter befanden sich zwanzig Meter zähflüssigen Honigs, der Abenteurer wie in Formalin konservierte. Wer sich auf den Weg machte, kam selten zurück, aber wer auch nur einen einzigen Krug goldenen Honigs aus dem Teich zurückbrachte, hatte für den Rest seines Lebens keine Geldsorgen mehr. Daher sah man täglich junge Männer, die sich mit so vielen Krügen und Flaschen behängten, bis nur noch undeutliche menschliche Gestalten und verzerrte Gesichter durch das Glas auszumachen waren. Wenn sie die klebrigen Straßen betraten und loskrochen, schepperten die Krüge. Nach einer Woche befanden sie sich meistens immer noch in Rufweite, und ihre Mütter ließen Drachen steigen, an denen sie Butterbrote oder Milchflaschen befestigten, bis die Söhne außerhalb der Reichweite eines normalen Drachens waren. Danach waren sie auf sich selbst gestellt. In den Gebäuden fanden sie keinen Unterschlupf, denn die waren voll mit Bienenwaben und -höhlen. Wenn sie von einem Bären oder einem Schwarm Killerbienen aufgespürt wurden, konnten sie nicht fliehen. Während ein normaler Mann höchstens zehn Meter in der Stunde zurücklegen konnte, schaffte ein Bär zwanzig Meter. Eine solche Verfolgungsjagd war ebenso brutal wie zäh. Normalerweise bedurfte es jedoch keines Bären und keiner Killerbienen, um die Männer zu töten; die meisten starben an Unterernährung oder Verdauungsstörungen, weil sie bis zu den Schultern eingesunken waren und einen ganzen Monat lang nur Honig, Blumen oder Larven gegessen hatten.

Kurz nachdem die Bienen in Chicago ihre Orientierung verloren hatten, begannen die Monarchfalter, sich merkwürdig zu verhalten. Seit Menschengedenken waren die Falter jedes Jahr in riesigen Schwärmen zum Überwintern quer durch Amerika nach Mexiko geflogen. Der Wald im Überwinterungsquartier war rot vor Faltern, denn sie bedeckten jeden Baumstamm, jeden Zweig und jedes Blatt. Für die meisten Menschen war dies ein heiliger Wald, den man nicht abholzen oder auch nur antasten durfte. Doch eines Herbstes machten sich die Monarchfalter auf und flogen in die entgegengesetzte Richtung. Anstatt nach Süden zum Winterquartier zu fliegen, flogen sie nach Norden. Die Leute versuchten, ihnen mit riesigen Fächern oder Netzen den richtigen Weg zu weisen, fingen sie von Hubschraubern aus ein und brachten sie mit Gewalt zum Überwinterungsquartier. Doch irgendein Instinkt befahl den Tieren, nach Norden zu fliegen, und das taten sie, sobald sie wieder freigelassen wurden. Die Falter nahmen Kurs auf den Nordpol und umschwärmten ihn, bis sie in der Luft erfroren und wie große Schneeflocken auf die Erde fielen. Sie flogen weiter nach Norden, bis die Eiskappe um den Pol rot vor Faltern war. Vom Weltall aus gesehen schien die Erde plötzlich ein orangefarbenes Käppchen zu tragen. Die Eisbären mit ihrer seit über zehntausend Jahren entwickelten Tarnfarbe waren nun mit Leichtigkeit aus hundert Kilometern Entfernung zu erkennen. Wenn sich die weißen Kleckse über die faltergemusterte Schneedecke bewegten, gähnten die Seehunde und schlüpften behäbig durch Eislöcher ins Wasser. Die Eisbären starben fast vor Hunger, schließlich hatten sie keine zehntausend Jahre Zeit, um orange zu werden. Doch dann lernten sie, sich mit nassem Fell in den Faltern zu wälzen, und wenn genug Falter an ihnen festgefroren waren, wurden sie wieder unsichtbar. Ihre Spuren blieben weiß, aber die Seehunde waren nicht schlau genug, sich vor schnell näherkommenden weißen Spuren mit scharfen Zähnen in Acht zu nehmen.

Die Menschen ahnten bald, was der Grund für all dies sein könnte: Die Welt war von Strahlen, Signalen, Übertragungen und elektrischen Feldern so übersättigt, dass die Tiere allerlei Unsinn aus der Luft lasen. Als am selben Tag vier Jumbojets in jeweils exakt sieben Kilometern Entfernung vom anvisierten Zielflughafen abstürzten, begann man ernsthaft, nach Alternativen für die vielen Strahlen zu suchen. Ein zehn Gramm schwerer Monarchfalter konnte eine tausend Kilometer lange Strecke finden, ohne einen Satelliten zu benutzen. Eine Küstenseeschwalbe flog Jahr für Jahr von ihrem Nest auf der Melrakkaslétta-Ebene in Nordisland zu ihrer Lieblingsklippe östlich von Kapstadt, nur vom Instinkt geleitet. Lebewesen mit Gehirnen so groß wie Nüsse, Samen oder Staubkörner konnten Dinge tun, für die der Mensch mit seinem schweren Kopf achtzehn Satelliten, ein Empfangsgerät, Radar, Karten, einen Kompass, ein Funkgerät, eine zwanzigjährige Ausbildung und eine derart mit Strahlen aufgeladene Atmosphäre gebraucht hätte, dass sie fast nicht mehr transparent gewesen wäre.

Niemand konnte beweisen, dass Strahlen für Menschen schädlich waren, aber viele glaubten es, und dieser Glaube reichte aus. Der Rest war Nebensache, und so entstand eine bizarre Industrie für Strahlenschutz. Die Leute waren ängstlich und paranoid. Die Welt war radioaktiv. Jeder, der erkrankte, ob an Leukämie oder Erkältung, gab den Strahlen die Schuld. Woche für Woche wurden beliebte Radio- und Fernsehsender wegen der abwegigsten Vergehen und Strahlenverseuchung angeklagt. »Setz eine dicke Mütze auf!«, sagten die Mütter. »Die schützt dich gegen Strahlen, sonst laden sich deine Haare elektrisch auf und entziehen dir die Lebenskraft!« »Zieh Handschuhe an, Junge! Nackte Finger sind wie Antennen, die Strahlen anziehen.« »Steck einen Stein in deine linke Jackentasche und eine kleine Wasserflasche in die rechte. Das gleicht den Energiefluss aus.«

Wenn jemand eine andere Person ungewöhnlich oft auf dem Handy anrief, wurde diese misstrauisch:

»Hallo, wie geht’s denn so?«

»Gut. Willst du was Bestimmtes?«

»Nein, ich wollte nur deine Stimme hören.«

(Kühl) »Aha.« (Denkt: Diese Hexe will mich umbringen.)

