Lucy - Fabian Menger - E-Book

Lucy E-Book

Fabian Menger

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Beschreibung

Der erfolglose Maler Albrecht Goni wird eines Nachts von einer mysteriösen Gestalt heimgesucht. Schon bald wiederholen sich diese Treffen und zwingen ihn dazu voller Sorge und Furcht seine kleinen und unbedeutenden Tage zu bestreiten. Es beginnt eine Suche nach den Ursachen, eine Suche nach Normalität und verlorenen Frieden. Eine ungeheure Macht übt dieses Wesen auf ihn aus, denn seine gesamte Gefühlswelt scheint Sie zu kontrollieren. Er tauft "sie" auf den Namen Lucy, vollbringt durch sie kleine und große Taten, verflucht sie, während er sich neu verliebt, wandert durch seine eigene Seele und erfährt ein bekanntes Geheimnis.

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Wie ein Vogel unterm Eis,

schaust du von oben auf mich drein.

Im Gedanken bereits im Adlerflug,

steckt das Leben doch in Kinderschuhen.

Ein Blick allein, dein Atem reicht,

dein Geruch, mein Herzschlag seicht.

Deine Worte sangen, bis ich schlief,

deine Gesten warfen mich Meilen tief.

Deine Anmut, macht unwiderstehlich,

lässt alles bröckeln, ganz allmählich.

Keine Bestie, Raubtier oder Vandale,

nur wir selbst und stets in Quale.

Jeder kann dich in sich finden,

jeder wollüstig sich an dich binden.

Du ziehst und treibst, zum Leben hin,

erziehst und gleichst allen Lebenssinn.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 1

Die Augen von Albrecht öffneten sich. Schon wieder kein Schlaf, keine Ruhe, keine befriedigende Nacht, in der er seine Kräfte sammeln konnte, wieder drohte ein Tag in dem die quälende Müdigkeit über ihn herrschte. „Gottverdammt“, fluchte er in die Stille der Nacht hinein. Da lag er wieder, mit seinen Gedanken und Gespinsten im Kopf, mit diesem brennenden Gefühl in der Magengegend und dem marternden Wissen, dass der neue Tag ein schlechtes Abbild des Alten sein wird. Er rieb sich die Schmerzenden Augen, fasste sich an die Stirn und schlug sich mit der geballten Faust dagegen. Der Kopf rebellierte, dieser dumpfe Schmerz hinter seiner Stirn ward unerträglich, das schwere Pochen zwischen seinen Schläfen ließ ihm jeden Tag aufs Neue Leiden. Nichts Angenehmes, nichts Besonderes, nur eine Tatsache, die ihm das Gewicht des Lebens spüren ließ. Ein Geruch strömte durch den Raum, betörend und sanft, ein milder und angenehmer Duft, doch völlig fremd und neu, völlig losgelöst von diesem bedrückenden Raum. Das musste von draußen kommen. Die Jahreszeit versprühte eine kühle Luft und ließ sie durch das offene Fenster wehen. Von weit her bellte ein Hund, dies musste ihn aufgeweckt haben, diese verdammte Töle, mitten in der Nacht die Leute zu wecken. Er stand langsam auf, um das Fenster zu schließen, fühlte dann wieder seinen Rücken, seine Verspannungen, sein fortgeschrittenes Alter. Wieder eine Raschlebige Nacht verglüht, wieder hingen die Sterne beschwichtigend und erwartungsvoll am Himmel, längst erloschen und doch noch sichtbar, gleich Gedanken, gleich Erinnerungen, die in seinem Kopf nachts offenbar wurden. Er atmete nochmals die frische der Luft in sich ein, atmete schwer und unbefriedigt wieder aus, nahm nochmals den verheißungsvollen Geruch wahr und suchte dessen Herkunft. Vielleicht eine Pflanze, die zu dieser Jahreszeit erblüht, die ihren Duft absonderte und das Leben damit vermehren will. Er schloss das Fenster, blickte nochmals in die Finsternis der Nacht und wollte sich wieder hinlegen, um noch etwas Schlaf zu erhaschen, vielleicht hatte er ja Glück - doch ach, er kannte sein Schicksal, er würde die nächsten Stunden wach und unbefriedigt auf seinem Lager liegen. Als er sich umdrehte, um den Versuch des Schlafes zu wagen, zuckte er zusammen. Ein Schreck fuhr ihn tief in die Glieder, alles in ihm zog sich zusammen und er wollte schon schreien vor Angst. Er hatte das Gefühl, dass er weichen müsse, doch hinter ihm befand sich die feste Wand, die ihm eine Flucht nicht ermöglichte. Da Stand jemand an der Tür. Wie gelähmt schaute er auf das Wesen, das einfach nur dort starr und reglos verweilte und ihn anschaute. Das Grauen kroch in seine Knochen, lies sie erstarren und machte ihn schier bewegungsunfähig. Die Schwarze Gestalt stand einfach nur da, bewegte sich nicht, schaute einfach auf ihn, blickte ihn aus schwarzen Löchern an, völlig starr und reglos. „Was? Wer sind Sie? Was machen Sie hier?“, wollte er sagen, doch er brachte keinen Ton heraus. Aus Angst und Furcht fing er an zu schreien, fing an das Wort „Hilfe“ mit seinen Lippen zu formen. Er schrie und schrie und plötzlich - wachte er auf, wachte von seinen eigenen Schreien einfach auf. Alles nur ein Traum gewesen, alles nur ein böser Alp, ein Gespinst, das sein Kopf ihn vorgegaukelt hatte, ein Theater seiner Gedanken, nichts Wirkliches. Er schaute auf die Uhr, zwei Uhr vier, mitten in der Nacht. Jetzt war an Schlaf nicht mehr zu denken, er schaltete die Nachttischlampe an, schaute sorgenvoll in die Ecke, in der die Gestalt gerade noch stand, doch da war nichts, natürlich war da nichts mehr. Doch er war wach und stand auf.

