Ludwig zum Zweiten - Hans Schütz - E-Book

Ludwig zum Zweiten E-Book

Hans Schütz

4,8

Beschreibung

Die 68er - Generation auf dem Lande Wenn von der Generation der "Achtundsechziger" die Rede ist, dann richtet sich der historische und literarische Rückblick fast ausschließlich auf die Entwicklung der Studentenproteste in den Universitätsstädten und auf die Folgen dieser Revolte in der großen Politik. Wie aber wirkte sich der gesellschaftliche Wandel dieser Zeit in einem Allgäuer Provinzstädtchen aus? Welche Folgen hatten die Ideen der Generation 68 in einem ländlichen Gymnasium weitab vom Schuss? Und was um alles in der Welt hat der bayerische Märchenkönig Ludwig II. mit den Achtundsechzigern zu tun? Die Freunde Fritz Haksch und Max Wachsbleitter haben 1969 noch zwei Schuljahre bis hin zum Abitur vor sich. Beide engagieren sich in der Schülerzeitung ihres Gymnasiums und sind der neuen politischen Bewegung der sogenannten Achtundsechziger gegenüber sehr aufgeschlossen. Diese Einstellung führt bald zu heftigen Konflikten mit Elternhaus und Schule. Während Fritz durch die entsprechenden Auseinandersetzungen immer mehr zum Provinzrevoluzzer wird, zieht sich Max bald in eine sonderbare Scheinwelt zurück, in der der bayerische Märchenkönig für ihn zum großen Idol wird. Seine geheimnisvolle Familiengeschichte mit der ungeklärten Herkunft seiner Vorfahren und die Entwicklung homoerotischer Neigungen führen kurz nach dem Abitur im Sommer 1971 dazu, dass sich eine persönliche Katastrophe anbahnt, die Fritz Haksch im letzten Augenblick noch zu verhindern sucht.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog

Jahr

Gymnasium Füssen, September 1969

Jahr

Füssen, ab September 1970

Stimmen zur 1. Auflage

Vorwort

Wenn von der Generation der „Achtundsechziger“ die Rede ist, dann richtet sich der historische Rückblick fast ausschließlich auf die Entwicklung der Studentenproteste in den Universitätsstädten und auf die Folgen dieser Revolte in der großen Politik. Wie aber wirkte sich der gesellschaftliche Wandel dieser Zeit in einem Allgäuer Provinzstädtchen aus? Welche Folgen hatten die Ideen der Generation 68 in einem ländlichen Gymnasium weitab vom Schuss? Und was in aller Welt hat der bayerische Märchenkönig Ludwig II. mit den „Achtundsechzigern“ zu tun?

Die Freunde Fritz Haksch und Max Wachsbleitter haben 1969 noch zwei Schuljahre bis zum Abitur vor sich. Beide engagieren sich in der Schülerzeitung ihres Gymnasiums und sind der neuen politischen Bewegung der sogenannten Achtundsechziger gegenüber sehr aufgeschlossen. Diese Einstellung führt bald zu heftigen Konflikten mit der Schule. Während Fritz Haksch durch die entsprechenden Auseinandersetzungen immer mehr zum Provinzrevoluzzer wird, zieht sich Max Wachsbleitter bald in eine sonderbare Scheinwelt zurück, in der der Bayerische Märchenkönig Ludwig II. zum großen Idol wird.

Seine geheimnisvolle Familiengeschichte mit der ungeklärten Herkunft seiner Vorfahren und die Entwicklung homoerotischer Neigungen führen kurz nach dem Abitur im Jahre 1971 dazu, dass sich eine Katastrophe anbahnt, die Fritz Haksch im letzten Augenblick noch zu verhindern sucht. –

Dieser Roman spielt in den Jahren 1969 bis 1971 in der Ostallgäuer Stadt Füssen am Lech. So wie einerseits die Stadt und ihr Umland durchaus den Realitäten entsprechend beschrieben sind, so sind andererseits die handelnden Personen durchwegs erfunden und große Teile der Erzählung fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen mögen da und dort mehr oder weniger naheliegen, was sich schon daraus ergibt, dass der Verfasser in der entsprechenden Zeit selbst Schüler am Gymnasium in Füssen war. Selbstverständlich sind somit reale Begebenheiten und Ereignisse aus dieser Zeit in die Romanhandlung mit eingeflossen, ohne aber gültige Schlüsse auf tatsächliche Personen und Handlungen zuzulassen.

Peiting, im Mai 2011

Prolog

Schloss Berg am 14. Juni 1886. Im ersten Stock liegt auf einem einfachen Bett, in einem mit blauen Tapeten ausgestatteten Zimmer, von einer ebenfalls blauen Seidendecke bis zum Hals zugedeckt, der Leichnam des am Vortage vermeintlich verstorbenen Königs Ludwig II. von Bayern. Zwei uniformierte Gendarmen stehen rechts und links von der aufgebahrten Leiche und halten die Totenwache. Zahlreiche Besucher, einige davon weitgereist, werden in Gruppen vorgelassen, um dem toten König die letzte Ehre zu erweisen.

In einer dieser Besuchergruppen befindet sich am frühen Nachmittag auch ein junger Mann Anfang zwanzig, der das friedliche Gesicht der toten Majestät mit seinen schwarzen, in die Stirn fallenden Haarlocken und dem halblangen schwarzen Bart besonders genau und lange studiert. Erst nach mehrmaligem Räuspern der nachdrängenden Besucher wendet er sich ab und verlässt eiligen Schrittes das königliche Totengemach. Der Gesichtsausdruck des seltsamen Besuchers kann nur mühsam die angebrachte Trauer um den schrecklichen Tod des Königs vorspielen. Hätte jemand genauer hingesehen, so wäre ihm wohl aufgefallen, dass sich ein leichtes Lächeln kaum verbergen ließ.