Täglich wurden Satellitenmasten und Fernsehtürme von fanatischen Mitgliedern radikaler Bürgerbewegungen in die Luft gesprengt, aber in der Regel verschwiegen die Medien solche Zwischenfälle, um einen Flächenbrand zu vermeiden. Zeitungen verbreiteten solche Meldungen am ehesten, denn ihre Verkaufszahlen stiegen proportional zur Anzahl der gesprengten Türme.

Wissenschaftler waren angesichts der Dummheit der Leute fassungslos. Ärzte sagten, es sei überhaupt nicht erwiesen, dass Strahlen irgendeinen Einfluss auf den menschlichen Körper hätten, und seriöse Experten wollten nicht mit diesem Forschungsgebiet von Spinnern in Verbindung gebracht werden.

In einem alten Hangar am Reykjavíker Flughafen hatte sich jedoch eine kleine internationale Gruppe von Ornithologen, Molekularbiologen, Aerodynamikern und Biochemikern zusammengetan, um mit Schwingungen zu experimentieren. Tag und Nacht sezierten und untersuchten sie Küstenseeschwalben, Tauben, Bienen, Lachse und Monarchfalter, getrieben von dem unumstößlichen Glauben, dass es möglich sei, die Geheimnisse des Orientierungsinstinkts aufzudecken. Die Firma hieß LoveStar, und auch ihr Chef hieß immer nur LoveStar. Diese Namensgebung wurde nicht näher erläutert, und die Öffentlichkeit erwartete auch keine vernünftige Erklärung mehr, da die meisten Leute die Mitarbeiter von LoveStar ohnehin für verrückt hielten. Wenn Journalisten versuchten, sie zu interviewen und über ihre Arbeit zu befragen, stellten sie sich selbst als wahnsinnig oder autistisch dar. Auf keinen Fall wollten sie öffentliches Interesse an ihren Forschungen wecken. Vor dem Hangar standen lauter neun Jahre alte Pkws. Dies entsprach LoveStars Devise: »Neun Jahre alte Toyotas sind unsichtbar.«

Im LoveStar-Laboratorium brütete man über der Frage, wie ein ganzer Fischschwarm punktgenau die Richtung wechseln konnte – jeder Fisch im selben Sekundenbruchteil, so als handele es sich um einen einzigen Körper –, obwohl kein Austausch von Signalen zwischen den Fischen feststellbar war. Und über der Frage, wie ein Vogelschwarm in perfektem Gleichklang fliegen konnte, so als würde er von einem einzigen Gehirn gesteuert.

Im Zeitalter der Ideen löste man Probleme normalerweise, indem man viele Menschen gleichzeitig lange genug nachdenken ließ. Das war nicht besonders schwierig. Einer musste einen Stein spalten, der Nächste spaltete den gespaltenen Stein und so weiter, bis das Atom gefunden war. Derjenige, der das Atom spaltete, konnte nicht mehr darüber berichten.

Bei LoveStar wurden Messgeräte entwickelt, die so schwache Signale registrieren konnten, dass sie an die Grenze dessen stießen, was man zuvor als übernatürlich angesehen hatte. Und darin lag die Stärke der Firma. Das Motto der Forschungsabteilung war simpel: »Alles ist Materie. Das Komplizierte existiert, das Merkwürdige existiert, das Schwerverständliche existiert, das Unerklärliche und die Einbildung existieren, aber das Übernatürliche existiert nicht, auch wenn nichts ausgeschlossen ist.« Die LoveStar-Gruppe wurde von einer festen Überzeugung vorangetrieben: Vogelwellen waren keine Einbildung und weit davon entfernt, übernatürlich zu sein.

Es dauerte nicht lange, bis die LoveStar Experten auf der richtigen Spur waren. Sie fanden Möglichkeiten, über Vogelwellen, die schwach und unschädlich waren, Geräusche, Bilder und Signale zwischen Menschen zu übermitteln. Die Geräte, mit denen sie empfangen wurden, waren so leicht wie Schmetterlingshirne.

Während die meisten Unternehmen Stimmungsabteilungen besaßen, die versuchten, die Firma bekannt zu machen, ihre Erfolge anzupreisen und durch frühzeitige Presseerklärungen das Vertrauen von Investoren zu gewinnen, ging LoveStar den entgegengesetzten Weg. Er lancierte eine bewusste Anti-Stimmung. Die inoffizielle Firmengeschichte »Vogelmenschen« von Andreas Vollmer beinhaltete folgenden Bericht über die Anti-Stimmung:

»LoveStar besaß die Mehrheit der Firmenanteile und feierte jedes Mal mit seinen Mitarbeitern, wenn Gerüchte über die Wertlosigkeit der Anteile auf dem grauen Markt im Umlauf waren. Bei Vorträgen und Interviews benutzten die Mitarbeiter eine unverständliche Sprache und äußerten niemals intelligente Ideen oder Optimismus. Journalisten bekamen nur ein einziges Mal vor der offiziellen Bekanntmachung der Entdeckungen der Firma Zutritt zum Hangar. Elena Krüskemper, Journalistin beim Spiegel, war eine von ihnen. In ihren Memoiren beschrieb sie den Besuch folgendermaßen: ›LoveStar bestand darauf, dass es eine Gruppe von Journalisten der weltweit wichtigsten Printmedien sein sollte. Er empfing uns persönlich – ein großer, hagerer Mann mit scharfem Blick. Als ich ihn begrüßen wollte, bemerkte ich etwas in seiner Hand. Er entschuldigte sich und sagte, er sei gerade dabei, das Mittagessen zuzubereiten. Dann sahen wir einen lebendigen Papageitaucher aus seiner Faust hervorlugen. Er packte den Kopf des Vogels und drehte ihn mehrmals, doch der Papageitaucher wehrte sich und versuchte, ihn in den Daumen zu beißen. »Die sind wirklich hartnäckig«, sagte LoveStar, als er unsere Gesichter sah. »Manchmal muss man ihnen zehnmal den Hals umdrehen.« Er legte den leblosen Papageitaucher auf den Tisch und reichte uns seine Hand; sie war schmutzig, denn der Vogel hatte bei seinem Todeskampf Kot ausgeschieden. Einige schickten sich an, Fragen zu stellen, aber LoveStar wollte, dass wir zuerst die Firma besichtigten. Er öffnete die Tür zum Hauptsaal und flüsterte: »Passen Sie auf, dass Sie die Mitarbeiter nicht erschrecken.« Er führte uns in eine düstere Halle, deren Wände fast komplett mit Vogelflügeln bedeckt waren. LoveStar wurde auf einmal unsicher, fast nervös und flüsterte seinen Mitarbeitern zu: »Bleiben Sie ganz ruhig. Die möchten nur einen kurzen Blick auf Sie werfen.« Eine Journalistin der New York Times trat zu einem rothaarigen Mann, der sich über einen Tisch beugte und mit seinem Oberkörper etwas verdeckte. Sie fragte, was er da hätte. »Er versteht kein Englisch«, antwortete LoveStar für den Mann, »Guðjón ist ein außergewöhnlich gutmütiger Physiker. Selbst wenn man ihn tätschelt, bewegt er sich nicht.« LoveStar tätschelte dem Mann den Kopf, was dieser weder angenehm noch unangenehm zu finden schien. Dann drehte sich LoveStar plötzlich zu uns und sagte mit strenger Miene: »Seien Sie vorsichtig! Meine Mitarbeiter sind nicht alle so gutmütig. Fassen Sie bloß nichts an.« Die Frau von der Times machte ein missbilligendes Gesicht und ging zum nächsten Tisch. Darauf lag ein kleines Ei. Sie wollte das Ei gerade in die Hand nehmen, als LoveStar rief: »Nicht! Das ist Jamaguchis Ei!« Die Journalistin schaute ihn verwirrt an, und LoveStar schrie noch lauter: »Passen Sie auf!« Bevor wir wussten, wie uns geschah, kam ein kleines japanisches Mädchen durch den Saal gelaufen und sprang auf den Tisch. Sie kreischte und stach mit einem Bleistift auf den Kopf der Frau ein. Sämtliche Mitarbeiter rasteten aus, und LoveStar herrschte sie in unverständlichem Isländisch an. Die Journalistin rannte in den Vorraum und trat und schlug wie ein eingesperrtes Tier gegen die Sicherheitstür. Als LoveStar sie eingeholt hatte, versuchte er, sie zu beruhigen. Sie fasste sich an den Kopf und starrte auf ihren blutigen Finger: »Blut! Sie hat mich blutig gestochen! Dafür werden Sie büßen!« »Aber, aber«, sagte LoveStar, »Journalisten haben doch schon Schlimmeres erlebt.« Er öffnete die Tür, und die Frau stürzte hinaus in das gräuliche Licht. Wir hatten uns in eine Ecke geflüchtet, und LoveStar versuchte, die Sache herunterzuspielen. Er drehte sich zu uns und entschuldigte sich: »Ich hoffe, dass dieser Zwischenfall das Ansehen der Firma nicht ruiniert. Irgendwelche Fragen?«‹ (Vogelmenschen, S. 233–234)

Wie von LoveStar beabsichtigt, rächten sich die Journalisten heftig. Filmstars ergriffen Partei für den Papageitaucher, und Investoren in der ganzen Welt stoppten ihre Gelder für die Vogel- und Schmetterlingsforschungen. Kapitalgeber weigerten sich, Universitäten zu unterstützen, die Vogelwellen erforschten, und Imageberater legten Politikern nahe, nicht mit diesen Spinnern zu verkehren. LoveStar indes stellte sämtliche Wissenschaftler ein, deren Forschungsgelder gestrichen worden waren.

Alles verlief nach Plan. Mit den Vogelwellen hatte man ein großartiges, jungfräuliches Wissenschaftsgebiet entdeckt, das die Menschheit endgültig von händischer Arbeit befreite und Kupferdrähte, Lichtwellenleiter, Satelliten und UKW-Sender überflüssig machte. Die Entdeckungen der Vogel- und Schmetterlingsabteilung von LoveStar veränderten die Welt in wenigen Jahren. Man kann sagen, dass Vogelwellen eine neue Evolutionsstufe der Menschheit darstellten. Der »handfreie Mensch« entstand, mit einem besseren Orientierungssinn als die Raubmöwe und freier als der Monarchfalter.

Als die Satellitenfirmen bankrott gingen, erklärte sich bald die Namensgebung der Firma: LoveStar. In vielen Punkten entsprach sie LoveStars eigenem Werdegang, bei dem Ursache und Wirkung nicht immer in der richtigen Reihenfolge abliefen. LoveStar engagierte chinesische Astronauten, um Satelliten zu bündeln und sie über den Felsspitzen Hraundrangar im Öxnadalur aufblitzen zu lassen. Daher stammte der Name: LoveStar.

LoveStar schenkte der Nation auch die riesige Freiheitsstatue von Jón Sigurðsson, dem Vorkämpfer der isländischen Unabhängigkeit. Diese größte Freiheitsstatue der Welt stand breitbeinig über dem Hafen und sah LoveStar verdächtig ähnlich. Fünftausend Menschen arbeiteten vier Jahre lang an ihrem Bau. In den Augen der Statue brannte eine ewige FREIHEITSFLAMME.