Es war ein strahlend heller Oktobertag, an dem man die Wolken vergeblich am azurblauen Himmel suchte. Die Natur färbte sich ein, zeigte nochmals ihre ganze bracht und ihr mögliches Farbenspiel, bevor der bedrohliche Winter alles zu Nichte macht. Der 38-jährige Albrecht verlies seine Wohnung als die Turmuhr des kleinen Städtchens, dreiviertel acht schlug, um acht begann seine reguläre Arbeitszeit. Er schritt durch den alten Hausflur, an dem hier und da schon der Putz von den Wänden bröselte, permanent roch es hier nach Kohlsuppe, ein Geruch, der ihm seit 20 Jahren in der Nase lag, doch dessen Herkunft ihm seither unbekannt. Aus dem Keller holte er sein altes Fahrrad, mit dem er meistens zur Arbeit fuhr. Seine dicke karierte Fleecejacke wärmte ihn an diesem Tag nur unzureichend, das lag sicher auch daran, dass das ein oder andere Loch nicht geflickt wurde, doch für die Arbeit würde es schon gehen. Er trug das Rad die Zwei Treppen hoch, öffnete die alte Eingangstür, an der die Verglasung seit einigen Jahren gerissen und scheinbar nie ausgewechselt wurde. Auf seinem alten Zweirad fuhr er die Straße hinab, ein grauer alter Drahtesel mit dem er schon so einige Kilometer gefahren und schon so einige Arbeitstage hinter sich gebracht hatte. Sein braunes Haar wurde durch den Fahrtwind in Unordnung gebracht, seine müden grünen Augen starrten wie mechanisch auf die Straße. Früh begann der heutige Tag, doch das begannen in letzter Zeit alle Tage, seine innere Unruhe hatte direkten Einfluss auf die Nächte. Seine Arbeit lenkte ihn zuzeiten ab, eine Hausmeistertätigkeit in dem ansässigen städtischen Theater, nichts Herausforderndes, keine Herzensangelegenheit, aber doch eine Tätigkeit, eine Beschäftigung und auch eine Abwechslung von den eigenen Gedanken. So fuhr er gedankenlos vorbei an dem großen, prächtig angelegten Park mit den vielen bunten Buchen und einigen Weiden, die Zeitlos in den Himmel ragten, doch keinen Blick würdigte er dieser künstlich angelegten Natur. Einige Menschen spazierten schon ihres Weges, viele auf dem Weg zur Arbeit, einige mit Hunden, stets beschäftigt und mit einem Ziel vor Augen. Im Hintergrund erstreckten sich in Reihe graue Wohnblöcke, die ein tristes und monotones Bild abgaben. Dann fuhr er vorbei an Ampeln und Straßen, an Menschen und Gesichtern, die ihm alle egal, die ihm alle nichts angingen, keinen von ihnen würdigte er eines Blickes, keine Frau, die sein Blick lockte, kein Kind, das sein Herz erwärmte. Die erste Ampel auf seinem Weg schaltete auf Rot. Kurz warten. Ein gezwungener Stopp. Sein Blick starr auf die rote Leuchte. Wenige Sekunden dann - gelb. Dann - grün. Wieder mit Kraft und Anstrengung in die Pedale treten und weiter. Er trug seine alten, zerschlissenen, braunen Arbeitsstiefel, knöchelhoch und scheinbar unverwüstlich hingen sie an seinen Füßen, als Zeichen für ein mühsames und fortschreitendes Leben. Kein Lächeln, keine Regung in seinen Gesichtszügen, alles wurde scheinbar anteilslos durchlebt, wurde ertragen und hingenommen. Keine Gedanken, keine großen Pläne schwirrten ihm im Kopf umher, alles war gegeben und starr in und um ihn her. Die zweite Ampel kam nur ungefähr 50 Meter weiter, auch diese leuchtete am heutigen Morgen rot. Er starrte träge und einförmig zur Leuchte hinauf, einzig auf sein weiterkommen wartend. Dann endlich - Gelb. Dann - Grün. Wieder aufs Rad schwingen und mit Kraft in die Pedale treten. Als er am Theater ankam, stellte er sein Zweirad wie immer in den kleinen Keller, der extra für den Hausmeister gedacht war. Hier hatte er eine kleine Werkstatt, hier hatte er einen Rückzugsort und auch ein kleines Atelier. Denn er war Maler, eine Leidenschaft, der er jedoch nur noch leidenschaftslos nachging. Er hatte schon seit Jahren kein Bild mehr gemalt, die Lust und die Muße fehlten. Sicher war das nicht immer so, die Bilder im Keller sind ein Beweis für ein strebsames Wirken des Künstlers, jedoch wann war das? Er selbst konnte sich nicht entsinnen. Er stellte seine braune Ledertasche auf den Tisch, packte schon einmal sein Frühstück aus, eine Brotbüchse mit etwas Schinken und trockenem Brot darin. Dann wurde die Tasche unter seiner Werkbank verstaut. Er öffnete sein Geheimfach unter der Werkbank, nahm sich eine Flasche mit hochprozentiger Flüssigkeit und trank einen kräftigen Schluck. Verschloss diese wieder und stellte die Flasche wieder zurück. Er zog seinen alten Blaumann an und machte sich bereit seinem Tagewerk nachzugehen. Der heutige Tag sollte einige Reparaturen bereithalten, mal wieder ist ein Klo verstopft, mal wieder musste er die unangenehme Arbeit verrichten und die Ursache der Verstopfung herausbekommen und beseitigen. In einer Garderobe musste die Leuchtstoffröhre gewechselt werden, er hatte die Bestellung aufgegeben, die Leuchte sollte gestern gekommen sein, diese Arbeit ist schnell erledigt. Dann galt es noch die Sitze vom Vorabend zu kontrollieren und den Müll und die Abfälle zu entsorgen. Viele kleine mannigfaltige Aufgaben, alles wurde ohne innere Freude, ohne viel Mühe oder Leidenschaft erledigt. „Morgen“, sagte eine ältere Frau mit großer Brille zu ihm, als er auf dem Weg zum kaputten Klo lief. „Morgen“, antwortete er mit tiefer, monotoner Stimme. „Moin“, erschall es von einem jungen Schauspieler, der gerade das Klo verlies. „Moin“, echote es aus seinem Mund. Das waren die Worte, auf die sich seine Gespräche mit den Menschen im Theater begrenzten. Der ein oder andere hatte schon öfters versucht eine Interaktion mit ihm zu führen, doch stets verlief diese zäh und meistens im Sande. Es sprach sich herum, Albrecht sei ein wortkarger alter Mann, ohne Profil und wahrhafter Persönlichkeit, einfach ein Statist, der hier im Theater die kleinen und großen Aufgaben erledigte, die eben erledigt werden mussten. Roboterhaft bewegte er sich tagsüber durch das Theater, ohne die Aufmerksamkeit von irgendjemanden auf sich zu ziehen, ohne ein Gespräch zu suchen, ohne dass ihn jemand bewusst wahrnahm. Zur Frühstückspause zog er sich in seinen Keller zurück, aß dort für sich allein, ohne Nebengeräusche ertrug er die Stille und Verlassenheit mit einer stoischen Haltung. Heute wurde er kurz vom Telefon erschreckt, Frau Glockner war am Apparat und gab einen Mängel in der Garderobe bekannt, eine Sache, die jedoch bis morgen warten musste, deswegen antwortete er nur knapp: „Morgen dann. Nicht heute.