„Endlich hat das leidige Versteckspiel somit sein Ende gefunden“, ging es dem jungen Mann durch den Kopf. „Eine schöne Leiche, dazu ein düsteres Geheimnis um den tatsächlichen Ablauf der Geschehnisse vom Vortag – da werden noch Generationen an Legenden stricken! Nur die Wahrheit, die wird nie ans Tageslicht kommen! Und das ist auch gut so.“

Eiligen Schrittes verließ er die Schlossanlage, um sich ins Dorf Leoni zu begeben, wo hinter dem Wirtshaus eine kleine Kutsche stand, die bei dem ständigen Kommen und Gehen an diesem Tage niemandem auffiel. Mit einem „Auf geht’s!“ riss er den eingeschlafenen Kutscher jäh aus dessen Träumen, und nur wenige Minuten später entfernte sich das Gefährt rasch in Richtung Münsing.

Noch am Abend desselben Tages erreichte die Kutsche den ehemaligen Klosterort Steingaden, ratterte über das Kopfsteinpflaster des Marktplatzes zwischen Apotheke und Postwirtschaft hindurch, bog am oberen Ende des Platzes, kurz vor dem Eingang zum Friedhof durch einen schmalen Torbogen rechts ab, folgte dem Weg um die einstigen Brauereigebäude, am Sägewerk vorbei, um nach kurzem, linksdrehenden Anstieg zum Schloss des Grafen Dürckheim-Montmartin zu gelangen.

Der Fahrgast sprang aus der Kutsche, dehnte mehrmals die von der langen Reise durchgeschüttelten und teils verspannten Gliedmaßen,umdann,aufderkurzenTreppezumHaupteingang des Schlösschens jeweils zwei Stufen gleichzeitig nehmend, durch das rundbogige Portal im Gebäude zu verschwinden.

„Wie schaut’s aus, Weber? Hat alles geklappt?“ Mit diesen ungeduldig hervorgestoßenen Worten wurde der Ankömmling im Salon empfangen. Der Fragesteller, ein hochgewachsener, stämmiger Mann, dessen lockiges, schwarzes Haar etwas wirr in die Stirn fiel, hieß den königlichen Kammerdiener Weber mit einer befehlenden Geste, sich zu ihm an den Tisch zu setzen.

„Jetzt ist’s vorbei, Weber, mit dem ewigen Untertanenspiel. Die französische Etikette hat endlich ausgedient. Aber rasch! Berichte er doch!“

„Besser hätt’ die Geschichte gar nicht ablaufen können, Euer Majestät. Dass uns der Herrgott mit dem italienischen Maurer aus dem Trentino einen perfekten Doppelgänger zugespielt hat, noch dazu einen, der gerade zum rechten Zeitpunkt am Herzschlag verstorben ist, das war ja eigentlich schon genug des Glücks.“

„Nur gut, dass ich Dr. Gudden dazu habe bewegen können, dass wir ohne Bewachung am See spazieren gegangen sind.“

„Notfalls hätten wir Eure Majestät auch herausgeschossen, und wenn noch so viel Gendarmerie dazu gekommen wäre!“

„Nur das mit dem Irrenarzt ist leider daneben gegangen. Warum muss mir der alte Narr auch ins Wasser nachlaufen? Er hätte doch Hilfe holen können, dann hätten sie den toten Italiener gefunden und wir wären längst über alle Berge gewesen. So aber werde ich mein neues Leben mit einer großen Schuld beginnen müssen.“

„Majestät, um den Saupreußen ist’s doch nicht schad’! So wie der sich hergegeben hat für die Verschwörung gegen Euch, und wie er dem Prinzrebellen zur Macht verhelfen hat wollen!“

„Sei’s drum, Weber, jetzt heißt es nach vorne blicken. Ab jetzt spielt die Politik in meinem Leben keine Rolle mehr. Ich denke drüben in Tirol ist soweit alles hergerichtet und wir können noch heut’ Nacht über die Grenze!“

„Keine Sorge, Majestät …“

„Nix da mit Majestät! Ab heut nur noch: Herr Professor! Das müssen’s noch üben, Weber!“

„Herr Professor, Frau und Kind sind bereits seit Tagen im neuen Heim. Die abgelegene Villa drunten im Inntal bei Imst ist tatsächlich der ideale Rückzugsort. Soweit ist alles vorbereitet. Kein Mensch wird Verdacht schöpfen – hab ja gleich selbst zweimal hinschauen müssen, dass nicht Ihr es seid, der da in Schloss Berg aufgebahrt liegt. Zur Sicherheit haben wir den Kölbl aus Apfeldorf bei den Männern der Totenwache unterbringen können. Der würd’ uns sofort berichten, wenn bis zur Beisetzung noch etwas Unvorhergesehenes passieren sollte.“

„Ich mach mir nur um den braven Dürckheim noch Sorgen. Den haben’s wegen Landesverrats in München festgesetzt. Leider kann ich jetzt nicht mehr Einfluss nehmen, auch nicht hinter den Kulissen. Das wäre doch viel zu gefährlich. Jetzt, wo alles so trefflich geklappt hat, wollen wir auch nicht das geringste Risiko eingehen.“

„Maje …, pardon, Herr Professor, dem Grafen Dürckheim wird sicher nicht viel passieren. Sie werden sehen, schon in ein paar Tagen wird er wieder hier in seinem geliebten Steingaden sein. So einen tüchtigen Mann werden die neuen Herren für ihre Armee gut gebrauchen können. Und für uns wär’s ja auch nicht schlecht, wenn wir hie und da das Neueste vom Hofe hören würden.“

„Nix da, Weber, von diesem Hof hab ich die Nase schon lange voll. Da braucht’s keine Neuigkeiten mehr. Ab heut’ bin ich ein weltfremder Professor aus Agram, der sich in Tirol zur Ruhe gesetzt hat. Ich kümmer’ mich nur noch um meine Bücher und um Frau und Kind. – Also lass einspannen! Nutzen wir die Dunkelheit, und ab übers Königssträßchen und das Graswangtal hinüber nach Tirol!“

1. Jahr

Gymnasium Füssen, September 1969

Es war der erste Tag nach den Sommerferien. Aufgeregt suchten die Schüler nach ihren neuen Klassenzimmern. Im Eingangsbereich hingen am Schwarzen Brett die Listen mit der Einteilung der 71 Fünftklässler in die zwei neuen Klassen, daneben die Verteilung der Klassenzimmer.