LoveStar ließ auch das Gewölbe unter dem Berg Keilir bauen, wo der Politiker und Bankdirektor Davíð Oddsson einbalsamiert und in einem gläsernen Sarg zur letzten Ruhe gebettet wurde.

»Diese schwarze Pyramide in der Lavawüste bekommt nun eine angemessene Aufgabe als Gedenkstätte für den großen Anführer!«, sagte LoveStar bei der Enthüllung, bevor die ersten Touristen hineingelassen wurden. Das war natürlich, bevor LoveDeath seine Arbeit aufgenommen hatte.

Vierzig Jahre nach der Handbefreiung der Menschheit befand sich der Hauptsitz von LoveStar längst nicht mehr in dem alten Hangar am Reykjavíker Flughafen. Er war in Berge und Felsen im LoveStar-Vergnügungspark im Öxnadalur in Nordisland eingegraben.

Viele versuchten, LoveStar Steine in den Weg zu legen, als er das Tal kaufte. Eingedenk der Freiheitsstatue und des Gewölbes unter dem Keilir empörten sich reaktionäre Intellektuelle und wollten den überirdischen Teil des Tals vollständig unter Naturschutz stellen.

»Ich traute meinen eigenen Ohren nicht, als ich von den Plänen für den gigantischen Vergnügungspark hörte, den LoveStar am Geburtsort unseres Nationaldichters Jónas Hallgrímsson im Öxnadalur errichten will. Auch wenn LoveStars Finanzvorräte anscheinend unerschöpflich sind, dachte ich, ehrlich gesagt, das sei ein Witz. Man kann sich gut vorstellen, wie es dort in ein paar Jahren aussehen wird: ein zwanzigstöckiges Torfhotel mit gläsernen Giebeln und Neonbeleuchtung, eine Spielhölle mit romantischen Plastikherzen und goldene Hot Pots auf den Gipfeln der Hraundrangar. Bergbäche werden zu Wasserrutschen umfunktioniert, auf denen man in Gummianzügen die steilen Hänge hinabsausen kann, bis man unten im Tal in den See Hraunsvatn platscht. Riesige Heizstrahler blasen täglich um 10, 16 und 20 Uhr warme Winde von den Berggipfeln, und dann strippen tausend Mädchen in Nationaltracht und spreizen für anabolikagestählte Schafhirten die Beine, während Kühe muhen und Schafe blöken und Goldregenpfeifer zwitschern. Der Dichter und sein Werk werden in dem ganzen Klimbim natürlich untergehen …«

(Auszug aus einem Leserbrief von asm im Morgunblaðið )

Die Pessimisten hatten natürlich wie immer unrecht. Im LoveStar-Vergnügungspark gab es keine Plastikschafe und keine künstlichen Blumen, keine Spielhölle und keinen Striptease. Man konnte sich dort nicht für hundert Kronen von Robotern die Haare kämmen lassen, und es gab keine Verpackungen, keinen Ramsch, keine Klischees und keine billige Unterhaltung. In den Bergen gab es keine Schneeschmelzvorrichtung, die mitten im Winter Schnee schmolz, während eine Countrysängerin Nun weht der Südwind sang. Es wuchs kein hormonangereichertes Gras, und es gab keine Jugendlichen mit Weihnachtsmannbärten, die vorgaben, Bauern in Islandpullis zu sein. Der LoveStar-Vergnügungspark brauchte keinen Ramsch, weil er um echten Inhalt herum gebaut war. Auch wenn der Dichter am Ende wirklich unterging und vergessen wurde, ging er nicht in Verpackungen unter, sondern er verblasste einfach im Vergleich mit dem ganzen Inhalt. Die Faszination bestand nicht nur in der Liebe, sondern auch im Tod, denn ohne den Tod wäre die Liebe nichts als Plastik. Ohne den Tod wären Romeo und Julia und Tristan und Isolde lediglich melodramatische Plastikgeschichten.

Oberirdisch war die Landschaft genau wie seit tausend Jahren. Goldregenpfeifer trippelten umher, Füchse bellten, Raben krächzten, und der Schafhirte hütete die Schafe. Von einem Torfhof stieg Rauch auf, und ein bärtiger Bauer gab Vierzeiler zum Besten, wenn ihm danach war. Er war ein echter Bauer und wohnte mit seiner Frau, seinen Kindern und seinem Vieh auf dem Hof. Dort gab es kein Plastik, es gab noch nicht einmal Strom. Die Oberfläche des Öxnadalur war so, wie sie seit Jahrhunderten gewesen war, doch die Oberfläche war nur eine Schale, und manchmal erhaschten die Menschen einen unerwarteten Blick in jene Welt, die sich unter der Schale verbarg. Manchmal öffnete sich ein Felsen, und eine blau gekleidete Frau breitete weiße Decken zum Trocknen aus. Manchmal verschwand der Schafhirte in einem Erdhügel und verbrachte ein Schäferstündchen mit einer Reiseleiterin, manchmal stieg wie von einer brodelnden heißen Quelle Rauch aus der Wiese auf. Wahrscheinlich befand sich darunter eine Küche, und der Koch kochte gerade Hummersuppe. Das Tal war eine Schale, und wie eh und je zerbrachen sich die Leute den Kopf darüber, was sich hinter den Felsspitzen verbarg, die sich wie die Reißzähne eines bösen Wolfs vom Himmel abhoben.

Wenn der Schafhirte seinem Vater nicht gehorcht hätte und das Geröllfeld oberhalb des Hofs hinaufgeklettert, über Löwenzahnhänge und durch blühende Senken gegangen wäre, mit steilen Felshängen, Erdrutschen und Steinschlag gekämpft und sich flach auf den Bergrücken gelegt hätte, um die Welt jenseits der Felsspitzen sehen zu können, dann wäre er nie mehr derselbe gewesen.