“ Bevor die erste Pause endete, öffnete er noch ein kleines Fach unter seiner Werkbank, griff sich eine kleine Dose mit Whiskycola und trank diese mit wenigen Zügen leer. Dann ging es wieder an die Arbeit, Stunde für Stunde, Minute für Minute werkelte er vor sich hin, putzte, reparierte und besserte aus. Die Reparatur des Klos war nicht eben einfach, doch am Ende funktionierte die Spülung und das Wasser lief wie gewohnt ab. Als die Turmuhrglocke den kleinen Zeiger auf der vier und den großen Zeiger auf die zwölf platzierte, begann sein Feierabend. Er holte das Zweirad aus dem Keller, setzte sich auf den rissigen braunen Ledersattel und fuhr zurück zu seiner Wohnung. Wieder an der Ampel anhalten. Blick stur und ernst auf das rote Licht gerichtet. Kurz warten. Dann - gelb. Dann - grün. Dann die braunen Lederstiefel auf die Pedale drücken und weiter. Vorbei an dem Park, der nachmittags für gewöhnlich überfüllt und mit Geräuschen von spielenden Kindern ihm keinen Halt und keinen Spaziergang abverlangte, dafür hielt er an einem kleinen Supermarkt, um sich noch Bier und Whisky zu kaufen, einige Zigaretten und ein paar Dosen mit Linsen und Erbsensuppe. Als er an seiner Wohnung ankam, rannten ihn beinah ein paar Kinder über den Haufen, worauf hin er ihnen einen wilden Fluch hinterherjagte. „Ihr beschissenen Bengel! Fahrt zu Hölle, hört ihr?“ Die Kinder lachten und rannten ihres Weges. In der Wohnung packte er seine Arbeitstasche in die gewohnte Ecke, räumte seine Frühstücksdose raus, bereitete alles für den morgigen Tag vor und setzte sich dann mit dem gekauften Bier vor dem Fernseher. Die Zeit bis es galt ins Bett zu gehen, verbrachte er mit Trinken und Rauchen, er ließ das Fernsehprogramm über sich ergehen und wollte mit nichts und niemanden etwas zu tun haben. Doch jeden Tag kam mit penibler Regelmäßigkeit der Moment, in dem es ihn packte, vielleicht weil der Alkohol schwermütig und sehnsuchtsvoll machte, vielleicht weil er ahnte was für ein bitteres Dasein er hier führte. Dann trank er den Whisky, der verfehlte seine Wirkung nie, zuerst wurde es schlimmer, manchmal verfluchte er sich selbst, doch wie jede gute Medizin schnell Linderung bringt, brachte auch der Whisky recht zügig den erwünschten Schlaf. Er wusste nicht, wie lange er lag oder ruhte, seine schweren Lider öffneten sich und er blickte in die Dunkelheit, orientierte sich mit seinen müden Augen und stellte fest, dass er irgendwie ins Bett gekommen sein musste. In seinem Schädel pochte wieder dieser dumpfe, drückende Schmerz, den er so gut kannte und verfluchte. Es galt die Augen wieder zu schließen, es lag nichts daran jetzt schon aufzustehen. Er durfte sich nicht dem Schmerz hingeben, durfte jetzt nicht anfangen zu denken, einfach weiterschlafen, einen dunklen, tauben Schlaf haben, nur nicht wieder wach dem Morgen entgegenfiebern. Er wollte sich umdrehen, doch – er konnte sich nicht bewegen. Jeder Versuch sich zu rühren scheiterte, er blieb reglos und steif, hatte keinerlei Kontrolle über seinen Körper. Angst kroch ihm in die Glieder, sein Atem beschleunigte sich und seine Augen standen jetzt weit offen. Kein Wort wollte ihm über die Lippen, nur ein angstvolles Stöhnen gelangte aus seinem Munde, gleich einem Schrei eines Verschütteten, dessen Rufe nie an die Oberfläche gelangten. Wieder nahm er diesen lieblichen Duft wahr, diesen ganz eigenen bedeutungsvollen Schwall, den er noch nie davor gerochen hatte, er sog ihn in sich auf, füllte seine Lungen damit, merkte dass er ruhiger wurde und hörte irgendwann nur noch seinen Herzschlag. Hörte wie es schlug, fest und kräftig, taktvoll und verlässlich. Woher kam dieser Duft? Das Fenster war geschlossen und in seiner Wohnung hatte er so etwas noch nie wahrgenommen. Seine Augen suchten im Raum nach der Ursache. Doch da war nichts, keine Veränderung oder irgendein Räucher- oder Gaukelwerk, dass diesem Duft absondern konnte. Er schloss die Augen wieder, in der Hoffnung aus diesem Alptraum zu erwachen. Doch er blieb gefangen, blieb geknechtet und gepeinigt auf seinem Bett. Er öffnete seine Augen und erblickte die gleiche dunkle Gestalt, die auch letzte Nacht ihm die Hölle verkündete. Wie eine irrwitzige Statur, die jemand in den Raum gestellt, eine schwarze Silhouette, dessen Blick mitten auf ihn gerichtet schien. Ein stummes Ding, wie ein schwebender Abgrund lag dieser Anblick auf ihm. Aus Furcht rannen neue stöhnende Geräusche aus seinem Mund, sein Herzschlag schlug vor Schreck in einem wilden Takt und schien aus seiner Brust springen zu wollen. So sehr er sich auch anstrengte, so sehr er auch versuchte seine ganze Kraft aufzubringen, nichts half. Wie gefesselt und geknebelt lag er auf dem Bett, fühlte sich ausgeliefert und hilflos, ohne Macht und Kontrolle über sein Leben. Er schloss die Augen und es ran vor Verzweiflung eine Träne seine Wange hinab. Er atmete verzweifelt ein, atmete diesen bedeutungsschwangeren Duft in sich ein. Beim Ausatmen befand er sich wieder auf seinem Sessel.