Viel gelassener als die „Frischlinge“ gingen die Gymnasiasten der Oberstufe ans Werk. So war den Zwölftklässlern längst bekannt, dass die 12 a, bestehend aus Klassleiter Studienrat Wöller und zwölf Schülerinnen des neusprachlichen Zweiges aus Platzmangel wieder einmal im benachbarten Gebäude der Kurverwaltung untergekommen war. Nichts Neues also für die allgemein als „Gänsestall“ bezeichnete Klasse.

Die 12 b blieb wie schon im Jahr zuvor im zweiten Stock des Anbaus. Mit Freude nahm man allgemein zur Kenntnis, dass mit Studienrat Theodor Stetthofer ein mehr als akzeptabler Klassenleiter zugeteilt worden war.

Besonders ausführlich wurden die Ferienerlebnisse ausgetauscht. Man berichtete und kommentierte auch die Einteilung der Lehrer für die Klasse und machte schließlich aus, sich nach der Schule, die ja am ersten Schultag üblicherweise nur aus zwei Stunden mit Organisationskram bestand, drüben im Biergarten des Hotels Hirsch zu treffen.

Kurz vor dem schrillen Läuten der Schulglocke kam „der Theo“, wie der Klassleiter der 12 b von den Schülern genannt wurde, wie üblich im Pullover und mit einer kleinen Aktentasche unter dem Arm, zur Tür herein.

Erstaunt stellten die Schüler fest, dass der Theo nicht allein war. Mit ihm betrat ein hochaufgeschossener junger Mann das Klassenzimmer, schwarze Locken bis weit über die Ohren und zum Nacken hinab umrahmten den länglichen Kopf. Dunkle, neugierige Augen und eine lange Nase prägten das Gesicht ebenso wie ein schwarzer Schnurrbart über den schmalen, sehr geradlinig verlaufenden Lippen.

„Guten Morgen, Leute“, begann Studienrat Stetthofer, legte seine abgewetzte Tasche auf das Pult und fuhr fort: „Wir haben Zuwachs bekommen. Darf ich euch euren neuen Mitschüler vorstellen? Das ist der Max Ludwig Wachsbleitter.“

Der Neue nahm Kurs auf die letzte Bank in der Fensterreihe, der Rest der Klasse hatte sich schon vor dem Beginn der Stunde zu den Pärchen zusammengefunden, die die Sitzordnung durch drei Reihen von Doppelttischen notwendigerweise vorgab. Nur ganz hinten waren drei leere Doppeltische übriggeblieben, wovon Max Wachsbleitter den vom Pult aus gesehen äußersten rechten für sich in Besitz nahm.

Kaum hatte er sich gesetzt, ging die Türe langsam auf und der wie immer verspätete Schüler Karl Tallink betrat, sich unsicher umblickend, das Klassenzimmer und schlängelte verlegen grinsend durch den linken Gang nach hinten zur freien Bank in der Türreihe, wo er sich ächzend niederließ und kaum hörbar nach vorne nuschelte: „’tschuldigung, hab’ verschlafen!“

*

Max Ludwig Wachsbleitter studierte von hinten die Klasse, während Theodor Stetthofer begann, die zum Schuljahresbeginn notwendigen organisatorischen Informationen mitzuteilen. Der Stundenplan und die in der Klasse eingesetzten Lehrkräfte waren ihm ziemlich egal, und die Zeit für den Anfangsgottesdienst am folgenden Dienstag interessierte ihn noch viel weniger.

„Endlich geschafft!“, dachte er.

Drüben im Internat, im nur wenige Kilometer entfernten Hohenschwangau, wo er die letzten zwölf Schuljahre inklusive einer Ehrenrunde in der elften Klasse untergebracht gewesen war, würden sie ihn nie wieder sehen.

Im Sommer war er 18 Jahre alt geworden und hatte seine Mutter, während er seine Ferien zu Hause im österreichischen Reutte verbrachte, schlichtweg vor vollendete Tatsachen gestellt. Zurück ins Internat führe für ihn kein Weg, hatte er da kategorisch erklärt und selbstbewusst gefordert, ihm die bislang notwendigen Kosten für die Unterbringung im Hohenschwangauer Eliteinternat ab jetzt direkt auszubezahlen. Zusammen mit dem durchaus großzügigen Taschengeld, so verkündete er, sollte es ihm doch möglich sein, eine Wohnung in Füssen oder im Umkreis zu finanzieren. Die Hohenschwangauer Schule sei für ihn genauso gestorben wie das Internat. Zukünftig werde er in Füssen zur Schule gehen, um dort in zwei Jahren sein Abitur zu machen. Schön wäre es noch, wenn die Frau Mama die Kosten für den Erwerb und den Unterhalt eines Autos übernehmen könnte, aber notfalls ginge es auch ohne diese Großzügigkeit.

Und jetzt saß er da, in der neuen Schule, drunten auf dem Lehrerparkplatz stand sein nagelneuer VW Käfer, postgelb lackiert, und das mit der Unterkunft würde sich schon auch noch regeln lassen. Bis dahin konnte er noch drüben in Reutte in der kleinen Villa am Stadtrand wohnen. So weit ist der Weg ja nicht über die Grenze herüber, zumal er dank des eigenen Autos nicht auf den Postbus angewiesen sein würde.

Als er so herumschaute, um sich einen ersten Überblick über die neue Klasse zu verschaffen, war er ganz zufrieden. ‚Die 12 b scheint ganz in Ordnung zu sein, und auch der Lehrer da vorne macht einen recht sympathischen Eindruck‘, stellte er für sich fest.

Wenn er zum Fenster hinausschaute, konnte er am Horizont den Tegelberg und den Säuling sehen, die beiden das rechte Lechufer beherrschenden Alpengipfel hier im Füssener Land, die er weiß Gott, wie oft schon, bestiegen hatte, wenn ihm die Luft im Internat wieder einmal zu eng geworden war. Er verlor sich in Gedanken an die alte Schule, die Internatszöglinge, die ihm von Jahr zu Jahr mehr mit ihrem elitären Getue auf die Nerven gegangen waren, an die Lehrer, die kein Verständnis dafür gehabt hatten, dass er stets ein Außenseiter blieb, lieber im Alpsee zum Schwimmen gegangen war, als Hockey zu spielen, lieber in den Bergen gewandert und geklettert war, als Studierzeiten und Nachhilfestunden wahrzunehmen.