Am Grat führte eine siebenhundert Meter hohe Wand aus funkelndem Glas steil nach unten, so als habe jemand den Berg entlang seines Rückens in zwei Hälften geschnitten. Im Tal standen Busschlangen, und Tausende von Menschen strömten wie Ameisen in die riesige Eingangshalle, deren Deckenhöhe 680 Meter betrug und in der alles aus geschliffenem Stein und Glas war. Manchmal bildeten sich unter dem Dachgewölbe Wolken, und Eissturmvögel flogen durch Lüftungsschächte hinein und zogen wie weiße Engel lautlos ihre Kreise. Die Vorhalle fasste 100000 Menschen. Die Berghänge vom Fluss ¢verá bis hinauf zu den Felsspitzen Hraundrangar bestanden aus einer mit Heidekraut bewachsenen Schale über dem gewaltigsten Labyrinth, das der Mensch je geschaffen hatte: Saal an Saal, Gewölbe an Gewölbe und Raum an Raum, doch durch die großartige Aussicht auf das unberührte, romantische Öxnadalur fühlte man sich nie eingesperrt. Wer durch die Glaswand ins Hörgárdalur schaute, konnte schwarze Zeppeline vorbeiziehen sehen. Meistens hingen drei oder vier Zeppeline in der Größe von Dampfschiffen über dem Gletscher Myrkárjökull und ließen Container, die sorgfältig mit der Aufschrift »LoveDeath« gekennzeichnet waren (bis auf ein paar Ausnahmen mit »Maersk«-Schriftzug), in die Kühlräume unter dem Gletscher hinab. Aus dem Gletscher rollten Lkws zu den Gipfeln Myrkárfjall und Flöguselshnjúkur, wo sich die LoveDeath-Abschussrampen vom Himmel abhoben. In regelmäßigen Abständen flammten grelle Blitze von den Gipfeln auf, dann schossen Raketen ins All, hell wie Kometen. Unter ihnen türmten sich Wolken auf und spiegelten sich in der Glaswand, auf der ein gigantischer Stern mit goldenen Lettern prangte: LOVESTAR.

Niemand, außer den Bewohnern der unter Naturschutz stehenden Bauernhöfe und LoveStar selbst, durfte das unberührte überirdische Öxnadalur betreten. Bei gutem Wetter konnte man LoveStar manchmal im weißen Anzug, mit Hut und braunem hölzernem Stock durch das Tal spazieren sehen. Meistens war er in Begleitung eines schwarzen Hundes. Es war ein alter Hund, den LoveStar schon fünfmal besessen hatte. Wenn LoveStar durch das Tal ging, taten die geschützten Leute auf den Bauernhöfen so, als bemerkten sie ihn nicht, doch die Kinder, die ihn in die Felsenstadt hineingehen sahen, dachten, er sei Gott.

Zum Zeitpunkt unserer Geschichte saß LoveStar an Bord seines Flugzeugs und war auf dem Weg nach Nordisland ins Öxnadalur. In seiner Hand lag ein Samenkorn. Die planmäßige Ankunftszeit war in vier Stunden und fünfzehn Minuten. Er hatte nur noch drei Stunden und fünfzig Minuten zu leben.

EIN HANDFREIER MODERNER MANN

Indriði Haraldsson war ein handfreier moderner Mann. Handfreie moderne Menschen umgaben sich so wenig wie möglich mit Kabeln und Leitungen, die allerdings nicht mehr Kabel und Leitungen hießen. Kabel wurden Fesseln genannt. Die alten Geräte nannte man Halden, Lasten oder Bürden. Die Leute betrachteten die Halden und Bürden und priesen sich glücklich. »Früher«, sagten manche, »waren wir Kabelsklaven, die an ihre Schreibtischstühle gefesselt waren, fernab von Vogelgezwitscher und Sonnenschein.« Doch das war längst Vergangenheit. Wenn Männer in Anzügen auf der Straße Selbstgespräche führten und Indexzahlen herunterleierten, hielt niemand sie für verrückt, denn wahrscheinlich führten sie gerade ein Verkaufsgespräch mit einem abwesenden Kunden. Ein Mann, der hochkonzentriert am Flussufer saß und Gymnastikübungen machte, konnte ein Ingenieur sein, der gerade eine Brücke konstruierte. Wenn eine Frau beim Sonnenbaden aus heiterem Himmel verkündete, sie wolle eine Fangquote für zwei Tonnen Seelachs kaufen, musste sich niemand automatisch angesprochen fühlen, und wenn ein Jugendlicher im Bus merkwürdig summte und den Kopf hin und her wiegte, litt er nicht zwangsläufig an schwerem Autismus – wahrscheinlich hörte er unsichtbares Radio. Wer heftig atmete und an einem unpassenden Ort oder zu einer unpassenden Zeit eine Erektion bekam, war vermutlich über seinen Sehnerv mit einem Hardcoreprogramm verbunden oder lauschte der Telefonsexline. Es gab kein Limit für die Perversitäten, die einigen Leuten durch die ständig verbundenen Köpfe gingen, aber man konnte ihnen natürlich nicht verbieten, ihre eigenen Köpfe mit Dreck, Gewalt und Obszönitäten vollzustopfen. Dann hätte man ebenso gut das Denken verbieten können.

Wenn jemand neben einem stand und fragte: »Wie viel Uhr ist es?«, woraufhin man prompt antwortete: »Halb zehn«, konnte der Fragende, obwohl sonst niemand zu sehen war, entgegnen: »Danke, aber mit Ihnen habe ich nicht gesprochen.«

Daher lohnte es sich in der Regel nicht, zu antworten, wenn ein Fremder einen ansprach. Man hätte ihn stören können.