Kapitel 2

Er schloss seine Haustür ab, blieb noch kurz vor der geschlossenen Tür stehen und blickte gedankenversunken die Treppe hinab. Dieser Traum beschäftigte ihn und er rätselte, was er wohl bedeuten könnte. Was für ein Unsinn mir mein eigener Kopf vorgaugelt, die Formbarkeit der eigenen Gedanken ist wirklich beängstigend, dachte er. Langsam schritt er hinab Richtung Keller, schleppender lief er, behäbig nahm er eine Stufe nach der anderen. Alles erschien so real, er konnte den Duft beschreiben, wusste noch jedes Detail des Traumes zu benennen, noch nie hatte er in seinen 38 Jahren so etwas erlebt. Unfug, welchen sich das Hirn erdachte, er hatte sich noch nie viel aus Aberglauben gemacht, er würde auch heute nicht damit anfangen. Er atmete entrüstet aus und ging in den Keller, um sein Fahrrad zu holen. Er strich über den rissigen Fahrradsattel und beschloss gleich heute einen neuen bei Fahrradladen Klausens zu kaufen, dieser alte war nicht mehr dienlich und musste ersetzt werden. Auf dem Weg nach draußen fiel ihm wieder diese rissige Scheibe der Eingangstür ins Auge. Heute verspürte er einen Ärger darüber, dass diese noch nie ausgewechselt wurde, immerhin bezahlte er doch seit Jahren seine Miete, sicher eine sehr billige, aber niemand sollte jeden Tag durch diese alte Tür gehen müssen. Er schwang sich aufs Rad, trat mit seinen alten braunen Arbeitsstiefeln in die Pedale und radelte los. Als er an dem großen Park vorbeikam, schaute er kurz auf die ganzen bunten Bäume, die in Reihe dort standen und die an dem heutigen Tag ein paar Sonnenstrahlen durchließen, was ein recht hübsches Bild ergab. Wieder kam ihm die Machtlosigkeit in den Sinn, dieses ausgeliefert sein, diese Wehrlosigkeit und dieses unfreie Gefühl in seiner Brust. Konnte dieser Traum eine Bedeutung haben, immerhin hatte er gestern einen ähnlichen gehabt, auch mit dieser schwarzen Gestalt, diesem furchteinflößenden Etwas. Vielleicht hatte er auch irgendwann einen Film gesehen, in dem solch eine Szene zu sehen war, doch das würde ihm sicher einfallen, der Kopf hätte sich mit dem Gedanken intensiv auseinander setzten müssen, ansonsten würde dies nie in seinem Traum erscheinen. Vorbei an der Ampel. Am heutigen Tag hatte er Glück, die erste Ampel leuchtete grün, ein Umstand, den er gedankenverloren hinnahm. Weiter die Straße entlang, Fußgängern und Hindernissen mechanisch ausweichend. Die zweite Ampel leuchtete rot, er stieg ab. Blickte mit müden Augen auf das rot, dachte jedoch beim Schauen an diese schwarze Gestalt. Dann - Gelb. Dann - Grün. Wieder aufs Rad schwingen und mit Kraft in die Pedale treten. Bei der Arbeit angekommen stellte er sein Rad wieder in den Keller, packte sein Frühstück aus, dann die Arbeitstasche an die gewohnte Stelle legen und den Blaumann anziehen. Er holte aus dem kleinen Fach eine kleine Flasche heraus, trank dessen bräunliche Flüssigkeit mit einem Zug leer, verzog dabei keine Miene und machte sich auf seiner Arbeit nachzugehen. Heute würde er die Reparatur an der Garderobe erledigen, die Frau Glockner gestern gemeldet hatte. Um 10 kommt eine Firma, die die Klimaanlagen überholt, dies musste er überwachen und kontrollieren. Sein Telefon stand heute auch nicht still, kleine Reparaturen am Orchestergraben und allgemeine reinigungsarbeiten standen an. So verging der Tag ohne besondere Vorkommnisse, ohne große Gespräche und auch ohne viele Gedanken. Zum Frühstück aß er einen Camembert mit trocknem Brot, trank eine Dose Whiskycola und machte sich dann wieder an die Arbeit. Frau Hansen vom Empfang hatte schon öfters einen aufdringlichen Alkohol Geruch bei Albrecht wahrgenommen, genauso wie der ein oder andere Schauspieler und Theatermitarbeiter, doch da Albrecht stets seine Arbeit sauber, pünktlich und ordnungsgemäß ausführte, sagte niemand etwas. Natürlich war man auch froh