Wenigstens hatte die Schule sich in den letzten Jahren für externe Schüler geöffnet, was dazu geführt hatte, dass Max Wachsbleitter in den letzten Klassen ein paar ganz gute Schulfreunde gefunden hatte. Zu denen wollte er den Kontakt auch nicht abbrechen lassen, da waren schließlich ein paar ganz passable Typen dabei, vor allem einige Busschüler aus dem oberbayerischen Steingaden.

Der zunehmende Lärm in der 12 b riss ihn aus den Gedanken an seine Hohenschwangauer Vergangenheit und er stellte fest, dass der Klassleiter mit seinen Hinweisen und Belehrungen bereits zum Ende gekommen war.

Mit einem freundlichen „also bis Morgen dann, und sauft’s ned so viel beim Hirsch drüben“ verabschiedete sich der Theo, nahm seine Tasche unter den Arm und verließ noch einmal locker mit der freien Hand winkend das Klassenzimmer.

*

Die Sonne zauberte einen dieser für das Allgäu so typischen Herbsttage. Nicht zu heiß, dafür kühlte es in den Nächten doch schon zu sehr ab, aber ein strahlend blauer Himmel über dem Füssener Land mit seinen malerischen Bergen, Hügeln, Seen und Wäldern.

Die Schüler der Oberstufe trafen sich im Biergarten des Hotels Hirsch, wo unter dichten Kastanien auf gekiestem Grund schon mehrere runde Gartentische und die dazugehörigen grün lackierten Gartenstühle warteten. Bald war auch der letzte Stuhl besetzt. Die 12 b hatte zwei Tische aneinandergestellt und so Platz geschaffen, um zusammen sitzen und schwatzen zu können.

Der Neue war jetzt natürlich das interessanteste Thema. Der eine oder andere hatte ihn schon einmal gesehen, aber so richtig bekannt war er keinem. Selbstverständlich hatten sie ihn sofort mitnehmen wollen, aber er hatte dankend abgelehnt, weil er noch einige Besorgungen zu machen hätte, schließlich sei er auch gerade dabei, sich hier in Füssen eine Bleibe zu suchen. Er habe da ein ganz interessantes Objekt angeboten bekommen, und das wolle er unbedingt noch heute besichtigen, so berichtete der Klassensprecher, der sich mit dem neuen auf dem Parkplatz noch etwas länger unterhalten hatte.

„Ich weiß nicht“, überlegte Fritz Haksch laut, „aber irgendwie kommt mir der Max ziemlich bekannt vor. Mir ist so, als ob ich den schon lange kenne, dabei hab’ ich ihn heut’ doch zum ersten Mal gesehen. Ihr wisst ja, mit den Ho’gauern will ich eigentlich nichts zu tun haben. Mir langt’s schon, wenn wir gegen die zweimal im Jahr Fußball spielen müssen!“

„Des isch doch koi Ho’gauer it, des isch a Nussar, und dia dürfat ruhig rumkomma aus’m Tirol“, warf jetzt der Pfrontener Karl Steigenberger ein, wie immer im breitesten Dialekt des dreizehndörfigen Ortes südwestlich von Füssen.

Auch der Klassenkasperl Berthold Schuh mischte sich nun, durch das allgemeine Gelächter animiert, mit einer Anekdote ein. Er habe, so berichtete er schmunzelnd, den Neuen schon einmal im letzten Sommer im Kino gesehen. Im „Rex“ sei es gewesen, wo man ja den ganzen Sommer über nur einen Film laufen ließe, nämlich den berühmten König-Ludwig-Film mit O. W. Fischer und Ruth Leuwerik in den Hauptrollen. Er sei damals mit ein paar Freunden wieder einmal im Kino gewesen, um die Touristen zu ärgern, die ja stets für einen vollen Kinosaal und damit für ausreichend Publikum zum Verarschen sorgen würden. Wie immer habe man mit frechen Zwischenrufen, Gelächter am falschen Platz, mit lauten Mitleidsbekundungen, mit Ahhs und Ohhs und mit lauten Knutschgeräuschen die andächtige Ludwiggemeinde auf die Schippe genommen, als mitten im Film aus der ersten Reihe ein junger Mann aufgestanden sei und sich lauthals über diese Unverschämtheiten beklagt habe, wobei er selbstverständlich nur lautes Gejohle der Störer geerntet hätte. Mit zornrotem Kopf und dem Ruf, das sei Majestätsbeleidigung, habe der Kinogast dann eiligen Schrittes das Rex verlassen, ziemlich verstörte Urlaubsgäste hinterlassend, darunter, wie in letzter Zeit öfter zu beobachten, auch zahlreiche Japaner, die den ganzen Vorgang mit ihren Fotoapparaten sogleich per Blitzaufnahmen festgehalten hätten.

„Uns war’s recht, so einen großen Erfolg hatten wir schon lange nicht mehr“, beendete Berthold Schuh nun seine Erzählung, „aber wenn mich nicht alles täuscht, dann war der aufgebrachte Ludwigverehrer unser Neuer!“

Unsicher darüber, wie viel Wahrheitsgehalt man der vorgetragenen Geschichte zubilligen sollte – der Erzähler war schließlich hinlänglich als Übertreiber und Fabulierer bekannt –, wendete sich die Aufmerksamkeit jetzt dem fahrbaren Untersatz des neuen Schülers zu. Ein Schüler mit Auto, das kam bis auf wenige Ausnahmen so gut wie nie vor. Wenn, dann durfte vielleicht einmal einer mit dem Wagen des Vaters ausnahmsweise in die Schule fahren, ein oder zwei Mal im Jahr vielleicht.

Nur der Bobby aus Lechbruck, der kam ziemlich regelmäßig mit einem Riesenschlitten Marke Opel Admiral dahergefahren. Aber vom Bobby wusste man ja auch, dass er schon einmal ein paar Wochen mit einer angeblichen Lungenentzündung krank gemeldet war, um im elterlichen Speditionsbetrieb als Fernfahrer auszuhelfen.