Indriði Haraldsson war ein handfreier moderner Mann, und deshalb konnte kein normaler Mensch erkennen, ob er gerade durchdrehte oder nicht. Wenn er auf der Straße mit sich selbst sprach, war vielleicht jemand am anderen Ende der Leitung. Wenn er lachte und lachte, konnte das denselben Grund haben, oder er hörte gerade eine Comedy-Sendung im Radio, oder ein lustiger Sketch lief über seine Linse. Im Grunde ließ sich unmöglich sagen, was in seinem Kopf abging, aber es musste keineswegs etwas Unnormales sein. Wenn er durch die Straße rannte und schrie: »Das Ende der Welt ist nah! Das Ende der Welt ist nah!«, gingen die meisten davon aus, dass er an einem Radioquiz teilnahm und versuchte, einen Hamburger zu gewinnen. Wenn er siebenmal nackt auf der Rolltreppe im Einkaufszentrum hinauf und hinunter fuhr, dachten die Leute dasselbe, nämlich dass wahrscheinlich alle, die siebenmal nackt Rolltreppe fuhren, einen Preis bekamen. Es war schwer zu sagen, welchen Preis er ergattern wollte, zumal er nackt war und man, ausgehend von Frisur, Alter und Statur, nur raten konnte, welcher Zielgruppe er angehörte. Indriði war schlank, hatte blasse Haut und spärliche Körperbehaarung, während sein Kopfhaar blond, wirr und ungekämmt war. Er gehörte also bestimmt nicht zur Zielgruppe des Gute-Laune-Radiosenders, der für Bodybuilding, Sportwagen, Strähnchen und Solarium warb. Er hatte weder ein Tattoo noch eine gepiercte Lippe, Augenbraue, Stirn oder Vorhaut, sodass er nicht zur Zielgruppe des Senders gehörte, der auf alles einen Dreck gab, Rock- und Punk-Coverversionen spielte und für reines Bier, selbstgebrannten Schnaps und filterlose Zigaretten warb. Indriði war nackt und ungekämmt und gehörte bestimmt nicht zu einer der gesetzteren Zielgruppen. Vielleicht war er Performance-Künstler. Künstler performten immer irgendwas. Vielleicht brachte die Rolltreppeneinlage drei Punkte beim Performance-Kurs an der Kunsthochschule. Aber er konnte natürlich auch einer seltenen, exotischen Zielgruppe angehören. Davon gab es viele, obwohl man normalerweise versuchte, die Leute in eine allgemeinere Richtung zu lenken, wo man sie leichter erreichen konnte.

Wenn Indriði plötzlich zehn Sekunden lang jemanden anschrie: »EEEEEISKALTES MALZBIER! EEEEEISKALTES MALZBIER!!!«, ohne dass seine Augen oder sein Körper mit den Worten mitgingen, war das nicht unnormal. Der Grund für dieses Verhalten war klar: Die Werbung, die ihm übermittelt wurde, war direkt mit seinem Sprachzentrum verknüpft. »EEEEEISKALTES MALZBIER!!!!« Er musste also ein »Werbekräher« oder »Kräher« sein, wie sie meist genannt wurden. Vermutlich war er so pleite, dass er aus den meisten Zielgruppen herausfiel und es sich nicht lohnte, ihm Werbung zu übermitteln. Aber man konnte durch ihn Werbung an andere übermitteln, indem man Slogans mit seinem Sprachzentrum verknüpfte und seinen Mund als Lautsprecher benutzte. Wer an einem Kräher vorbeikam, musste mit einer Ankündigung rechnen:

»EEEEEISKALTES MALZBIER!«

Das hatte eine größere Wirkung als traditionelle Appelle auf Werbetafeln oder im Radio. Deshalb krähte Indriði, wenn er auf dem Weg zum Parkplatz einem Mann begegnete:

»BITTE ANSCHNALLEN! FAHREN SIE VORSICHTIG!«

Der Mann war mit überhöhter Geschwindigkeit ohne Sicherheitsgurt von der Polizei angehalten worden. Als Strafe musste er sich zweitausend erbauliche Ermahnungen von Werbekrähern anhören und für diese bezahlen. Das war vielleicht das Beste an der neuen Technik. Man konnte sie anwenden, um die Gesellschaft zu verbessern.

»LIEBE DEINEN NÄCHSTEN!«, kreischte ein finster aussehender Typ jede halbe Stunde. Ein geläuterter Mörder, vermutete Indriði ganz richtig und machte einen Bogen um ihn. Gefangene konnten vorzeitig freikommen, wenn sie für Wohltätigkeitsvereine oder Religionsgemeinschaften krähten.

Nicht alle Kräher waren pleite. Viele wollten einen Rabatt oder eine Vergünstigung ergattern, und einige arbeiteten nur in den ersten drei Monaten des Jahres als Kräher, während sie das neueste Update für ihr handfreies Betriebssystem abbezahlten. Wer sein Betriebssystem nicht updatete, bekam Probleme in Business und Kommunikation. Handfreie Haushaltsgeräte und automatische Türöffner erkannten nur die aktuellen Systeme, und dasselbe galt für neue Automodelle. Wenn jemand mit einem alten Betriebssystem die Straße überquerte, bremsten sie nicht mehr automatisch ab, und es blieb einem nichts anderes übrig, als die Beine in die Hand zu nehmen.

Wenn Indriði einer Gruppe Jugendlicher begegnete, rief er vielleicht:

»GEILE SCHUHE! GANZ SCHÖN COOL VON DIR, SO GEILE SCHUHE ZU KAUFEN!«

Es war eine völlig neue Strategie, die Leute erst etwas kaufen zu lassen und sie dann dafür zu loben. Dadurch stärkte man das Verhaltensmuster und brachte die Produkte früher in Mode.

Manchmal wirkten die Ankündigungen absurd, bestanden womöglich nur aus einem Wort, einem Motto oder einem Slogan, der in keiner Verbindung zu einem Produkt stand. Dann waren sie wahrscheinlich Teil einer längerfristigen Kampagne, einer sogenannten Denksportwerbung, über die sich die Leute lange und ausgiebig den Kopf zerbrachen. Auf der Haupteinkaufsstraße Laugavegur begegnete man beispielsweise einer alten Frau, die aus heiterem Himmel sagte:

»GESCHMEIDIGKEIT!«

Ein Stück weiter traf man einen Jugendlichen, der sagte:

»DYNAMIK!«

Und selbst wenn man auf dem Absatz kehrtmachte und in die Hverfisgata einbog, hörte man aus einem Kellerfenster ein Flüstern:

»ZUVERLÄSSIGKEIT!«

Am Ende raste jemand auf einem Fahrrad durch den Klapparstígur und rief:

»FOOOOORD! FORD!«

Solche Kampagnen erreichten immer ihr Ziel, man konnte ihnen nicht entkommen. Alles wurde haargenau bis auf 0,5 Zentimeter ausgerechnet, und die Ankündigung passte perfekt zur Zielgruppe des Empfängers, der bis in seine banalsten Marotten hinein kategorisiert war. Das Krähersystem war effizient, einfach und bequem. Jeder normale Mensch konnte für wenig Geld einen Kräher bestellen, wenn er sich an etwas erinnern lassen wollte.