einen handwerklich geschickten und pflichtbewussten Mitarbeiter gefunden zu haben, der für recht wenig Geld 30 Stunden in der Woche hier arbeitete. Als Albrecht seine heutige Arbeitszeit erbracht hatte, setzte er sich direkt auf sein Rad, fuhr noch in den Fahrradladen und kaufte sich einen neuen Sattel. Die Arbeit als Ablenkung tat ihm gut, die Gedanken beruhigten sich und dieser verrückte Alp war nicht mehr Hauptbestand seiner Gedanken. Er radelte am Park vorbei, den neuen Sattel unter dem Arm. Wieder viele Menschen und vor allem viele grölende Kinder, die seine Tritte in die Pedale beschleunigten. Vor seinem Wohnblock angekommen, machte er sich gleich an die Arbeit und tauschte seinen alten Sattel aus, der porös und rissig ihm wohl über 13 Jahre gute Dienste geleistet hatte. Er schob das graue alte Fahrrad wieder in den Keller und stellte es in die gewohnte Ecke, bevor er die Treppe zu seiner Wohnung hinauf schritt, überlegte er wie lang er jetzt schon hier wohnte, es müssen etwas über 15 Jahre mittlerweile sein. Im Treppenaufgang hing der unangenehme Duft von getragenen Schuhen und Zigarettenqualm, er merkte bereits beim Aufstieg zu seiner Wohnung das die Müdigkeit in seine Glieder kroch und er wohl heute den Schlaf unbedingt nötig hatte. Er dachte nun wieder an diesen unerfreulichen Traum, aber doch nur ein Traum, den sein Kopf erfunden hatte. Wie unwahrscheinlich, dass er heute wieder diesem Ungeheuer begegnen würde. Wie sonderbar, dass er überhaupt Träume hatte, der Alkohol ließ ihn meist traumlos durch die Nacht kommen. Er schloss seine Tür auf, vernahm eine muffige und stickige Luft, und er kam auf den Gedanken, dass er unbedingt lüften müsse, vielleicht lag es am Sauerstoffmangel dass er diese Gespinste in der Nacht erdachte. Alle Fenster wurden geöffnet, die Kühle Oktoberluft durchströmte die kleine Zweizimmerwohnung. Er öffnete sich eine Dose Whiskycola und trank sie hastig leer, er machte sich zum Abendbrot eine Erbsensuppe aus der Dose warm und schaltete den Fernseher ein. Alles wurde mit einer bitteren Traurigkeit und Gleichgültigkeit vollführt, alles Routinen und Gewohnheiten, alltägliche und vertraute Vorgänge. Während die Suppe köchelte, öffnete er sich ein Bier und noch eine Whiskycola, langsam überkam ihn der gewohnte Zustand der Trunkenheit, seine Gedanken wurden stummer und das einfältige Fernsehprogramm zeigte eine Quizshow, die er sich anschaute, während er seine Suppe aß. „Welches Musical von Andrew Lloyd Webber basiert auf einem Film von Billy Wilder?“, erklang die blecherne Stimme aus dem kleinen Fernseher. „Sunset Boulevard“, antwortete Albrecht gleichgültig. Die Kandidatin im Fernseher schien unsicher und antwortete Jesus Christ Superstar, nach einem kleinen Spannungsbogen gab der Moderator bekannt, dass die richtige Antwort Sunset Boulevard sei. „Was wiegt etwa 150 bis 200 Gramm und ist das größte lymphatische Organ im Körper?“, fragte der Moderator trocken. „Die Milz“, murmelte Albrecht vor sich hin. Die Kandidatin schien erneut unsicher und antwortete „die Leber“, der Moderator schüttelte den Kopf und damit war sie ausgeschieden. Albrecht zappte noch etwas ungeduldig von Fernsehprogramm zu Fernsehprogramm, doch alles erschien öde und anspruchslos. Er machte sich noch eine Dose Whiskycola auf und trank diese gierig aus. Es dauerte nicht lange, dass sein Zustand sich der Müdigkeit hingab und er einschlief. Etwa drei Stunden musste er so dagelegen haben, der Fernseher lief nebenher und er schlummerte friedlich vor sich hin. Die Uhr schlug nach Mitternacht, als er die Augen langsam wieder öffnete, der Schlafentzug der letzten Wochen zollte seinen Tribut. Er knipste den Fernseher aus, trank noch den letzten Schluck der Whiskycola aus und wollte sich auf den Weg ins Bett machen. Kein böser Traum dachte er, also doch alles Unsinn und