Und dann war da noch der Sohn eines erfolgreichen Kaufmanns aus Weißensee, der von seinem Vater im letzten Jahr zum achtzehnten Geburtstag einen Audi geschenkt bekommen hatte. Nach genau fünf Tagen war der nur noch ein Schrotthaufen gewesen, was aber sofort durch einen weiteren Audi kompensiert worden war, der allerdings nach weiteren vierzehn Tagen an genau demselben Baum endete wie sein Vorgänger, ehe er durch ein drittes Auto ersetzt werden musste.

Die hin und wieder angebotenen Spritztouren mit dem Kamikazepiloten waren wegen dessen brutaler Fahrweise immer wieder ein besonderer Nervenkitzel, wobei alle Mitfahrer voll davon überzeugt waren, dass jetzt nichts mehr passieren könne, denn nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit, so hatte es Matheklassengenie Fred Maunrob verkündet, sei in den nächsten Monaten ganz sicher nicht mehr mit weiteren Unfällen zu rechnen. Darüber hinaus habe der Fahrer hinlänglich bewiesen, dass ein Schutzengel über die Insassen seiner Autos wache, schließlich seien trotz zweier schwerer Unfälle mit Totalschaden keinerlei Personenschäden aufgetreten, und das lasse doch auch für eventuelle zukünftige Unfallereignisse diesbezüglich nur positives Denken zu.

Und nun stand da also ein sonnengelber VW auf dem Lehrerparkplatz; einen Schülerparkplatz gab es mangels Benutzer ja nicht. Jetzt meldete sich Fritz Haksch noch einmal zu Wort, wischte sich zuerst den Bierschaum von der bärtigen Oberlippe und meinte: „Das mit der Farbe müsste eigentlich noch zu Schwierigkeiten führen. Gelb dürfen doch nur die Postautos haben, und als Sonderregel auch die Mitglieder des Hauses Thurn und Taxis. Der Prinz vom Schloss Bullachberg drüben bei Schwangau, der lässt sich deshalb immer von seinem Chauffeur in einem gelben Mercedes herumkutschieren. Aber sonst ist Gelb nicht erlaubt!“

*

Drunten am Lech, genauer gesagt in der sogenannten Lechvorstadt, schon fast am Ende der Bebauung, besichtigte Max Wachsbleitter zur gleichen Zeit ein kleines Holzhäuschen: zwei möblierte Zimmer, eine Wohnküche und ein Schlafzimmer, dazu ein Abstellraum und ein sehr einfaches Bad mit holzgefeuertem Boiler. Das war nicht gerade eine Luxusbehausung, denn sowohl der Küchenherd als auch der Boiler im Bad waren mit Festbrennstoff zu heizen. Hinter dem Häuschen, wo eine kleine Veranda zum Lech hin angebaut war, befand sich noch ein Schuppen, der zwar als Garage für das Auto zu klein, aber für die Holzvorräte ganz gut geeignet war. Es waren sogar noch einige Beigen gescheitelten Holzes vorrätig und feinsäuberlich aufgeschichtet. „Bis über den Winter wird das aber keinesfalls ausreichen“, überlegte Max. Doch dieses Problem hatte noch Zeit bis Ende Oktober oder November, und dann würde er schon sehen, wo er das notwendige Brennmaterial für eine warme Stube herbekommen konnte.

Ziemlich schnell wurde er mit dem Vermieter der Immobilie handelseinig, übernahm den großen Eisenschlüssel und war fortan sein eigener Herr, ganz so, wie er es sich schon lange gewünscht hatte.

Die nächsten Tage würde er vollauf damit beschäftigt sein, seine Habseligkeiten aus Reutte herüberzuholen. Das Schlafzimmer hatte noch Platz für einen kleinen Schreibtisch und vor allem ein Bücherregal. Dies war Max besonders wichtig, denn seine Lesesucht hatte bereits jetzt dazu geführt, dass er bei seinem anstehenden Umzug die meisten Fahrten wohl für seine kleine Bibliothek benötigen würde. Eigentlich könnte man ja eine ganze Reihe von Büchern zurücklassen oder auch ins Antiquariat bringen, doch daran war keinesfalls zu denken. Bücher hatten für ihn einen besonderen Wert. Geradezu ehrfurchtsvoll war sein Verhalten diesem Medium gegenüber. Alle Bücher, die er sein Eigen nannte, von den Bilder- über die Kinder- und Grundschulzeitbücher über die beträchtliche Zahl der Jugendbücher bis hin zu den modernen Romanen und Erzählungen, die er sich in der letzten Zeit vor allem in einem Buchladen in der Füssener Altstadt erworben hatte, behandelte Max wie einen wertvollen und geradezu zerbrechlichen Schatz. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, auch nur eines davon wegzugeben, Niemals wäre es ihm möglich gewesen, ein Buch achtlos beiseite zu legen oder gar schwungvoll in die Ecke oder auf den Schreibtisch zu werfen. Er sog Bücher geradezu in sich hinein, darunter durchaus auch solche, die ein junger Gymnasiast seines Alters eigentlich verschmähen sollte, so zum Beispiel Romane aus dem 19. Jahrhundert und der Zeit der darauffolgenden Jahrhundertwende, auch alte Biographien und Reiseberichte und alles, was er über das Bayerische Königshaus, insbesondere aber über den Märchenkönig Ludwig II. finden konnte.

Daneben fand sich ein beachtlicher Bestand an moderner Literatur, ganze Reihen „Deutschland, Italien, Frankreich, England … erzählt“, eine Gesamtausgabe von Bert Brecht, jede Menge aktueller Literatur von A wie Anders bis Z wie Zwerenz, die ganze Gruppe 47 war umfassend vertreten, ergänzt durch zahlreiche Bände politischer Bücher, darunter selbstverständlich Marx und Engels und Standardwerke der anarchistischen Literatur.

Auf das Neuordnen im neuen Zuhause freute sich Max Wachsbleitter schon besonders. Dabei würde er sich ein neues System ausdenken müssen, wobei er sich durchaus bewusst war, dass bei seinem Lesetempo großzügig Platz vorrätig sein müsste für die ständigen und steten Neuzugänge zu seiner Hausbücherei.