»Um drei Uhr haben Sie ein Meeting mit dem Minister, und denken Sie an Ihren Hochzeitstag!«

Wer vor kurzem in die Stadt gezogen war, bestellte oft einen oder zwei Kräher, um sich auf der Straße grüßen oder in ein Gespräch verwickeln zu lassen.

»Guten Tag, Guðmundur, schönes Wetter heute!«

Dann wirkte die Großstadt nicht mehr ganz so kalt und abweisend. Entwurzelte Bauern, die gerne von einem Hahnenschrei geweckt wurden, konnten ihre Nachbarn um sechs Uhr morgens krähen lassen, falls sie in der glücklichen Lage waren, in der Nähe eines Krähers zu wohnen.

»Kikeriki! Zeit zum Aufstehen!«

Vielen Unternehmern war es wichtig, frühmorgens als Erstes ihr Selbstvertrauen zu stärken.

»Sie sind der Beste!«, sagte die Putzfrau.

»Keiner kann Sie aufhalten, Bjarki!«, sagte der Hausmeister.

»Sie sehen heute aber gut aus!«, sagte der Taxifahrer. »Heute ist ein Tag für Gewinner!«

Wenn freie Menschen in der Nähe waren, musste man mit allem rechnen, und deshalb achtete auch niemand darauf, wenn Indriði in einem Café saß und weinte. Er saß laut heulend in einer Ecke, und die wenigsten kamen auf die Idee, ihn zu fragen, was los sei. Wahrscheinlich hatte seine Zielgruppe Woche der griechischen Tragödie. Es war am einfachsten, so etwas anzunehmen. Aber er konnte natürlich auch eine »Werbefalle« sein.

»Warum weinst du denn?«

»Ich hätte so gerne einen Honda, das sind echt tolle Autos, und diese Woche gibt es ein unschlagbares Angebot.«

Werbefallen trieben es weiter als Kräher. Sie vermieteten nicht nur ihr Sprachzentrum, sondern auch primitive biologische und emotionale Reaktionen. Diese Methode war technisch noch nicht ganz ausgereift, weshalb Fallen manchmal tagelang nicht aufhörten zu lachen oder zu weinen. Selbstverständlich wurde niemand dazu gezwungen, eine Falle zu sein, zu lachen, zu weinen oder sich auf der Straße in die Hose zu machen und zu einer Frau mit einem heulenden Baby zu sagen:

»Jetzt wären 100 % saugfähige Pampers nützlich gewesen!«

Viele ließen sich jedoch dazu überreden, Fallen zu werden, da das Verleihen der eigenen Gefühle zehnmal so viel einbrachte wie konventionelle Sprachzentrumsverküpfungen. Der Werbeeffekt von Fallen war immens, besonders wenn sie etwas Witziges taten oder sich wie Babys in die Hose pinkelten und heulten.

Durch die Entwicklung des handfreien modernen Menschen, der mit Linse und unsichtbaren Kopfhörern immer online war, wurden die meisten Grenzen niedergerissen. Man konnte zum Beispiel nie wissen, wo sich der äußere Rahmen einer Firma wirklich befand. Wenn Indriði einen alten Schulkameraden in der Öffentlichkeit traf, wusste er nicht, ob dieser ihn womöglich gerade »abfertigte«. Nach einer kurzen Unterhaltung (die, im Nachhinein betrachtet, mit den Worten »Grüß dich, Indriði, kann ich dir irgendwie behilflich sein?« begonnen hatte) endete das Gespräch meistens auf die gleiche Weise:

»Es bewölkt sich, beeilen wir uns lieber.«

»Na und? Das stört mich nicht, ich habe einen fantastischen Regenschirm. Darf ich dir auch so einen fantastischen Schirm anbieten?«

»Nein, danke. Es könnte ein Gewitter geben.«

»Na und? Ich habe eine sehr gute Versicherung bei LoveLife. Den Regenschirm habe ich umsonst dazu bekommen, als ich diese großartige Versicherung bei LoveLife abgeschlossen habe.«

Es war offensichtlich, dass der alte Schulkamerad ein »Geheimwirt« war und das Gespräch ausschließlich dem Zweck diente, Regenschirme oder Versicherungen zu verkaufen. Es war völlig gleichgültig, worüber gesprochen wurde. Die Offerte war wie ein Magnet, wie ein Schwarzes Loch oder ein Abfluss, und jedes Gespräch war dazu verdammt, hineingesaugt zu werden.

Familie:

»Wie geht es deiner Mutter?«

»Der geht es gut. Sie hat eine ausgezeichnete Lebensversicherung, bei LoveLife …«

Kultur:

»Wie gefallen dir die Gedichte von Jónas Hallgrímsson?«

»Ich frage mich, was für Lebensversicherungen man wohl im 19. Jahrhundert hatte? Damals gab es LoveLife ja noch nicht …«

Sport:

»Gutes Spiel gestern.«

»Ja, der arme Felix, Kreuzbandriss, ob er dagegen versichert ist? Ich informiere mich mal für ihn bei LoveLife. Du bist doch auch da versichert, oder?«

Es war schwierig, Geheimwirte von normalen Leuten zu unterscheiden. Deshalb wusste man nicht immer, wem man glauben und vertrauen konnte. Jeder konnte ein Wirt sein, sogar im eigenen Freundeskreis. Anders als Fallen und Kräher warben Geheimwirte aus eigener Initiative. Ein guter Geheimwirt ließ sich nicht entlarven und wechselte regelmäßig seine Produkte. Manche Geheimwirte verkauften nicht direkt, sondern warben nur und sorgten für die richtige Stimmung.