Gedankenspielerei, er hatte Stunden geschlafen, ohne eine schwarze Gestalt zu sehen, ohne gefesselt und bewegungsunfähig am Bett gegeißelt zu sein. Doch er wollte auf Nummer sicher gehen und öffnete nochmal alle Fenster um frische Luft in die Räume zu lassen, wenn dies auch nichts mit seinen Träumen zu tun hatte, so würde es jedoch bestimmt förderlich für seinen Schlaf sein. Auch hatte er überlegt Baldriantabletten zu kaufen, ein kleines Mittel was ebenso helfen könnte. Nach 10 Minuten hat sich die Oktoberkälte in den Räumen verbreitet, und er schloss nun wieder alle Fenster seiner kleinen Wohnung. Auf dem Weg ins Schlafzimmer kontrollierte er nochmals die Eingangstür, diese war sicher verriegelt, von hier ging keine Gefahr aus. Da er durch das Lüften und den langen Schlaf davor sich nun kein bisschen Müde fühlte, entschloss er noch eine von den Dosen zu trinken, diese würde sicher helfen dort weiterzumachen, wo er auf dem Sessel aufgehört hatte. Er öffnete den Kühlschrank, griff sich noch eine und wollte die Kühlschranktür bereits wieder schließen als – er die schwarze Gestalt wahrnahm. Wie erstarrt stand er da, sein Puls schnellte sprunghaft in die Höhe und er ließ vor lauter aufkommender Angst die Dose aus der Hand fallen. Er hatte das Licht noch an, nun konnte er das Monstrum besser erkennen. Das Monstergesicht besaß feine Züge, lange Haare, liebliche Lippen und eine stolze Stirn auf dem ein kleines Muttermal thronte. Auf ihren Mund trug sie ein sanftes Lächeln, ihre gütigen blauen Augen blickten ihm unentwegt aus einem unergründlich schönen Gesicht heraus an. Die fürchterliche Gestalt war eine Frau. Mit einem langen schwarzen Kleid stand Sie da, ihre blanken Arme hingen gefühlvoll an ihren schlanken Körper. „Wer bist du?“, schrie er ihr entgegen. Doch die Frau antwortete nicht, sie stand einfach da, wie auch schon die Nächte davor. Jetzt konnte er sich jedoch bewegen, hatte volle Kontrolle über seinen Körper, und würde sich verteidigen können. Nun nahm er auch wieder ihren Duft wahr, es musste ihr ganz eigener Geruch sein, der Sie ankündigte, Sie begleitete und ihr anhaftete. Kein penetranter und unangenehmer, sondern, doch viel ehr ein wohltuender Geruch, nicht zu benennen für Albrecht, der sowas davor noch nie wahrgenommen hatte. Doch in der gesamten Wohnung lag nun ihr Duft. „Wie bist du hier reingekommen? Was willst du von mir?“, schrie er ihr entgegen. Doch wie schon bei der Frage davor, gab die Frau in schwarz keine Antwort. Er hob langsam die Dose vom Boden auf, er merkte, wie er am ganzen Körper zitterte, wie er aus Schutz seine eine Hand zu einer Faust ballte, stets bereit sich zu wehren. Nun wollte er einen Angriff wagen, er warf die Dose auf sie, der Wurf war gut, die volle Dose flog direkt auf ihren Kopf zu, doch – glitt einfach durch sie durch. Er konnte nicht glauben, was er da sah, ein Geist, ein Gespenst oder ein böser Dämon. Er wusste nicht, was dieser Schabernack bedeutete, dies konnte nur wieder ein böser Traum sein, bald würde er wieder aufwachen und alles wäre vorbei. Er schlug sich selbst vors Gesicht, sagte zu sich selbst: „Los, wach auf, das ist nicht echt, das ist nicht real, nur ein dummer Traum.“ Er verpasste sich noch ein paar Schläge mit der flachen Hand in sein Gesicht. Er spürte den Schmerz, spürte das Brennen auf seiner Backe. Das konnte nicht passieren, er musste gleich aufwachen. „Hilfe“, schrie er lauthals los, „Hilfe“, schrie er immer und immer wieder. Doch um ihn her war alles ruhig. Er musste handeln, er konnte nicht einfach dieses Wesen hier in seiner Wohnung lassen, es bedurfte einer Reaktion, er lief zur Balkontür, wollte draußen um Hilfe rufen. Doch als er sich der Tür näherte, fühlte er wieder, wie diese starre in seine Glieder zog, wie er nicht mehr in der Lage war sich zu bewegen und die Balkontür zu öffnen.