‚Am besten‘, so plante er bereits in Gedanken, ‚wäre ein selbstgebasteltes Bücherregal im Schlafzimmer, die zwei Außenwände umfassend von der Decke bis zum Boden.‘ Bei den dünnen Holzwänden seines Häuschens wäre das zusätzlich als Wärmedämmung nicht zu verachten, so dachte er, trotz seiner Fluchten in die Welt der Literatur auch praktischen Überlegungen gegenüber nicht ganz unfähig.

Noch einmal ging Max um sein künftiges Domizil herum zum lechwärts abfallenden kleinen Garten, setzte sich an die Uferböschung unter die mächtigen dort stehenden Eschen und schaute dem grünen Wasser zu, das sich schnell strömend an ihm vorbei in Richtung Forggensee dahinwälzte. In Gedanken ordnete er seinen Literaturschatz, plante einmal so und dann doch wieder ganz anders, bis er plötzlich bemerkte, dass es bereits dämmerte. Als er aufsah, schwamm gerade ein Schwanenpärchen flussaufwärts an ihm vorüber. Mühelos und ohne jegliche Anstrengung zu vermitteln, teilten die beiden das Wasser und kamen doch erstaunlich schnell gegen den kräftigen Strom voran. Max liebte Schwäne, ihr majestätisches Gleiten, ihr prachtvolles Gefieder.

Und da, wie als Willkommensgruß an den neuen Flussbewohner, wendeten beide Tiere, das Männchen stellte seine Flügel zum Schwanenkorb auf und sie glitten ihn neugierig beäugend noch einmal an Max vorbei.

*

Gleich zu Schulbeginn am 18. September stand der erste große Wandertag auf dem Programm. Für ein Gymnasium am Rande der Alpen war es eine Selbstverständlichkeit, dass diese Wandertage im Wesentlichen aus ganztägigen Bergtouren bestanden. Dies galt zumindest für die Unter- und die Mittelstufe. Ab der elften Klasse wurde dieses Prinzip aber mehr und mehr durchlöchert. Abhängig vom jeweiligen Klassenlehrer suchten die Gymnasiasten dann nach einem erholsameren Programm für diesen Tag. Besonders beliebt waren Ausflugswirtschaften in der näheren Umgebung der Stadt, teilweise auch drüben im Österreichischen, so die Tiroler Schluxenwirtschaft, wo man gemütlich ratschend beisammensitzen und sich ausgiebig den alkoholischen Genüssen in Form von Bier oder Wein hingeben konnte.

Noch vor Stundenbeginn wurden in der Klasse die Erlebnisse des letzten Wandertages aus der 11. Klasse erzählt. Man war damals mit dem Postbus nach Pfronten gefahren, um dann mit einer Gondelbahn hinauf auf die Mittelstation des Breitenberges zu gelangen. Von hier aus hatte die Klasse in einem Gewaltmarsch am Aggenstein vorbei über mehrere Gipfel die ganze Bergkette bis hinüber zum Lechtal bei Reutte abgewandert. Die Buben hatten gerade wegen dieser sehr anstrengenden Wanderung ihren besonderen Spaß gehabt. Fritz Haksch war es gewesen, der im freiwilligen Politikkurs kurz zuvor ein Referat über die Taktik des Guerillakrieges gehalten hatte. Gut die Hälfte der Klasse hatte dazu das übliche, bei den Schülern wohl beliebteste Poster von Che Guevara zu Hause an der Zimmerwand hängen. Was lag da näher, als so zwischen Kindsein und Erwachsenwerden Guerillero zu spielen? Die Kleidung, im Wesentlichen bestehend aus Jeans, Hemd und einem olivgrünen Parka, tat ein Übriges – einer war sogar zusätzlich mit einem Militärkäppi ausgerüstet –, und schon wurde aus den Allgäuer Bergen die Dschungelhölle der bolivianischen Anden. Man sprang verwegen über reißende Gebirgsbäche, hetzte im Galopp steile Hänge hinab, kletterte behende auf die eine oder andere Bergfichte, keuchte atemringend auf nahezu jede Felsenspitze und setzte sich dann im Kreis zu einem Zigarillo zusammen, bis der Nachtross, bestehend aus dem Lehrer, einigen wenigen Nichtsportlern und den Mädchen, über den normalen Wanderweg laufend wieder aufgeschlossen hatte.

Bald aber setzten sich die heimatverbundeneren Alpenguerilleros durch und verlegten kurzerhand das Einsatzgebiet aus Südamerika wieder zurück in die Allgäuer Berge. Jetzt phantasierte die Schar von einer roten Keimzelle zur Befreiung Bayerns. Die politische Gegenwart vermischte sich so mit dem Mythos des einstigen Märchenkönigs Ludwig II., dem auch die Füssener Gymnasiasten in ihrer Mehrzahl nur Gutes abgewinnen konnten, wenn ihnen auch die jährlich steigenden Touristenströme, die zu den Königsschlössern pilgerten, längst ein Dorn im Auge waren. Ein seltsames Gemisch aus Heimatschutz und internationalem Befreiungskampf, aus Separatismus und Antiamerikanismus, aus Freier Republik Innerfern und kommunistischer Weltrevolution braute sich da zusammen. Ganz verquer gestaltete sich dann die ganze Angelegenheit, als plötzlich auch noch Namen wie Wildschütz Jennerwein, der Räuber Kneißl oder gar der gerade zu zweifelhafter Berühmtheit gelangte Ausbrecherkönig Theo Berger aus dem Donaumoos problemlos neben Che Guevarra, Mao Tse-tung und Fidel Castro eingereiht wurden. Ein Heidenspaß auf alle Fälle für den ganzen Haufen, und ganz sicher hatte dabei doch so mancher etwas ernsthafter davon geträumt, die selbstbestimmte autonome Alpenrepublik mitzugründen.

Ein schnell zusammengestellter Revolutionsrat ernannte dann auch gleich den Klassensprecher zum Präsidenten, und mehrere seiner Mitschüler übernahmen ohne Widerspruch ihre Ämter als Verteidigungs-, Außen- oder Bildungsminister. Nachdem die Rollen klar verteilt waren, stürzte man sich nun auf die nächste Aufgabe: die Erstürmung eines weiteren Alpengipfels, der mit Hurra und Gebrüll genommen wurde. Leider hatte man aber weder eine bayerische noch eine rote Fahne dabei, um auch diesen Sieg vor der Weltöffentlichkeit würdig dokumentieren zu können.