»Den Film kann ich dir echt empfehlen, ein irrer Film. Soll ich dir eine Karte besorgen?«

Manchmal arbeiteten Geheimwirte auch als »Spione«. Sie schickten Berichte an ISTAR (Image-, Marketing- und Öffentlichkeitsbereich der LoveStar-Stimmungsabteilung). Im ISTAR Büro arbeiteten nur eine Handvoll Vorgesetzte, die anderen Mitarbeiter waren über die ganze Welt verteilte handfreie moderne Menschen, die sämtliche Informationen aus einer Datenbank in Spitzbergen bezogen.

ISTAR konnte zwar problemlos Basisinformationen über Kultur-, Fernseh- und Radiokonsum, Lebensmittelrechnungen, Musikgeschmack, tägliche Fortbewegung, Hobbys und allgemeine Ansichten sammeln, aber detailliertere Informationen waren von Vorteil. Für Imageerhebungen lenkten Wirte und Spione Gespräche auf die Interessen der Firma, während sie von ISTAR-Experten abgehört wurden. Eine Unterhaltung im Freundeskreis über Liebe, Tod, Gott oder Freundschaft konnte sich um hundertachtzig Grad wenden, wenn der Spion plötzlich fragte: »Fandest du die Krawatte des Politikers eigentlich geschmackvoll? Und seine Anschauungen? Sympathisierst du mit denen? Weißt du noch, wie viele Zivilisten vor acht Jahren getötet wurden? Weißt du noch, wo? Würdest du mehr Todesfälle in Kauf nehmen, wenn du mehr Popnachrichten hören könntest? Der Präsident hat eine süße Katze namens Molly. Findest du ihn jetzt sympathischer? Wie stehst du zu Behinderten? Findest du die nett? Würdest du deinen Lebensstandard herunterschrauben, damit sie mehr Unterstützung bekämen? Und was hältst du eigentlich von Madonna?«

Als Indriði an diesem Tag auf dem Nachhauseweg war, rief ihm niemand aufmunternd zu: »Hallo Indriði! Du siehst heute aber gut aus!«, denn er konnte sich solchen Luxus nicht leisten. Auf dem Weg durch die Straße Rofabær begann er, Maistern zu singen. Alle Kräher der Stadt sangen in diesem Moment Maistern – das war Teil einer Werbekampagne für eine internationale Musikaktion in der darauffolgenden Woche. Das Lied hallte durch die Stadt, aber es war schwer zu erkennen, wer freiwillig sang und wer nicht. Kräher zu sein galt als unfein, weshalb viele Leute ein fröhliches Gesicht aufsetzten und so taten, als sängen sie freiwillig mit. Für die meisten Passanten war Indriði eine lebendige, unbeschwerte Werbung. Ihre Linsen bildeten die Noten ab, die aus seinem Kopf strömten, mitsamt dem beschwingt in der Luft hängenden Text:

»Sing und sei fröhlich! Am Montag beginnt die internationale Gesangswoche!«

Als das Lied zu Ende war, kämpfte Indriði mit den Tränen. Ihm war gerade etwas unglaublich Wichtiges durch den Kopf gegangen, aber als Maistern anfing, hatte er den Faden verloren. Sein Leben ging vor die Hunde, und alles stand auf dem Kopf. Vor ein paar Wochen war das Leben noch süß wie Erdbeeren gewesen und die Liebe golden wie Honig, aber jetzt war er sich nicht mehr sicher, ob seine große Liebe zu Hause noch auf ihn wartete.

INDRIÐI WAR ES NICHT GEWOHNT ZU WEINEN

Indriði war es nicht gewohnt zu weinen. Er hatte eigentlich nie einen Grund dazu gehabt. Seit seiner Wiedergeburt war sein Leben nahezu störungsfrei und glatt verlaufen. Indriði war ein guter Junge. Darüber waren sich die meisten Leute einig, aber das war auch fast das Einzige, was sie über ihn sagen konnten.

»Indriði ist ein prima Kerl«, sagten seine Bekannten.

Indriði war ein aufrichtiger, vielversprechender Junge, der eine gute Erziehung bei netten Eltern in einem stilvollen Haus am Stadtrand genossen hatte. Er war froh, am Leben zu sein, was er der Tatsache zu verdanken hatte, in eine Zeit der moralischen Ungewissheit hineingeboren worden zu sein. Als Indriði auf die Welt kam, war es beispielsweise legal, von jedem Kind zwei Reagenzgläser mit Ersatzexemplaren einzufrieren. Wer sein Kind verlor, konnte es »wiederbeleben«, indem er »dasselbe« Kind erneut auf die Welt kommen ließ. Es gab spezielle »Ärztinnen«, die solche »Rettungsmaßnahmen« übernahmen (chinesische Frauen, im Ausland befruchtet, im achten Schwangerschaftsmonat importiert). Siebenundneunzig Prozent der Eltern, die ihr Kind verloren hatten, überwanden ihre Trauer innerhalb von zwei Jahren, wenn sie das Ersatzexemplar in Anspruch nahmen, während diejenigen, die ein anderes Kind bekamen, sich viel später oder nie von dem Schock erholten. Wer das Ersatzexemplar in Anspruch nahm, hatte technisch gesehen kein Kind verloren. Das Kind war gerade noch gerettet worden, sein Leben hatte sich lediglich verzögert. Untersuchungen zeigten, dass die Langzeitschäden ähnlich waren wie bei Angehörigen von Leuten, die ihr Gedächtnis verloren hatten. Im Grunde verlor der Betreffende nur sein Gedächtnis, und sein Leben wurde um ein paar Jahre aufgeschoben.

Doch wie sämtliche Errungenschaften wurde diese Technik natürlich missbraucht, und ihre Vorgaben wurden von Privatpersonen und Firmen großzügig ausgelegt. Durch die Ersatzexemplare wurden viele Leute nachlässig. Indriðis Eltern hätten sich zweifellos mehr bemüht, als Indriði zum ersten Mal geboren wurde, wenn die Versicherungsgesellschaft keine Ersatzexemplare gehabt hätte.