Nun wollte er wieder schreien, nach Hilfe rufen, irgendjemand musste ihn doch hören. Doch vergebens, er sah sich hilflos in der Glasscheibe der Balkontür stehen, konnte sein eigenes entsetztes und machtloses Gesicht sehen, fühlte wie es in seinem inneren brannte und schmerzte, wie sich ein Knoten in seinem Hals bildete und er nicht mehr in der Lage war klar zu denken. Das War keine Angst, das merkte er, dieser Schmerz ging tiefer, und über die gewöhnliche Angst hinaus. Panik machte sich in ihm breit, ein glühender Schmerz. Es rannen ihm Tränen aus den Augen, flossen seinen Wangen hinunter und tropften peinvoll auf den Boden. In der Scheibe sah er wie die schwarze Frau nun hinter ihm langsam auftauchte, sich ihm nährte und irgendwann hinter ihm stand. Sie schaute über das Spiegelbild ihm direkt in die Augen, zufrieden und erhaben betrachtete sie ihn, blickte ihn einfach nur an. Schaute ihm einfach in die Augen und schwieg. Die Sekunden wurden zu Minuten, und er spürte wie sein Puls ruhiger wurde, wie er anfing ganz flach zu atmen und sich innerlich schon von seinem Leben zu verabschiedeten. Nach einer gewissen Zeit zog sich die Frau langsam zurück, lief langsam zum Ausgang des Raumes, vor der Tür drehte sie sich nochmals zu Albrecht um, schritt dann hindurch und in dem Moment merkte er, wie er langsam wieder Kontrolle über seinen Körper erlangte. Sein erster Gedanke war auf dem Balkon zu gehen, er griff schon die Klinke, doch dann lies er wieder von ihr ab, schritt langsam durch den Raum und wollte schauen wo Sie hin ist, doch er konnte die ganze Wohnung ablaufen, Sie war nicht mehr da, einfach wieder fort, wie in Luft aufgelöst. Dann sackte er auf seine Knie, brach in sich zusammen und weinte bitterlich, nicht aus Angst, nicht aus Panik, nicht aus dem Gefühl das etwas Ungeheuerliches gerade passiert sei, nein - er wusste nicht warum. Er weinte bestimmt 20 Minuten auf dem Boden liegend, ohne dass er genau wusste, weshalb, ohne dass er ahnte, warum und wieso, es war ein einfaches befreiendes Weinen, er ergab sich einfach dem Gefühl, lies es zu, ohne darüber genauer nachzudenken. An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Die Stunden bis zum Morgengrauen saß Albrecht Gedankenversunken auf seinem Sessel, seine Arme angewinkelt auf den Armlehnen und seine beiden Hände umklammerten deren Enden. Er fühlte sich gepeinigt und gequält es musste eine böse Vorsehung sein, ja wahrscheinlich der Tod höchstpersönlich, der sich ankündigte. Ist er verrückt geworden? Hat er vielleicht seinen Verstand verloren oder leidet an irgendeiner Krankheit? Eine Psychose? Wahnvorstellungen? Halluzinationen? Der Blick auf seine Uhr verriet, dass es Zeit wurde sich fertig zu machen. Er stand langsam und bedacht auf, schaute sich misstrauisch im Raum um, erkannte die Whiskydose an der Tür, und auch dass diese eine kleine Kerbe durch den Wurf erlitten hatte. „Was ist das für Teufelszeug?“, sagte er laut vor sich hin. Er hob die Dose auf, entschloss nie wieder Alkohol zu trinken und warf alle Dosen, die sich in seiner Wohnung befanden in den Müll. Nahm alles Bier und schüttete es in den Abfluss, auch den puren Whisky schüttete er weg. Er machte sich fertig für die Arbeit und verlies andächtig seine Wohnung. Im Hausflur angelangt traf er heute Frau Kerner, seine Nachbarin, die er seit Jahren kannte und die ihm schon immer misstrauisch beäugte. „Guten Morgen“, sagte sie mit einer kratzigen Stimme. „Ich habe gestern einen ganz schönen Krach aus ihrer Wohnung gehört, gab wohl wieder ein paar Gläser zu viel?