Max Wachsbleitter konnte hier nicht mitreden und stand dem ganzen Erinnerungsgeschwätz daher doch recht distanziert gegenüber, registrierte aber zu seiner Zufriedenheit, dass nicht nur er ein Verehrer des Märchenkönigs war.

Als endlich der Unterricht begann, wendete sich nun aber alles der Zukunft zu, sprich dem nächsten Wandertag und nicht den alten Geschichten aus dem Vorjahr. Studienrat Stetthofer machte einen für alle überraschenden und akzeptablen Vorschlag. Die Schüler sollten mit dem Fahrrad zur Schule kommen. Man würde dann zusammen nach Pfronten und von dort zwischen Kienberg und Breitenberg hinauf über das Engetal ins Tannheimer Tal fahren, wo man entweder zum Haldensee oder zum Vilsalpsee weiterstrampeln könnte.

Als problematisch erwies sich nur, dass nicht alle Klassenmitglieder direkt aus Füssen waren. Zwar war es für die westlich von Füssen wohnenden aus Weißensee, Hopfen, Hopferau, Seeg oder Nesselwang problemlos möglich, zusammen mit den Pfrontenern erst später zur Klasse zu stoßen, doch die Schüler aus Steingaden und Lechbruck hätten bereits eine bis zu 25 Kilometer lange Anreise zu bewältigen gehabt, ganz abgesehen von der ebenfalls längeren Heimfahrt. So willigte der Theo schließlich ein, dass die davon Betroffenen auch mit einem Moped an der Ausflugsfahrt teilnehmen durften.

Der Wandertag fand schließlich bei idealem Wetter statt, was aber durchaus vorauszusehen gewesen war. Gerade im Herbst zeichnet sich das Allgäu ja meist durch wochenlanges Wanderwetter aus, während es den Sommertouristen durchaus im Juni, Juli oder auch August passieren kann, dass sie sich mit tagelang anhaltendem Regenwetter herumschlagen müssen. Die 12 b sammelte sich, wie vorher ausgemacht, vor dem Wohnhaus Karl Steigenbergers in Pfronten-Steinach, um gemeinsam die Radtour hinauf ins Tannheimer Tal anzupacken. Wie ebenfalls vorab geklärt, war ein Moped mit dabei. Der Bobby aus Lechbruck war mit dem nach Öl und Benzin stinkenden Gefährt zur Gruppe gestoßen, als Sozius grinste Klassenneuling Max Wachsbleitter den anderen spöttisch zu und wünschte eine angenehme Tour. In der Wanderkarte, so unterrichtete er die Radler, habe er nachgeschaut und festgestellt, dass man ständig bergauf zu fahren und dabei nicht nur zwanzig Kilometer, sondern auch gute dreihundert Höhenmeter zu bewältigen habe, aber er sei guten Mutes, dass er bei der ganzen Angelegenheit sicher keinerlei Probleme bekommen würde. Schließlich sei er als Sportler solche extremen Herausforderungen ja gewohnt.

Tatsache aber war, dass er zur Zeit zwar ein Auto, aber kein Fahrrad sein Eigen nannte, und so hatte er kurzerhand Bobby, von dem er wusste, dass er mit einem Moped am Klassenausflug teilnehmen würde, gefragt, ob der ihn auf dem Rücksitz mitnehmen würde. Für Bobby, von Haus aus ein sozialer Typ, war das gar keine Frage, vielmehr eine gute Gelegenheit um mit dem Neuen, der ihm durchaus sympathisch erschien, näher in Kontakt zu kommen.

Später zeigten sich Max und sein Fahrer Bobby auch als echte Kameraden. Am steilsten Aufstieg, gleich nach dem Grenzübergang durch das Engetal hinauf zum höchsten Punkt der Strecke, sollte das Moped als Aufstiegshilfe eingesetzt werden. Dazu ließ Max es zu, dass sich rechts und links an seinen Schultern jeweils ein Radler einhängte, und so transportierte das Mopedgespann ein erstes Radlerpaar – selbstverständlich zwei Mädchen – den steilen und kurvigen Pass hinauf. Auf der Passhöhe angekommen, passierten sie rechterhand eine kleine Kapelle, hinter der Bobby, der Mopedfahrer, wenden wollte, um das nächste Radlerpaar abzuholen.

An der Südwand der mit Holzschindeln verkleideten Bergkapelle befand sich ein Sonnenbänkchen, auf dem es sich ein österreichischer Gendarm bequem gemacht hatte. Nur wenige Meter entfernt stand sein Dienstgefährt, ein grauer Kleinwagen mit Blinklicht auf dem Dach, an einem Parkplatz. Der Polizist hatte die Mütze halb über die Augen geschoben und sich wohl gerade für ein kleines Schläfchen entschieden, als er durch das laute Knattern des schwer arbeitenden Mopedmotors gestört wurde. Sofort sprang er auf und rückte seine Kopfbedeckung zurecht. Was er da sah, passte überhaupt nicht in seine Vorstellungen von geregeltem österreichischem Straßenverkehr. Er kramte eine Trillerpfeife aus der Hosentasche, führte diese, so schnell er konnte, zum Mund – um durch einen grellen Pfiff den Mopedfahrer auf sich aufmerksam zu machen und ihn anschließend zur Kontrolle auf den gekiesten Parkplatz zu lotsen.

Bobby und Max allerdings hatten den Gesetzeshüter auch ohne dessen Pfeiferei längst erblickt. „Scheiße! Festhalten!“, schrie der ertappte Fahrer seinem Sozius zu – die beiden Radlerinnen hatten sich gerade ausgehängt –, wendete sein Moped und raste mit Vollgas zurück, die Passstraße hinunter.