“ Natürlich wusste Sie das ihr Nachbar einen Hang zum Alkohol hatte, schon oft hatte sie ihn die Treppe hinauf schwanken gesehen, hatte mitbekommen, wie er seine Vorräte in die Wohnung brachte oder wie der markante Geruch einer Alkoholfahne ihn umgab. „Sag mal, du siehts ja aus, als hättest du einen Geist gesehen. Alles in Ordnung Jungchen?“ Wie gern hätte er jetzt die Wahrheit gesagt, doch er würde sich ja lächerlich machen, er würde als Verrückter abgestempelt und darauf hatte er nun wirklich keine Lust. Frau Kerner trug einen dunkelroten Mantel, in dem ihr kurzer, fetter Körper noch mehr zur Geltung kam, ihr extravaganter Stil wäre wohl total in Mode, zumindest glaubte sie das, und ihr Glaube veranlasste, dass sie an diesem Tage einen lächerlichen Hut trug, der natürlich total in Mode war. Albrecht murmelte nur ein „tut mir leid“ und verabschiedete sich. „Ach sagen sie“, fragte Frau Kerner ihn noch von oben herab, „Was wird den gerade im Theater gespielt?“ Albrecht musste einen kurzen Moment über diese Frage nachdenken, musterte dann erneut ihren albernen Aufzug und gab kurz zu Antwort: „irgendwas von Kafka.“ Er schritt eilig den Hausflur hinab zum Keller, um weiteren Gesprächen aus dem Weg zu gehen. Heute roch es hier extrem nach getragenen Schuhen, ein sehr unangenehmer Geruch, den man aber schon öfters im Hausflur wahrnehmen konnte. Er holte sein Rad heraus, öffnete die Eingangstür mit der rissigen Scheibe und machte sich auf zur Arbeit. Die Kälte an diesem Tag setzte ihn ziemlich zu, dies hatte sicherlich auch damit zu tun, dass seine alte karierte Fleecejacke an einigen Stellen löchrig und dem scharfen Oktoberwind durchlies. Sonst interessierte es ihn nicht, auch bei Temperaturen weit unter den heutigen, trug er diese Jacke und nahm das bisschen Kälte hin, doch heute wurde es unerträglich und er musste von seinem Zweirad steigen und sich kurz vor dem kalten Wind schützen. Gleich nach der Arbeit würde er sich eine neue Jacke kaufen, eine bessere und wärmere, damit er diese Tortur ab jetzt nicht jeden Tag durchmachen müsste. Wie der Zufall es wollte, machte er genau vor dem Park halt, er wärmte sich die Hände in dem er sie aneinander rieb und in seine Faust blies. Die Sonne strahlte auch heute wieder durch die Bäume, es ergab sich ein prachtvolles Farbenspiel der Natur, die bunten Bäume begehrten auf, zwangen dem Betrachter ein anerkennendes Staunen ab und der Wind raschelte durch das Geäst. Viele Menschen darunter liefen ihre Wege eilig und unachtsam gegenüber dieser Schönheit. Nie ist Albrecht dies aufgefallen, dieses beschauen und bestaunen der einfach gegebenen Dinge, schon lange hatte er dies nicht mehr gemacht. Er war ja Maler, wusste und liebte es genau solche Motive festzuhalten. Er kam ins Schwärmen, und überlegte vor seinem inneren Auge, was für Farben man benutzen könne, welche Pinsel für welches Motiv. Dann schreckte er auf, da ein Schauspieler, der auch am Theater arbeitete, ihn unverhohlen grüßte und aus seinen Gedanken entriss. Er zwang ihm ein Gegengruß ab, welcher ihn erinnerte, dass er sich wieder auf den Weg zu Arbeit machen müsse. Er schwang sich auf sein Zweirad und radelte weiter, unweigerlich kamen ihn wieder die Geschehnisse der letzten Nacht in den Sinn, die Erkenntnis, dass man ihn wohl überfallen konnte, ohne dass seine Hilferufe auch nur von jemanden ernsthaft beachtet werden. Eine Tatsache, die ihm nicht sonderlich schockierte, da er nie den Kontakt zu seinen Nachbarn gesucht hatte, noch irgendjemanden in seinem Umfeld besaß, der wohl sein Verschwinden bemerken würde. Sein gesamtes Umfeld war auf Einsamkeit konstruiert, seine gesamten Wesen machte stets alle