Bald hörten Bobby und Max immer lauter das Martinshorn des Polizeiwagens. Der Gendarm hatte sich sofort in sein Auto gesetzt, Sirene und Blaulicht eingeschaltet, und, die verdutzt dreinschauenden beiden Fahrradmädchen mit quietschenden Reifen beinahe über den Haufen fahrend, die Verfolgung der Verkehrssünder aufgenommen. Immer näher kam der Polizeiwagen dem Moped. Die wilde Verfolgungsjagd passierte staunend am Wegrand stehende Radfahrer der 12 b, darunter einen nicht minder staunenden Klasslehrer Stetthofer. Schon war die Grenzstation unten im Tal zu sehen. Aus dem Dienstgebäude stürzten sich zwei Grenzpolizisten, aufgeschreckt durch das Sirenengeheul – oder sogar schon per Polizeifunk vorgewarnt? –, und schlossen die rotweiß gestrichene Grenzschranke.

„Festhalten! Jetzt wird’s kriminell“, brüllte Bobby nach hinten. Max Wachsbleitter klammerte sich mittlerweile ziemlich verängstigt an den Schultern des Fahrers fest und war jetzt doch knapp davor, einen Hilferuf gen Himmel zu schicken, obwohl er schon lange nicht mehr so recht an das Vorhandensein des Allmächtigen da oben glaubte.

‚Wenn das bloß gut geht!‘, schoss es ihm durch den Kopf.

Der Bobby hatte inzwischen eine kleine Lücke links von der Grenzstange entdeckt. Mit dem Moped müsste man da gerade so durchschlüpfen können, was bei dem Tempo, das sein Gefährt bei Vollgas hergab, aber allemal ein sehr riskantes Unterfangen war. Doch das Manöver gelang. Bei kaum gedrosselter Geschwindigkeit rasten die beiden Schüler an den verblüfften Grenzern vorbei, die vor lauter Staunen den Mund nicht mehr zubekamen. Im selben Augenblick kreischten die Bremsen des Polizeiwagens laut auf. Gerade noch vor der Schranke kam dieser quer zur Straße stehend zum Halten.

Inzwischen jagte das Moped durch das sogenannte Niemandsland Richtung Pfronten, eine Wegstrecke, die nun in einem Talgrund nicht mehr steil bergab, sondern nahezu ohne Gefälle und auch ohne große Kurven verlief. Hier hatte die längst wieder aufgenommene Verfolgung durch den Tiroler Gendarmen bessere Chancen auf Erfolg, und nach wenigen Kilometern hatte er das Moped schließlich ein- und auch überholt. Bobby musste nun die Sinnlosigkeit einer weiteren Flucht einsehen und brachte sein Moped hinter dem Polizeifahrzeug zum Stehen. Mit hochrotem Kopf brüllte der Gendarm die beiden Flüchtlinge an, sie sollten sofort und ohne weitere Fluchtversuche zurück zum Grenzgebäude fahren. Dort werde man alles Weitere veranlassen.

Wenige Minuten später saßen die beiden Schüler in einem kleinen Büroraum, gegenüber zwei Grenzern und dem immer noch zornroten Tiroler Gendarmen. Ein wahres Donnerwetter mussten die Verkehrssünder über sich ergehen lassen. Die Rede war von einem gravierenden Verstoß gegen die Landesverkehrsordnung, einem erheblichen Eingriff in die Verkehrssicherheit und einer beträchtlichen Geschwindigkeitsübertretung, alles begangen in Tateinheit mit Fahrerflucht und illegalem Grenzübertritt!

Zunächst brüllte der Polizist etwas von Schnellverfahren und mindestens einer Woche schweren Kerkers im nächsten Polizeigefängnis. Max malte sich schon aus, wie er das wohl seiner Mutter in Reutte erklären sollte. Kaum zwei Wochen sein eigener Herr in seinen eigenen vier Wänden, und schon im Gefängnis eingebuchtet.

Mit der Zeit aber wurden die Vorhaltungen an die beiden Verkehrssünder weniger laut vorgetragen. Ein Protokoll musste aufgenommen werden und dazu galt es zunächst einmal die Personalien aufzunehmen. Erstaunt stellten die Beamten fest, dass der Mittäter vom Sozius ein Landsmann, gebürtig aus Reutte war, ja einer der Grenzer erinnerte sich gar noch an den Vater von Max, mit dem er in grauen Vorzeiten in der Außerferner Kreisstadt sogar die Schulbank gedrückt habe. Leider, so bemerkte er noch etwas verlegen, sei dieser dann schon in jungen Jahren überraschend verstorben, Max müsse da wohl noch ein Kleinkind gewesen sein, und jetzt lebe die arme Mutter wohl schon fast zwanzig Jahre als Witwe.

Schließlich einigten sich die beiden Parteien auf eine schwere Ordnungswidrigkeit. Immerhin, so stellten die Gesetzeshüter fest, seien die Papiere in Ordnung und es sei ja auch niemand zu Schaden gekommen. Beide sollten je zwanzig Mark Strafgebühr entrichten, was der Bobby mit einem lauten Seufzer der Erleichterung auch sofort beglich.

Max Wachsbleitter hatte inzwischen längst wieder Oberwasser erhalten. Er kramte in seinem Geldbeutel herum, langte dabei zunächst in das Fach für die Scheine, wo er einen Zehn- und einen Zwanzigmarkschein stecken wusste, brachte die beiden Scheine geschickt zwischen die geschlossenen Finger und den Handballen seiner linken Hand, schob nun diese langsam und unauffällig in die linke Hosentasche, um gleichzeitig den Polizisten bedauernd mit den Schultern zuckend mit der rechten Hand den jetzt entleerten Geldbeutel zu zeigen. „Ich hab leider kaum Geld dabei. Sie wissen ja, so üppig hat’s meine Mutter auch wieder nicht. Ein paar Münzen könnten aber schon noch da sein.“

Jetzt öffnete er das mit einem Druckknopf verschlossene Münzfach seiner Börse und tatsächlich fanden sich darin neben einigen Zehnerln und Fufzgerln auch zwei Zweimarkstücke und ein Einmarkstück.

„Eigentlich bin ich doch nur hilflos auf dem Rücksitz gesessen. Was hätte ich denn tun sollen bei der Flucht? Abspringen wäre tödlich gewesen! Bei mildernden Umständen sollten es fünf Mark für mich auch tun.“

„Also guat, weil des du bischt!“, lenkte der erste Beamte ein, der einst mit seinem Vater Bekannte aus Reutte, und überzeugte durch ein um Verständnis für den armen Buben heischendes Zunicken auch die beiden anderen.